Über Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum

In diesem Post möchte ich einmal über die Bibliotheksstatistiken aus dem DACH-Raum schreiben. Fast alle Bibliotheken in diesem Raum füllen Jahr für Jahr – mal mehr, mal weniger, auch mit Lücken, aber doch kontinuierlich – die jeweiligen Statistiken aus, aber damit scheint das Thema oft schon wieder vorbei zu sein. Sie kommen sonst kaum in der bibliothekarischen Literatur, Ausbildung oder Diskussion vor. Manchmal, aber auch nicht mehr regelmässig, gibt es auf den bibliothekarischen Konferenzen Sessions zur Bibliotheksstatistik und in vielen Verbänden gibt es auch Arbeitsgruppen zum Thema. Aber deren Arbeit scheint oft kaum wahrgenommen zu werden.

Und das ist schade. Die Statistiken, die wir haben, hätten eigentlich ein grosses Potential sowohl für die einzelnen Bibliotheken als auch die Bibliothekswesen der einzelnen Ländern und im gesamten DACH-Raum. Zumal sie, wie ich gleich darstellen werde, etwas Besonderes sind – die meisten Bibliotheken und Bibliothekswesen können offenbar nicht auf solche Statistiken zurückgreifen.

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Kurz warum ich auf das Thema gekommen bin: Ich habe mich letztens mit diesen Bibliotheksstatistiken befasst. Ausgangspunkt war ein Text über britische Public Libraries und deren Entwicklungen im Jahr 2020 (oder genauer im Fiscial Year 2020/21 im Vergleich zu 2018/19 und 2019/20 – aber das ist hier nicht so wichtig), also in der Covid-19 Pandemie. (McMenemy et al. 2022) In dem Text werden statistische Daten analysiert. Die wurden nicht aus der nationalen Bibliotheksstatistik genommen, sondern per Freedom of Information Requests von den einzelnen Kommunen angefragt – was ich beim ersten Lesen sehr komisch fand, aber ich dachte, vielleicht konnten die Autor*innen einfach nicht warten, um an die Daten zu gelangen. Wichtiger: Als ich den Text las, dachte ich: Wie ist das eigentlich im DACH-Raum? Kann man nicht einfach die Zahlen aus den Bibliotheksstatistiken mit denen aus diesem britischen Text vergleichen? How hard could that be? Wozu gibt es denn sonst die Bibliotheksstatistiken, wenn nicht dafür?

(Hinzu kommt, dass ich weiter üben wollte, mit der Statistiksprache R zu arbeiten und die Situation eigentlich sehr gut dafür schien: Schon klare Fragen im britischen Text – die waren am Ende nicht ganz so klar formuliert, aber es ging –, vorhandene Daten und am Ende als Ziel, die Ergebnisse dieser Auswertung zu berichten. Und dann, wenn man das schon mit R-Skripten macht, könnte man es einfach auf noch mehr Länder erweitern, also die Daten aus Bibliotheksstatistiken weiterer Länder hinzunehmen, um zu sehen, ob es allgemeine Entwicklungen in der Nutzung von Bibliotheken gibt oder zum Beispiel welche, die für den DACH-Raum spezifisch sind.)

Das war der Ausgangspunkt, um mich wieder einmal mit den Bibliotheksstatistiken zu beschäftigen. Die Auswertung für den DACH-Raum ist jetzt fertig, eine Publikation dazu eingereicht. Darum soll es hier also nicht gehen. Ich will lieber kurz darüber reden, was ich so währenddessen über die Statistiken selber gelernt habe.

Kontinuierliche Bibliotheksstatistiken: Eine Besonderheit des DACH-Raumes

Eine erste Sache, die ich vorher nicht wusste: Das wir im DACH-Raum im Allgemeinen umfassende, jährlich aktualisierte Bibliotheksstatistiken haben, ist eine Besonderheit. Viele Länder haben das offenbar nicht. Im DACH-Raum hingegen gibt es schon lange etabliert die deutsche Bibliotheksstatistik, in der die Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken (inklusive, seit 2008, denen aus Österreich) teilnehmen. (https://www.bibliotheksstatistik.de, https://www.bibliotheksstatistik.at) Die Büchereien / öffentlichen Bibliotheken in Österreich haben eine eigene Bibliotheksstatistik, welche vom Büchereiverband gepflegt wird. (https://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdaten) Zuletzt hat die Schweiz nachgezogen: Seit 2011 gibt es eine kontinuierlich mit Daten ausgestattet Bibliotheksstatistik, an der zuerst die Wissenschaftlichen Bibliotheken und die grossen Öffentlichen Bibliotheken (die in Gemeinden über 10.000 Einwohner*innen) teilnahmen. Dann wurde sie Schritt für Schritt ausgebaut und seit 2021 (also mit den Daten ab 2020) ist sie eine «Vollerhebung». Einzig für das Fürstentum Liechtenstein scheint es keine solche Statistik zu geben. (Das dortige «Amt für Statistik» hat leider noch nicht geantwortet, vielleicht wissen die mehr.) Es wäre als nicht falsch zu denken, dass das normal ist, das solche Statistiken gesammelt werden. Zumal es eine eigene ISO-Norm (International Organization for Standardization 2013) für Bibliotheksstatistiken gibt (auch wenn die in der Überarbeitung hinterherhinkt).

Aber – das stimmt offenbar nicht. Es ist nicht einfach, einen Überblick zu gewinnen. Bislang scheint es keine Sammlung der nationalen Bibliotheksstatistiken zu geben. Es gibt bei der IFLA eine «Statistics and Evaluation Section» (https://www.ifla.org/units/statistics-and-evaluation/), die Projekte hat und Verlautbarungen dazu erlässt, wie wichtig Open Library Data wäre – aber auch keine solche Sammlung betreibt.

  • Man hat meiner Erfahrung nach beim Recherchieren auch immer das Gefühl, dass man in den verschiedenen Ländern nur nicht an den richtigen Orten oder bei den falschen Organisationen schaut. Und / oder das man mal wieder zu wenig von der jeweiligen Sprache versteht, die im jeweiligen Land gesprochen wird. Aber ich habe, bevor ich es aufgegeben habe, erst in Liechtenstein gesucht und nichts gefunden (die Daten sind auch nicht, wie man vermuten könnte, in der schweizerisches Statistik enthalten).
  • Dann in Irland (weil die Daten gut mit denen aus Grossbritannien hätten verglichen werden können – als Land mit einer ähnlichen bibliothekarischen Tradition, der gleichen Hauptsprache, ähnlicher Gesellschaft und so weiter) – aber da scheint es nur von Zeit zu Zeit Erhebungen zu geben, nicht jährlich und nicht immer mit den gleichen Variablen. Die letzten Daten scheinen zu Jahr 2017 veröffentlicht, annual reports gab es von 2002 bis 2011 (https://www.askaboutireland.ie/libraries/public-libraries/publications/public-library-statistics/).
  • In Frankreich scheinen die Bibliotheksstatistiken zumindest nicht regelmässig berichtet, sondern von Zeit zu Zeit vom Minstère de la Culture in Zusammenfassung publiziert zu werden. (Ich weigere mich ein wenig zu glauben, dass gerade im zentralisierten Frankreich nicht regelmässig solche Zahlen erhoben werden, in einer möglichst komplizierten Weise – das würde meinem Bild von Frankreich vollkommen widersprechen.) Wenn, dann passieren solche Publikationen offenbar oft im Zusammenhang mit Themen wie Literatur, Lesen, Kampf gegen Analphabetismus im Allgemeinen. (Z.B. Ministère de la Culture 2021) Die Einrichtung, welche die Daten dann zu liefern scheint, ist auch das Observatoire de la Lecture Publique, das auch zum Beispiel Daten zu Buchhandlungen oder Verlagen publiziert.
  • In Luxemburg bin ich gar nicht fündig geworden (ich spreche kein Luxemburgisch, dachte aber, dass ich in Deutsch oder Französisch etwas finden würde).
  • Dann habe ich aufgeben, aber ich glaube nicht, dass ich zufällig die paar Länder ausgesucht habe, die keine Bibliotheksstatistik haben, sondern das das symptomatisch ist.
  • In Fundfamentals of Planning and Assessment for Libraries schreiben Rachel A. Fleming-May und Regina Mays dann auch zum Beispiel explizit – das ist mir gerade untergekommen –, dass es auch in den USA keine solche Statistik für alle Bibliotheken gibt, sondern nur solche, die von einigen Verbänden über die jeweils eigenen Mitgliedsbibliotheken erhoben werden.
  • Und es gibt eine «Library Map of the World», die einmal von der IFLA erstellt wurde – als es dafür Mittel der Gates Foundation gab, die Bibliotheken unterstützen wollte – und die offenbar weiter betrieben wird (https://librarymap.ifla.org/map). Wenn man aber die in, offen vorliegenden, Daten schaut, merkt man auch schnell, dass (a) für viele Länder des globalen Südens gar keine Daten vorliegen und (b) die Daten, die vorliegen, oft Jahre alt sind (Peru zum Beispiel von 2008 und Italien von 2010). Andere Daten sind erst dieses Jahr aktualisiert worden. Insoweit – es gibt offenbar auch anderswo kontinuierlich geführte Bibliotheksstatistiken (irgendwo müssen die Daten für diese Map ja herkommen), aber nicht viele.

Das erklärt wohl aber, warum im britischen Text nicht mit Daten aus der nationalen Bibliotheksstatistik gearbeitet wurde – weil sie nicht so einfach verfügbar ist, falls es sie überhaupt gibt.

Inhalt und Governance Bibliotheksstatistiken DACH-Raum

Ob es nationale Bibliotheksstatistiken gibt und wie ihre Daten berichtet werden, ist also offenbar das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die dazu führen, ob und wenn ja welche Infrastrukturen für diese Statistiken aufgebaut werden. Wie gesagt: Beim Beispiel Frankreich kann ich mir gut vorstellen, dass es sehr wohl in Paris eine Stelle gibt, an die alle Bibliotheken nach einem vorgegeben Plan jährlich Daten abzuliefern haben (aber – Frankreich – bestimmt nicht direkt und unkompliziert, sondern in mehreren Runden, die durch verschiedene Bürokratien gehen und zwar nur zu vorgeschriebenen Tagen oder so; und nur nicht in der Mittagspause), aber das es die politische Entscheidung gibt, diese nicht jährlich oder gar offen zu publizieren. Das gleiche gilt auch für die Variablen, die überhaupt abgefragt werden, und die Definitionen derselben. Die sind bei Weitem nicht gleich, trotz der ISO-Norm. Und auch, ob Bibliotheken diese Daten liefern und wenn ja, wie genau und wie sehr an den Definitionen orientiert, scheint das Ergebnis von politischen Entscheidungen in den Bibliotheken zu sein. (Und vielleicht, zum Teil, auch der Kapazitäten – die aber ja auch Ergebnis von Entscheidungen sind, wofür Ressourcen genutzt werden.)

Schauen wir uns aber einmal an, was nach all diesen politischen Entscheidungen, die irgendwann einmal getroffen wurden, in den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum steht und wie die Governance hinter diesen ist.

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Zuerst zur Governance. Es fällt schnell auf, dass jede der drei Statistiken eine andere Struktur – also wer sammelt die Daten, wie werden sie aufbereitet, wie werden sie angeboten – hinter sich hat. Das sieht man in der folgenden Tabelle.


Deutsche BibliotheksstatistikBibliotheksstatistik ÖsterreichSchweizerische Bibliotheksstatistik
Betreibende EinrichtungDBS-Redaktion c/o Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen (HBZ) (plus ÖBS-Redaktion für die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken)Büchereiverband ÖsterreichBundesamt für Statistik (in Zusammenarbeit mit der Kommission Statistik von bibliosuisse)
Erhebung der DatenEingabe durch Bibliotheken, https://service-wiki.hbz-nrw.de/display/DBS/Online-EingabeEingabe durch Bibliotheken, https://jahresmeldung.bvoe.atEingabe durch Bibliotheken, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/erhebungen/chbs.html
Publikationshäufigkeitjährlichjährlichjährlich
Aufbereitung der DatenFrei zugängliche Datenbank, inklusive Variabler Auswahl.Keine Veröffentlichung aller Daten, sondern jährlich erscheinende Artikel (in der Zeitschrift Büchereiperspektiven) sowie Zusammenfassungen (auf der Homepage).Daten als Excel-Tabellen, frei zugänglich. Einzelne Auswertung der Daten als weitere Tabellen.
Zugang zu den DatenDaten stehen frei zur Verfügung. (Man kann aber, so meine Erfahrung, den Server überlasten, wenn man zu viele Daten auf einmal abfragt.)Daten werden auf Anfrage zur Verfügung gestellt. (Nach meiner Erfahrung problemlos.)Daten stehen frei zur Verfügung, die Daten vor 2020 müssen aber (aktuell) gesondert gesucht werden.
LizenzKeine AngabeKeine AngabeKeine Angabe (aber vom Staat erhobene Daten)
Homepagehttps://www.bibliotheksstatistik.de, http://www.bibliotheksstatistik.athttps://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdatenhttps://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/kultur/bibliotheken.html, https://bibliosuisse.ch/%C3%9Cber-uns/Kommissionen/Statistik

Man sieht schnell Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Zuerst sind es sehr unterschiedliche Einrichtungen, die die Daten sammeln. Das HBZ handelt im Auftrag der Kultusministerkonferenz – also der Bildungsministerien der deutschen Bundesländer –, aber als bibliothekarische Infrastruktur. Der Büchereiverband Österreich hat, so scheint es zumindest, den Auftrag vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (zumindest ist dieses immer mit wieder auf den Publikationen mit genannt). Das Amt für Statistik in Bern handelt offenbar als Teil des eigenen Auftrags zur Pflege von nationalen Statistiken. Insoweit ist irgendwie immer der Staat als Akteur im Hintergrund dabei – aber immer auch in einer anderen, jeweils den nationalen Strukturen entsprechenden Weise (siehe zum Beispiel die nicht klar definierte, aber irgendwie funktionierende Einbeziehung einer Kommission des Bibliotheksverbandes in der Schweiz in die staatliche Aufgabe der Datensammlung).

Gemeinsam ist allen drei Statistiken, dass sie jährlich erhoben werden, indem Bibliotheken selber die jeweils eigenen Daten elektronisch erfassen und dass sie auch wieder jährlich publiziert werden. Wie sie publiziert werden, ist unterschiedlich (und wird auch immer wieder einmal verändert – aber bleiben wir beim heutigen Stand): Die Daten für die deutschen und schweizerischen Bibliotheken sowie die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken stehen frei zur Verfügung, die für die österreichischen Büchereien muss man anfragen (was aber funktioniert). Die schweizerischen Daten kriegt man in einer Excel-Datei mit Datenblättern pro Jahr, bei den deutschen kann man mehr wählen. (Die österreichischen kommen auch als Excel-Datei, aber vielleicht kann man auch andere Formate erbitten.) Dafür werden die Büchereien in Österreich regelmässig in der betreffenden Zeitschrift über die Daten informiert, was in Deutschland und der Schweiz so nicht passiert. Auffällig ist auch, dass alle diese Daten ohne Lizenzangabe veröffentlicht werden. Man kann mehr oder minder hoffen, dass man sie frei für weitere Auswertungen nutzen kann – in Österreich werden Bibliotheken sogar direkt auf der Homepage aufgefordert, dies für Leistungsvergleiche zu tun. Denn immerhin werden die Daten zur Verfügung gestellt und entweder direkt von einer staatlichen Stelle oder aber im Auftrag des Staates gesammelt – sollten also eigentlich «öffentliche Daten» sein. Aber in Zeiten, in denen Wissenschaftliche Bibliotheken auf Forschungsdatenmanagement als Thema setzen und dann immer wieder betonen, wie wichtig offene Lizenzen sind, ist es auffällig, dass gerade bei diesen Statistiken keine Lizenzen genannt werden.

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Was steht nun in den Daten? Wie vertrauenswürdig sind sie?

Für alle Statistiken existieren Definitionen, die alle spätestens bei der Eingabe angezeigt werden (aber es gibt immer auch Dokumente, in denen sie niedergelegt sind). Diese folgen nicht immer dem ISO-Standard – die für die deutschen und österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken erheben diesen Anspruch schon, aber die anderen nicht. Die schweizerischen Definitionen wurden zum Beispiel für die Daten 2020 – als dann auch die erste «Vollerhebung» durchgeführt wurde – verändert. Und wenn man die Variablen, die für die drei Statistiken abgefragt werden, nebeneinander legt, merkt man auch, dass sie sich schon im Umfang unterscheiden – in Deutschland wird viel mehr abgefragt, als in den beiden anderen Ländern. In der Schweiz werden zum Beispiel Lizenzkosten gesondert abgefragt, in Österreich nicht. Zu 100% lassen sich die Daten also nicht vergleichen, zumindest nicht für alle Werte.

Folgen die Bibliotheken alle diesen Definitionen? Geben sie alle jährlich Daten ab?

Das ist nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Schaut man in die Daten selber, fällt immer wieder auf, dass nicht alle Bibliotheken alle Werte ausfüllen und das eine Anzahl der Werte nicht immer überzeugend sind. Das hat bestimmt unterschiedliche Gründe, aber es gibt Tendenzen. Je kleiner eine Bibliothek ist, umso eher scheinen Daten zu fehlen – manchmal alle Daten, manchmal einige. Bei letzteren kann es immer gut sein, dass eine Bibliothek einfach gar keine Angaben machen kann. Wenn Sie zum Beispiel keine Lizenzen hat, sollte sie das Feld zu Lizenzkosten leer lassen – oder, je nach Definition, wenn sie anteilig von einer Lizenz profitiert, die zum Beispiel der Kanton oder eine andere Einrichtung übernimmt (hier kann man an die Onleihe) denken, dann sollte hier zumindest in der schweizerischen Statistik der Wert für diesen Anteil eingetragen sein. Wissen von dieser Regelung alle Bibliotheken? Es scheint nicht so. Es finden sich doch auch eine ganze Anzahl, die «0» eintragen (was heissen würde, dass die Lizenzen haben oder von solche profitieren, aber diese nichts kosten).

Es gibt aber auch das Phänomen, dass in grösseren Bibliotheken die Daten für einige Jahre fehlen oder weniger werden. Warum das so ist, müssten man tiefergehend untersuchen. Aber mir ist aufgefallen, dass man in einer ganzen Anzahl von Fällen einen Zusammenhang mit mehr oder minder bekannten internen Krisen herstellen kann – grössere Bibliotheken, die einige Jahre lang keine (vollständigen) Daten an die Bibliotheksstatistik lieferten, sind auch offenbar oft die Bibliotheken, die zu dieser Zeit Probleme damit hatten, Leitungspositionen zu besetzen.

Und dann fällt auf, dass eine ganzen Anzahl von Bibliotheken keine genauen Angaben macht, sondern eher Schätzwerte zu liefern scheint. Das wird wohl vor allem daran liegen, dass die genauen Daten gar nicht vorliegen. Aber man findet nicht selten Angaben mit «runden Zahlen» (also Mehrfache von 10 oder 100), die sich dann auch oft über Jahre nicht verändern: Bibliotheken, die immer wieder genau 500 Veranstaltungen pro Jahr haben oder 7000 Medieneinheiten. Sicherlich kann das auch das Ergebnis guter Planungen sein – oder wahrscheinlich ist eher, dass es ungefähre Angaben sind.

Gleichzeitig aber sind alle Statistiken jetzt darauf ausgerichtet, auch wirklich alle Bibliotheken in den jeweiligen Ländern zu umfassen. Wie gesagt – in der Schweiz war man da etwas langsamer. Erst hat man die Wissenschaftlichen Bibliotheken integriert (was auch nicht so einfach ist, weil die Bibliothekssysteme einiger, historisch gewachsener Universitäten… barock sind, im Gegensatz zu den recht neuen Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen), dann die Öffentlichen Bibliotheken der grossen Gemeinden. Und dann, nach und nach, die anderen Bibliotheken einzelner Kantone, bis es dann 2021 theoretisch alle Bibliotheken sind, die erfasst werden. Aber stimmt das? Sind es wirklich alle Bibliotheken? Gibt es nicht vielleicht in ganz kleinen Gemeinden ganz weit auf dem Land, Bibliotheken, die nicht dabei sind? Oder in grossen Schulen Bibliotheken, die auch für das Quartier / den Kiez da sind, aber nicht in der Statistik auftauchen? Oder neue Bibliotheken in staatlichen Einrichtungen, die eine Filiale in «abgelegenen Regionen» gerade ausbauten, die bislang nicht für die Statistik gemeldet wurden? Vielleicht – das kann immer sein. Eine hundertprozentige Abdeckung ist wohl nie zu erreichen (zumal Bibliotheken, die von privater Hand finanziert werden, weil sie beispielsweise in Firmen oder Klöstern angesiedelt sind, nicht in diesen Statistiken enthalten sind – mit Ausnahmen, immer und immer wieder mit neuen Ausnahmen). Aber grundsätzlich möglichst viele und vor allem die grossen Bibliotheken, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind – die finden sich schon in diesen Statistiken.

Weiter oben hatte ich gesagt, dass die Kontinuität, mit der im DACH-Raum Daten für Bibliotheksstatistiken erhoben werden, eine ihre Besonderheiten darstellen. Man muss dies aber eingrenzen: Für die gesamten Statistiken gilt das, für alle Bibliotheken gilt das nicht. Aber auch hier für die meisten die meiste Zeit.

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Insoweit muss man die Daten jeweils vorsichtig interpretieren: Sie sind Annäherungen an die Realität. Aber wenn man zum Beispiel aus einer der Statistiken die Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken in einem Jahr errechnet und diese dann mit der Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken eines anderen Jahres vergleicht, muss man bedenken, dass das immer eine leicht unterschiedliche Anzahl von Bibliotheken sind, die da Daten gemeldet haben. (Wie man das in die jeweilige Auswertung integriert hängt dann wohl davon ab, was man wissen will. In dem Vergleich von Daten 2018 bis 2020, den ich gemacht habe, habe ich jeweils nur Bibliotheken betrachtet, die auch vollständig für diese drei Jahre Daten geliefert haben – R hat dafür die Funktion complete.cases –, aber das wird keine Lösung sein, wenn man zum Beispiel Daten über zehn Jahre hinweg betrachten will. Dann wird man besser mit Durchschnittswerten pro Jahr rechnen.) Wie gesagt: Das ist alles eine viel bessere Datenlage als in anderen Ländern, aber doch niemals eine perfekte.

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Schauen wir nochmal die Variablen an, dann fällt, wie schon gesagt, auf, dass in Deutschland (und Österreich für die Wissenschaftlichen Bibliotheken) die meisten Variablen erhoben werden, in Österreich (für die Büchereien) weniger und in der Schweiz noch weniger. Einige dieser Variablen deuten auf ältere Diskussionen hin. Wenn in der deutschen Statistik explizit gefragt wird, ob eine Öffentliche Bibliothek «Soziale Bibliotheksarbeit» anbietet, dann ist das ein Thema, dass zuletzt Anfang der 1980er Jahre gross diskutiert wurde. Ebenso gibt es in der deutschen Statistik Variablen zu unterschiedlichen Formen von Krankenhausbibliotheken, was vielleicht Anfang der 1990er Jahre das letzte Mal breiter diskutiert wurde. Zudem finden sich zum Beispiel Fragen nach der Anzahl von Vinyl-Platten im Bestand.

Eine andere Anzahl von Variablen findet sich aber in allen drei oder zumindest zwei der Statistiken. Beispiele dafür sind die Zahl der aktiven Nutzer*innen (immer gleich definiert als solche, die mindestens einmal in den letzten zwölf Monaten ein Medium entliehen haben, inklusive elektronischen Medien), die Zahl der Medien, die Zahl der Ausleihen und Angaben zu Etat und Personal (aber beim Personal in unterschiedlichen Ausprägungen und beim Etat selbstverständlich mal in Euro und mal in Franken).

Will mal also Daten über die drei Ländern hinweg vergleichen, geht das für einige Variablen einfach nicht und für andere wieder muss man sie erst «normalisieren», also in ein einheitliches Format bringen. (Letzteres ist aber nicht so schwer, da die Daten jeweils pro Land strukturiert geliefert werden und man solche Transformationen der Daten gut automatisieren kann.)

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Beachtet man das aber, kann man relativ gut und relativ schnell einfache Vergleiche anstellen und Plots zeichnen, wie die drei hier. (Alle mit jeweils allen Daten aller Öffentlichen Bibliotheken, die im jeweiligen Jahr Daten gemeldet haben – die Daten lagen schon bearbeitet aus meinem oben erwähnten Artikel vor, aber die Plots zeichnen dauerte keine drei Stunden und das auch vor allem, weil ich Anfänger mit R bin und die Chance nutzen wollte, mal mit den erweiterten graphischen Möglichkeiten zu spielen. Einfache Plots hätten vielleicht eine viertel Stunde gedauert.) Und selbstverständlich – wer sich darin vertiefen will, kann dann noch mehr, noch genauer, noch theoriegeleiteter vorgehen und beispielsweise Hypothesen über die Entwicklung der Nutzung von Bibliotheken im DACH-Raum testen.

Zur Nutzung

Was mich an Bibliotheksstatistiken immer wieder erstaunt hat und weiter erstaunt, ist, wie wenig sie tatsächlich genutzt zu werden scheinen. Sie kommen in der Lehre, soweit ich das sehe, nicht vor. (Ich bin da selber mit verantwortlich, ich weiss – aber auch zum Beispiel nicht in meiner eigenen Ausbildung.) Auch werden sie fast nie an Orten, an denen man sie erwarten würde, angeführt: Fast nie in Studien, Abschlussarbeiten, Präsentationen oder auch Artikeln. Die einzige wirklich Ausnahme davon scheint der Büchereiverband Österreich zu sein, der – wie schon gesagt –, kontinuierlich Zusammenfassungen für «seine» Bibliotheken publiziert. Ansonsten scheint das immer nur ansatzweise zu passieren, vielleicht gebunden an die Interessen einzelner Personen.

Jetzt, nachdem ich gelernt habe, wie besonders und – im Vergleich mit anderen Ländern – gut die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sind, erstaunt mich das nur noch mehr.

Man könnte vermuten, dass die Statistiken einfach an anderen Stellen benutzt werden, beispielsweise bei internen strategischen Planungen von Bibliotheken. Maybe. Wie gesagt fordert der Büchereiverband Österreich die öffentlichen Bibliotheken im Land immer wieder dazu auf, die Statistik für Kennzahlenvergleiche zu nutzen. Ähnliches hört man, aber nicht so oft, von Fachstellen und vergleichbaren Einrichtungen. Aber auch dann würde man erwarten, das darüber lauter und öfter berichtet wird. Es wäre doch sinnvoll, wenn Bibliotheken sich darüber austauschen würden, wie diese Daten im Alltag und bei der längerfristigen Planung genutzt werden.

Meine Erfahrung ist aber, dass man bei Nachfragen eher ausweichende Antworten erhält. Oft wird von Kolleg*innen erst behauptet, dass man selbstverständlich auch mit den Daten den Bibliotheksstatistik etwas macht, aber dann auf Nachfrage hin nicht gesagt, was genau.

Es ist ein erstaunliches Thema, immer wieder: Wir haben im DACH-Raum eigentlich so eine gute Datenlage. Nicht perfekt, aber soviel besser als in vielen anderen Regionen. Und wir – sowohl die Bibliothekswissenschaft als auch die Bibliotheken und zum Bibliothekswesen gehörigen Einrichtungen als auch die Ausbildung – wissen nicht so richtig, was damit anfangen.

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Nur ein schnelles Beispiel, wofür man die Daten benutzen kann, ist der nächste Plot, welcher die Kosten pro Ausleihe in den Öffentlichen Bibliotheken 2018-2020 in den drei Ländern vergleicht – also eine recht beliebte Kennzahl für die Effizienz des Bestandsmanagements. Sicherlich: Man könnte hier noch einen Wert für die Preisunterschiede einführen – aber auch so sieht man die Entwicklung: In der Schweiz waren die Bibliotheken 2020 offenbar effizienter als in den Vorjahren, in Österreich nicht ganz so, und in Deutschland noch etwas weniger. Man kann jetzt diskutieren, warum und was man daraus lernen kann und so weiter. Aber: Es ist recht einfach, diese Angaben aus den Daten zu ziehen. Ich habe das mit einem Rechner und etwas Arbeitszeit gemacht. Wir, als «die Bibliotheken, das Bibliothekswesen», sollten das öfter machen.

Wünsche

Wie gesagt habe ich gelernt, dass die Situation bei den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sehr gut ist, wenn man sie mit anderen Ländern vergleicht. Während meiner Recherche hatte ich auch Kontakt mit Verantwortlichen für alle drei Statistiken und auch da gute Erfahrungen mit schnellen Rückmeldungen gemacht. Und dennoch haben sich ein paar Wünsche ergeben – Dinge, die das Ganze noch einen Ticken besser machen würden.

  • Erstens wäre es gut, wenn die Daten zu den Bibliotheksstatistiken nicht einfach nur verfügbar wären, sondern, wenn sie als Offene Daten mit einer Offenen Lizenz (wegen meiner gerne mit CC BY-NC) ausgestattet wären. Oder, wenn schon nicht offen, dann so, dass klar ist, was man mit denen machen darf und was nicht. Die jetzige «graue» Situation ist nicht mehr wirklich zeitgemäss.
  • Jetzt muss beziehungsweise kann man die Daten relativ einfach herunterladen oder auf Nachfrage erhalten – wie gesagt ist das schon weit besser als anderswo. Aber das Non-plus-Ultra wäre selbstverständlich, wenn es per API direkt aus einer Datenbank abgefragt werden könnte (und, für die Schweiz, wenn in der Datenbank dann auch die «alten» Daten von 2011 bis 2019 enthalten wären). Dann liessen sich Skripte bauen, mit denen man jeweils automatisiert jährlich die Daten abfragen und analysieren könnte. Das wäre eine kleine, aber sichtbare Verbesserung.
  • Für weitere Analysen hilfreich wäre, wenn in allen Bibliotheksstatistiken nicht nur die Namen der Gemeinden / Kommunen verzeichnet wären, in denen die jeweiligen Bibliotheken angesiedelt sind, sondern (a) auch, für welche Gemeinden / Kommunen sie zuständig sind (das ist in der Schweiz zum Beispiel nicht selten, dass eine Bibliothek mehrere Gemeinden versorgt) und (b) diese Gemeinden / Kommunen nicht nur mit Namen, sondern auch mit Postleitzahlen ausgezeichnet würden. Bislang mache ich mir noch einen Kopf, wie man beispielsweise Daten über sozio-ökonomische Zusammenhänge mit denen der Bibliotheksstatistiken verbinden könnte. Die meisten anderen Daten, die auf Gemeinde-/Kommunenebene vorliegen – beispielsweise Grösse der Gemeinden, Steueraufkommen, Ergebnisse von Wahlen und Abstimmung –, sind mit Postleitzahlen ausgezeichnet. Wären es die der Bibliotheksstatistik auch, könnte man sie einfacher verbinden. (Auch hier gibt es in R einen Standardbefehl.) Und wer will nicht wissen, ob die Bibliotheken in sozio-ökonomisch herausfordernderen Kommunen mehr Nutzer*innen erreichen als in anderen (nur als Beispiel was dann einfach möglich wäre)?
  • Grundsätzlich sollten – das habe ich jetzt auch schon angedeutet – die Daten, die wir schon haben, mehr und offener (also sichtbarer) genutzt werden. Es ist einfach erstaunlich, wie viel Arbeit Jahr für Jahr in die Daten hineingesteckt wird, im Vergleich dazu, wie wenig damit später offenbar gemacht wird.
  • Über die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum hinaus fände ich es interessant, mehr darüber zu erfahren, wie es in anderen Ländern gehandhabt wird – und jeweils wieso. Die Karte der IFLA vermittelt kein richtig befriedigendes Bild, auch die Section zu Bibliotheksstatistiken in der IFLA ist bestimmt so engagiert, wie es geht – aber auch nicht wirklich hilfreich, wenn es um solche Fragen geht. Aber mich würde schon interessieren, warum der DACH-Raum so gut aufgestellt ist und andere nicht.

Literatur

Fleming-May, Rachel A. ; Mays, Regina (2021). Fundamentals of Planning and Assessment for Libraries. (ALA Fundamentals Series) Chicago : Neal-Schuman, 2021

International Organization for Standardization (2013). ISO 2789:2013 Information and documentation — International library statistics. Vernier: ISO, 2013

McMenemy, David ; Robinson, Elaine ; Ruthven, Ian (2022). The Impact of COVID-19 Lockdowns on Public Libraries in the UK: Findings from a National Study. In: Public Library Quarterly (Latest Articles), https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2058860

Ministère de la Culture (2021). Bibliothèques municipals et intercommunales: Données dʹactivités 2017. Paris cedex: Ministère de la Culture, 2021, https://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Livre-et-lecture/Les-bibliotheques-publiques/Observatoire-de-la-lecture-publique/Syntheses-annuelles/Synthese-des-donnees-d-activite-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales/Synthese-nationale-des-donnees-d-activite-2017-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales-editee-en-2021-par-le-Ministere-de-la-Culture

Sollten (auch) Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

In diesem Blogpost möchte ich eine Frage diskutieren, bei der ich mir schon denken kann, dass sie nicht allen gefällt. Mir ist klar, dass irgendjemand zumindest denken wird, wie falsch das ist, dass ich ausgerechnet als Deutscher in die Schweiz komme und dann den Schweizer Bibliotheken dieses Thema auftische (auch wenn es jetzt erstaunlicherweise schon zehn Jahre sind, die ich hier bin). Und dennoch, die Frage drängt sich immer wieder auf. In den Kunstmuseen der Schweiz wird sie jetzt laut thematisiert. Selbst wenn ich sie nicht anspreche, wird irgendjemand anders es machen. Sie ist einfach zu naheliegend.

Deshalb: Sollten Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

Die Frage impliziert, dass sie es bislang nicht tun. Ich kann da falsch liegen, aber mir ist kein Projekt, kein Arbeitsgang, kein Ansatz dazu bekannt. Zumindest als grösser besprochenes Thema ist es mir noch nicht untergekommen. Ich werde im Folgenden (1) kurz thematisieren, wie sich die Situation gerade in Kunstmuseen der Schweiz darstellt, (2) wie sie in deutschen und österreichischen Bibliotheken ist, (3) dann diskutieren, ob die schweizerischen Bibliotheken sich überhaupt die Frage stellen sollten, ob sie auch vom NS-Regime in den Nachbarländern profitiert haben. Ganz am Ende (4) gehe ich nochmal darauf ein, wie Bibliotheken in der Schweiz vorgehen könnten, wenn sie die Initiative übernehmen wollen (und nicht erst darauf warten wollen, dass es zu einem Skandal kommt und sie dann dazu getrieben werden).

1. Das kontaminierte Museum

Ein Buch, dass aktuell recht gut herumgeht, ist «Das kontaminierte Museum» von Erich Keller (Keller 2021). In diesem geht es um die Sammlung Bührle, welche jetzt für zwanzig Jahre im Kunsthaus Zürich ausgestellt ist. Emil Bührle war, wie man aus dem Buch lernt – wenn man es nicht schon vorher wusste –, einer der Industriellen, welche von der Schweiz aus während des NS die deutsche Wehrmacht mit bewaffnete (und vorher, dafür ist er erst aus Deutschland in den Schweiz eingewandert, illegal die Bewaffnung dieser Armee während der Weimarer Republik): In seinen Fabriken wurden in der Schweiz Waffen und Munition hergestellt, die zu grossen Teilen an die Wehrmacht verkauft wurden (später aber auch an die Alliierten, als dies geographisch möglich war).

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Gewinnen dieser Geschäfte der Aufbau einer privaten Kunstsammlung finanziert. Dabei profitierte Bührle direkt und indirekt vom nationalsozialistischen Staat. Der Kunstmarkt in Europa war damals davon geprägt, dass Menschen direkt und indirekt gezwungen wurden, die Kunstwerke, die ihnen gehörten, zu verkaufen (zum Beispiel um überhaupt fliehen zu können oder um im Exil zu überleben). Und davon, dass Kunstwerke beschlagnahmt und in grossen Massen wieder direkt im Auftrag des NS-Staats verkauft beziehungsweise versteigert wurden. Dies hatte Auswirkungen bis nach 1945.

Bührle konnte so für relativ wenig Mittel eine Sammlung anlegen und sich gleichzeitig als Mäzen des Kunsthauses Zürich etablieren. Im Buch von Keller geht es darum, wie diese Sammlung – die lange in einem Privatmuseum gezeigt wurde – quasi moralisch «gewaschen» wurde und heute als unbedenklich im aktuellen Neubau des Kunsthauses gezeigt wird. Es geht im Buch auch darum, wie die Politik in eine Studie zur Herkunft der Sammlung eingriff, wie die Familie und Stiftung Bührle versuchte, sich selber moralisch rein zu waschen und auch, wie sich die Sammlung in die Konzepte der Aufwertung der Stadt Zürich einfügte. (Er skandalisiert auch, dass dies gerade in einer rot-grün regierten Stadt passierte.)

Es ist also ein angriffiges Buch, aber mit gutem Grund. Was mich hier aber interessiert sind zwei Sachen: Keller zeigt anhand der Bührle-Sammlung, dass in der Schweiz selbstverständlich auch direkt und indirekt vom NS profitiert wurde. (Das ist nicht neu, es macht aber den Eindruck, als müsste man erstaunlich oft daran erinnern.) Und gleichzeitig zeigt er auch, wie Provenienzforschung dazu genutzt werden kann, die historische Verantwortung, die mit diesem Fakt einhergeht, zu verdecken oder aber anzugehen. Die Bührle-Stiftung legte nämlich eine eigene Forschung vor, die zeigen sollte, dass praktisch alle Bilder in der Sammlung eine ausreichend gesicherte Provenienz haben – und sprach sich dabei immer wieder von moralischen Fragen frei.

Dem entgegen steht, wieder bezogen auf die Schweiz, vor allem das Kunstmuseum Bern und das Kunstmuseum Basel. Beide betreiben seit einigen Jahren auch Provenienzforschung und gehen dabei anders vor als die Bührle-Stiftung und das Kunsthaus Zürich. Bei ihnen geht es nicht darum, möglichst keine moralischen Fragen aufkommen zu lassen, sondern sich diesen zu stellen. Im Fokus steht oft das Kunstmuseum in Bern, welches 2014 in den Besitz der Gurlitt Sammlung gelangte, nachdem es ihr im Testament Cornelius Gurlitts‘ zuerkannt wurde.

Zur Erinnerung: Cornelius Gurlitt war der Sohn des Kunsthändlers Hildebrandt Gurlitt. Dieser wurde 1930 unter anderem durch die NSDAP aus seinem Amt als Leiter des König-Albert Museums in Zwickau entlassen, weil er dort vor allem moderne Kunst förderte und weil er jüdische Vorfahren hatte. Er arbeitet dann nach 1930 und während des NS als Kunsthändler – und zwar auch als einer derer, welche vom NS-Staat eingesetzt wurden, um im grossen Stil beschlagnahmte Kunst zu veräussern. 2012 dann wurden bei Cornelius Gurlitt rund 1500 Werke der Sammlung seines Vaters entdeckt, die praktisch dann erst einmal alle unter Raubgut-Verdacht standen. Die Situation Gurlitts, des Vaters, einerseits gut in der Kunstszene der 1920er und 1930er vernetzt gewesen zu sein, andererseits sich mit dem NS arrangieren zu können, liess nicht klar erkennen, woher diese Bilder stammten und unter welchen Umständen sie erworben wurden. Als das Kunstmuseum Bern dieses Erbe annahm, übernahm es auch die Verantwortung, die Provenienzen dieser Bilder zu klären. Bislang bestätigte sich der Raubkunstverdacht nur bei wenigen Werken, bei anderen ist die Provenienz nicht zu klären.

Es ist also auch in der Schweiz möglich, dass ein Museum sich zu fragen beginnt, woher eigentlich die Werke in seinem Besitz stammen und welche moralischen Fragen sich an diesen Besitz knüpfen. Die Gurlitt Sammlung kam von aussen an das Museum und es ist auch auffällig, dass erst damit eine regelrechte Provenienzforschung eingerichtet wurde. So, als wäre es bei der anderen Sammlung in Bern nicht notwendig gewesen. Dem steht aber nicht gegenüber, das die Bührle-Stiftung es immerhin als notwendig ansah, moralischen Verdacht an ihrer Sammlung (mehr oder weniger erfolgreich) auszuräumen, sondern auch, dass das Kunstmuseum Basel von sich aus in den letzten Jahren begann, die Herkunft der eigenen Sammlung zu hinterfragen und auch – wie das Kunstmuseum Bern – Werke zu restituieren, wenn sich ein Raubkunstverdach erhärtet.

Es gibt also verschiedene Möglichkeiten und es ist eine Entscheidung der Museen (und vielleicht der Politik der jeweiligen Stadt und anderen Träger), wie mit diesem historischen Erbe umgegangen wird.

Was diese Beispiele aber auch zeigen, ist, dass ein Verdrängen der Fragen nur den Zeitpunkt verschiebt, wann sie auftauchen und angegangen werden. Man kann nicht einfach hoffen, dass sie verschwinden werden, sondern muss als Einrichtung immer damit rechnen, dass sie wieder auftauchen. Oft als Skandal. Nur, wenn sich ihnen aktiv gestellt wird, kann man dies irgendwann ausschliessen. (Ganz abgesehen von der moralischen Frage, ob man überhaupt hoffen sollte, dass sie irgendwann, irgendwie vergessen gehen.)

Und: Es ist ja auch nicht so, als hätte die Schweiz keine Erfahrung mit problematischen Geschichten, die verdrängt wurden und dann doch wieder auftauchten. In den letzten Jahren sind zum Beispiel so viele Publikationen zur Verbindung der Schweiz zum Kolonialismus (direkt (Falk et al. 2013, Purtschert & Fischer-Tiné 2015) und indirekt (Schär 2015)) erschienen, dass niemand mehr ernsthaft behaupten kann, dass es diese Verbindungen nicht gegeben hätte. Und jetzt – wieder sichtbarer in Museen als in anderen Bereichen – muss sich damit auseinandergesetzt werden. Vorher war es die Geschichte der «Verdingkinder» und der „Administrativen Versorgungen“ in der Schweiz, mit der sich die Öffentlichkeit und die Strukturen von Politik, Verwaltung und Jugendhilfe auseinandersetzen mussten. (beispielsweise Leuenberger et al. 2011, Guggisberg 2016, Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen 2019)

2. Provenienzforschung in deutschen und österreichischen Bibliotheken

Auch in Deutschland und Österreich dauerte es Jahrzehnte, bis sich Bibliotheken der Verantwortung im Bezug auf den NS stellten. Wirklich begann dies erst Ende der 1990er Jahre, unterstützt durch die «Washingtoner Principles» (zu denen siehe zum Beispiel bei Sarr & Savoy 2018, Hoffrath 2020), nachdem längst alle Beteiligten das Bibliothekswesen verlassen hatten (entweder in Rente waren oder tot). Aber was damals als Einzelprojekte begann, ist heute eine gewissermassen professionelle Organisation:

  • Bibliotheken haben sich Wissen dazu angeeignet – mit Rückgriff auf historische Methodiken, aber auch der Arbeit am Bestand selber – wie vorzugehen ist, um mögliche Problemfälle im Bestand zu identifizieren und zu überprüfen, um Forschungen zur Herkunft von Büchern anzustellen und, im Falle, dass sich ihre Provenienz als problematisch herausstellt, Kontakt zu Erben herzustellen und mit ihnen über die Rückgabe der betroffenen Bücher zu verhandeln. Es gibt etablierte Arbeitsabläufe.
  • Das es solche Bestände gibt und das es notwendig ist, die moralische Schuld zu übernehmen, ist heute im deutschen und österreichischen Bibliothekswesen eine etablierte Position. Auf Konferenzen werden Veranstaltungen zum Thema organisiert, auf denen es oft mehr um Detailfragen beim methodischen Vorgehen oder um Fragen der Ausweitung der Provenienzforschung geht und gar nicht mehr – weil das geklärt ist – um moralische Fragen. Publikationen zum Thema – sowohl als Monographien als auch eigenständige Artikel – sind so zahlreich, dass sich kaum noch zu überblicken sind. (nur drei: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern 2007, Bödeker & Bötte 2008, Hoffrath 2020) Mit der «DBV Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung», der «VÖB AG NS-Provenienzforschung» und – etwas umständlich – der AG Provenienzforschung in Bibliotheken im Arbeitskreis Provenienzforschung (sonst eher von Museen geprägt) existieren auch etablierte Strukturen für dieses Thema.
  • Die Erfahrung ist zweigeteilt: Erstens findet sich sehr viel «NS-Gut» in den deutschen und österreichischen Bibliotheken, wenn man nur genau schaut. Nicht nur solches, dass direkt Opfern des NS entzogen und in Bibliotheken untergebracht wurden, sondern auch solches, bei dem es mehrere Schritte gab zwischen diesen Opfern und den Bibliotheken, in denen die Bücher jetzt stehen (beispielsweise den Antiquariatsbuchhandel oder auch andere Bibliotheken). Es ist auch klargeworden, dass es nicht eine oder zwei Opfergruppen gibt, von denen Bücher entzogen worden. Es geht nicht nur um Bücher, die Jüd*innen entzogen wurden, sondern auch um solche von, zum Beispiel, Freimauer-Logen, sozialistischen, kommunistischen, sozialdemokratischen und ähnlichen Parteien, Gruppen, Gewerkschaften, oder auch aus Bibliotheken besetzter Länder. Zweitens aber zeigt sich auch, dass eine Provenienz als NS-Gut nicht immer heisst, dass diese Bücher aus dem Bestand der Bibliothek entfernt werden müssen. Eine Anzahl von Erben nehmen die Bücher wieder an sich – was ja auch ihr gutes Recht ist –, aber andere lassen die Bücher in den Bibliotheken stehen, mit einem Verweis in den Büchern und Katalogen. Warum wird unterschiedliche Gründe haben, aber oft wird erwähnt, dass es darum geht, eine Erinnerung an die Opfer an den Orten zu lassen, in denen sie lebten (oder als Organisationen aktiv waren). Oft sind also Einigungen möglich – wenn sich Bibliotheken ihrer Verantwortung stellen.
  • In den letzten Jahren weiten sich auch die Themen aus, über die in der Provenienzforschung gesprochen wird. Schaut man heute auf die Homepage der erwähnten DBV-Kommission, werden neben dem NS auch im Zweiten Weltkrieg «verlagertes Gut», Kolonialismus und DDR-Unrecht erwähnt. Die – im Falle dieser Kommission deutsche – Geschichte ist voller Verbrechen (die man nicht miteinander vergleichen sollte, sie sind alle für sich zu bewerten), in denen es auch oft um Bücher und Wissen ging. Es werden wohl noch einige dazukommen, mit denen sich die Kommission in Zukunft beschäftigen wird.

3. Ist die Schweiz so «schuldig», dass Bibliotheken sich damit beschäftigen müssen?

Wenn ich gerade gesagt habe, dass die deutsche Geschichte noch eine ganze Zahl an Verbrechen oder moralisch schwierige Punkte hat, auf die die bibliothekarische Provenienzforschung auch noch stossen wird, ist das kein Problem für mich. Das ist das Land, aus dem ich stamme (also, auch nicht wirklich – geboren und aufgewachsen in der DDR ist das auch noch mal eine besondere Situation), und ich war nie mit ihm oder seiner Politik zufrieden (auch wenn es immer schlimmer sein könnte). Schwierige Punkte der deutschen Geschichte aufzählen – da kann ich immer mitmachen.

Aber zumindest bislang habe ich die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht. Ein wenig habe ich schon Bedenken, vor allem mit der deutschen Geschichte im Rücken, als jemand daherzukommen und die Bibliotheken hierzulande moralisch zu bewerten. Ich hoffe, dass sie es selber machen. (Im Museumsbereich passiert dies ja.)

Denn, wie schon bei der Bührle-Sammlung zu lernen war, geht es nicht unbedingt um rechtliche Fragen. Es geht auch nicht darum, welche Bibliothek damals «etwas falsch gemacht hat». Fast alle Beteiligten sind – wie hart das auch klingen mag – jetzt tot. Es geht um moralische Fragen, nicht mehr darum, wer für per Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es geht, so wie es Keller (2021) in seinem Buch über die Bührle-Sammlung darstellt, um die Entscheidungen, die heute in der schweizerischen Gesellschaft getroffen werden.

Deshalb möchte ich hier, in diesem Abschnitt, aber etwas anderes fragen, dass nicht gleich als moralischer Vorwurf verstanden werden kann: Wie wahrscheinlich ist denn überhaupt, dass in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut steht?

Ein Argument nämlich, dass – wie man am Beispiel der Bührle-Sammlung lernen kann – vorgebracht werden könnte, ist, dass die Schweiz nicht am NS beteiligt gewesen sei, sondern ein demokratischen Hafen geblieben wäre. Das ist selbstverständlich historisch falsch: Die Schweiz war immer Teil von Netzwerken mit den umgebenden Ländern (Tanner 2015) und die waren, mit Ausnahme Liechtensteins, halt über mehrere Jahre nationalsozialistisch oder faschistisch. Das die Schweiz mit dieser Realität umgehen musste und dabei nicht immer die moralisch richtigsten Entscheidungen getroffen hat, ist eigentlich seit dem Abschlussbericht der Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002) etabliertes Wissen. Nicht zuletzt wurde oben ja schon mit Emil Bührle eine Person angesprochen, die genau von dieser Situation profitierte. (Keller 2021)

Aber es ist richtig: Es wäre überraschend, wenn Bibliotheken in der Schweiz direkt und ohne Umwege zum Beispiel von der Gestapo Bestände, die von Opfern des NS eingezogen wurden, überlassen worden wärem. Das passierte eher in Deutschland in seiner damaligen Ausdehnung. (Ob es wirklich nicht vorkam, das könnte man aber nur mittels historischer Forschung klären.)

Aber indirekt können schweizerische Bibliotheken sehr wohl profitiert haben. Der NS führte auch zu moralischen Problemen, die über ihn hinausgingen. Ein Beispiel, über das Anatole Stebouraka (2019) berichtet: Am Ende des Zweiten Weltkrieges konfizierte die Rote Armee in Deutschland unter anderem Buchbestände und Kunstobjekte in grosser Zahl, die alle in die Sowjetunion verbracht wurden. Die Begründung dafür war, dass diese als Reparationen für die Sammlungen dienen sollten, welche die Nazis aus der Sowjetunion entwendet oder zerstört hatten. Genauso wie das Vorgehen der Nazis war dieses Vorgehen nach internationalem Recht nicht wirklich gedeckt. Die Haager Landkriegsordnung steht dem entgegen. Aber – die moralische Position war für die Rote Armee haltbarer. Die systematische Zerstörung der Bibliotheken in der Sowjetunion war Realität gewesen. Die Idee, dafür Bücher aus deutschen Bibliotheken als Ausgleich zu konfizieren, ist zumindest nachvollziehbarer. Und: Ohne NS wäre es dazu nie gekommen.

Allerdings, das ist der Punkt bei Stebouraka, ist dies moralisch durch die verflossene Geschichte noch schwieriger geworden. Sie arbeitet selber in der belorussischen Nationalbibliothek in Minsk, dort lagern immer noch einige der damals von der Roten Armee konfizierten Bestände. Weissrussland ist ein Nachfolgestaat der Sowjetunion – aber ist es auch der moralische Nachfolger? Und: Die Bestände dort in Minsk sind in Teilen nicht direkt aus Deutschland, sondern offensichtlich zuerst von den Nazis aus französischen Bibliotheken zusammengetragen worden. Die Rote Armee hat also einmal gestohlene Bestände noch einmal gestohlen. Sollten die jetzt nach Frankreich zurückgegeben werden? Sollte dafür dann zum Beispiel von Deutschland oder Österreich eine Reparation eingefordert werden, weil sie ja eigentlich als Ersatz für zerstörte sowjetische Bestände galten? Stebouraka hat keine Antwort darauf. Aber ihre Geschichte zeigt, wie verzweigt die Fragen sein können. Es geht nicht nur um direkte Beziehungen zum NS-Staat.

Nimmt man zusammen, was man zum Beispiel über den Kunstmarkt während des NS, aus der Provenienzforschung in Bibliotheken, aus der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert und halt solche Geschichten wie der eben erzählten weiss, so finden sich mehrere theoretische Möglichkeiten, wie Bibliotheken in der Schweiz von Notlagen, die der NS geschaffen hatte, profitiert haben könnten:

  • Der Buchmarkt in Europa war, durch die ständigen Konfizierungen, «überschwemmt», genauso wie der Kunstmarkt: Der NS-Staat versuchte bekanntlich die Kunst, die er offiziell ablehnte, zu verkaufen, um Mittel für andere Zwecke zu erhalten. Gleichzeitig waren immer mehr Menschen gezwungen, selber Mittel aufzubringen, um vor den Nazis fliehen zu können, und mussten in dieser Notlage nicht nur für ihre Kunstwerke, sondern zum Beispiel auch für ihre Bücher, praktisch jeden Preis annehmen. Bücher, genauso wie Kunst, waren auf einmal in den 1930ern und 1940er Jahren in grosser Zahl und zu geringen Preisen auf dem Buchmarkt zu erhalten. Es wäre erstaunlich, wenn Bibliotheken in der Schweiz diese Möglichkeiten nicht auch genutzt hätten (schon weil die meisten dieser Bücher wohl in Landessprachen der Schweiz geschrieben waren) – zumal sie nicht einmal direkt über deutsche Antiquariate gehen mussten, falls sie moralische Bedenken gehabt haben. Auch, zum Beispiel, in Frankreich profitierte der Kunstmarkt und wohl auch der Buchmarkt. Und selbstverständlich konnte auch der schweizerische Buchhandel als Schnittpunkt agieren. (Keller 2018 deutet dies z.B. gerade für den kommunistischen zürcher Buchhändler Theo Pinkus an.)
  • Bibliotheken in Deutschland erhielten direkt Bücher aus den Konfizierungen oder aber konnten bei Versteigerungen, Verkäufen und so weiter billig an diese gelangen. Ein guter Teil davon werden Dubletten gewesen sein, die dann im normalen Dublettentauschen zwischen Bibliotheken eingesetzt werden konnten. Auch auf diesem Weg konnte NS-Raubgut in schweizerische Bibliotheken gelangen.
  • Einige Menschen konnten dem NS entfliehen und von diesen wieder einige konnten Teile ihres Eigentums mitnehmen. Auch in die Schweiz. Dort waren sie dann darauf angewiesen, ihr Überleben irgendwie zu sichern. Viele taten dies zumindest für eine Zeit, indem sie das veräusserten, was sie hatten. Auch so konnte (das wieder ein Beispiel aus der Bührle-Sammlung (Keller 2021)) zum Beispiel Kunst billig erworben werden – weil Menschen irgendwie überleben mussten. Es ist gut möglich, dass dies auch für Bücher galt. Waren diese Verkäufe, falls es sie gab, rechtlich einwandfrei? Bestimmt. Die Frage wäre aber, waren sie es dann auch moralisch?

4. Wie könnten schweizerische Bibliotheken vorgehen?

Ist das überzeugend? Vielleicht nicht für alle. Aber ist es nicht zumindest so, dass der Verdacht stark ist, dass auch in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut und Bücher, die dort nur wegen der Zwangslagen, die der NS produzierte, stehen, zu finden sind? Zumal grosse Bibliotheken in der Schweiz grosse historische Sammlungen haben, weil sie auch heute noch wenig aus dem Bestand entfernen – also auch Bücher, die in den 1930ern und 1940ern erworben wurden, noch zu grossen Teilen erhalten sind. Mir scheint, der Verdacht wird solange bestehen, solange er nicht untersucht wurde – wohl am Besten mit den Methoden der Provenienzforschung, die jetzt in Deutschland und Österreich etabliert sind. Welche Entscheidungen dann aus den Ergebnissen dieser Forschung gezogen werden, dass wäre dann (nochmal der Verweis auf das unterschiedliche Vorgehen der Kunstmuseen in Zürich, Bern und Basel) eine Aufgabe für die betroffenen Bibliotheken. (Und, ich sehe schon mal voraus, dass sich, falls sich Bestände finden, garantiert auch welche im gemeinsamen Bestand in der Speicherbibliothek in Büron finden werden – was nur noch mehr Fragen aufwerfen wird. Wer darf denn über die entscheiden?)

Aber mir scheint, es gibt auch eine gute Seite: Die schweizerischen Bibliotheken müssten für eine solche Provenienzforschung nichts neu erfinden. Historische Forschungen, die den Kontext für solche Arbeit und dann vielleicht später zu treffende Entscheidungen über aufgefundene Bestände, liefern, wurden schon durchgeführt. Methoden wurden auch schon entwickelt. Bibliotheken müssten dies nur zusammenführen: Man müsste die Kolleg*innen aus Deutschland und Österreich, die ja auch schon in Strukturen organisiert sind, einbeziehen, ebenso die Forschenden, die sich mit der schweizerischen Geschichte dieser Jahre befasst haben.

Wichtig wäre zuerst wohl, einen Überblick zu bekommen, viele Bücher (und vielleicht andere Medien) überhaupt in Betracht kommen für diese Provenienzforschung. Im Verdacht stehen – so war das in deutschen und österreichischen Bibliotheken auch – erstmal alle, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden (aus Italien wohl auch schon früher) und wohl auch einige, bei denen es einige Jahre später passierte. Eine Anzahl davon wird man schneller vom Verdacht befreien können. Aber wie viele, wird wohl nur eine Autopsie am Bestand selber zeigen.

Wer sollte das organisieren, wer finanzieren? In Deutschland und dann Österreich begann es mit kleinen Projekten in einzelnen Bibliotheken, teilweise in der Freizeit von Bibliothekar*innen durchgeführt, teilweise von den Bibliotheken finanziert. Heute ist die Situation etwas besser: Es gibt Fördermöglichkeiten und, wieder mit den erwähnten Strukturen, auch eine gewisse Lobby, um solche Fördermöglichkeit von der Politik oder Forschungsförderung – die in diesen Staaten, im Gegensatz zu Schweiz, eine Tradition der Infrastrukturförderung hat – einzufordern. Es ist aber weiterhin eine Mischsituation: Viel Eigeninitiative, viel Finanzierung durch die Bibliotheken selber, ein wenig Förderung durch den Staat. (Ich wäre nicht erstaunt, wenn Studierende, nicht nur aus Bibliotheksstudiengängen, sondern auch der Geschichtswissenschaft, mittels Praktika, Projekten oder Abschlussarbeiten dafür auch herangezogen werden.)

Wichtig ist, dass mehr und mehr Personen und Strukturen Verantwortung übernehmen und dass mit den Strukturen, Publikationen und Treffen sich über Erfahrungen ausgetauscht wird. So entsteht unter anderem auch ein Überblick dazu, was noch nicht untersucht wurde.

Aber ja: Falls mich jemand fragen würde, wie in der Schweiz vorgegangen werden sollte, wäre das meine Antwort:

  1. Bibliotheken sollten Arbeitszeit dafür bereitstellen.
  2. Es sollte eine Struktur ähnlich der in Deutschland und Österreich gegründet werden (eine Kommission oder Arbeitsgruppe von bibliosuisse würde sich anbieten).
  3. Es sollte sich über diese Strukturen in Deutschland und Österreich darüber informiert werden (das kann auch über die zahlreichen Publikationen geschehen, aber… warum nicht direkt fragen?), wie dort vorgegangen wird und dies dann auf die Schweiz übertragen werden.

Wie würde das ausgehen? Da wage ich keine Vorhersage. Meine Wahrnehmung der Schweizer Geschichte ist, dass dieses Land so vernetzt mit der Geschichte all der umgebenden Länder ist, dass sie an allen Anteil hat. Auch, aber nicht nur, dem Schlechten. Insoweit würde es mich wohl überraschen, wenn sich keine problematischen Bestände fänden. Aber wohl weniger, als in deutschen oder österreichischen Bibliotheken.

Was ich mich traue vorherzusagen, ist, dass sich die Provenienzforschung nicht auf den NS beschränken wird. Nicht nur, weil das in Deutschland schon passiert ist (siehe oben). Sondern, weil es sich aufdrängt: Wenn die Schweiz so vernetzt mit der ganzen europäischen Geschichte (im mindesten) ist, wird es auch eine Reihe weiterer Themen geben, bei denen Bibliotheken in der Schweiz von problematischen Situationen profitiert haben – und einige davon werden moralisch schwierig oder falsch gewesen sein. (Andere wieder vielleicht nicht. Die Schweiz hat immer auch viel von Personen profitiert, die von anderswo flohen und dann hierzulande ihre Kompetenzen einsetzen konnten. Das kann auch zum Beispiel bei Personal in Bibliotheken der Fall gewesen sein.)

Entkommen wird man dem aber nicht. Irgendwann kommen die Themen auch so auf. Weil, wie auch schon gesagt, die Geschichte voll solcher Situationen ist und weil Verdrängtes sich schon immer seinen Weg sucht, wieder aufzutauchen.

Literatur

  • Bödeker, Hans Erich ; Bötte, Gerd-J. (Hrsg.) (2008). NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek: Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. Berlin, Boston: K. G. Saur, 2008
  • Falk, Francesca ; Lüthi, Barbara ; Purtschert, Patricia (2013). Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012
  • Guggisberg, Ernst (2016). Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsverein 1948-1965. Baden: hier + jetzt, 2016
  • Hoffrath, Christiane (2020). Provenienzforschung und Provenienzerschließung in Bibliotheken: ein Rück- und Ausblick. In: Bibliotheksdienst 54 (2020) 10: 820-832, https://doi.org/10.1515/bd-2020-0095
  • Keller, Erich (2021). Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle. Zürich: Rotpunktverlag
  • Keller, Erich (2018). Der totale Buchhändler: Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie, 26 (2018) 2:126-148, https://doi.org/10.7788/ha-2018-260203
  • Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hrsg.) (2007). Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution: Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2007
  • Leuenberger, Marco ; Mani, Lea ; Rudin, Simone ; Seglias, Loretta (2011). „Die Behörde beschliesst“ – Zum Wohl des Kindes?: Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912-1978. Baden: hier + jetzt, 2011
  • Purtschert, Patricia ; Fischer-Tiné, Harald (edit.) (2015). Colonial Switzerland: rethinking colonialism from the margins. Zürich: seismo, 2015
  • Sarr, Felwine ; Savoy, Bénédicte (2018). Restituer le patrimoine african. Paris: Philippe Rey /Seuil, 2018
  • Schär, Bernhard C. (2015). Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015
  • Stebouraka, Anatole (2019). Livres français spoliés dans les collections de la Bibliothèque nationale du Bélarus. In:Poulain, Martine (coor.) (2019). Où sont les bibliothèques françaises spoliées par les nazis ?. Villeurbanne: presses l´enssib, 2019: 81-98, https://books.openedition.org/pressesenssib/7892
  • Tanner, Jakob (2015). Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2015
  • Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (2019). Organisierte Willkür: Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930-1981. (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A) Zürich, Chronos; Neuchâtel, Éditions Alphil; Bellinzona, Edizioni Casagrande, 2019
  • Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002). Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo, 2002

„Bibliotheken sind kein Luxus‟ (1973) – Die Bibliothek der Zukunft ist nicht so anders als auch schon

Artikel zu Öffentlichen Bibliotheken sind in Tages- oder Wochenzeitung keine Seltenheit. Zwar nicht täglich, aber doch regelmässig sind Entwicklungen in Bibliotheken Thema grösserer Texte. Und warum auch nicht? Es ist ein Thema, dass sich den Redaktionen offenbar immer wieder einmal aufdrängt, das keinen grossen Widerspruch erwarten lässt und bei dem es zum Beispiel auch nicht schwierig erscheint, Gesprächspartner*innen zu finden. Ich habe hier einmal einen älteren dieser Texte herausgegriffen – und gerade nicht den aktuellsten –, um an ihm etwas zu besprechen: Nämlich, zuerst welche Themen sich wiederholen und dann, was das für die Entwicklung von Bibliotheken heisst.1

Rolf D. Schürch: „Bibliotheken sind kein Luxus‟. In: Wir Brückenbauer, 05. Oktober 1973, Seite 3. Digitalisat der Schweizerischen Nationalbibliothek: https://www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=MIM19731005-01.2.14.1&e=——-de-20–1–img-txIN——–0—–

„Bibliotheken sind kein Luxus‟ von Rolf D. Schürch erschien 1973 in der Wochenzeitung „Wir Brückenbauer‟ des Migros [sprich: Migro], einer Genossenschaft, die heute noch in der Schweiz (und Liechtenstein) neben der Genossenschaft Coop [sprich: Cohp] den Einzelhandel prägt. Lange war insbesondere Migros auch eine politische Institution, die als „sozial-kapitalistisch‟ beschrieben werden könnte (nach kapitalistischen Prinzipien handelnd, aber mit sozialen Auftrag im Sinne der Verbesserung der Lebensverhältnisse – weshalb es zum Beispiel in der Migros weiterhin keinen Alkohol oder Tabak zu kaufen gibt). Sie – zumindest ihr Gründer Gottlieb Duttweiler, aber auch die „Migros-Partei‟ Ring der Unabhängigen – verstand sich als übergreifend für die ganze Schweiz, insbesondere alle Klassen, tätig. Wichtig ist hier: Das in dieser Wochenzeitung ein Text darüber erschien, wie mit einer Einrichtung wie Bibliotheken einem grossen Teil der Bevölkerung Zugang zu Medien und Informationen geschaffen werden könnte, war an sich nicht überraschend. Das passt gut in das Gesamtprogramm von Zeitung und Genossenschaft. Das dabei gefordert wird, dass sowohl Föderalismus der Gemeinden als auch übergreifende Strukturen gefördert werden sollte, ebenso – so funktioniert auch die Migros. Der Ton, in welchem der Text geschrieben ist, passt gut in die Zeitung selber.

Interessanter ist, dass der Artikel in der ersten Hälfte der 1970er erschienen ist; einer Zeit, die von gesellschaftlicher Veränderung und auch tatsächlicher Veränderung im Öffentlichen Bibliothekswesen geprägt war. Zehn Jahre vorher wäre dieser Text nicht erschienen. 1963 wurde über Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum anders gesprochen und geschrieben. Aber – und auf diesen Punkt möchte ich am Ende wieder kommen – zehn Jahre später oder auch heute könnte dieser Text in grossen Teilen weiter so erscheinen. Er wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, wo sich (im Bibliothekswesen, aber nicht nur da) viel veränderte, was sich seitdem aber wenig änderte.

Der Text ist nicht nur ein Beispiel dafür, dass sich das Bibliothekswesen nicht so viel geändert hat, wie es das vielleicht gerne hätte und das viele Vorstellungen zwar neu erscheinen, aber es eigentlich nicht sind. Er ist auch ein Beispiel dafür, dass Journalist*innen seit einigen Jahrzehnten immer wieder ähnliche und sich wenig verändernde Texte über das Bibliothekswesen schreiben.

Themen

Ich empfehle, den Artikel (plus die Bildunterschrift und die beiden „Kästchen‟ auf der Zeitungsseite) selber zu lesen. Hier werde ich, ein wenig voraussetzend, dass er bekannt ist, einige Themen aus dem Text besprechen.

Das Buch und die moderne Medienentwicklung

Warum wurde der Text überhaupt geschrieben? Sicherlich: Es ist ein Text in einer Wochenzeitung, die nicht nur der politischen Information, sondern auch der Unterhaltung und, ähm, der Information über Angebote bei Migros und zu Migros gehörender Einzelhandelsunternehmen bieten wollte (Cassettobox für 24 Kassetten bei exlibris für 8 CHF – das waren andere Zeiten (S. 15)). Insoweit muss nicht jeder Text einen klar erkennbaren Grund haben. Die gleiche Ausgabe enthält zum Beispiel einen Fortsetzungsroman (S. 14), eine als Gespräch getarnte Diskussion darüber, wer dafür haftet, wenn ein Hund ein Kind beisst (S. 6) und eine Kolumne dazu, wie viel oder wenig Kühlschränke auf Bakterien und Viren in Lebensmitteln einwirken (S. 2). Aber es finden sich auch zahlreiche Artikel, die einen explizit aktuellen Inhalt haben und zum Beispiel auf die Situation der Erwachsenenbildung nach der Ablehnung der Bildungsartikel in einer Volksabstimmung eingehen (S. 1), politische Ereignisse kommentieren (S. 1, S. 4, S. 8) oder Entwicklungen in der Migros selber schildern (S. 2).

Für den Text über Bibliotheken aber gibt es keinen erkennbaren Grund: Kein Neugründung, kein Jubiläum, keine Katastrophe. Es scheint, als wäre die Redaktion der Meinung gewesen, dass es einmal Zeit für dieses Thema wäre. Sie führt den Artikel wie folgt ein:

„Angesichts der Entwicklung neuer Informationsmedien wurde dem Buche bis vor kurzem der langsame Tod vorausgesagt. Der schwarze Pessimismus scheint nun aber zumindest verfrüht. Nach wie vor steigt weltweit die Zahl der produzierten Bücher ebenso wie die Beliebtheit der Bibliotheken, vorab in angelsächsischen und skandinavischen Ländern. Ein wachsendes Bedürfnis nach mehr Wissen und Information in unserer Zeit lässt die Bibliothek längst nicht mehr als Luxus für wenige erscheinen.‟

Wir sehen hier die Annahme, dass es offenbar die weit verbreitete Vermutung gibt, dass „neue Informationsmedien‟ das Buch verdrängen würden – aber diese Vermutung falsch wären. Es wird nicht gesagt, welches diese neuen Informationsmedien sind. Auch nicht, wer genau denn eigentlich erwartet, dass diese neuen Informationsmedien Bücher verdrängen würden. Stattdessen informiert die Redaktion hier, dass Bibliotheken weiterhin wichtig seien.

Diese argumentativen Sprünge finden sich nach den 1970ern in zahllosen vergleichbaren Texten:

  • Die Behauptung, es gäbe die Vermutung, dass bestimmte neue Medien oder Technologien sich durchsetzen und deshalb Bücher an Bedeutung verlieren würden. Welche diese Medien oder Technologien sind, wandelt sich: In den 1970er redet man zum Beispiel über Kassetten, in den 1980ern über Videokassetten, in 1990ern über Computer in Haushalten, in den 2000ern über das Internet, irgendwann auch über E-Books oder über Audiobooks. Aber immer gibt es die Idee, dass irgendwer erwarten würde, dass diese Medien gerade Bücher obsolet machen würden. Kaum einmal (auch nicht hier) wird gesagt, wer genau das vermutet oder warum eigentlich. Es wird einfach als bekanntes Bild aufgerufen.
  • In den Texten – manchmal, wie hier, direkt am Anfang, manchmal auch im Laufe des Textes – stellt sich dann heraus, dass das gar nicht stimmt. Anschliessend ist das dann für den Text selber kein Thema mehr, sondern oft nur ein Aufhänger für das eigentliche Thema. Aber immer wieder praktisch der gleiche Aufhänger.
  • Der Artikel springt von der Aussage, dass Bücher doch nicht verschwinden, sofort zu den Bibliotheken. Man könnte auch zum Buchhandel, zu Verlagen, zur Leseforschung oder Medienentwicklung springen – es ist also vom Beginn her eigentlich nicht ausgemacht, dass es um Bibliotheken geht. Aber auch dieser Sprung von Büchern direkt zu Bibliotheken, der nicht wirklich erläutert wird, findet sich in solchen Texten regelmässig. Für die Autor*innen scheint dieser Sprung nicht der Erläuterung würdig.

Die Bibliothek als etwas anderes, nur keine Bibliothek

Der eigentliche Text beginnt dann mit einem Café crème. Es gibt ihn hier noch nicht wirklich, sondern erst in einer „Bibliothek der Zukunft‟, aber offenbar einer, die sehr, sehr kurz bevorsteht. Worauf der Artikel auch gleich kommt, ist dass diese Bibliothek etwas anderes ist. Etwas, das man am Besten mit anderen Einrichtungen beschreibt:

„ Herr Bücherwurm befindet sich nämlich weder in einem Tea Room noch in einem Restaurant: Er sitzt in einer Bibliothek der Zukunft.‟2

Was der Text sagt, ist, dass es in Zukunft um Bibliotheken um etwas anderes geht, als um das, was offenbar als normal angesehen wird. Die Bibliothek wird dann etwas mehr sein, als sie bislang ist. Sie wird gemütlich sein, mehr (und andere) Menschen als bislang ansprechen, mehr Funktionen übernehmen:

„Diese Bibliothek ist im Stadtquartier Informationszentrum und Begegnungsstätte zugleich. Hier fühlen sich Heiri Hablützel (angelernter Fräser) und Vreni Fuhrimann (Nurhausfrau) ungeniert wohl. Bisher haben sie wie Lokomotivführer Bücherwurm und viele andere Leute aus lauter Angst und Misstrauen vor Büchern und Bildung einen weiten Bogen um Bibliotheken gemacht.‟

Dieser Absatz ist paradigmatisch dafür: Empirie wird nicht betrieben (Zum Beispiel: Wer besucht eigentlich bislang Bibliotheken? Das wird eher als bekannt vorausgesetzt.). Stattdessen werden Begriffe, die aktuell in der bibliothekarischen Literatur verbreitet sind, benutzt – hier „Informationszentrum‟ und „Begegnungsstätte‟, zwei Begriffe, die man in den frühen 1970ern zum Beispiel in der „Buch und Bibliothek‟ oft lesen konnte. Was diese Begriffe im Bezug auf Bibliotheken heissen, wird nicht richtig ausgeführt. Sind sie für sich alleine, als Begriffe, ausreichend? Wo kommen sie überhaupt her? Hat sich der Autor sie ausgedacht? Lagen sie „in der Luft‟? Es scheint eher, als hätte er sie aus den Interviews – die er ja im Artikel auch direkt zitiert – und der Recherche, die er für den Artikel durchgeführt hat, übernommen. Hier, in diesem Text, ist sogar ein Gespräch (mit Tista Murk) angegeben, in dem der Begriff „Informationszentrum‟ direkt fällt.

Es scheint, als wären sie als Begriffe überzeugend genug, um eine Veränderung anzuzeigen, ohne das geklärt wird, wie genau das vonstatten gehen soll. Es gibt Andeutungen: Diese neuen Bibliotheken würden bestimmte Bevölkerungsschichten ansprechen, hier als Arbeiter und Hausfrau gekennzeichnet, die sich bislang davon abhalten lassen würden, eine Bibliothek zu nutzen, weil diese einen falschen Ruf hätte und zudem bislang offenbar als fern von ihren eigenen Lebenswelten angesehen würde. Und zwar dadurch, dass die Bibliotheken gemütlich (durch Café crème oder auch die Einrichtung, die im gleich an diesen Absatz folgenden Zitat von Heinrich R. Rohrer erwähnt wird) und das Medienangebot breit würde.

Gleichzeitig soll die Bibliotheken neue Aufgaben übernehmen, was unter dem Begriff das „Informationszentrum‟ und später im Text mit „moderne[r] Informationsmanager‟ dargestellt wird. Was genau heisst das? Das wird nicht gesagt, aber – wieder weiter hinten im Text – es ist etwas anderes als „alte Schwarte[n]‟ oder das Spitzweg‛sche Gemälde vom lesenden „Bücherwurm‟.

Ebenso gleichbleibend scheint, dass Bibliotheken als schon auf dem Weg hin zu dieser „Bibliothek der Zukunft‟ gezeichnet werden: Noch nicht ganz da, aber doch auch schon nicht mehr „wie früher‟. Das scheint eines der Grundmotive dieses Artikels zu sein: Die Bibliotheken bewegen sich – die Politik oder die Gesellschaft müsse jetzt nur mitziehen.

Heute haben sich die Begriffe geändert, unter denen ähnliche Ideen im Bibliothekswesen besprochen werden. Wenn Journalist*innen für ihre Artikel mit Bibliothekar*innen über die Veränderungen in Bibliotheken reden, kommen diese neueren Begriffe auf und erscheinen dann wohl deshalb – ebenso wenig konkret geklärt wie das „Informationszentrum‟ – in ihren Artikeln, vielleicht weil sie ähnlich überzeugend klingen, aber inhaltlich offen bleiben. Es gibt heute tatsächlich auch in eigentlich allen schweizerischen Bibliotheken einen Café crème. Aber sonst scheint sich nicht so viel verändert zu haben.

Wachstum

Was ist eigentlich das Problem?

„1948 wurden hier [in der Berner Volksbücherei

] bei einem minimen Bücherbestand von nur 4000 etwas über 17 000 Bände ausgeliehen, 1961 waren es bei einem Bestand von 17 120 Büchern schon 57 045. Im Jahre 1971 aber offerierte die Volksbücherei bereits rund 117 000 Bücher – vom Kinderbuch bis zum Sachbuch – mit der Rekordzahl von 444 445 ausgeliehenen Werken.‟

Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz sind, folgt man dem Artikel, 1973 massiv erfolgreich. Mehr Entlehungen, mehr Nutzende, mehr Projekte, die in die Zukunft gerichtet sind, sogar mehr Bibliotheken. Es ist, wie gesagt, gar kein Text darüber, dass es Bibliotheken schlecht gehen würden oder gar das sie vor dem Zusammenbruch stehen würden. Wie oben gesagt: Warum genau der Text geschrieben wurde, ist nicht ersichtlich.

Es scheint eher, als wäre alles auf einem guten Weg. Die Politik müsste es nur noch richtig unterstützen, damit es noch besser würde. Es gäbe schon Einrichtungen, die eine solche Ausweitung unterstützen könnten und Vorstellungen, wie diese Veränderungen zu bewerkstelligen wären. Es gibt in diesem Text auch niemand, welche*r dieser Entwicklung irgendwie widerspricht und zum Beispiel sagen würde, „nein, Bibliotheken braucht es nicht‟ oder „das Geld wäre aber besser bei der Feuerwehr / dem Stadtverschönerungsverein / dem Tourismus / mehr Tea Rooms angelegt‟. Vielleicht ist die lokale Politik etwas schwerfällig hinterher, aber sonst: Was ist eigentlich das Problem?

Auch das ist in solche Texten normal: Folgt man solchen Artikeln, ist eigentlich das meiste immer schon auf einem guten Weg.

Fortschritt

Der Artikel ist auch voll von Entwicklungen, die als positiv dargestellt werden. Neben der Zunahme an Bibliotheksnutzung („Benützerexplosion‟) vor allem Projekte und neue Strukturen: „Hilfe zur Selbsthilfe‟ beim Aufbau von Bibliotheken durch die Schweizerische Volksbibliothek, Wachstums des Schweizerischen Bibliotheksdienstes, Schweizerischer Gesamtkatalog, die bevorstehende Gründung von drei Bibliothekscentern in drei Sprachregionen (das Räto-Romanische geht mal wieder leer aus). Was auffällt ist, dass Fortschritt vor allem als Aufbau von neuen Strukturen und von Projekten beschrieben wird. Sicherlich: Das ist etwas, über das man in einem Artikel dieser Art gut berichten kann, insoweit hat es vielleicht auch etwas mit dem Medium Wochenzeitung zu tun. Aber es ist doch eine spezifische Vorstellung von Fortschritt, die hier geschildert wird – eine, bei der zum Beispiel nicht so richtig gefragt wird, was dieser Fortschritt genau verändert. Auch das findet sich heute noch in ähnlichen Texten wieder.

Spitzweg

Wenn überhaupt ein Problem angesprochen wird in diesem Text, dann, dass es bislang bei vielen Menschen ein falsches Bild von Bibliotheken gäbe. Deswegen auch wird Spitzweg‛s bekanntes Bild – dessen Bibliothekar aber eigentlich gar nicht in einer Volksbibliothek steht – erwähnt. Die Behauptung zieht sich durch den Text: Bibliotheken würden schon hübscher, ansprechender, mehr, gemütlicher, relevanter für den Alltag (wenn man „Informationszentrum‟ so verstehen will) werden, aber es gäbe einfach ein altes Bild von Bibliotheken, dass Personen davon abhalten würde, diese neuen Bibliotheken zu besuchen.

Stimmt das? Welche Bilder haben diese Personen und woher eigentlich? Was genau wird dagegen getan? Auch das: So richtig klar ist nicht. Spitzweg zitieren mag sich anbieten, aber dessen Bild – schon zeitgenössisch eine Karikatur – wurden gegen 1850 gemalt, ist also auch 1973 schon über hundert Jahre alt.

Der Artikel – und auch das findet sich bis heute in solchen Artikeln – geht darauf nicht ein. Vielmehr wird ein Missverhältnis zwischen vorgeblichen Bild von Bibliotheken und vorgeblicher Realität behauptet und gleichzeitig postuliert, dass das Bild zu überwinden die Lösung für dieses Missverhältnis wäre. Das wird mit der Zeit – also wenn es auch in späteren Jahrzehnten immer wieder in solchen Artikeln auftaucht – immer unglaubwürdiger: Müsste sich mit der Zeit nicht doch das Bild von Bibliotheken geändert haben? Wenn nicht, wo kommen „die falschen Bilder‟ her? Oder würde es dann nicht sinnvoll sein, zu fragen, warum sie reproduziert werden? (Sind sie zum Beispiel gar nicht das Problem, sondern vielleicht nur Ausdruck eines tieferen Problems, dass überhaupt nicht mit neuen Bildern weggehen würde? Oder sind diese „veralteten‟ Bilder gar nicht so falsch? Aber wie kann das sein, wenn doch Bibliotheken seit Jahrzehnten dabei sind, sich zu verändern?)

Skandinavien und Bibliotheksgesetze

Vielleicht ist das Problem ja auch, dass die Schweiz nicht „Skandinavien‟ ist? Zumindest taucht als Vorbild für Bibliothekswesen in diesem Text mehrfach Skandinavien auf. Es wird als „Mekka vieler schweizerischer Bibliothekare‟ beschrieben, ohne zu klären, wieso eigentlich (oder das erwähnt würde, dass die dortigen Gesellschaften anders strukturiert sind, als die Schweiz, beispielsweise viel zentraler). Auch dieses Wissen scheint irgendwie vorausgesetzt zu werden. Dafür gibt es hier die Behauptung, Bibliotheken würden dortzulande3 noch mehr geachtet als hierzulande:

„Eine schöne und moderne Bibliothek ist dort eine Prestigeangelegenheit.‟

Vielleicht soll der Artikel dazu auffordern (Aber wen? Die Politik? Die Gesellschaft?), Bibliotheken auch als Prestigeangelegenheit anzusehen? Das ist ungeklärt, aber – auch das ist in Texten dieser Art bis heute normal.

Einen konkreten Hinweis gibt aber zweimal, einmal im Artikel, einmal im „Kästchen‟ daneben: Der Wunsch nach einem Bibliotheksgesetz. Es wird als „Geheimnis‟ bezeichnet, warum es in Dänemark so viele gute Bibliotheken gäbe. Gleichzeitig wird die geplante Ausweitung der Schweizerischen Volksbibliothek über ein Gesetz gefordert, aber auch gleichzeitig der Eindruck erzeugt, dass dies kurz bevorstehen würde:

„Das Eidgenössische Departement des Innern möchte das Projekt reiflich und wohlwollend prüfen. Eine Gruppe von Parlamentariern will sich im National- und Ständerat dafür einsetzen.

Erwartet wird auf dem Wege über die Gesetzgebung des Bundes die Bestätigung der Aufgaben zur Förderung des Bibliothekwesens, wie dies bei der Landesbibliothek und der ETH-Bibliothek bereits der Fall ist.‟

Werbung für Bibliotheken

In diesem Artikel werden Bibliotheken sehr, sehr positiv dargestellt. Sie gelten als wichtig, ihre Entwicklung wird als richtig und wichtig erläutert. Gefordert wird von ihnen, wenn überhaupt etwas, dann so weiter zu machen: Mehr davon. Ein Bibliotheksgesetz (ein Dauerwunsch des Bibliothekswesens) wird nicht direkt gefordert, aber indirekt doch. Kritik gibt es keine. An Problemen wird benannt, dass es ein veraltetes Bild von Bibliotheken gäbe, bei einigen Menschen – aber das scheint sich gerade zu ändern. Und, dass es zu wenig Geld gäbe, weil es in Dänemark mehr hätte.

Grundsätzlich ist dieser Artikel Werbung für Bibliotheken – man weiss aber nicht so recht, wofür genau. Aber für das, was man einige Jahre später „Marke Bibliothek‟ nennen wird, schon.

Solche Texte, wie schon erwähnt, erscheinen seit den 1970ern regelmässig im DACH-Raum. Sicherlich, zwischendurch gibt es auch Pressemeldungen über gekürzten Bibliotheksetat oder kurze Meldungen über Umbaumassnahmen oder kleine Probleme. Wenn Bibliotheken geschlossen werden auch mal Artikel zu Protesten dagegen (was noch eine ganz eigene Artikelgattung darstellt, bei der Bibliotheken ebenso sehr positiv dargestellt werden). Aber die grossen, seitenlangen Beiträge klingen eigentlich immer wieder so, wie dieser Artikel. Das ist interessant, weil man aus der bibliothekarischen Literatur nicht unbedingt den Eindruck erhält, es gäbe in der Öffentlichkeit ein gutes Bild von Bibliotheken. Dort wird immer wieder einmal beklagt, dass das Bild von Bibliotheken in der Öffentlichkeit veraltet sei – was halt nicht stimmt, wenn man die Presse als Öffentlichkeit nimmt. Aber bei diesem Bild teilen offenbar Bibliotheken und Journalist*innen die gleiche Vorstellung.

Doch, ehrlich gesagt, könnte man sich bessere Werbung für Bibliotheken in diesem Medium nicht wünschen, selbst wenn man dafür bezahlen würde.

Schulbibliotheken

Ein Thema, dass nicht so oft in solchen Artikeln angesprochen wird, aber hier halt doch, sind Schulbibliotheken. Diese erhalten sonst oft eigene Artikel, nicht so oft, aber doch alle Jahre wieder einmal. Hier ist es ein eigener Abschnitt, in welchem behauptet wird, sie hätten bislang „vielerorts ein trauriges und stilles Schattendasein [gefristet]‟, jetzt aber hätte „man [wer?] die Bedeutung einer modernen Schulbibliothek erkannt‟. Sie würden zur Demokratisierung der Schule beitragen und hätten zudem „im modernen Arbeitsunterricht eine zentrale Bedeutung: Sie dient Schülern und Lehrern gleichermassen als Informations-, Lese- und Arbeitsstätte. Nicht zuletzt soll sie die Schüler unter anderem auch auf die Benützung von Spezialbibliotheken vorbereiten.‟

Auch hier finden sich vor allem Begriffe, die zeitgenössisch in der bibliothekarischen Literatur zu finden waren.4 Der Ton gleicht dem des restlichen Artikels: Die Veränderung steht kurz bevor, weil klar wäre, welche es sein müsste. Es ist nicht zu sehen, wer sich dem in den Weg stellen sollte.

Und heute noch klingen Artikel zu Schulbibliotheken so, als wäre bewusst, wie Schulbibliotheken bislang sind, als wäre klar, dass sie so, wie sie sind, schlecht sind. Dass aber auch bekannt sei, wie sie werden müssten. Und so, als ob es bald besser würde – auch wenn es schon in den 1970ern so klang.

Aber: Warum werden Schulbibliotheken hier überhaupt erwähnt? Sie sind keine Öffentlichen Bibliotheken. In den realen Schulbibliotheken ist die Verbindung zu Öffentlichen Bibliotheken auch selten Thema. Aber in der bibliothekarischen Literatur wird es so beschrieben, als wären Schulbibliotheken eigentlich Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens, wenn einmal über Schulbibliotheken gesprochen wird. Auch hier scheint der Artikel sehr vom bibliothekarischen Diskurs selber gesteuert zu sein.

Was hat sich geändert?

1973 ist nun schon eine recht lange Zeit her – und doch habe ich bis jetzt vor allem betont, dass sich bei solchen Artikeln wenig geändert hat. Aber stimmt das? Was hat sich vielleicht doch geändert?

  • Einfach zu sehen ist: Die Namen der Institutionen sind heute andere. Die Schweizerische Volksbibliothek ist heute die Stiftung Bibliomedia Schweiz (tatsächlich mit drei Standorten in drei der vier Sprachregionen). Der Schweizerische Bibliotheksdienst heisst heute sdb (und ist jetzt Tochterunternehmen der ekz). Wenn im Artikel von zwei Bibliotheksverbänden gesprochen wird, bei dem sich der eine aus dem anderen herauslöst, sind beide heute wieder ein Verband, der bibliosuisse (vereinigt unter dem Eindruck, man müsse sie zusammenführen, um eine gemeinsame Stimme zu haben).
  • Ein Bundesgesetz über Bibliotheken gibt es in der Schweiz weiterhin nicht (wie auch in einem föderalistischen Staat), aber es gibt tatsächlich eine Anzahl von kantonalen Bibliotheksgesetzen. Wie wirksam sind sie? Das ist nicht einfach zu beantworten – vor allem ist es aber kein Thema der bibliothekarischen Literatur.5
  • Was sich geändert hat, ist, dass sich damals, 1973, als dieser Artikel erschien, im Bibliothekswesen in der Schweiz (und im restlichen DACH-Raum) tatsächlich viel veränderte. Viele Öffentliche Bibliotheken (und Ludotheken) feierten letztens erst 50 Jahre Bestehen oder werden es bald tun. Es gab damals Anfang der 1970er eine Gründungswelle von Bibliotheken über die grossen Städte hinaus. Dies bedeutete oft auch, dass die Gemeinden begannen, einen regelmässigen Etat (beziehungsweise schweizerisch: einen Kredit) zu sprechen, das Bibliotheksgebäude gebaut oder zumindest Räume für Bibliotheken eingerichtet wurden. Infrastrukturen wurden etabliert. Insoweit hatten die Diskurse von bevorstehender Veränderung, die auch diesen Artikel tragen, schon eine gewisse Nachvollziehbarkeit: Es änderte sich sichtbar etwas (nicht nur in den Bibliotheken), insoweit war es überzeugend, noch mehr Veränderung zu erwarten. Aber gilt das heute, 50 Jahre später, immer noch? Wie kann nach 50 Jahren praktisch von der gleichen Veränderung erwartet werden, dass sie demnächst kommen wird? Wie kann zum Beispiel die bessere Präsentation von Medien oder die gemütlicher eingerichtete Bibliothek 50 Jahre, nachdem man die Medien schon besser präsentieren und die Bibliothek gemütlicher einrichten wollte, eine Veränderung in der Nutzung von Bibliotheken hervorbringen? Nicht so sehr die eigentlichen Diskurse, aber die Überzeugungskraft der vorgebrachten Bilder scheint sich verändert zu haben – allerdings nicht so sehr, als das sie nicht doch immer wieder aufgerufen werden.
  • Die 1970er Jahren waren im DACH-Raum (mit Ausnahme der DDR, aber selbst dort gab es zum Beispiel mit den Jugendweltfestspielen 1973 die Hoffnung auf Liberalisierung) eine Zeit der gesellschaftlichen Liberalisierung. Die Grundidee der Demokratisierung prägte Überlegungen und Planungen. In diesem Artikel spiegelt sich das explizit in dem Abschnitt über Schulbibliotheken wieder: „Sie [die moderne Schulbibliothek] soll die Liberalisierung der Bildung im modernen Schulwesen ermöglichen helfen und den jungen Menschen frühzeitig durch Bereitstellen von Informationsmaterial zu selbständigen intellektuellen Erfahrungen führen. Ausserdem möchte sie sein kritisches Urteilsvermögen fördern.‟ Aber auch die Vorstellung, dass die Bibliothek für alle geöffnet werden sollte, speist sich aus dieser Vorstellung, dass eine moderne Gesellschaft eine liberale und demokratische Gesellschaft sein müsse, in der alle in der Lage sein müssen, sich zu informieren und zu bilden, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Das ist heute eigentlich kein Thema mehr (nicht nur im Zusammenhang mit Bibliotheken). Man kann sich streiten, wieso. Ist die Gesellschaft schon ausreichend (oder zumindest ausreichend mehr als in den 1970ern) liberal und demokratisch? Ist das kein Ziel mehr? Ist es durch andere Ziele (zum Beispiel alle Menschen als Träger*in von „Humankapital‟ zu verstehen und zu fördern) ersetzt worden? Auffällig ist aber, dass das in den heutigen Artikeln über Bibliotheken dieser Art und auch der bibliothekarischen Literatur fehlt. Dieser gesellschaftspolitische Anspruch – der ist verschwunden.
  • Der Artikel beginnt mit „Heiri Hablützel (angelernter Fräser) und Vreni Fuhrimann (Nurhausfrau)‟. Beide sind erfunden, doch sie stehen offenbar für die Personengruppe, die bislang Bibliotheken nicht besuchen würden, die aber mit den Bibliotheken der Zukunft angesprochen würden: Arbeiter, Hausfrauen. Weiter im Artikel findet sich das Zitat von Tista Murk: „Vor allem die junge und jüngere Generation und dann wieder die Aelteren lesen heute eher mehr als früher.‟ Das hat sich heute auch geändert: Die Personengruppen, von den man ausgeht, dass sich nicht lesen, sind andere geworden. Man kann diskutieren, welche. Aber interessant ist eher, dass sich die Bilder derer, die man ansprechen möchte, ändern, während sich die Ideen, wie man sie ansprechen möchte, weniger ändern. Eine Gruppe, der man unterstellt, dass sie bislang nicht Lesen / nicht in Bibliotheken gehen würde, die aber mit einem Umbau der Bibliothek dann lesen / in die Bibliothek kommen würden, gibt es immer. Was sich hingegen nicht geändert hat, dass solche Texte ohne empirische Untermauerung auskommen, also gar nicht erst zeigen, ob es diese jeweilige Gruppe gibt oder wie deren Leseinteressen / Bibliotheksaktivitäten eigentlich sind – das wird als bekannt vorausgesetzt. Ebenso wie, dass sie von Bibliotheken angesprochen werden, wenn die Bibliotheken nur gemütlicher werden, die Medien besser präsentieren und neue Funktionen übernehmen.
  • Ein Begriff, recht am Ende des Artikels, lässt aufhören: „Sie [die Bibliotheken in der Schweiz bis zur Neuzeit] war der Masse fremd, die sich bestenfalls zur «geistigen Suppenküche» verlief.‟ Geistige Suppenküche – auch hier offenbar kein Begriff, der extra eingeführt werden muss, sondern auf den einfach so zurückgegriffen wird. Aber einer, den man heute kaum noch hört und wohl eher erklären muss. Wo kommt er her? Er stammt aus einer Zeit vor den 1970er Jahren. Ende des 19. Jahrhunderts begannen im Bibliothekswesen die damals neuen Lesehallen, aber auch die Arbeiterbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken, die von Kirchgemeinden betrieben wurden, nicht nur zu wachsen, sondern auch sich polemisch abzugrenzen. Ihre Forderung war, als „richtige‟ Bibliotheken anerkannt und finanziert zu werden, die „ohne kommerzielle Interessen‟ einfach nur Bildung verbreiten wollten. Dazu grenzten sie sich nicht nur gegeneinander ab, sondern auch von einer Institution, die weit verbreitet war. Der sogenannten „kommerziellen Leihbibliothek‟, also Einrichtungen, die den Verleih von Büchern (und Heften) auf kommerzieller Basis betrieben, oft in Verbindung mit anderen Geschäften (zum Beispiel Buchhandlungen, aber auch allgemeinen Kiosken). Diesen wurde – selbstverständlich auch, um sich abzugrenzen – vorgeworfen, nur bestehen zu können, indem auf literarische Qualität oder Bildungsinhalt von Literatur nicht geachtet wurde: Nur, wenn sie umstandslos die literarischen Interessen der Massen abdecken würden, möglichst billig, möglichst viel, könnten sie finanziell überleben. Zum polemischen Begriff dazu wurde „geistige Suppenküche‟ (auch „literarische Suppenküche‟). Hier ist egal, ob der überhaupt berechtigt war (natürlich nicht, er war eine Polemik6). Interessant ist, dass er in einem Artikel von 1973 noch einmal erscheint, obgleich die Einrichtung, gegen die Bibliotheken so abgegrenzt werden sollten, eigentlich gar nicht mehr existierten und obwohl die Abgrenzung keinen Sinn mehr machte, weil die modernen Bibliotheken ja jetzt auch darauf zielten, alle Menschen anzusprechen und nicht mehr literarisch zu erziehen. Er scheint hier in gewisser Weise „übergeblieben‟. Heute ist er fast nicht mehr verständlich, vielleicht weil wir uns historisch von den bibliothekarischen Auseinandersetzungen von Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts entfernt haben und weil sich ein Verständnis von Bibliothek etabliert hat, dass diese Abgrenzung auch nicht mehr sinnvoll macht.

Fazit

Was lässt sich also aus diesem Artikel von 1973 lernen, insbesondere wenn man – was ich hier nicht gezeigt habe, aber was man selber gut überprüfen kann – davon ausgeht, dass sich solche Texte seit den 1970er Jahren in Wochenzeitungen und im Feuilleton grosser Tageszeitungen im DACH-Raum in gewissen Regelmässigkeit finden?

Zuerst wohl, dass nicht alles, was in ihnen als Veränderung dargestellt wird, vor allem als kurz bevorstehende Veränderung, tatsächlich eine Veränderung darstellt. Dieses Bild basiert oft auf immer wieder reproduzierten Bildern, Vorstellungen und – well – Vorurteilen (zum Beispiel darüber, was Gruppen, die nicht in die Bibliothek kommen, eigentlich wollen würden). Gleichzeitig wohl auch auf Hoffnungen von Bibliotheken, die wenig hinterfragt werden (Warum gibt es diese Hoffnungen? Wer hat die? Was genau wird sich eigentlich erhofft?) Warum gibt es diese ständige Reproduktion und warum fällt die in der bibliothekarischen Literatur vielleicht gar nicht so auf? Mir scheint, sie ist Teil des modernen Bibliothekswesens. Eine moderne Bibliothek geht heute davon aus, dass sie sich verändern müsse, dass sie die Medienpräsentation verändern müsse, dass es Gruppen gäbe, die wegen falschen Vorstellungen davon, was Bibliotheken sind, nicht in die Bibliothek kommen. Dabei geht es vielleicht gar nicht darum, ob diese Vorstellungen stimmen, sondern darum, dass sie zur Identität einer modernen Bibliothek gehören.

Ist das hilfreich für die Entwicklung von Bibliotheken? Das ist eine andere Frage. Auch die Reproduktion einer Institution ist ja eine Aufgabe, die Arbeit erfordert. (Um hier Luhmann ganz, ganz abzukürzen.)

Es lässt sich aber auch vermerken, dass nicht alles an vorgeschlagener Entwicklung von Bibliotheken, was auf den ersten Blick logisch oder sinnvoll erscheint, das auch wirklich ist. Auch nicht, wenn es als neue Idee daherkommt (wie zum Beispiel Bibliotheksgesetze, die immer wieder einmal als neue Idee vorgeschlagen werden und bei denen man dann „entdeckt‟, dass es sie in anderen Ländern – in Skandinavien, aber eigentlich auch anderswo – schon lange gibt7). Wie man in diesem Artikel von 1973 lesen kann, ist die Vorstellung, Bibliotheken würden an einem veralteten Bild von Bibliotheken in der Gesellschaft leiden oder die Vorstellung, das Buch wäre irgendwie durch neue Medien oder Informationstechnologien bedroht oder das Schulbibliotheken Informationszentren werden sollen oder halt das Bibliotheksgesetze sinnvoll wären, schon älter. Das hat sich nicht verändert, nur leicht verschoben. (Was hat sich dann eigentlich tatsächlich verändert?) Es ist deshalb nicht sofort falsch, aber halt offenbar auch nicht einfach so richtig.

Aber man sollte den Blick nicht nur auf das Bibliothekswesen richten. Was man aus diesem Text auch lernen kann, ist, dass Journalist*innen immer wieder praktisch den gleichen Text über den Zustand von Bibliotheken schreiben: Einen, der davon ausgeht, dass Bibliotheken eigentlich irgendwie bedroht wären, dann aber – oft im Gespräch mit Vertreter*innen des Bibliothekswesens – merken, dass das gar nicht stimmt, sondern das Bibliotheken sich entwickeln würden und schon Vorstellungen davon hätten – ausgedrückt oft in gut zitierbaren Schlagworten, die dann auch zitiert werden – wohin sie sich entwickeln sollten. Das sind dann immer wieder auch Texte, in denen die Schreibenden offensichtlich „Pro Bibliothek‟ sind. Aber halt auch solche, die sich über die Jahrzehnte wenig ändern.

 

Fussnoten

1 Es spricht auch für ihn, dass er – da er aus der Schweiz stammt – voller Helvetismen steckt, was ich immer gut finde: Wir sollten alle möglichst viele Varietäten des Deutschen lesen, um zu sehen, wie bunt auch diese Sprache eigentlich sein könnte / ist. Schon als Gegengift gegen die Idee, Sprache sei immer gleich, eindeutig und unveränderlich. Aber das als Nebenthema.

2 Vom „Tea Room‟ sollte man sich nicht irritieren lassen, falls das irritiert. Das ist ein Helvetismus. Es sind Cafés mit Gebäckangebot und kleiner warmer Küche, die sich in der Schweiz praktisch in jeder Gemeinde finden. (Ich tippe vom Namen her auf ein Überbleibsel aus der Zeit der „grand tour‟. Guten Tee gibt es in ihnen im Allgemeinen leider nicht.) In einem Text aus Deutschland würde hier Café oder Konditorei stehen, in einem aus Österreich vielleicht Kaffeehaus.

3 Auch in diesem Artikel gibt es dieses Phänomen, dass nicht klar ist, welche Länder hier zu Skandinavien gezählt werden und welche nicht – was bei einem Artikel in einer Wochenzeitung vielleicht nicht so auffällig ist, weil das nicht das Thema des Textes ist. Aber es gilt halt auch für Texte dieser Zeit – oder heute – in bibliothekarischen Medien.

4 Es würde mich nicht wundern, wenn sie Wort für Wort in: Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3. stehen, der damals aktuellsten schweizerischen Publikation zu Schulbibliotheken. (Habe ich aber leider gerade hier nicht vorliegen.)

5 In einer Bachelorarbeit (Buck, Ute. Die Schweizer Bibliotheksgesetze: ein Vergleich der Wirkung anhand festgelegter Kriterien. Bachelorarbeit FH Graubünden, 2019) war die Antwort: Etwas weniger als kantonale Richtlinien für Bibliotheken.

6 Nicht nur war die „kommerzielle Leihbibliothek‟ eine wichtige Einrichtung, um überhaupt die Massen-Alphabetisierung zu erreichen, auf die dann die Industrialisierung, aber auch das moderne Bibliothekswesen aufbauen konnte. Auch ist die Abgrenzung in der Schweiz nicht so klar: Bis vor wenigen Jahren gab es hier zum Beispiel noch Bibliotheken, die – wie die „kommerziellen Leihbibliotheken‟ – Gebühren nach einzelnen Ausleihen berechneten. (Als: Kosten pro ausgeliehenem Buch, nicht nur eine einmalige Jahresgebühr.)

7 Ich erinnere mich gut, wie in den frühen 2000er Jahren die Bertelsmann-Stiftung das als neues Ziel für Bibliotheken verkündete und ihr darin von vielen gefolgt wurde. Ich kann nicht der Einzige sein, der sich daran erinnert.

Der Blick der Politik auf Schulbibliotheken: Der Schulbibliotheksartikel des Volksschulgesetzes St. Gallen im Rahmen der Totalrevision, 1976-1983

[Vorbemerkung: Dieser Artikel war der Zeitschrift, für die er gedacht war, zu speziell. Ich finde ihn spannend genug, um ihn nicht „in der Schublade“ zu lassen.]

Artikel 25 des Volksschulgesetzes des schweizerischen Kantons St. Gallen beschäftigt sich explizit mit Bibliotheken:

“Art. 25 Bibliothek
1 Die Schulgemeinde unterhält eine Bibliothek für Schülerinnen und Schüler sowie eine Bibliothek für Lehrpersonen.
2 Die Bibliothek für Schülerinnen und Schüler kann zusammen mit anderen Institutionen geführt werden.”1

Seit der Einführung des Gesetzes 1983 ist dieser Artikel – im Gegensatz zu zahlreichen anderen – nicht verändert worden, insoweit regt er im Kanton offenbar nicht zu Widersprüchen an. Ein solcher Artikel ist für die Schweiz allerdings auch nicht ungewöhnlich. In Schulgesetzen von 20 Kantonen sowie zusätzlich in Bibliotheksgesetzen zwei weiterer Kantone werden Schulbibliotheken erwähnt. Weiterhin verfügen drei Kantone über spezielle Erlasse zu Schulbibliotheken. In den Kantonen St. Gallen und Luzern erwähnen sowohl Schul- als auch Bibliotheksgesetze Schulbibliotheken. Nur vier der 26 Kantone regeln das Vorhandensein von Schulbibliotheken nicht rechtlich.2

Zum Artikel im St. Galler Volksschulgesetz haben sich zudem im Staatsarchiv St. Gallen (StaatsA SG) Unterlagen aus den Diskussionen, die zum Gesetz führten, erhalten. Anhand dieser Unterlagen lässt sich insbesondere für die Jahre 1976 bis 1978 nachvollziehen, wie sich die Diskussionen um diesen Artikel gestaltete. Sie bieten einen seltenen Einblick in die unterschiedlichen Zugänge politischer Akteurinnen und Akteure zu Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum. Der vorliegende Text zeichnet diese anhand der in den Unterlagen vorhandenen Vorschlägen für den jetzigen Artikel 25 nach und versucht, die Wahrnehmung von Schulbibliotheken darzustellen.

1. Das Volksschulgesetz von 1983 und die Vernehmlassung als Prinzip der schweizerischen Gesetzgebungsverfahren

1952 wurde im Kanton St. Gallen ein Erziehungsgesetz erlassen, welches versuchte, im damals noch stark von konfessionellen Differenzen sowie den Unterschieden von Stadt und Land geprägten Kanton einheitlich alle Fragen des Erziehungswesens zu regeln. Dieses Gesetz war selbstverständlich ein Kompromiss, welches insbesondere die unterschiedlichen Interessen der damals bestimmenden Parteien des Kantons sowie der durch sie vertretenen Bevölkerungsgruppen zu beachten hatte. Bis zum Ende der 1970er Jahre hatte sich die politische und gesellschaftliche Struktur im Kanton, genauso wie in der gesamten Schweiz und Westeuropa, grundlegend geändert. Konfessionelle Unterschiede hatten viel weniger Bedeutung, die Bindung der Milieus an einzelne Parteien war zurückgegangen, gleichzeitig waren neue Parteien und Bewegungen entstanden. Vor allem aber bestimmte die Überzeugung den öffentlichen Diskurs, dass die Gesellschaft, und damit auch das Bildungswesen, grundlegend reformiert werden müsste. Trotz radikaleren Vorbildern in anderen Kantonen und dem Ausland3 geschah diese Reform in St. Gallen eher spät, am Ende der 1970er Jahre, und in einem kompromissfördernden Prozess.

Im Jahr 1976 unternahm das Erziehungsdepartement (EZD) die ersten Vorstösse, das Erziehungsgesetz, welches in den vorhergehenden Jahren von weiteren Gesetzen und Reglementen ergänzt worden war, einer Totalrevision zu unterziehen.4 Schon zu Beginn dieses Prozesses scheint die Idee gestanden zu haben, das Erziehungsgesetz in drei Gesetze zu unterteilen: das Volksschulgesetz (welches damals die erste bis zehnte Klasse, inklusive der sechsjährige Primarschule umfasste, dann im Laufe der Diskussion noch um den heute zweijährigen Kindergarten ergänzt wurde), das Mittelschulgesetz (elfte bis dreizehnte Klasse) sowie das Gesetz über die Pädagogische Hochschule. Im Folgenden wird sich mit dem Volksschulgesetz auseinandergesetzt, zu dessen Entstehungsprozess im Rahmen eines grösseren Projektes zu den Schulbibliotheken des Kantons St. Gallen Unterlagen ausgewertet werden konnten.

Gesetze und andere weiterreichende Bestimmung werden in der Schweiz gemeinhin in einem “Vernehmlassung” genannten Verfahren vorbereitet. Dieses Verfahren soll die Einbindung möglichst aller betroffenen Gruppen und Institutionen bewerkstelligen und einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen ermöglichen. Vorversionen von Gesetzestexten oder ähnlichen Regelungen werden an alle möglicherweise interessierten Gruppierungen verschickt. Wenn es sich um gewichtige Gesetze handelt, kann auch versucht werden, eine repräsentative Auswahl von Einzelpersonen anzuschreiben.5 Die so in die Vernehmlassung Einbezogenen haben dann die Möglichkeit, Rückmeldungen zu geben, Änderungen vorzuschlagen beziehungsweise einzufordern oder auch Ablehung zu formulieren. Diese Rückmeldungen werden in eine weitere Version des Gesetzestextes eingearbeitet. Erst diese wird schliesslich zur Abstimmung gestellt. Grundsätzlich können alle Gruppen und Personen auch ohne Einladung an einer Vernehmlassung teilnehmen, solange sie über die Existenz des jeweiligen Vernehmlassungsverfahrens informiert sind. Im Falle der Totalrevision des Erziehungsgesetzes veranstaltete die Kantonsregierung eine öffentliche Veranstaltung und publizierte die dort gehaltenen Vorträge sowie den Entwurf der drei neuen Gesetze.6 Dies ist allerdings selten der Fall. Schwachstelle des Verfahrens ist, dass die Auswahl der potentiell beteiligten Gruppen intransparent ist. Gleichzeitig ist das Verfahren eingespielt, weithin akzeptiert und der Gesetzgeber im Allgemeinen bemüht, einen Ausgleich zu schaffen und beispielsweise wirklich alle relevanten Parteien und Organisationen zur Vernehmlassung einzuladen.

Im Fall des Volksschulgesetzes existierte damals eine Kantonale Kommission für Schulbibliotheken (KKS), die vom EZD beauftragt war, Schulbibliotheken bei der Bestandsauswahl anzuleiten.7 Die Kommission war 1906 als „Jugendschriftenkommission“ mit dem Ziel gegründet worden, damals als gefährlich angesehener Literatur durch die Förderung von Schulbibliotheken mit subventionierter „guter Literatur“ entgegenzuwirken.8 Im Laufe der Geschichte änderte sich Name, Kompetenzbereich und Aufgabenbeschreibung der Kommission, obwohl sie grundsätzlich immer eine Liste empfohlener Jugendliteratur für Schulbibliotheken publizierte. In den 1960er und 1970er Jahren nahm sie auch explizit Beratungsaufgaben für Schulbibliotheken wahr.9 Die Protokolle der Kommission sind im StaatsA SG erhalten.10 1983 ging die Kommission in der Kantonalen Kommission für Schul- und Gemeindebibliotheken (KKSG) auf, wo sie eine eigene Fachgruppe bildet, welche bis 2012 bestand.11 Im Vernehmlassungsverfahren wurde die Kommission als Experteninstitution angeschrieben und äusserte sich auch umfangreich zum Schulbibliotheksartikel.12 Gleichzeitig war ihr Status nicht unangefochten. Ihre Vorschläge und Einwürfe wurden in der Ausgestaltung des Gesetzes nicht gesondert beachtet, zugleich äusserten sich unabhängig davon auch andere Gruppierungen und Personen zu diesem Artikel.

2. Archivbestand

Vernehmlassungen bringen, insbesondere bei umstrittenen Gesetzesentwürfen, eine ganze Anzahl von Aktivitäten und damit auch zahlreiche Dokumente hervor. Beispielsweise beauftragt die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) des Kantons für die Fragen der Totalrevision des Erziehungsgesetzes einen eigenen Ausschuss, welcher zudem noch einen Unterausschuss „Primarschule/Kindergarten“ bildete und im Laufe der Vernehmlassung eigene Texte produzierte. Ein Teil dieser Dokumente aus der Diskussion um das Volksschulgesetz liegt heute im StaatsA SG als Teil des Aktenbestandes des EZD.13

Dabei sticht eine als Entscheidungshilfe erstellte Übersicht – “Verarbeitung der Vernehmlassungen Dezember 1978” – zu den eingereichten Vernehmlassungen hervor.14 Erstellt im Sekretariat des EZD, werden in dieser der Reihenfolge im ersten Entwurfs des Gesetzes folgend die Hauptaussagen der einzelnen Vernehmlassungen zu jedem Artikel versammelt. Vorangestellt ist dem je die Entwurfsversion des Artikels. Die Zusammenfassungen sind teilweise mehrere Dutzend Seiten lang, bei unumstrittenen Artikel bestehen sie zum Teil nur aus einem Blatt. An den Schluss der jeweiligen Zusammenfassung ist zum Teil eine neue Version des Artikels gestellt, der auf die eingeforderten oder vorgeschlagenen Änderungen reagiert. Oft ist dieser Platz aber auch freigelassen. Diese Zusammenfassung gibt die damalige Diskussion kondensiert wieder.

Die Rückmeldungen zum vorgeschlagenen Schulbibliotheksartikel wurden auf insgesamt zwei Blättern zusammengefasst, was eine leicht unterdurchschnittliche Anzahl darstellt. Verwiesen wird darin unter anderem auf den konkreten Vernehmlassungsbeitrag der KKS, der im Original den Vorschlag eines Reglements für Schulbibliotheken von fünf Seiten enthielt.15 Im Vergleich mit den anderen Artikeln hat der Schulbibliotheksartikel zwar zu einigen Anmerkungen geführt, war also nicht gänzlich unumstritten; diese Anmerkungen widersprechen sich aber nicht, sondern ergänzen einander. Im Gegensatz dazu waren die Anmerkungen zu den ersten Artikeln des vorgeschlagenen Gesetzes, den “Zweckartikeln”, weit umfangreicher. In diesen wurde über die grundsätzlichen Aspekte der Schulbildung, der Stellung von Staat, Gemeinde und Familie informiert, ebenso über die christlichen Grundsätze deVolksschule in St. Gallen. Diese Punkte führten zu intensiven Diskussionen, die auch noch nach dem Erlass des Gesetzes weitergeführt wurden und bei denen sich grundsätzliche Positionen gegenüberstanden. Im Vergleich dazu scheint allen an der Vernehmlassung beteiligten Gruppen eine Regelung zu Schulbibliotheken im Gesetz in der vorgeschlagenen Form im Prinzip akzeptabel erschienen zu sein.

Die einzelnen Vernehmlassungsbeiträge sind nur in Ausnahmefällen erhalten. Eine Reihe von Briefen, insbesondere von Parteien, existiert; aber andere Einlassungen, deren Existenz in der “Verarbeitung der Vernehmlassungen” angezeigt wird, sind nicht im Archiv vorhanden. Teilweise finden sie sich in anderen Akten, beispielsweise den Parteiarchiven, oder aber im Falle der KKS, in den erhaltenen Sitzungsprotokollen.

Im Konvolut zur Vernehmlassung finden sich weiter Zeitungsausschnitte zur Diskussion sowie die schon genannte Broschüre, welche die bei einer öffentlichen Veranstaltung zur geplanten Totalrevison des Erziehungsgesetzes 1978 gehaltenen Vorträgen dokumentiert.16

Weiter erhalten hat sich im Amtsblatt des Kantons St. Gallen die offizielle Botschaft des zuständigen Regierungsrates über das Gesetz, in welcher er dem Grossen Rat – dem Kantonsparlament (heute Kantonsrat) – abschliessend über das Gesetz und das Verfahren, dass zu ihm führte, informierte.17

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Aktenlage zur Diskussion des Schulbibliotheksartikels des Volksschulgesetzes relativ gut und breit ist, aber auch nicht vollständig. Einige Einlassung zum Thema Schulbibliotheken – welches in der gesamten Diskussion eher ein wenig umstrittenes Nebenthema darstellte – sind gewiss nicht mehr erhalten. Gleichzeitig lässt sich eine gewisse Übersicht erstellen: Insgesamt fanden sich neun Fassungen des Schulgesetzartikels, die vor der endgültigen Version als Vorschläge unterbreitet wurden. Die Überlegungen, welche zu diesen unterschiedlichen Fassungen führten, sind allerdings nicht überliefert und müssen interpretiert werden. Einzig für die KKS finden sich in deren Protokollen einige Andeutungen.

3. Vorschläge für den Schulgesetzartikel im Volksschulgesetz des Kantons St. Gallen

Im folgenden werden die unterschiedlichen Versionen des Schulgesetzartikels für das damals gänzlich neu entworfene Volksschulgesetz des Kantons St. Gallen vorgestellt und diskutiert, da sich in diesen die meisten Hinweise darauf finden, wie unterschiedliche Institutionen Schulbibliotheken bewerteten.

3.1 Grundsätzliches

Festgestellt werden kann, dass ein Artikel zu Schulbibliotheken schon im ersten Entwurf des Gesetzes vorhanden war. Es fanden sich keine Beiträge, die eine Streichung desselben vorschlugen, sondern nur solche, die ihn leicht ändern wollten. Zuvor war die Frage der Schulbibliotheken in der kantonalen Schulordnung vom 08. Juli 1952,18 im Reglement über die Führung und Förderung von Schulbibliotheken von 196219 sowie im Lehrerbesoldungsgesetz vom 5. Januar 1947 und deren Fortschreibungen geregelt.20 Ersteres dekretierte, dass die Schulgemeinden für die Schülerinnen und Schüler Bibliotheken zu führen hätten, die vorrangig dem Sprachunterricht zu Gute kommen sollten, sowie Bibliotheken für Lehrpersonen; die beiden anderen legten fest, dass die Schulen für verschiedene Aufgaben eine finanzielle Unterstützung des Kantons erhalten würden. Dabei wurden Schulbibliotheken als ein Föderbereich von mehreren aufgeführt, allerdings blieb den Schulen überlassen, wie sie die Zuschüsse zwischen den einzelnen Bereichen verteilten.

Grundsätzlich postulierte das EZD, dass die Totalrevision die Aufgabe hätte, alle Bereiche der Schulen zu prüfen und neu zu bestimmen. Insoweit ist es relevant für die Bedeutung, die den Schulbibliotheken von verschiedenen Seiten zugeschrieben wurde, dass nicht deren Streichung gefordert, sondern sie von vielen Seiten nicht und von einigen positiv behandelt wurden.

Grundsätzlich fand sich der Artikel in allen Beiträgen und Vorschlägen zur Vernehmlassung an der heutige Stelle im Gesetz: Hinter den allgemeinen Bestimmungen zum Gesetz selber und dem Abschnitt zu den unterschiedlich Schultypen, eingebettet in die Regelungen der Infrastrukturfragen von Schulen. Die konkrete Nummer des Schulbibliotheksartikels änderte sich in den Vorschlägen immer wieder, dies aber aufgrund anderer Artikel, die eingefügt, gestrichen oder zusammengefasst wurden. Die Position des Artikels selber, an einer für die Ausgestaltung der Schulen relevanten, aber auch nicht bestimmenden Stelle, war offenbar von Beginn an Konsens.

Zudem ist zu erwähnen, dass die Grundsätze des Gesetzes von nahezu allen Beteiligten begrüsst oder zumindest akzeptiert wurden. Auch wenn es Auseinandersetzungen um einzelne Punkte gab, ist in den Unterlagen eine starker Wille zum Konsens festzustellen. Beispielsweise wurde der Vorschlag, das Erziehungsgesetz in drei Gesetze aufzuteilen, grundsätzlich von allen, die sich dazu äusserten, begrüsst.

3.2 Die Vorschläge für den Schulbibliotheksartikel

3.2.1 Kantonaler Lehrerverein St. Gallen (26. November 1976)

„16. Das Bestehen einer Schülerbibliothek soll erwähnt werden. (Art 31)“21

Die erste Erwähnung einer Schulbibliothek findet sich in einem Schreiben des Kantonalen Lehrervereins (KLV), der 1976 im Rahmen einer Vorvernehmlassung – in der überprüft wurde, ob überhaupt ein Interesse für eine Totalrevision des Erziehungsgesetzes vorlag – vorschlägt, dass diese Einrichtungen erwähnt werden sollten. Der Lehrerverein betrieb in den 1960er und frühen 1970er Jahren auch eine Aktion „Das gute Buch“,22 die in einigen Protokollen der KKS23 und in den Jahresberichten der Kantonalen Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (KKJV)24 erwähnt wird. Im Rahmen dieser Aktion wurde unter anderem die Einrichtung von Schulbibliotheken, welche der Jugend „Gute Literatur“ anbieten und damit gegen die sogenannte „Schund“-Literatur wirken sollten, angestrebt. Obgleich dies als Ziel heute relativ rückständig erscheint, scheint die Aktion auch dazu beigetragen zu haben, für damalige Zeiten moderne Schulbibliotheken aufzubauen.25 Insoweit ist die Behandlung des Themas durch den Lehrerverein wenig überraschend. Interessant ist allerdings die Kürze des Vorschlags, die auf jede weitere Angabe, wozu die Schulbibliotheken genutzt werden und wie diese aussehen sollten, verzichtet. Auffällig ist auch, dass dieser frühe Vorschlag auf eine Bibliothek für Lehrpersonen verzichtet. Dies ist zwar deckungsgleich mit den Forderungen, die in der zeitgenössischen bibliothekarischen Literatur erhoben wurden,26 aber nicht mit der damaligen und heutigen Gesetzgebung im Kanton.

3.2.2 Sozialdemokratische Partei des Kantons St. Gallen (04. Januar 1977)

„Material
Die Schulhäuser aller Stufen müssen über ein bestimmtes Minimalinventar verfügen. Im neuen EG [Erziehungsgesetz] ist festzuhalten, dass dazu auch eine Schülerbibliothek gehört.“27

Auch von der Sozialdemokratischen Partei (SP) des Kantons ist eine Stellungnahme zur Vorvernehmlassung erhalten, die grundsätzlich positiv ist, und Schulbibliotheken als Teil der minimalen Infrastruktur einer (zukünftigen) Schule bezeichnet. Auffällig ist hier, dass die SP noch von einem Erziehungsgesetz ausgeht, nicht von der Aufteilung in drei Gesetze, die wohl erst später konkretisiert wurde. Gleichzeitig verzichtet sie, wie der KLV, auf eine Konkretisierung der Forderung und auf eine Bibliothek für Lehrpersonen.

3.2.3 Freisinnig-Demokratische Partei des Kantons St. Gallen (23. Mai 1977)

Sammlungen, Bibliothek
Der Erziehungsrat erlässt nach Rücksprache mit dem Schulgemeindeverband die Bestimmungen über das Normalinventar, Verbrauchsmaterial, Turnmaterial usw. Er bezeichnet empfohlene, technische Apparate und die jährlichen Verbrauchskredite [Etat, K.S.].“28

Der Beitrag der FDP ist auf den ersten Blick widersprüchlich. Unter der Überschrift „Sammlung, Bibliothek“ beschäftigt er sich mit der Regelung von Bestimmungen über die notwendige Infrastruktur von Schulen. Aufgezählt werden nur einige Teile dieser Infrastruktur, allerdings gerade keine Bibliotheken. Dafür wird mit einem „usw.“ Raum für weitere Einrichtungen gelassen. Dabei scheinen, dem Titel des Artikels folgend, unter die minimale Infrastruktur doch auch Bibliotheken zu zählen, wobei nicht ersichtlich ist, welche Form von Bibliotheken und zu welchem Zweck. Zu vermuten ist, dass es der FDP mit ihrem Vorschlag vor allem darum ging, eine Regelung für das Erlassen von Richtlinien festzuschreiben. Diese sollten anpassbar sein und deshalb nicht im Gesetz geregelt werden, gleichzeitig sollten die Schulen über den Schulgemeindeverband direkten Einfluss auf diese Richtlinien erhalten.

3.2.4 Erziehungsrat des Kanton St. Gallen, Verhandlungsprotokoll (30. Juni 1977)

„16. [Tagesordnungspunkt, K.S.] Bibliotheken, Art.32
Die im Gesetz enthaltene Verpflichtung zur Führung einer Schüler- und Lehrerbibliothek gilt als Minimalverpflichtung. In Gemeinden mit mehreren Schulgemeinden sind in der Regel auch mehrere Bibliotheken notwendig. Einzelheiten sind der Verordnung zu regeln.“29

Der Erziehungsrat ist bis heute die Bildungskommission des EZD Er wacht beispielsweise über die Schulqualität im Kanton und trifft Entscheidungen über alle Fragen des Erziehungswesen. In einer Sitzung am 30. Juni 1977, dessen Protokoll erhalten ist, beschäftigte er sich im Hinblick auf die Revision mit nahezu allen Artikeln des Erziehungsgesetzes. Im Protokoll enthalten ist oben zitierter Abschnitt zu Schulbibliotheken. Sichtbar ist hierbei, dass auch der Erziehungsrat eine grundsätzlich positive Haltung zu Schulbibliotheken hatte. Er kritisierte indirekt, dass die Regelung nicht ausreichend sei, sondern nur eine minimale Versorgung sicherstelle. Für grössere Gemeinden seien mehrere Bibliotheken notwendig. Gleichzeitig akzeptiert der Erziehungsrat offenbar die Trennung in Bibliotheken für Lernende und für Lehrende.

Wichtig ist der Verweis auf weitere Regelungen in Verordnungen. Bis zum Erlass des Volksschulgesetzes galt zuletzt das „Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken“, erlassen 1962,30 welches sich vor allem mit der Stellung der KKS und der Notwendig „guter Literatur“ beschäftigte. Nach dem neuen Gesetz wurde aber keine neuen Reglements, Verordnungen oder ähnlichen Anweisungen mehr erlassen. Insoweit ist die Erwähnung im Protokoll des Erziehungsrates bedeutsam, da sie zeigt, wie sich Ansprüche und Vorstellungen in Gesetzgebungsprozessen auch nicht durchsetzen können.

3.2.5 Erziehungsrat St. Gallen, Erster Gesetzesentwurf (26. September 1977)

„Art. 29. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und Lehrerbibliothek.“31

Auf der Grundlage der oben besprochen Beratung32 und gewiss auch den bis dahin eingegangenen Beiträgen zur Vernehmlassung und Vorvernehmlassung erarbeitete der Erziehungsrat einen ersten konkreten Gesetzesentwurf für das Volksschulgesetz.33 Sichtbar ist dies unter anderem am Datum des Entwurfes, erst drei Monate nach der betreffenden Sitzung, die offenbar für die Ausarbeitung genutzt wurden. Sowohl die Rückmeldungen als auch die eigene Diskussion scheinen einen Artikel zu Schulbibliotheken unterstützt zu haben.

Im Gegensatz zum im Protokoll festgehaltenen Einspruch, dass es sich in der bisherigen Regelung um einen Minimalversion handeln würde, entschied sich der Erziehungsrat dafür, den Artikel über Schulbibliotheken zusammenzuziehen. In diesem Entwurf ist die Verantwortung für die Bibliotheken den Schulgemeinden übertragen, Aufgaben und Minimalausstattung der Bibliotheken werden nicht festgelegt. Zudem ist die gewählte Formulierung uneindeutig. Sie kann dahingehend interpretiert werden, das eine Bibliothek, die gemeinsam für Lehrenden und Lernende genutzt würde, eingerichtet werden sollte, aber auch gegenteilig so, dass es weiter eine Trennung von Bibliotheken für beide Gruppen geben müsse.

Zu erklären ist diese Version eventuell durch die schon angesprochene Hoffnung des Erziehungsrates, weitere Fragen mittels Reglementen zu regeln.

3.2.6 Erziehungsrat St. Gallen, überarbeiteter Gesetzesentwurf (10. Januar 1978)

„Art.27.Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und Lehrerbibliothek.“34

Eine weitere Version des vorgeschlagenen Gesetzes wurde einige Monate später erstellt. Die Überarbeitung resultierte aus Beratungen des Regierungsrates. Protokolle der Beratungen sind nicht mehr vorhanden, einzig der überarbeitete Entwurf. Der Artikel zu Bibliotheken wurde im Rahmen dieser Beratungen nicht verändert, einzig die Nummer des Artikels wurde, aufgrund der Zusammenführung anderer Artikel, angepasst. An der Position innerhalb des Gesetzestextes änderte sich dadurch ebenfalls nichts. Zu vermuten ist also, dass der Vorschlag des Artikels zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich akzeptiert wurde und kein weiteres Diskussionspotential bereithielt.

3.2.7 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (06. März 1978)

„Art. 27: Bibliotheken
Jede Schulgemeinde ist verpflichtet, für die Beschaffung und laufende Erneuerung einer Schüler- und einer Lehrerbibliothek besorgt zu sein. In der Beantwortung einer Interpellation hat der Regierungsrat kürzlich in Aussicht gestellt, unter den bestehenden Schul- und Volksbibliotheken eine Koordination anzustreben (51.76.22). Die Vorarbeiten dazu sind im Gang. Federführend ist das Departement des Innern.“35

Im März des gleichen Jahres verschickte das EZD auf der Basis der letztgenannten Version des Gesetzes vom Januar 1978 eine längere Stellungsnahme an die Vernehmlassungsinstanzen. In dieser wurden kurz die Überlegungen, die hinter dem Gesetz und den einzelnen Artikeln standen, dargelegt sowie auf relevante Änderungen hingewiesen.

Dabei wurde der Schulbibliotheksartikel in seiner damaligen Version inhaltlich als gegeben dargestellt und weiterhin auf eine Anfrage im Parlament eingegangen. Interessant ist, dass auch in dieser Ausführung davon gesprochen wird, dass jede Schulgemeinde je eine Bibliothek für Lehrende und Lernende unterhalten müsse, obwohl Schulgemeinden mit mehreren Schulhäusern (bzw. weitere differenziert in Schuleinheiten oder Schulkreisen) existierten, wie aus mehreren Beiträgen zur Vernehmlassung hervorgeht. Ansonsten spricht der Text eine vorgesehene Koordination an, die in einer anderen Form erst 1983 – zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Volksschulgesetzes – im Reglement für die von der Stadt St. Gallen übernommene und neu als Kantonsbibliothek gefasste Vadiana wirkungsvoll wurde. Mit der Übernahme kantonalbibliothekarischer Aufgaben wurde der Vadiana unter anderem die Beratung von Schulbibliotheken im gesamten Kanton übertragen.36 Diese Beratungsfunktion war allerdings keine Koordinationsfunktion. Vielmehr gingen die direkten Kompetenzen für Schulbibliotheken vollständig an die Schulgemeinden über, die Vadiana und die ihr dann angegliederte KKSG hatte keine Möglichkeit, in diese einzugreifen. Gleichzeitig gab das EZD, dass noch 1962 ein Reglement über Schulbibliotheken erlassen hatte, dieses – und damit auch den Anspruch, Anweisungen über Schulbibliotheken zu erlassen – im Rahmen der Neufassung der Erziehungsgesetze offenbar auf.

3.2.8 Kantonale Kommission für Schulbibliotheken (27. September 1978)

„Neuer Vorschlag
Die Schulgemeinde unterhält pro Schulanlage eine zeitgemäss ausgestattete Schüler- und Lehrerbibliothek.
Der Erziehungsrat erlässt die näheren Bestimmungen.“37

Wie schon erwähnt, existierte zur Zeit der Vernehmlassung mit der KKS eine Institution, welche als anerkannte Gruppe von Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Schulbibliotheken des Kantons gelten konnte. In zwei Sitzungen (126. Sitzung am 16.08.1979 und 127. Sitzung am 27.09.1979) beschäftigte sie sich mit dem Gesetz.38 Die Protokolle dieser Sitzungen stellten die Ergebnisse der Besprechungen, aber keine etwaigen Diskussionen oder Auseinandersetzungen innerhalb der KKS dar. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass in der ersten Sitzung offenbar kein eindeutiges Ergebnis erreicht wurde, sondern zeitnah ein weiteres Treffen notwendig war.

Das erste Mal erwähnt wurde das Gesetz im Protokoll der 125. Sitzung vom 26.04.1978,39 allerdings im Zusammenhang einer möglichen Fusion der KKS mit der KKJV. Dabei wurde darauf verwiesen, dass man zur Klärung dieser Möglichkeit auf die Bestimmungen des neuen Gesetzes warten müsse.

Vor der 126. Sitzung hatten schon drei Mitglieder der Kommission – L. Kleiner, Felix Brassel und Peter Ganz – einen Vorschlag für die Vernehmlassung erarbeitet, der dann diskutiert wurde.40 Wann und mit welchen Massgaben diese drei den Vorschlag geschrieben hatten, ist nicht mehr ersichtlich. Gleichwohl gab es zu diesem Zustimmung und eine Diskussion auf dessen Grundlage. Nur etwas mehr als einen Monat später traf sich die Kommission – welche sich damals sonst alle vier bis sechs Monate traf – zu einer weiteren Sitzung. Dies war nötig, da das EZD die Rückmeldungen bis Ende September 1978 erwartete. Insoweit reagierte die Kommission fast zum letztmöglichen Zeitpunkt. Zum Teil ist das damit zu erklären, dass die Kommission selber Auseinandersetzungen um die eigene Identität führte. Noch in der 125. Sitzung wurde betont, dass sie sich bislang vor allem mit der Erstellung der Liste von empfohlenen Jugendbüchern befasst hätte, jetzt aber mehr Beratungsaufgaben übernehmen könnte.41

In der 127. Sitzung wurde dann die Vernehmlassung verabschiedet.42 Sie bestand zum ersten aus dem oben zitierten Entwurf für den Schulbibliotheksartikel und zum zweiten aus dem Entwurf eines Reglements für Schulbibliotheken im Kanton. Dieses war explizit als Ersatz für das bis dahin geltende Reglement von 1962 gedacht. Dabei schrieb die Kommission dem Erziehungsdepartement, welches das Reglement erlassen sollte, offenbar zu, das Recht zu haben, die Schulbibliotheken des Kantons zu regulieren. Gerade dieser Anspruch wurde aber vom EZD mit dem Volksschulgesetz, welches den Gemeinden mehr Autonomie zugestand, aufgegeben. Offenbar hatte die Kommission diesen Trend anders eingeschätzt.

Das Reglement hätte in vier Abschnitten Fragen zum Zweck und Aufbau von Schulbibliotheken, zu ihrer Organisation, zu Bibliotheken für Lehrkräfte und der Zentralisation von Schulbibliotheken sowie zu Beratungsstellen geklärt. Dabei waren die Vorstellungen sowohl umfassend als auch konkret. Schulbibliotheken sollten dem Vorschlag entsprechend Informations- und Begegnungszentren von Schulen sein, die Lernenden zum Lesen hinführen, moderne Unterrichtsformen ermöglichen und die Möglichkeit zu selbständiger Arbeit von Schülerinnen und Schülern anbieten. Über gedruckte Medien hinaus sollten sie andere moderne Medien enthalten. Gleichzeitig wurden Schlüssel für die Grösse des Buchbestandes (10 Bücher pro Lernende bei bis zu 50, 7 Bücher bei 50 bis 500 und 5 Bücher bei über 500 Schülerinnen und Schülern) und für die Finanzierung von Schulbibliotheken (8 bis 12 Franken pro Lernende) genannt. Die Schulbibliotheken sollten zentral gelegen sein, ihr Bestand als Freihand aufgestellt werden und Kataloge entsprechend der Öffentlichen Bibliotheken haben. Klassenbibliotheken sollten abgeschafft werden, gleichzeitig wurde weiter von gesonderten Bibliotheken für Lehrpersonen ausgegangen. Beraten werden sollten die Schulbibliotheken von drei Stellen: Der Kantonsbibliothek zum Auf- und Ausbau, der KKS zu Jugendbüchern und der KKJV zur Aus- und Weiterbildung des Personals.

Diese Vorstellungen scheinen weit über die Realität in Schulbibliotheken im Kanton hinausgegangen zu sein.43 Diese wurden im Protokoll zu den Sitzungen auch nicht erwähnt. Vermutlich ist die Basis der geäusserten Vorstellungen der KKS eher in zeitgenössischen Publikationen zu Schulbibliotheken zu suchen, die in der Schweiz, aber auch Deutschland, moderne Schulbibliotheken in einer Weise entwarfen, die an die Beschreibung im Reglementsentwurf erinnert.44 Wäre das Reglement erlassen worden, hätte dies zu einer starken Veränderung der Schulbibliotheken im Kanton geführt.

Hervorzuheben ist, dass die Kommission sich offenbar selber damit beauftragte, ein Reglement vorzuschlagen. Ein Auftrag dazu wird nirgends erwähnt. Im Vernehmlassungsprozess selber wurde sich nicht mit notwendigen Ausführungsbestimmungen oder Zusatzregeln beschäftigt, sondern ausnahmslos mit dem konkreten Volksschulgesetz. Insoweit ging der Vorschlag der KKS am Erwarteten vorbei. In der Verarbeitung der Vernehmlassungen ist dann zwar ein Hinweis auf das vorgeschlagenen Reglement zu finden, aber nicht dieses selber.45

Nach der Vernehmlassung selber, aber vor der Veröffentlichung des Gesetzesvorschlags, führte die KKJV eine Umfrage unter den Schulen des Kantons zu deren Schulbibliotheken durch. Die Umfrage erfolgte 1976 mittels eines Fragebogens, der Rücklauf betrug rund einen Drittel. Publiziert wurden die Ergebnisse 1980 in einer Broschüre der Kommission.46 In dieser wurden die erhobenen Daten immer wieder aus dem Blickwinkel „moderner Schulbibliotheken“, wie sie auch im vorgeschlagenen Reglement beschrieben sind, heraus bewertet. Dabei wurde klar, dass ein Grossteil der Schulbibliotheken im Kanton dieser Vorstellungen nicht entsprach. In der Broschüre wird trotzdem der Eindruck erweckt, Schulbibliotheken würden sich dieser Vorstellung entsprechend entwickeln. Dies ist allerdings eine Aussage, die mit einer einmaligen Erhebung gar nicht zu treffen ist.47 Trotz dieser tendenziösen Darstellung zeigt die Broschüre, dass die Schulen im Kanton sich zu grossen Teilen für andere Schulbibliotheken entschieden hatten, als die, welche im vorgeschlagen Reglement beschrieben wurden. Es stellt sich die Frage, wieso die Kommission diese Realität – die ihr als Experteninstitution hätte bekannt sein müssen – in ihrem Vorschlag fast gar nicht einbezogen hat.

3.2.9 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (Dezember 1978)

„Vernehmlassungsentwurf
Art. 27. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- Bibliothek [sic!] und Lehrerbibliothek.”48

Im Laufe des Jahres 1978 überarbeitete das Erziehungsdepartement intern die einlaufenden Vernahmlassungsbeiträge. Im Dezember des Jahres wurde eine weiter oben schon angesprochene systematische Übersicht der Hauptargumente dieser Beiträge zu den jeweiligen Artikeln erstellt und diese zum Teil geändert. Die Zusammenstellung stellte offenbar die Grundlage für den später erschienen Entwurf des Volksschulgesetzes dar.

Der Schulbibliotheksartikel findet sich in diesem Dokument weiter als Artikel 27, eingefügt ist nur das Wort „Bibliothek“ direkt hinter „Schüler-“. Dies scheint aber aus Versehen geschehen zu sein, da es in dieser Version ersichtlich falsch ist. Relevant ist eher, dass in diesem Dokument keine weitere Überarbeitung des Artikels vorgenommen wurde. Die Zusammenfassung zum Artikel führt die Argumente der Rückmeldungen des Stadtrates St. Gallen, von „Berufsberatern“, der Gemeinde Wattwil, der KKS, des Vertreters des KLV aus Rorschacherberg, der SP Untertoggenburg sowie der Abteilungen „PK VII + KAHL V“ des EZD auf. Der Stadtrat St. Gallen, die KKS, die SP Untertoggenburg sowie für Lehrerbibliotheken auch der Vertreter des KLV forderten allesamt eine Bibliothek pro Schulhaus ein. Andere Beiträge wollten explizit die Möglichkeit im Gesetz enthalten wissen, dass die Schulbibliotheken auch mit anderen Einrichtungen zusammen geführt werden könnten. Auf all dies trat das Erziehungsdepartement aber nicht ein, sondern beliess es bei der Version vom Beginn des Jahres.

3.2.10 Regierungsrat St. Gallen (23. Juni 1981)

„Art. 29. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und eine Lehrerbibliothek.
Die Schülerbibliothek kann zusammen mit anderen Institutionen geführt werden.“49

Zwischen der Verarbeitung der Vernehmlassungen und der Präsentation des Gesetzesentwurfes durch die Regierung vor dem Parlament vergingen weitere drei Jahre. Aus den Unterlagen, die sich erhalten haben, ist nicht ersichtlich, wie diese Zeitspanne zustande kam. Zu vermuten ist, dass sich Verhandlungen über einzelne Artikel weiter hinzogen. Das Interesse der Regierung war, einen Entwurf vorzulegen, der von möglichst vielen Fraktionen im Parlament getragen und auch die wahlberechtigte Bevölkerung bei einem möglichen Referendum überzeugen würde. Dies gelang offensichtlich, war dann aber das Ergebnis einer langen Suche nach Kompromissen. Eine andere Vermutung ist, dass sich die Verhandlungen über die beiden anderen Gesetze, die zusammen das Erziehungsgesetz ersetzen und deshalb gleichzeitig in Kraft treten sollten, länger hinzogen.

In der Botschaft des Regierungsrates an das Parlament, in welchem der Gesetzesentwurf vorgestellt wurde, findet sich eine zur Version im Dezember 1978 erweiterte Variante des Artikels. Zum einen wird der Artikel wieder, ohne das seine eigene Position verändert wurde, als Nummer 29 gezählt. Zum anderen wurde an den ersten Satz ein zweiter angehangen, welcher nun doch dem Vorschlag folgt, das gemeinsame Führen einer Schulbibliothek mit einer anderen Einrichtung zu ermöglichen. Es ist nicht ersichtlich, wieso dieser Satz aufgenommen wurde. Er findet sich als Vorschlag unter den verarbeiteten Vernehmlassungen, könnte aber auch aus einer anderen Quelle stammen. Der in den Vernehmlassungen viel öfter geäusserte Vorschlag, eine Bibliothek pro Schulhaus vorzuschreiben, wurde nicht aufgegriffen. Dies kann damit zusammenhängen, dass versucht wurde, Regelungen, die neue Kosten hervorrufen könnten, zu vermeiden. Interessant ist, dass schon in dieser Version nicht klar gesagt wird, mit welchen anderen Einrichtungen Schulbibliotheken zusammengeführt werden können. Obgleich sich in der Realität dafür Öffentliche Bibliotheken anbieten, schreibt das Gesetz dies in dieser Version nicht explizit vor.

3.2.11 Volksschulgesetz (13. Januar 1983)

Die nach den Beratungen durch das Parlament erlassene Regelung des Schulbibliotheksartikels, welche zu Beginn des Textes zitiert wurde, hat gegenüber der Botschaft des Regierungsrates wieder einige Änderungen erfahren, die sich allerdings inhaltlich kaum auswirken. Wieder ist die Nummerierung durch die Zusammenfassung anderer Artikel verändert. Der Artikel findet sich als 25. Artikel im Gesetz. Gleichzeitig sind die beiden Sätze getrennt und nummeriert worden. Zudem wurde eine geschlechtergerechte Spracheregelung gefunden, die statt der „Schülerbibliothek“ eine Bibliothek für Lernende beider Geschlechter und statt der „Lehrerbibliothek“ eine Bibliothek für geschlechtlich nicht spezifizierte Lehrpersonen nennt. Die Verwendung geschlechtergerechter Sprache wurde im gesamten Volksschulgesetz durchgeführt, in letzter Konsequenz wurde auch der Schulbibliotheksartikel dahingehend verändert.

Gleichzeitig zeigt die Beibehaltung des Inhalts noch einmal, dass zu den grundsätzlichen Aussagen des Artikels offenbar kein Diskussionsbedarf bestand. Sowohl das Parlament, das Veränderungen hätte einfordern können, als auch das Volk, das berechtigt gewesen wäre, dass Referendum gegen das Gesetz zu ergreifen, nahmen diese Möglichkeiten nicht wahr. Wenn auch nicht alle Anregungen aus den Vernehmlassungen beachtet wurden, scheint diese Version doch einen für alle Beteiligten tragbaren Kompromiss darzustellen.

4. Fazit: Schulbibliotheken anerkannt, aber den Schulgemeinden überlassen

Die im StaatsA SG überlieferten Unterlagen zur Vernehmlassung über die Totalrevision des kantonalen Erziehungsgesetzes von 1952, die in den späten 1970er Jahren stattfand und mit dem Inkrafttreten des Volksschulgesetzes sowie zweier anderer Gesetze 1983 ein Ende fanden, bieten einen selten Einblick in die Wahrnehmung von Schulbibliotheken durch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure. Von Beginn an war im Erziehungsgesetz ein Artikel zu Schulbibliotheken vorgesehen, der auf einer älteren Regelung aufbaute. Im Laufe der Vernehmlassung wurde diesem Ziel nicht widersprochen. Vielmehr scheint im Bezug auf Schulbibliotheken eine grosse Einigkeit bestanden zu haben und eher über Detailfragen nachgedacht worden zu sein. Im Vergleich zu anderen Artikeln ist dieser relativ wenig besprochen oder im Laufe des Vernehmlassungsprozesses verändert worden. Viele an der Vernehmlassung teilnehmenden Einrichtungen nahmen die Möglichkeit, sich auch zu diesem Artikel zu äussern, gar nicht erst wahr.

Mit der KKS bestand eine Institution, die als Gruppe von Expertinnen und Experten zu den kantonalen Schulbibliotheken gelten konnte. Auch diese wurden eingeladen, an der Vernehmlassung teilzunehmen. Die Kommission äusserte sich nur zu diesem Artikel, dies allerdings sehr ausführlich. In Verkennung der Pläne des EZD erarbeitete sie sogar unaufgefordert ein neues Reglement für Schulbibliotheken. Obwohl sie angefragt und damit als Institution mit besonderen Kenntnissen zum Thema akzeptiert wurde, folgte das EZD den Vorschlägen der Kommission nicht.

Vielmehr übernahm das Gesetz praktisch eine frühere Regelung. Dabei wurde die Möglichkeit verpasst, vorzuschreiben, dass jede Schule eine Bibliothek führen müsse, obwohl genau dies mehrfach vorgeschlagen wurde. Vielmehr wurden die Schulgemeinden, die unterschiedlich viele Schulen betreiben können, zum Führen einer Schulbibliothek verpflichtet. Warum diese Entscheidung getroffen wurde, ist nicht ersichtlich. Nicht thematisiert wurde in den Vernehmlassungen die Trennung von Bibliotheken für Lernende und Lehrerende. Offenbar galt dies fast allen Beteiligten als sinnvoll. Zumindest in der bibliothekarischen Literatur der 1970er und 1980er Jahre findet sich hingegen die Forderung nach einer zentralen Bibliothek pro Schule.50

Die aufgeführten Vorschläge scheinen darauf hinzudeuten, dass Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen einerseits eine hohe Akzeptanz geniessen, sich aber ausserhalb spezifischer Kommissionen kaum über Details dieser Schulbibliotheken geäussert wird. Die differenzierteren Ausarbeitungen von bibliothekarischer oder ähnlicher Seite wurden trotz der positiven Haltung zu Schulbibliotheken selber eher ignoriert, wobei aus dem Material nicht hervorgeht, ob die Vorschläge der KKS zu sehr der Realität in den Schulen, die sich in einer zeitgleich durchgeführten Umfrage der KKJV ganz anders darstellte, enthoben waren, um sinnvoll umgesetzt werden zu können oder ob sie aus anderen Gründen nicht beachtet wurden.

Die Vernehmlassung von 1978 – welche selbstverständlich als historische Angelegenheit im spezifischen Kontext des Kantons St. Gallen zu sehen ist – scheint eine positive Position für Schulbibliotheken im Allgemeinen, aber ein gewisses laisser faire bei der Ausgestaltung der konkreten Schulbibliotheken von Seiten der Schulbehörde und der politischen Institutionen anzuzeigen. Grundsätzlich scheint die engere Regulierung der Schulbibliotheken von kantonaler Seite weder vom Kanton noch von anderen Akteurinnen und Akteuren, ausser der KKS selber, gewünscht worden zu sein. Schulgemeinden haben in dieser Hinsicht bis heute eine grosse Freiheit, bibliothekarische und ähnliche Einrichtungen werden offenbar angehört, aber ihren Forderungen wird nicht gefolgt. Zu vermuten ist, das von anderen Einrichtungen eher Schulen und Schulgemeinden die Kompetenzen zugeschrieben wurden, über die konkreten Schulbibliotheken, deren Ausstattung und Arbeit zu entscheiden, als der KKS. Hervorzuheben ist zudem noch einmal, dass der Artikel 25 des Volksschulgesetzes seit 1983 nicht mehr verändert wurde, was auch andeutet, dass sich die Schulen und Schulbibliotheken im Kanton mit diesem zumindest zurechtgefunden haben und ihm ein gewisses Funktionieren deshalb nicht abgesprochen werden kann.51

Zu untersuchen wäre weiterhin, ob diese Haltung zu Schulbibliotheken spezifisch für St. Gallen, die Schweiz oder die historische Situation ist. Für die Schweiz bieten sich Recherchen in weiteren kantonalen Archiven zu den Entstehungsprozessen der jeweiligen rechtlichen Regelungen im Bezug auf Schulbibliotheken, die, wie erwähnt, in fast allen Kantone existieren, an. Für andere Staaten könnten Interviewstudien mit verschiedenen Stakeholdern sinnvoll sein. Sollte sich eine ähnlich unentschiedene Haltung zu Schulbibliotheken auch über den hier geschilderten Fall zeigen, würde dies einen Ansatzpunkt für bibliothekarische Vorstellung davon, wie Schulbibliotheken funktionieren und funktionieren sollten, darstellen. Das Beispiel des praktisch ignorierten Vernehmlassungsbeitrag der KKS zeigt, dass reine Darstellungen über bestimmte Minimalausstattungen und Aufgaben von Schulbibliotheken von bibliothekarischer Seite aus für andere Institutionen nicht überzeugend sind.

 

Fussnoten

1 Art. 25 VolksschulG SG vom 13.01.1983.

2 Schulgesetze (oder vergleichbare): Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Freiburg/Fribourg, Glarus, Graubünden/Grischun/Grigioni, Jura, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen, Tessin/Ticino, Thurgau, Uri, Waadt/Vaud, Wallis/Vallais, Zug. Bibliotheksgesetze: Luzern, Neuenburg/Neuchâtel, Schwyz, St. Gallen. Reglemente über Schulbibliotheken: Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Glarus, Jura.

3 Vgl. in Friedeburg, Ludwig v. (1989). Bildungsreform in Deutschland : Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch.Frankfurt am Main: Suhrkamp die entsprechenden Kapitel zu den 1960er und 1970er Jahren.

4 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes : Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978. In: StaatsA SG, A 115/3.1.

5 Im Fall des Volksschulgesetzes wurden zum Beispiel auch einzelne Lehrerinnen und Lehrer einbezogen.

6 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes : Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978. In: StaatsA SG, A 115/3.1.

7 Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

8 Verordnung betreffend staatlicher Unterstützung der Schulbibliotheken an den Primarschulen. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XI (1906) 4, 264-267.

9 Verzeichnis der Mitglieder der kantonalen Kommission für Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXXII (1968) 9, 238.

10 Erhalten sind die Protokolle der 1. (1906) bis 132. Sitzung (1983) – 01. bis 79. Sitzung handschriftlich, 80. bis 132. Sitzung als Typoskript –, allerdings ohne die 93., 97., 100., 102., 118. und 131. Sitzung. StaatsA SG, KA R130 B38; StaatsA SG, A090/099.

11 Kantonsbibliothek St. Gallen, Kantonale Kommission für Schul- und Gemeindebibliotheken St.Gallen ([2013]). Jahresbericht 2012. [St. Gallen] : [Kantonsbibliothek St. Gallen], [2013].

12 Vgl. Abschnitt 3.2.8.

13 StaatsA SG, A115/3.1; StaatsA SG, A 115/3.2; StaatsA SG, A 242/01.07; StaatsA SG, A 242/01.02.

14 StaatsA SG, A242/01.07.

15 Vgl. Abschnitt 3.2.8.

16 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978.

17 Grosser Rat des Kantons St. Gallen (1981). Botschaft des Regierungsrates zum Entwurf eines Volksschulgesetzes : vom 23. Juni 1981. In: Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1981, 1073-1118.

18 Schulordnung der Primar- und der Sekundarschule vom 08. Juli 1952. In: Staatskanzlei St. Gallen (1956). Bereinigte Gesetzessammlung: Am 1. Januar 1956 in Kraft stehende kantonale Erlasse, Erster Band. St. Gallen: Staatskanzlei St. Gallen, 1956, 400-410.

19 Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

20 Gesetz über die Lehrergehalte und die Staatsbeiträge an die Volksschule vom 5. Januar 1947. In: Kanton St. Gallen (1950). Gesetzessammlung Neue Folge, Neunzehnter Band 1947-1950. St. Gallen: Buchdruckerei Volksstimme, 1950, S. 1-6.

21 Kantonaler Lehrerverein St.Gallen (1976). Thesen zur Totalrevision des Erziehungsgesetzes [26. November 1976], 2. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

22 Güttinger, Heinrich (1964). Aktion „Das gute Buch“. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1964) 2, 719.

23 103 Sitzung (13. November 1968).

24 Güttinger, Heinrich (1973). Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken: Jahresbericht 1972 [Typoskript, 4 Blatt] St. Gallen. In StaatsA SG, ZA 118.

25 Güttinger, Heinrich (1974). Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken: Jahresbericht 1973 [Typoskript, 6 Blatt] St. Gallen. In: StaatsA SG, ZA 118.

26 Vgl. Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3.

27 Sozialdemokratische Partei des Kantons St. Gallen (1977). Vorvernehmlassung zum neuen Erziehungsgesetz [04. Januar 1977], 2. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

28 Freisinnig-Demokratische Partei des Kantons St. Gallen (1977). Totalrevision Erziehungsgesetz : Eingabe des Ausschusses für Bildung und Kultur der Freisinnig-Demokratischen Partei des Kantons St.Gallen an das kant. Erziehungsdepartement zur Totalrevision des kant. Erziehungsgesetzes [23. Mai 1977], 5. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

29 Erziehungsrat des Kantons St.Gallen (1977). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: Verhandlungsprotokoll der 1. Sitzung [30. Juni 1977], 40. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

30 Erziehungsrat St. Gallen (1962). Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken: vom 19. Juni 1962. In: Amtliches Schulblatt des Kanton St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

31 Erziehungsrat St. Gallen (1977). Gesetz über die Volksschule: Entwurf des Erziehungsrates vom 26. September 1977. 7. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 115/3.2.

32 Vgl. Abschnitt 3.2.4.

33 Auch die beiden anderen Gesetze wurden entworfen.

34 Erziehungsrat St. Gallen (1978). Gesetz über die Volksschule: [Bereinigter Entwurf vom 5.Januar 1978 für den Abschluss der Beratungen im Regierungsrat]. 7. [Typoskript] [10. Jan. 1978]. In: StaatsA SG, A242/01.07.

35 Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: [An die Vernehmlassungsinstanzen] ; [06. März 1978]. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen], 1978, 57. In: StaatsA SG, A 115/3.1. Zum Text der genannten Interpellation und Antwort vgl. Nr 131/1 51.76.22 (umgewandelte Motion 42.76.10) Interpellation Rathgeb-Rapperswil: Förderung der Volksbibliotheken. In: Protokoll des Grossen Rates des Kantons St. Gallen Amtsdauer 1976/80, Heft 1, nrn. 1 bis 35, S. 361-362. Die in der Antwort in Aussicht gestellte Koordination beschränkte sich auf die Vorstellung, KKS und KKJV zusammenzuführen. Ansonsten referiert sie die damalige Situation.

36 Bibliotheksverordnung vom 22. März 1983. In: Staatskanzlei St. Gallen: Kanton St. Gallen Gesetzessammlung, Neue Reihe, Siebzehnter Band 1982-1983, nGS 18-34.

37 Kantonale Kommission für Schulbibliotheken SG (1978). Vernehmlassung zum Erziehungsgesetz für Volksschulen. [Typoskript], 27.09.1978, 1. In: StaatsA SG, A 090/099.

38 StaatsA SG, A 090/099.

39 StaatsA SG, A 090/099.

40 StaatsA SG, A 090/099.

41 StaatsA SG, A 090/099. Dies war nicht der erste Vorstoss in diese Richtung. In der 82. Sitzung vom 04.03.1961 wird vom Regierungsrat im EZD vorgeschrieben, dass die Kommissionsmitglieder innert vier Jahren in je zwei zugeteilten Bezirken jede Gemeinde, genauer deren Schulbibliotheken, besuchen und beraten müssten. Für 1962 hatte die Kommission vom gleichen Regierungsrat den Auftrag erhalten, über den Stand der Schulbibliotheken zu berichten. (82. Sitzung vom 04.03.1961) Ob dieser Auftrag ausgeführt wurde, ist nicht bekannt. Beachtlich ist allerdings, dass 1978 wieder neu darüber diskutiert wurde, ob die Kommission Beratungsaufgaben für Schulbibliotheken hätte.

42 StaatsA SG, A 090/099.

43 Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken St. Gallen (1980). Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen: Ihre Entwicklung. St. Gallen: Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1980.

44 Vgl. Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Gattermann, Jutta ; Siegling, Luise (1970). Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung ; 19). Hamburg : Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970 und Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3.

45 StaatsA SG, A 242/01.07.

46 Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken St. Gallen (1980). Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen: Ihre Entwicklung. St. Gallen: Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1980.

47 1969 schon wurde im Namen der KKS, aber vom späteren Leiter der KKJV, Heinrich Güttinger, eine Umfrage unter Schulbibliotheken durchgeführt. Deren Auswertung ist zum Teil in den Protokollen der KKS erhalten (107. Sitzung vom 03.12.1969), allerdings wird diese in der Broschüre von 1980 nicht erwähnt. Dies ist interessant, da in der Umfrage von 1969 die meisten antwortenden Schulen mit ihren Schulbibliotheken im damaligen Zustand zufrieden waren und, trotz expliziter Nachfrage, keine Beratung zur Weiterentwicklung wünschten und deshalb zuerst hätte begründet werden müssen, warum sie sich verändern sollten.

48 Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen Sekretariat (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes Volksschulgesetz: Verarbeitung der Vernehmlassungen Dezember 1978. [Typoskript]. In: StaatA SG, A 242/01.07.

49 Grosser Rat des Kantons St. Gallen (1981). Volksschulgesetz: Entwurf des Regierungsrates vom 23. Juni 1981. In: Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1981, 1119-1144, 1123.

50 Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, Deutscher Bibliotheksverband (1975). Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek: Ein Diskussionsbeitrag (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 14). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes, 1975. Müller, Hans A. (1988). Die Schulbibliothek: Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare. Bern : Schweizer Bibliotheksdienst, 1988.

51 Dies steht Vorstellung entgegen, die von bibliothekarischer Seite auch aktuell formuliert werden. Diese fordern eine Gestaltungskompetenz von professionellen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren für Schulbibliotheken ein und interpretieren die Schulen dabei eher als Kooperationspartner. Vgl. Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken: Bibliotheken, Mediotheken, Informationszentren an Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe II ; Grundsätze, technische Daten und praktische Beispiele. (3. überarbeitete Aufl.). Aarau: Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken, 2014. Und: Deutscher Bibliotheksverband (2015). Lesen und Lernen 3.0 Medienbildung in der Schulbibliothek verankern!: Frankfurter Erklärung des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) vom 22. April 2015. Frankfurt am Main : Deutscher Bibliotheksverband, 2015. http://www.schulmediothek.de/fileadmin/pdf/DieFrankfurterErklaerung.pdf.

ABC der Schulbibliothek (1958) In der Praxis ist alles relaxter als in den Richtlinien (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, XII)

Nicht nur in der Schweiz, aber dort besonders, versuchen unterschiedliche Einrichtungen seit Jahrzehnten, den sehr unterschiedlichen Schulbibliotheken mit Richtlinien und der Vorgabe von Standards beizukommen – was selbstverständlich immer nur zum Teil funktioniert. Aber: Das war offenbar nicht immer so, vielmehr finden sich immer auch Dokumente, vor allem ältere, in welchen versucht wird, Schulbibliotheken mit einer offeneren Beratung zu unterstützen. Irgendwann scheint zumindest in der publizierten Darstellung ein Umschwung stattgefunden zu haben – wenn auch vielleicht nicht unbedingt in der Praxis, in welcher kantonale Bibliotheksbeauftragte immer noch die Möglichkeiten von Schulbibliotheken erst einmal lokal eruieren, um von diesen Voraussetzungen ausgehend zu beraten und nicht gleich die Orientierung an den aktuellen Richtlinien des Bibliotheksverbandes einzufordern. (Rahn, 1951 ; Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken, 2014)

Ein Beispiel für solche „relaxteren“ Publikationen stellt die kurze (8 Seiten) Broschüre ABC der Schulbibliothek dar, die 1958 von der Zürcher Kantonalen Kommission für Jungend- und Volksbibliotheken herausgegeben wurde. (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958) Die Broschüre hat im Laufe der Jahrzehnte Fortsetzungen gefunden, 1971 unter dem gleichen Titel, zuletzt indirekt 2014 mit dem Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule – das vom Umfang her weiterhin eher eine Broschüre denn ein Handbuch darstellt – der Bildungsdirektion Kanton Zürich. (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2014)

Grundidee dieser Publikationen ist es immer, dem Personal in den Schulbibliotheken – und in der 2014er Broschüre darüber hinaus den Lehrerinnen und Lehrer – eine gedrängte Übersicht zu den wichtigsten Fragen zu geben, die beim Betreiben einer Schulbibliothek auftreten. Die Broschüre von 1958 wird nicht der erste Versuch gewesen sein, dies zu tun, aber es scheint aktuell der älteste noch in den Magazinen der Bibliotheken greifbare.1 Vorteil dieser Publikation ist, dass die herausgebende Kantonale Kommission offenbar oft zu diesen Themen angesprochen wird (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:1) und mit der Broschüre auf diese Fragen reagiert. Damit gibt sie einen Einblick in die Probleme der damaligen Schulbibliotheken in der Schweiz.2

Dieser Einblick zeichnet Schulbibliotheken, die mit relativ basalen Problemen zu tun hatten – Bestandsaufbau, Geldbeschaffung, Fragen der Ausleihorganisation – und sich zum Beispiel wenig Gedanken über die Nutzung der Bibliothek für den Unterricht machten (im Vergleich zu späteren Texten zu schweizerischen Schulbibliotheken). Gleichzeitig scheint mit der Kantonalen Kommission und einigen anderen Einrichtungen (vor allem der Schweizerischen Volksbibliothek, heute Stiftung Bibliomedia) ein funktionierendes Netzwerk an Unterstützungseinrichtungen bestanden zu haben. Der Text zeigt auch, dass es sich beim Schulbibliothekspersonal nicht um bibliothekarisch ausgebildetes Personal handelte, sondern um Personen, denen die Grundlagen bibliothekarischer Arbeit vermittelt werden sollten. Zugleich hält sich die Broschüre sehr zurück und gibt keine normativen Anweisungen dazu, wie die Schulbibliothek auszusehen oder funktionieren hätte, was wieder im Vergleich zu späteren Texten zu schweizerischen Schulbibliotheken auffällt. Ob aus Realitätssinn, demokratischer Gesinnung oder anderen Gründen – die Kantonale Kommission trat nicht an, den Schulbibliotheken Vorgaben zu machen, sondern sie tatsächlich zu Beraten. Gleichzeitig ist der Text extrem kurz, was auch heisst, dass nur wenige Punkte überhaupt ausgeführt werden können.

ABCderSchulbibliothek_1958_1

Insgesamt sind es 29 Punkte, die in der Broschüre kurz besprochen werden:

  1. Anschaffungen (hier die Empfehlung, Verzeichnisse aus der Schweizerischen Lehrerzeitung und der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare zu nutzen und planmässig jedes Jahr einen bestimmten Teil des Bestandes gesondert auszubauen)

  2. Aufbau („Neigungen und Interessen der Altersstufe“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) sollen beachtet werden, Fachliteratur wird explizit einer „Lehrerbibliothek“ (ebenda) zugeordnet)

  3. Bestand (angesichts dessen, dass sich heute durchgesetzt hat, für Schulbibliotheken 10 Medien pro Schülerin/Schüler zu fordern, muss folgende Angabe überraschen: „Entspricht Ihre Bücherzahl pro Klasse der doppelten Schülerzahl, so verfügen Sie bereits über eine ansehnliche Bücherei.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) Gleichzeitig mag diese Zahl besser durchsetzbar gewesen sein und sich, ebenso wie die heute angeführten 10 Medien, aus der Erfahrung der Schulbibliotheken begründet haben.)

  4. Bezug (heisst hier Ausgabe der Medien und Länge der Ausleihe; eine wöchentliche Medienausgabe sollte gegeben sein, ausserdem sollte nicht vergessen werden, „am letzten Tag vor den Ferien besonders großzügig zu sein“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2))

  5. Einband (hier die Aufforderung, nur noch durchsichtig einzubinden, da die Umschläge der Bücher kunstvoll genug dafür geworden seien)

  6. Entschädigung (hier werden einerseits Klassenbibliotheken als „wesentliche Erziehungs- und Bildungshilfen“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) akzeptiert – was wieder im Vergleich mit späteren Texten auffällig ist, welche Klassenbibliotheken explizit ablehnten –, als auch gefordert, dass die Arbeit in grösseren Schulbibliotheken als Verwaltungsarbeit – nicht als pädagogische Arbeit – entschädigt, das heisst entlohnt, werden sollte)

  7. Freihandsystem (die Freihhandaufstellung wird als sinnvoll und effektiv – weil werbeträchtig für die einzelnen Bücher – angepriesen; heute ein Hinweis darauf, dass sie in den späten 1950ern verbreitet, aber noch nicht überall durchgesetzt war)

  8. Geldbeschaffung (es wird betont, dass Bibliotheken Geld kosten, explizit auch ein Abgang von 10% pro Jahr postuliert, der zu ersetzen wäre, gleichzeitig wird behauptet, dass die Schulpflege – das die Schule führende Amt, in Deutschland wäre es das Schulamt – diese Kosten tragen würde, wenn nur die richtigen Anträge gestellt werden; zudem wird auf andere Subventionsmöglichkeiten (Bezirksbibliothekskommissionen, Gemeinnützige Gesellschaften) hingewiesen)

  9. Gruppierung (das ist die Aufstellung, wobei hier keine – ansonsten in der Schweiz heute verbreitete – DDC oder eine andere verbreitete Systematiken erwähnt werden, sondern für kleine Klassenbibliotheken Gliederungen als nicht notwendig, bei grösseren Bibliotheken die Aufstellung nach Altersstufen als sinnvoll bezeichnet wird; grosse Bibliotheken sollten den Bestand nach Sachgruppen strukturieren (ein mnemotechnisch aufgebautes Beispiel wird angegeben) und diese mit farbigen Etiketten auszeichnen)

  10. Jugendbuchausstellungen (werden als sinnvoll dargestellt; erwähnt wird hier auch das erste Mal das SJW-Heft, welches in der Broschüre späterhin öfter auftaucht; SJW ist das Schweizerischer Jugendschriftwerk, eine Stiftung, die Hefte mit schweizerischen Erzählungen in allen vier Landessprachen vertreibt, heute vorrangig zur Leseförderung, aber bei ihrer Gründung 1931 – und wohl auch noch in den 1950ern – hauptsächlich „gegen Schundliteratur“ und für schweizerische Werte)

  11. Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (hier stellt sich nicht nur die herausgegebende Kommission selber vor, sondern verkündet auch ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 1959: „Die Kantonale Kommission fördert durch ihre Beiträge nicht nur Neugründungen und Erweiterungen von Jugend- und Volksbibliotheken, sondern ist auch am Ausbau der Schulbüchereien unseres Kantons als Unterbau und wertvolle Ergänzung der Volksbibliotheken stark interessiert. Ihre Delegationen nehmen darum anläßlich ihrer periodisch erfolgenden Besuche (ab 1959 auch der Schulbibliotheken der einzelnen Bezirke) Fühlung mit den verantwortlichen Lehrkräften, die dieses unschätzbare Bildungsgut verwalten.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:4))

  12. Kontrolle (hier geht es um das Ausleihsystem, wobei das System mit Leih- und Buchkarten erläutert, aber vor allem die Forderung aufgestellt wird, dass jedes Kontrollsystem „zuverlässig, rasch und doch großzügig“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken 1958:4) sein solle)

  13. Lesealter (hier der Hinweis, dass sich Bilderbücher für „Erstkläßler“ (sic!, Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:4) eignen und Schulbibliotheken nicht erst für die vierten Klassen sinnvoll seien, was offenbar im Umkehrschluss heisst, dass Schulbibliotheken oft erst ob der vierten Klasse zugänglich waren)

  14. Mittelstufenbücherei (als Mittelstufe gelten in der Schweiz die Klassen vier bis sechs, hier wird aufgezählt, welchen Bestand sie enthalten sollte, wobei neben den SJW-Heften, die explizit erwähnt werden, auffällt, dass keine Sachliteratur genannt wird; die Schulbibliothek ist offenbar zum Lesen vorgesehen)

  15. Nachschlagwerke (hier wird darauf gedrängt, dass, wenn überhaupt Nachschlagewerke in der Schulbibliothek stehen müssten, es das Kinderlexikon „Die Kinderwelt von A bis Z“ und das Jugendlexikon „Die Welt von A bis Z“ sein sollten)

  16. Numerierung (sic!) (Klassenbibliotheken sollten im Numerus Currens (nicht so genannt) nach der Erwerbung nummeriert werden, erst grössere Bibliotheken sollten Signaturen verwenden (aber auch die werden nicht so genannt, sondern umschrieben))

  17. Oberstufenbücherei (ab der siebenten Klasse; auch hier wird nur kurz aufgezählt, was sie enthalten soll, Sachliteratur wird nur nebenher angedeutet, wichtiger scheinen bestimmte Formen der Belletristik)

  18. Pflege (hier wird darauf gedrängt, die Bücher zu pflegen, gar ganze Schulklassen zum Polieren der Bücher anzuhalten und gegebenenfalls auf Buchbindereien zurückzugreifen)

  19. Qualität (unter diesem Abschnitt findet sich keine Aussage zur Qualität der Medien in der Schulbibliothek, sondern Aussagen dazu, dass die Schulbibliothek aktuell gehalten werden und auch „Klassiker“ aus dem Bestand entfernt werden sollten, wenn die Bücher alt werden; Qualität ist also Aktualität)

  20. Räumlichkeiten (hier wird nicht, wie in späteren Texten, gefordert, dass sich die Schulbibliothek im Zentrum des Schulgebäudes befinden sollte, sondern nur, dass sie nicht aus Schränken bestehen soll; ansonsten wird die Aufstellung der Bestände in offenen Regalen gefordert, selbst wenn dies im Korridor geschehen sollte, denn: „Die beste Werbung für das gute Buch sind die Bücher selber, sofern man sie nicht einsperrt.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6))

  21. Schweizer Buch (hier wird gefordert, dass Bücher aus der Schweiz gekauft werden sollten, da es schwer wäre, solche zu verlegen und es vaterländisch wäre, sie zu kaufen: „Schweizer Bücher verdienen […] aus vaterländischen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen bei sonst gleicher Qualität den Vorzug vor ausländischen […]“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6); bei dieser Argumentation wird ersichtlich, dass die Broschüre noch zur Zeit der geistigen Landesverteidigung erschien – auch, wenn es weiterhin inhaltlich ähnliche Aufrufe gibt, werden sie heute anders formuliert und begründet)

  22. Schweizerische Volksbibliothek (heute die Stiftung Bibliomedia, hier werden ihre Blockbestände („Wanderbüchereien“) angepriesen, die für 10 Rappen pro Band und Monat als Ergänzung für die Schulbibliothek genutzt werden könnten; der Preis ist selbstverständlich schwer in einen heutigen Wert zu übersetzen)

  23. Statistik (wird als nur sinnvoll bezeichnet, wenn aus ihr auch Schlüsse gezogen würden; weitere Vorgaben werden nicht gemacht)

  24. Unterstufenbücherei (erste bis dritte Klasse, wieder ein kurze Aufzählung von Genres, wobei das „viele, viele SJW-Hefte“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6) heraussticht; offenbar waren Kinder noch mehr von der „Schundliteratur“ abzulenken als die Jugendlichen in höheren Schulklassen)

  25. Urteile (hier sind Besprechungen oder zumindest Einschätzung von Lernenden gemeint; es wird vorgeschlagen, einen „Schülerausschuß“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7) zu bilden, der regelmässig mithilfe von Beurteilungsbögen Bücher für die Anschaffung bewerten soll; was teilweise heute noch immer wieder einmal als „innovative“ Möglichkeit für Schulbibliotheken neu angedacht wird)

  26. Verbote (Verbote, die Bibliothek zu benutzen, sollten grundsätzlich nicht erlassen werden, da sie kontraproduktiv sind; wobei vor allem die Formulierung erstaunlich ist, weil sie offenbar auf eine verbreitete Verbotspraxis anspielt: „Wer einen Rückstand der Kinder im Rechnen, unbefriedigende Rechtschreibung oder Schneeballwerfen gegen die Schulhausfassade durch Verbannung der Klassenbibliothek für ein Vierteljahr auf den Estrich bestraft, ist ein Barbar.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7); hierbei wird wieder sichtbar, dass die Kantonale Kommission den Klassenbibliotheken eine wichtige Funktion zuschreibt)

  27. Verzeichnisse (hier Hilfsmittel, um den Bestand zu repräsentieren, wenn nicht mit der Freihandaufstellung gearbeitet wird, was wieder ein Hinweis dafür ist, dass diese Form der Aufstellung nicht überall vorgenommen wurde)

  28. Werbung (es wird betont, dass ein gutes Buch an sich für sich selber wirbt, aber weitere Werbung immer gut sei; genannt werden die Ausstellung der Neuanschaffungen, Rätsel und Wettbewerbe, bei denen der Bestand genutzt werden muss, Leseproben und Vorlesungen mit Schweizer Jugendautoren, die über die Kommission vermittelt werden können)

  29. Zielsetzung (Schulbibliotheken werden, wie erwähnt, in dieser Broschüre nicht als Orte für den Unterricht oder für die Freizeitgestaltung der Schülerinnen und Schüler angesehen, sondern als Ort, um Kinder und Jugendliche „an das gute Buch zu gewöhnen.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7); gleichzeitig zeigt die Kommission noch im letzten Satz der Broschüre, dass sie sich zeitgenössisch im Denken der geistigen Landesverteidigung befindet: „Wir [die Schulbibliotheken] verhelfen ihnen [den Kindern und Jugendlichen] damit zu einem bleibenden Lebenskameraden [das gute Buch], der Geist und Seele fördert, und tragen bei, im Kampf gegen den Ungeist der Zeit die geistige Substanz unseres Volkes zu mehren.“ (ebenda))

Die Schulbibliotheken, die in dieser Broschüre gezeichnet werden, haben also eine andere Aufgabe, als den heutigen Schulbibliotheken zugeschrieben wird, sie sind eher ehrenamtlich oder zumindest wenig bibliotheksfachlich geführt. Auffällig ist, dass sie nur aus Büchern und SWJ-Heften zu bestehen scheint, andere Medienformen wären wohl für die Zielsetzung und Organisation der Schulbibliotheken nicht sinnvoll. Interessant ist, dass die Kantonale Kommission daran überhaupt keine Anstoss nimmt, sondern diese Realität weiter zu befördern wollen scheint.

Literatur

Bildungsdirektion Kanton Zürich (2014) / bischu : Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule. Zürich: Bildungsdirektion Kanton Zürich, Amt für Jugend und Berufsberatung, Volksschulamt, 2014, http://www.bischu.zh.ch/

Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (1958) / Abc der Schulbibliothek : [Eine Handvoll praktischer Ratschläge für die Sammelmappe des Schulbibliothekars]. Zürich : Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958

Rahn, Magdalena (1951) / Leitfaden für Volks- und Schulbibliotheken (Publikationen der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare ; XXI). Bern : Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare, 1951

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014) / Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau : Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Fussnoten

1 Was nicht heisst, dass mir im Laufe der Zeit nicht noch ältere dieser Publikationen unterkommen könnten. Ich wäre an Hinweisen interessiert.

2 Allerdings hat auch Magdalena Rahn in ihrem 1951 erschienen Leitfaden für Volks- und Schulbibliotheken betont, der eher den heutigen normativen Texte (insbesondere den Arbeitstechniken für Schul- und Gemeindebibliotheken) zuzuzählen ist, dass dieses aufgrund von häufigen Anfragen aus der Praxis geschehen sei (Rahn, 1951); obgleich sich der Text von Rahn und der der Kantonalen Kommission in Fragen der vom Personal verlangten bibliotheksfachlichen Kenntnisse teilweise diametral gegenüberstehen.

10 Jahre Aargauische Schulbibliotheken 1944-1954 (1957). Schulbibliotheken gegen Schundliteratur (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, XI)

Nicht alle, aber viele Projekte, die sich mit Schulbibliotheken befassen, beginnen mit einer Bestandsaufnahme der Schulbibliotheken in ihrem Bereich (Stadt, Gemeinde, Kanton, Bundesland) und versuchen, von dieser Übersicht ausgehend, das weitere Vorgehen zu planen. Oft werden diese Übersichten mittels Umfragen erstellt. Beispiel dafür wäre das Projekt „Die multimediale Schulbibliothek“ (2003) aus Österreich, das auf einer solchen Umfrage aufbaute. (Schöggl et al., 2003) Teilweise ist im Nachhinein nicht mehr klar, ob über diese Umfrage hinaus das Projekt jeweils noch fortgeführt wurde, wie beispielsweise bei einer Umfrage im Kanton Frybourg, die 2008 ohne weitere Hinweise publiziert wurde (Association des bibliothèques fribourgeoises, 2008) oder einer Umfrage in Schleswig-Holstein, die 2009 veröffentlicht wurde, ohne das heute erkennbar ist, wie die erhobenen Werte genutzt wurden (Arbeitsstelle Bibliothek und Schule der Büchereivereins Schleswig-Holstein, 2009). Dieses Vorgehen ist also ein gewisser Standard in solchen Projekten – auch wenn sich die einzelnen Projekte nicht erkennbar (zum Beispiel durch Zitationen) aufeinander beziehen und sich dieses Vorgehen offenbar jedes Mal neu „ausdenken“ –, es ist aber auch nicht sehr neu. Die aufgezählten Beispiele stammen alle aus den letzten Jahren, aber das heisst nicht, dass solche Umfragen erst mit der Jahrtausendwende aufkamen. Vielmehr finden sich auch in Texten aus den Jahrzehnten zuvor immer wieder Hinweise auf solche Umfragen, teilweise als angedacht, aber nicht durchgeführt, teilweise als schwierig, weil es nur einen geringen Rücklauf der verschickten Fragebögen gäbe, teilweise werden auch nur einzelne Zahlen referiert, ohne das die Umfragen selber noch auffindbar wären. Es scheint eher, dass heute die Ergebnisse so publiziert werden, dass sie langfristig vorliegen.

Allerdings gibt es Ausnahmen und einige der früheren Umfragen sind samt ihrer Ergebnisse noch aufzufinden. Dies ist der Fall mit der hier zu besprechenden Broschüre, die sich mit den Ergebnissen zweier Erhebungen (Enquête) im Kanton Aargau im Jahr 1944 und 1954 befasst. (Halder, 1957)

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Geld verteilen

1940 wurde im Schulgesetz des Kantons eindeutig festgelegt, dass für jede Schule eine Bibliothek obligatorisch sei. (Diese Regelung besteht auch noch im heute gültigen Schulgesetz, in dem jede Schule verpflichtet wird, eine Mediothek zu unterhalten.) Vier Jahre später wurde vom Staatsarchivar des Kantons, beauftragt von der Erziehungsdirektion, eine Umfrage bei allen Schulen des Kantons durchgeführt, in welcher Grunddaten der Schulbibliotheken abgefragt wurden. Auf diesen Ergebnissen gestützt unternahm es der Kanton, den Schulen Förderung für ihre Schulbibliotheken – gestaffelt nach Schulgrösse und Schultyp – zukommen zu lassen.

Zehn Jahre später, also 1954, baute der Kantonsbibliothekar – also der Leiter der Kantonsbibliothek –, ebenfalls nach Auftrag der Erziehungsdirektion, auf diesen Ergebnissen auf und führte eine weitere Umfrage durch. Die Broschüre „10 Jahre Aargauische Schulbibliotheken 1944-1954“ (Halder, 1957) berichtet von diesen Ergebnissen. Grundsätzlich sollten die Daten der Umfrage genutzt werden, um zu entscheiden, ob die Förderung des Kantons in der gültigen Form weitergeführt oder angepasst werden sollte. Zudem sollte erhoben werden, ob diese Förderungen einen Einfluss auf die Schulbibliotheken hatte. Dieser jetzt schon über 60 Jahre alte Text erlaubt vor allem einen Einblick in ein vergangenes Denken über Schulbibliotheken.

Enquête

Erhoben wurden die Daten mittels eines einseitigen Fragebogens an die Schulen (Halder, 1957: 29). Dieser Bogen fragte nach der Bestandsgrösse, Anzahl der entliehenen Bücher, Kosten für Bücher, Buchbinderei und Verwaltung, aber auch danach, ob die Bibliothek „zentralisiert“ (also als eine Bibliothek pro Schule) geführt wurde, ob Klassenbibliotheken bestünden, wer die Ausleihe besorgen würde, ob Lernende die Bibliothek selbst verwalten, ob es eine Freihandausleihe gäbe – und ob die Bücher für Jungen und Mädchen getrennt aufgestellt wären. Letzte Frage klingt heute absurd, letztlich war sie es auch 1954, da nur eine Schulbibliothek im Kanton die Medien nach Geschlecht trennte. Aber es ist doch bezeichnend für den schweizerischen Zeitgeist der 1950er Jahre, das so eine Frage überhaupt gestellt wurde.

Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt grundsätzlich in zahllosen Tabellen, die neben dem Bestand, der Ausleihe und den aufgegliederten Kosten auch Angaben dazu machten, wie viel der kantonalen Förderung jeweils für die Schulbibliothek genutzt würde und wie viel aus anderer Quelle (vor allem der jeweiligen Gemeinde) beigetragen würde. (Halder, 1957:31-53) Neben den Daten für die einzelnen Bibliotheken gibt es auch Tabellen, die bestimmte Daten sowohl nach Bezirk getrennt als auch allgemein zusammenfassen. (Halder, 1957: 54-67). Dem folgen Tabellen zu den Bibliotheken einzelner Schulanstalten (also Schulheimen der Kirche, die in den 1950er Jahren noch nicht den schlechten Ruf hatten, den sie heute haben). (Halder, 1957:68-71) Abschliessend sind die Daten noch einmal in Listen geordnet (Bibliotheken mit einem Bestand mit mehr als 500 Büchern, Bibliotheken mit einem Bestand mit mindestens 5 Bücher pro Lernenden und so weiter). (Halder, 1957:73-79)

Diese Listen sind schwierig zu interpretieren. Insbesondere die Angaben von Kosten in Franken und Rappen lassen sich schwerlich in heutige Franken und Rappen übersetzen, obwohl ein Grossteil der Tabellen aus solchen Angaben besteht. Andere Zahlen lassen sich besser einordnen: So gab es 1954 im Aargau 317 Schulen mit Bibliotheken, wobei 172 Bibliotheken für das gesamte Schulhaus zuständig waren, 33 für bestimmte Klassenstufen und 112 für einzelne Klassen. Ein Grossteil dieser Bibliotheken wurde von Lehrkräften geführt (195), explizites Schulbibliothekspersonal hatten 76 Einrichtungen, 15 wurden ganz und 23 teilweise von Schülerinnen und Schülern geführt, 16 von Rektoren. Nur 84 waren als Freihand organisiert, 22 zum Teil. Bei den anderen Bibliotheken durften die Schülerinnen und Schüler den Bestand nicht direkt nutzen, sondern nur über die jeweils ausleihende Person.

10JahreAargauischeSchulbibliotheken1944bis1954_1957_36

Erläuterung

Den Tabellen vorangestellt ist eine längerer Text des Kantonsbibliothekars, der die einzelnen Daten einordnet. Grundsätzlich hält er fest, dass es zwischen 1944 und 1954 eine grosse Verbreitung und ein qualitatives Wachstum der Schulbibliotheken gegeben hätte. Daraus schliesst er, dass die Förderung an sich wirkt (die aber mit einer gesetzlichen Vorgabe verbunden war), auch wenn es teilweise gegenteilige Entwicklungen gab, beispielsweise Bibliotheken, die geschlossen wurden und einzelne Gemeinden, die ihre Förderung für andere Dinge benutzen als für eine Schulbibliothek. Letztlich befand sich die Schulbibliothekslandschaft in Aargau zwischen 1944 und 1954 in einer dynamischen Entwicklung.

Im Vergleich zu 1944 stellte er zudem fest, dass sich die Freihandausleihe ausbreiten würde. Gleichzeitig wurden Schulbibliotheken nur zum Teil von Personal geführt, dass dafür auch finanziell entschädigt wurde, was ein Hinweis auf die mangelnde Professionalität der Arbeit zu sein scheint. Interessant im Vergleich zu späteren Texten zu Schulbibliotheken aus der Schweiz ist, dass er die drei Formen Schulhausbibliothek (Zentrale Bibliothek), Stufenbibliothek und Klassenbibliothek nebeneinander führt, ohne diese gesondert zu bewerten. (Halder, 1957:14) In späteren Texten wird eine regelrechte Kampagne gegen Klassenbibliotheken geführt, die dann als unmodern gelten.

Gegen Schundliteratur

Der Autor des Textes benennt auch sehr klar, wofür Schulbibliotheken notwendig wären: Für den Kampf gegen Schundliteratur. Dabei setzt er in gewisser Weise voraus, dass bekannt sein müsste, was diese Literatur sei und was nicht. Zumindest hält er sich nicht mit einer klaren Definition auf, sondern führt den „Kampf“ gegen diese Literatur als allgemein bekannt und notwendig ein:

In der Sitzung des Großen Rates vom 13. Dezember 1954 kam die Gefährdung der heutigen Schuljugend durch die beängstigend anwachsende Flut von Schund- und Schmutzliteratur zur Sprache. Ihre Eindämmung kann nicht durch passive Verbote und platonische Aufklärung, sondern nur durch aktive Förderung der Lektüre guter und wertvoller Bücher erreicht werden. Dieser Einsicht folgt der Große Rat duch die Erhöhung des staatlichen Beitrages um weitere Fr. 10 000.–, so daß im Budget pro 1955 erstmals Fr. 21 200.– für den Ausbau der Schulbibliotheken bereitgestellt wurden. (Halder, 1957:6)

Der Kanton seinerseits hat die Aufgabe, die Maßnahmen der Erziehungsbehörden und der Lehrerschaft zur Bekämpfung der untergeistigen Literatur und zur Förderung der guten Jugendliteratur tatkräftig zu unterstützen. (Halder, 1957:22)

Solche Überlegungen finden sich im Text immer wieder. Grundsätzlich sollen Schulbibliotheken so organisiert sein – in ihrem Bestand, ihrer Ausleihordnung und so weiter –, dass sie das „gute Buch“ fördern würden. Diese Angst vor angeblicher Schundliteratur, welche die Jugend verderben würde, ist keine schweizerische Eigenheit (obgleich sie in die öffentlichen Diskurse der „Geistigen Landesverteidigung“ passt), sondern waren ebenso in Deutschland, Österreich und – mit dem Twist, diese Literatur als Waffen des Kapitalismus zu begreifen – in der DDR verbreitet, auch schon weit vor den 1950er Jahren. (Siehe unter anderem Maaase, 2012)

Mit dem Abstand der Jahrzehnte fällt auf, dass durch diesen Fokus andere Aufgaben, die Schulbibliotheken heute zugeschrieben werden, gar nicht erst in den Überlegungen des Autors auftauchen: Beispielsweise findet sich kein Wort zu einer möglichen Leseförderung oder gar Freizeitlesen (was gewiss als „Schund“ angesehen würde), ebenso wird keine Einbindung in den Unterricht angedacht – und das, obwohl explizit Klassenbibliotheken akzeptiert werden – und es finden sich auch keine Überlegungen zu einem Recherchetraining (was auch schwierig wäre, da es in den meisten Bibliotheken gerade keinen freien Zugriff der Schülerinnen und Schüler auf den Bestand gab). Die Schulbibliotheken im Aargau 1954 hatten offensichtlich ganz andere Zielsetzungen, als die heutigen Schulbibliotheken (was auch zeigt, wie sehr die Aufgaben von Bibliotheken an die jeweiligen gesellschaftlichen Diskurse gebunden ist).

Eine alte Idee findet sich allerdings auch in dieser Broschüre wieder: Auch Halder geht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler, welche die Schulbibliothek aktiv nutzen, später auch die Öffentlichen Bibliotheken nutzen würden. (Halder, 1957:20) Diese Vorstellung wird über die Jahrzehnte konstant beständig wiederholt, ohne das dieser Zusammenhang – zumindest soweit bislang ersichtlich – jemals untersucht worden wäre.

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Fazit

Zwei Dinge, die sich in der Broschüre finden, sind aus der heutigen Sicht erstaunlich: Zum einen erwähnt der Autor, dass Kinder, die in der Freizeit in der Landwirtschaft tätig sein müssten, im Sommer weniger lesen würden als im Winter – im Gegensatz zu anderen Kindern. (Halder, 1957:11) Dies verweist auf eine heute kaum vorstellbare Praxis von Kinderarbeit, zumal in der Schweiz, die vom Autor als gegeben akzeptiert wird. Nicht nur die Schulbibliotheken, sondern auch die Gesellschaft und der gesellschaftliche Wohlstand haben sich offenbar in den letzten Jahrzehnten massiv verändert.

Der andere erstaunliche Fakt ist die Einschätzung, dass ein niedriger Umsatz ein gutes Zeichen wäre:

Starke Ausleihe bei niedrigem Bestand ergibt hohe Umsatzzahlen pro Band. Niedriger Umsatz bedeutet umgekehrt ein gutes Verhältnis zwischen Bücherbestand und Beanspruchung. […] Zur Schonung der Bücher pflegen verschiedene Bibliothekare die Bände nicht mehr als dreimal nacheinander auszugeben. (Halder, 1957:12)

Heute steht die Bestandserhaltung bei nicht-historischen Beständen nicht mehr im Vordergrund. Eher wird angestrebt, den gesamten Bestand möglichst oft umzusetzen, also gerade Medien anzuschaffen, die oft nachgefragt werden. Offenbar ist auch dieses Ziel nicht universell.

Im Abschluss empfiehlt der Autor eindringlich, die kantonale Förderung für Schulbibliotheken fortzuführen. Grundsätzlich schliesst er, dass sie einen positiven Einfluss hatte, wenn auch nicht überall. Ganz so eindeutig ist diese Deutung allerdings nicht. So fällt auf, dass ausser der Förderung durch den Kanton keine weiteren Entwicklungen besprochen werden, die einen Einfluss auf die Schulbibliotheken gehabt haben könnten, insbesondere das Ende des Zweiten Weltkriegs, das auch für die Schweiz einen Neubeginn bedeutete, der sich in einem steigenden Wohlstand und einer steigenden Bevölkerungszahl niederschlug. Dies bedeutete auch für das Kanton Aargau wachsende Schulen und bessere Gemeindefinanzen, die sich unter anderem in mehr und besseren Schulbibliotheken niedergeschlagen haben könnten.

Trotzdem kann man die Förderungspraxis der Kantons als Hinweis darauf nehmen, dass es möglich ist, Schulbibliotheken sinnvoll zu unterstützen, wenn dies langfristig und mit genügend Mitteln passiert.

Gleichzeitig zeigt diese Broschüre, wie sehr sich die Schulbibliotheken heute gewandelt haben. Halder thematisiert beispielsweise nur Bücher, keine anderen Medien, was verständlich ist, wenn ein Grossteil der Bibliotheken keine Freihandbibliotheken sind, es also beispielsweise überhaupt nicht möglich ist, Zeitschriften im Bibliotheksraum zu lesen oder Spiele zu spielen. Gleichzeitig ist vor allem sichtbar, dass heutige Bibliotheken – trotz gelegentlicher Klagen des Personals gegen die Boulevardpresse – sich nicht mehr als Bollwerk gegen angebliche Schundliteratur verstehen; egal wie sie sich genau verstehen. Die Diskurse über Schulbibliotheken sind offenbar in Bewegung.

Literatur

Arbeitsstelle Bibliothek und Schule der Büchereivereins Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2009) / Schulbüchereien in Schleswig-Holstein: Ergebnisse der Umfrage zum Stand von Schülerbüchereien in Schleswig- Holstein (Arbeits- und Informationsmaterialien , 4). – Rendsburg: Arbeitsstelle Bibliothek und Schule, 2009

Association des bibliothèques fribourgeoises (Hrsg.) (2008) / Rapport du Groupe de travail sur les bibliothèques scolaires et mixtes du canton Fribourg. 24th Jun 2008. – Fribourg: Association des bibliothèques fribourgeoises / Vereinigung der Freiburger Bibliotheken.

Halder, Nold (1957) / 10 Jahre Aargauische Schulbibliotheken 1944-1954 : Im Auftrage der Aargauischen Erziehungsdirektion bearbeitet von Nold Halder, Kantonsbibliothekar. – Aarau : Aargauische Erziehungsdirektion, 1957

Maase, Kaspar (2012) / Die Kinder der Massenkultur : Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. – Frankfurt am Main : Campus, 2012

Schöggl, Werner ; Hofer, Stephan ; Hujber, Wendelin ; Macho, Margit ; Rathmayr, Jürgen ; Sygmund, Bruno (2003) / Die multimediale Schulbibliothek. –Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2003

Die Schulbibliothek (1988): Eine weitere Broschüre aus der Schweiz (Geschichte der Schulbibliotheken VIII)

Der Schweizer Bibliotheksdienst gab 1973 die Broschüre „Planung von Schulbibliotheken“ heraus, die zuletzt hier besprochen wurde (Link). Diese Broschüre folgte in grossen Teilen den bundesrepublikanischen Diskussionen um Schulbibliotheken, allerdings in einer sehr schweizerischen Version. 1988 folgte, ebenfalls vom Schweizer Bibliotheksdienst verlegt, die Broschüre „Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare“. (Müller, 1988) [1] Der Autor dieser Publikation – oder ein Namensvetter, was trotz des relativ unauffälligem Namens Hans A. Müller, nicht wahrscheinlich ist – hat in den 1970er Jahren schon im Kanton Luzern mindestens zwei Publikationen zu Schulbibliotheken vorgelegt. Im Jahr 1988 unternahm er, einen Text vorzulegen, der offenbar Schulen davon überzeugen soll, einerseits moderne Schulbibliotheken – modern im Kontext der späten 1980er Jahre – einzurichten und diese andererseits von bibliothekarischem Fachpersonal betreuen zu lassen.
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Aufbau der Broschüre

Die reich bebilderte, 50-seitige Broschüre in einem Sonderformat (im Hochformat bedruckte Seiten, die etwas kleiner als A6 sind und immer, ausser bei Deck- und Endblatt, als Doppelseite layoutet wurden) machen offenbar Werbung für Schulbibliotheken, die bibliothekarisch ausgerichtet arbeiten. 24 Themen werden jeweils auf einer Doppelseite behandelt, wobei mindestens zehn dieser Themen explizit bibliothekarische Inhalte darstellen (Siehe weiter unten, “Bibliothekarische Anleitungen”), während sich zur pädagogischen Nutzung nur einige wenige Sätze finden. (Siehe Weiter unten, “Pädagogische”) Dafür ist die gesamte Broschüre geprägt von Abgrenzungen zu anderen Einrichtungen und Forderungen nach bestimmten Kriterien für Schulbibliotheken. (Siehe weiter unten, “Forderungen und Abgrenzungen”) Ersichtlich ist, dass diese Kriterien als Voraussetzung für gute Schulbibliotheken angesehen werden, allerdings wird dies weder explizit benannt noch werden sie nachvollziehbar begründet. Relativ offensichtlich ist aber, dass die Broschüre auch als Werbung für die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes genutzt wurde. (Siehe weiter unten, “Werbung für den  Schweizerischen Bibliotheksdienst”)

Auffällig an der Broschüre ist die intensive Nutzung von graphischen Elementen, vor allem, aber nicht nur, Bildern. Diese sind offensichtlich explizit für dies Broschüre erstellt, so wie sich in der gesamten Gestaltung eine durchdachte Planung zeigt. [2] Mehrfach werden Bilder, die ungestellt wirken sollen, dafür genutzt, Fakten darzustellen, beispielsweise auf Seite 30-31 und 32-33, wo Hinweise zur Möblierung direkt in zwei Bilder hineingeschrieben sind. Gerade im Vergleich zur Broschüre 1973 (Schweizer Bibliotheksdienst, 1973) – aber auch zu den “Lehrbriefen Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), die drei Jahre zuvor in der BRD erschienen – wird deutlich, dass für diese Publikation explizit eine professionelle Gestaltung stattfand. Dafür ist der Text selber relativ knapp und direkt gehalten.

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Forderungen und Abgrenzungen

Broschüren wie diese stellen immer wieder mehr oder minder direkte Forderungen dazu auf, wie eine Schulbibliothek auszusehen hätte. Gleichzeitig grenzen sie sich von anderen Einrichtungen ab. Interessant ist, von was sich in dieser explizit abgegrenzt wird: Nicht etwa von Schulen ohne Schulbibliothek, kaum von Schulen mit Schulbibliotheken, welche nicht den Forderungen der Broschüre entsprechen oder von in der Schweiz zumindest heute verbreiteten kombinierten Schul- und Gemeindebibliotheken, die ausserhalb der Schulen angesiedelt sind; sondern vor allem gegen Klassenbibliotheken, also kleinen Beständen, die in einzelnen Schulzimmern unterhalten werden. Dies wird mehrfach thematisiert, zum Beispiel:

“Sie [die Schulbibliothek, KS.] ersetzt die Klassenbibliotheken

Das zu dürftige Bücherangebot herkömmlicher Klassenbibliotheken, das sich zudem oft in schlechtem Zustand befindet, vermag weder die Schüler zum Lesen zu motivieren, noch bietet es die Möglichkeit, Literatur in Schulalltag und Lernprozess einzubauen.” (S. 2)

“Alle Druckschriften und audiovisuellen Informationsträger der Schule stehen in der Bibliothek Schülern und Lehrern übersichtlich, erschlossen und leicht zugänglich zur Verfügung. Lehrer-, Stufen-, Abteilungs- und Fachbibliotheken erübrigen sind.” (S. 3)

Diese Abgrenzung vermittelt zumindest den Eindruck, als sei in den späten 1980er Jahren die Praxis der Klassenbibliotheken in der Schweiz verbreitet gewesen. (Andere Dokumente aus den 1970er und 1980er Jahren thematisieren auch Klassenbibliotheken, in den Texten aus Deutschland wird sich aber eher gegen Schulen abgegrenzt, die zu unprofessionelle Schulbibliotheken unterhalten würden.) Wenn dem so gewesen ist, hätte man auch fragen können, ob dies dann nicht für die Schulen am sinnvollsten erscheint – sonst würden sie die Klassenbibliotheken ja nicht führen. Insbesondere dessen, dass die anderen aufgezählten Möglichkeiten, gegen die sich abgegrenzt hätte werden können, gar nicht erwähnt werden, erscheint dies aber eher eine Zuschreibung darzustellen: Klassenbibliotheken werden als unmodern angesehen, eine organisierte Schulbibliothek für die gesamte Schule als modern. Begründet wird dies, wie auch andere Aussagen, nicht.

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Eine andere Abgrenzung ist ebenso erstaunlich: Es wird explizit eine Freihandbibliothek gefordert, also eine Einrichtung, in welcher der Bestand für die Schülerinnen und Schüler frei zugänglich ist. Dies wird tatsächlich einmal begründet und zwar mit dem Hinweise, dass Lernende das, was sie selber auswählen, auch wirklich lesen und lernen würden. (S. 3-4) Erstaunlich daran ist, dass Freihandbibliotheken zumindest bei den Öffentlichen Bibliotheken in den 1980er Jahren Normalität waren. Offenbar herrschte der Eindruck vor, das dies in den Schulen nicht der Fall wäre.

Ansonsten wird sehr klar die Forderung erhoben, dass Schulbibliotheken sich wie Öffentliche Bibliotheken organisieren sollten. Es werden explizit Hinweise gemacht auf die auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz genutzten “Arbeitstechnik für Schul- und Gemeindebibliothek”, auf die Dezimalklassifikation, wie sie in den Öffentlichen Bibliotheken genutzt wird, sowie auf bibliothekarische Hilfsmittel und Techniken. Teilweise wird sogar in diese Techniken eingeführt. Nur wenig unterscheidet sich in der Broschüre die Schulbibliothek von einer Gemeindebibliothek; einzig das in einigen Punkten explizit Lehrende und Lernende genannt werden und das eine andere Aufteilung des Bestandes vorgeschlagen wird (50% Belletristik: 10% Bilderbücher, 10% Kinderbücher, 30% Jugendbücher; 50% Sachbücher: 5% Nachschlagewerke, 10% Kinderbücher, 35% Jugendbücher, S. 11), scheint diese beiden Einrichtungen zu unterscheiden. Dies wirft allerdings die Frage auf, was das Besondere an Schulbibliotheken wäre, die in dieser Broschüre allerdings nicht behandelt wird.

Bibliothekarische Anleitungen

Auffällig zahlreich sind die Abschnitte, die sich mit bibliothekarischen Themen beschäftigen. Explizit sind dies die Folgenden:

  • “Die Bibliothek ist eine Freihandbibliothek”, S. 4-5
  • “Bücher für alle über alles”, S. 6-7 [inklusive Erneuerungsquote und Unterteilung in Präsenz- und Ausleihbestand]
  • “Der Bibliothekar wählt die Bücher aus”, S. 8-9
  • “So werden die Bücher eingeteilt”, S. 10-11
  • “Bibliotheksbücher tragen Erkennungsmerkmale”, S. 12-13 [Signaturen und Farbzeichen für Signaturen]
  • “Die Dezimalklassifikation (DK)”, S. 14-15
  • “So werden audiovisuelle Medien präsentiert”, S. 18-19
  • “Kataloge geben Auskunft”, S. 22-23
  • “So sehen Katalogkarten aus”, S. 24-25
  • “Die Ausleihkontrolle”, S. 26-27 [Beschreibung von Ticketsystem, Buchtaschen, Buchkarte, Fristblatt und Fristenstempel]

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Dabei wird zum Beispiel kurz die Erstellung von Katalogkarten und die Handhabung von Buchkarten geschildert, so wie man es von einer Ausbildungsbroschüre für den bibliothekarischen Unterricht erwarten würde. Die Auswahl der Medien wird explizit dem “Bibliothekar” als Aufgabe zugeschrieben – nicht Lehrenden oder Lernenden – und dabei auf Hilfsmittel verwiesen, die so auch in Öffentlichen Bibliotheken verwendet werden können (Listen des Schweizer Bibliotheksdienstes, des Buchhandels, Besprechungsdienste des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur und von Kommissionen, die in kantonalen Schulblättern veröffentlicht würden), die vorgeschlagenen Farben für Signaturen finden sich auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz wieder (Kinder: gelb, Jugend: hellrot, Erwachsene: hellblau, Französisch: grün, Italienisch: braun, Englisch: grau, Andere: weiss) und so weiter.

Immerhin vier Seiten (S. 16-19) beschäftigen sind mit “modernen Entwicklungen auf dem Gebiet der audiovisuellen Kommunikation” (S. 16), wie Tonfilme, Dias und Diaprojektoren, Kassettenabspielgeräte, Videorekorder; wobei diese selbstverständlich heute nicht mehr neu sind. Der Tenor ist recht einfach: Alle neuen Medien – genauer alle Medien, auch Spiele, Karten, Zeitungen und Zeitschriften – gehören in die Schulbibliothek und müssen dort auch benutzt werden. Dies ist relevant, weil auch heute gerne beklagt wird, dass Schulbibliotheken sich oft auf Bücher und gedruckte Medien konzentrieren würden. Offenbar ist der Diskurs dazu schon älter, zumindest ähneln sich die Argumente: Neue Medien würden ermöglichen, dass Lernende mit unterschiedlichen Lerntypen die jeweils für sie geeigneten Lernwege einschlagen könnten. Dies klingt sehr nach “individualisiertem Lernen”, nur dass es 1988 geäussert wurde, nicht erst in den letzten Jahren. [3]

Kurzum: Laut dieser Broschüre ist die Schulbibliothek eine kleinere Öffentliche Bibliothek, keine besondere Einrichtung.

Pädagogisches

Während bibliothekarische Themen über die gesamte Broschüre verteilt besprochen werden, finden sich Aussagen zur pädagogischen Nutzung fast nur am Rande und in Nebensätzen. Ganz offensichtlich wird davon ausgegangen, dass Schulbibliotheken zwar von Lehrenden und Lernenden genutzt werden, aber das es nicht notwendig wäre, dazu längere Ausführungen zu präsentieren. Das Lehrerinnen und Lehrer die Schulbibliothek führen könnten oder das Wege gesucht werden könnten, die Bibliothek direkt mit der jeweiligen Schulgemeinschaft zu verbinden, scheint für den Autor kein Thema gewesen zu sein. [4]

In einem Nebensatz wird von einem – nicht näher ausgeführten – “verantwortungsvollen pädagogischen Auftrag” (S. 36) gesprochen; kurz wird, wie schon dargestellt, erwähnt, dass unterschiedliche Medien gut für unterschiedliche Lerntypen seien. Zudem gibt es eine kurze Aufzählung von möglichen Nutzungen der Bibliothek durch Lernende:

“Im Informationszentrum findet der Lehrer optimale Voraussetzungen, um seine Schüler in den verschiedenen Fächern mit abwechslungsreichen und sinnvollen Aufgaben zu beschäftigen, sei es in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit. Für breit angelegte Projektunternehmungen steht umfangreiches Forschungs- und Anschauungsmaterial zur Verfügung.

Einzelaufträge

Lieblingsbücher vorstellen […]

Werbung für ein Buch […]

Leserwünsche […]

Gruppenarbeit

Sie können folgendermassen organisiert werden:

Ein umfassendes Thema wird als Klassenthema gewählt.

Die Gruppen tragen die verschiedenen Informations- und Anschauungsmittel zum Thema zusammen […]

Verarbeitung der Informationen.

Vortrag der Forschungsergebnisse vor der Klasse […]

Die Ergebnisse werden möglicherweise zu einem schriftlichen Bericht verarbeitet.” (S. 40)

Einerseits klingen die Vorschläge dazu, wie Schulbibliothek prinzipiell genutzt werden sollten, heute nicht viel anders. Andererseits sind die Angaben recht allgemein gehalten und auch erstaunlich: In der Broschüre wird nämlich nicht darauf eingegangen, wie der Bestand so aufgebaut werden kann, dass er sich für diese Übungen eignet, es wird offenbar einfach davon ausgegangen, das eine ausreichend grosse Anzahl von Medien genügend Material beinhalten würde.

Trotzdem sind die Hinweise aus der Broschüre nicht einfach mit den heutigen gleichzusetzen: Es zeigt sich immer wieder, dass der Schulbildung eine andere Aufgabe zugeschrieben wird, die mit den Schulbibliothek besser zu meistern wäre, als heute. Während aktuell der spätere Arbeitsmarkterfolg oder Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler im Fokus steht, ist es in der Broschüre das heute kaum noch besprochene “kritische Denken”, welches mit der Schulbibliothek gefördert werden soll:

“Die moderne Schule kehrt sich von der rein verbalen Stoffvermittlung, dem Frontalunterricht, ab. Sie wendet sich sozialen Lernformen und selbständigem, forschendem Arbeiten im Partner-, Gruppen- und Klassenverband zu; dazu bedarf sie neuzeitlicher Hilfsmittel und Einrichtungen. Unerlässlich ist eine gut eingerichtete Bibliothek im eigenen Hause: Hier kann der Schüler dazu geführt werden, Informationen selbständig zu erwerben und damit sein kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln; hier kann er lernen, sich ein Leben lang selbständig weiterzubilden.” (S. 3)

Erstaunlich ist an diesem Abschnitt vor allem, dass das gleiche – inklusive der Behauptung, dass sich die Schule jetzt gerade vom Frontalunterricht abwenden würde -, aber mit einer anderen Zielsetzung, heute auch oft geschrieben wird. Während 1988 das “weiterbilden” und die Gruppenarbeit das kritische Denken fördern sollte, wird es heute oft als Einübung von sozialen Kompetenzen beschrieben. Die Frage ist, ob sich der Diskurs geändert hat – und einfach behaupten muss, die Tools wären neu – oder ob die pädagogischen Grundsätze und Mittel wirklich neu sind und nur gleich heissen wie 1988.

Es gibt in der Broschüre einen weiteren Abschnitt, dem heute eine andere Bedeutung zugeschrieben würde, nämlich der – sehr funktional verstandenen – Informationskompetenz, während er 1988 fast schon zur Erziehung zu einer Ideologiekritik erklärt wird:

“Die audiovisuellen Medien ermöglichen dem Lehrer, seine Schüler zu richtigem Sehen und Hören zu erziehen. Er kann sie durch selbständige Bearbeitungen, wie Tonaufnahmen, Fotografieren, Schneiden, Montieren hinter die Geheimnisse der Medienfabrikanten blicken lassen.” (S. 16)

Eine ähnliche Kehrtwende scheint der Diskurs im Bezug darauf gemacht zu haben, ob die Kinder und Jugendlichen, die da in die Schulbibliothek kommen oder kommen könnten als Kundinnen und Kunden mit schon fertigen Interessen kommen, die zu erfüllen wären, oder ob ihre Identität mit von der Bibliothek mitgeprägt werden kann und sollte. Auf Seite 6 wird zum Beispiel “Brückenliteratur” (“anspruchslose Unterhaltungsschriften, auch Comics”, S. 6) als Mittel besprochen, um “Leser zu gewinnen und heranzubilden”. In der Broschüre wird es offenbar als sinnvoll angesehen, wenn die Schulbibliothek die Kinder und Jugendlichen zu Leserinnen und Lesern bildet, was auch damit einhergeht, Literatur als anspruchslos und anspruchsvoll einzuteilen und erstere offenbar nur als Übergang zu akzeptieren.

Spiralcurriculum

Ein anderer erstaunlicher Abschnitt findet sich auf Seite 38-39. Dort wird vorgeschlagen, Kinder und Jugendliche nach Jahrgangsstufe gestaffelt in die Bibliothek einzuführen, wobei Themen für die Klassenstufe 1. bis 9. vorgeschlagen werden. Dabei bauen die Themen aufeinander auf: Im ersten Schuljahr soll zum Beispiel der Ausleihvorgang durchgespielt werden, im zweiten Jahrgang sollen Bücher eingeordnet werden und so weiter. Ziel ist es, dass am Ende der Schule die Schülerinnen und Schüler “sich in der Bibliothek zurechtfinden, Nachschlagewerke zu konsultieren [in der Lage sind, KS], Informationsträger zu handhaben [wissen, KS].” (S. 38)

Oder in anderen Worten: Es wird ein Spiralcurriculum vorgeschlagen, so wie es vor einigen Jahren in Öffentlichen Bibliotheken für die Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken diskutiert und teilweise umgesetzt wurde. Dabei ist nicht erstaunlich, dass sich dieser Vorschlag in der Broschüre findet. Er ist gewiss ein naheliegender und auch nicht falscher. Interessant ist eher, dass er vor einigen Jahren in Deutschland als neues Konzept, welches lange angestaute Probleme lösen würde, angepriesen wurde. (Hachmann & Hoffmann, 2007) Dies scheint ein weiterer Fall des “Vergessens” von Bibliotheksgeschichte darzustellen: Lösungen, die offenbar schon einmal vorgeschlagen wurden, werden als neu präsentiert, ohne aus dem möglichen Scheitern einige Jahre zuvor zu lernen.

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Werbung für den  Schweizerischen Bibliotheksdienst

Genauso wie die Broschüre von 1973 (Schweizerischer Bibliotheksdienst, 1973) ist auch diese Broschüre durchzogen von mehr oder minder dezenten Hinweisen auf die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes, wenn auch in dieser Broschüre weitere Einrichtungen wie das Schweizerische Jugendbuchinstitut oder das Schweizerische Jugendschriftwerk erwähnt werden. Hauptsächlich werden Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes als grundlegend notwendig für eine moderene Schulbibliothek angepriesen: Bibliotheksfertige Bücher, Besprechungslisten des Bibliotheksdienstes und vor allem Einrichtungsvorschläge, die so eigentlich nur vom Bibliotheksdienst geleistet werden konnten. Beispielsweise wird der Abschnitt zur Planung von Schulbibliotheken wie folgt eingeleitet:

“Wie man mit Vorteil vorgeht

Wer eine Bibliothek einrichten will, wird gut daran tun, sich vorbildliche Lösungen anzusehen und sich durch Bibliotheksfachleute eingehend beraten zu lassen. Nur die Planung durch bewährte Fachleute verspricht einwandfreie Resultate.” (S. 34)

Was wie ein gut gemeinter Vorschlag klingt, überspielt, dass die “bewährten Fachleute” in der Schweiz die waren, die für den Bibliotheksdienst arbeiteten. Ebenso macht die Broschüre Vorschläge zur Ausstattung (“Nur erprobtes Spezialmöbiliar, das in Form, Farbe und Ausmass aufeinander abgestimmt ist, ermöglicht, Freihandbibliotheken funktionell, qualitativ und ästhetisch einwandfrei und attraktiv einzurichten.”, S. 30), denen am einfachsten durch das Angebot des Bibliotheksdienstes gefolgt werden konnte, weil dieser nämlich genau solche Möbel verkaufte und weiterhin verkauft.

Wie auch schon 1973 reagierte diese Werbung nicht unbedingt auf eine Konkurrenzsituation – da es keine wirklich Konkurrenz für den Schweizer Bibliotheksdienst gab -, sondern scheint sich eher aus der Überzeugung hergeleitet zu haben, dass das, was der Dienst bietet, für eine professionelle Bibliothek notwendig sei und deshalb Bibliotheken dazu gebracht werden müssten, diese Angebote auch zu nutzen, um professionell zu werden.

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Fazit

Zusammengefasst ist die Broschüre stark autoritativ geschrieben: Es werden vor allem Behauptungen dazu aufgestellt, wie moderne Schulbibliotheken auszusehen hätten; die nur selten begründet werden. Dabei wird kaum darauf eingegangen, wie Ende der 1980er Jahre eigentlich die Situation von Schulbibliotheken in der Schweiz tatsächlich aussah. An einer Stelle wird behauptet, es gäbe “hunderte” (S.44) Einrichtungen wie die in der Broschüre beschriebenen, gleichzeitig wird gegen Klassenbibliotheken geschrieben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es auch 1988 in der Schweiz zahlreiche Schulbibliotheken, die gemessen an den Anforderungen, die in der Broschüre aufgestellt werden, nicht als professionell gegolten hätten, obgleich sie keine Klassenbibliotheken darstellten. Auffälig ist, im Vergleich zu anderen Broschüren dieser Art, dass auf konkrete Beispiele von Schulbibliotheken in dieser Publikation vollkommen verzichtet wird.

Zudem versteht die Broschüre Schulbibliotheken vor allem als kleine Öffentliche Bibliotheken und schenkt der Besonderheit, dass sie in Schulen situiert sind, kaum Aufmerksamkeit. Pädagogische Fragen werden kaum, bibliothekarische hingegen umfangreich besprochen. Was allerdings besprochen wird, scheint in weiten Teilen relativ modern, obgleich heute zum Beispiel individualisiertes Lernen oder Gruppenarbeit als Unterrichtsmethode als relativ neu dargestellt werden, ebenso wie die Hinwendung zu neuen Medien. Gleichzeitig gibt es Unterschiede, die nicht nur mit dem technischen Fortschritt zu erklären sind, sondern mit Veränderungen im Verständnis der Aufgaben von Schulbildung.

Eine Frage, die sich trotz des Untertitels “Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare” ergibt, ist: Für wen ist die Broschüre eigentlich geschrieben? Wen sollte sie  von was überzeugen? Sollte sie die Schulen überzeugen, die Angebote und Beratungen des Schweizerischen Bibliotheksdienstes anzunehmen? Sollten Sie die Behörden überzeugen, von den Schulen solche Schulbibliotheken, wie sie in der Broschüre beschrieben werden, zu fordern? Lehrerinnen und Lehrer werden mit der Broschüre kaum angesprochen, eher scheint es, als wären Behörden und Politik angesprochen, die Mittel zur Verfügung zu stellen und dann bibliothekarisch ausgebildetes Personal einzustellen (wobei die Einbindung in die pädagogische Aus- und Weiterbildung explizit gefordert wird, S. 37, und die bibliothekarische Grundausbildung in der Schweiz noch heute in einem Grundkurs, der von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken zertifiziert ist und neu 124 Lektionen á 45 Minuten umfasst, absolviert werden kann). In anderen Teilen scheint die Broschüre aber selber in die bibliothekarische Arbeit einführen zu wollen. Wie bei anderen Texten zu Schulbibliotheken ist auch bei diesem nicht ganz klar, mit welchem Ziel und für welches Publikum dieser erstellt wurde.

Literatur

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung. (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung

Hachmann, Ute ; Hoffmann, Helga (Hrsg.) (2007). Wenn Bibliothek Bildungspartner wird… : Leseförderung mit dem Spiralcurriculum. [Ohne Ort] Expertengruppe Bibliothek und Schule im Deutschen Bibliotheksverband; Expertengruppe  Kinder- und Jugendbibliotheken im Deutschen Bibliotheksverband

Müller, Hans A. (1988). Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare. Bern : Schweizer Bibliotheksdienst

Papendieck, Andreas (Hrsg.) (1985). Lehrbriefe Schulbibliothek. Berlin [West] : Deutsches Bibliotheksinstitut

Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3

 

Fussnoten

[1] Erstaunlicherweise erschien “Planung von Schulbibliotheken” genau drei Jahre nach “Die moderne Schulbibliothek” von Doderer et al. (1970) – dem ersten grossen Überblick zu Schulbibliotheken in der BRD -, und “Die Schulbibliothek” genau drei Jahre nach “Lehrbriefe Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), einem weiteren grossen Publikationsprojekt für Schulbibliotheken in Deutschland. Vielleicht ist dies Zufall, aber die drei-jährige Spanne ist erstaunlich – wobei die schweizerischen Publikationen niemals die deutschen direkt abschreiben, sondern jeweils eigenständige Publikationen darstellen.

[2] Verantwortlich zeichnet laut Impressum François G. Baer (Gestaltung), Rosi Troxler (Photos) und Max Kräuchi (Planzeichnung).

[3] Eventuell ist also die Konzentration auf gedruckte Medien in Schulbibliotheken, wenn sie überhaupt wirklich so vorkommt, wie behauptet wird, dann auch nicht Ausdruck einer Rückwärtsgewandtheit, sondern Ergebnis von gescheiterten Versuchen, andere Medien zu nutzen – und damit sinnvoll.

[4] Genauer: Es wird explizit gefordert, dass eine “Schulbibliothekarin oder Schulbibliothekar angemessen zu besolden; ihre Arbeit mindestens dem Erteilen von Werkunterricht gleichzustellen [sei, KS]” (S. 36).

Planung von Schulbibliotheken (1973): Ein Dokument aus den Bildungsreformen der 1970er Jahre in der Schweiz (Zur Geschichte der Schulbibliotheken VII)

Vorab: Immer noch ist eine Bibliotheksgeschichte notwendig

Es ist heute, so scheint es, im Bibliothekswesen normal, sich gegen die Bibliotheken der letzten Jahrzehnte abzugrenzen. In unterschiedlichen Zusammenhängen wird regelmässig die Behauptung aufgestellt, dass die Bibliotheken bis vor Kurzem defizitär und unmodern gewesen seien und erst vor Kurzem mit einer Modernisierung der Bibliotheken begonnen worden sei. Dies gilt auch für die Diskussionen um Schulbibliotheken, die zum Teil neben den bibliothekarischen Debatten stattfinden. Als Diskurs ist das relativ einfach nachzuvollziehen: Dadurch, dass die (nahe) Vergangenheit als unzureichend gezeichnet wird, kann das, was gerade aktuell eingeführt oder verändert werden soll als neu und innovativ erscheinen. Realistisch ist dies allerdings nicht. Vielmehr wird oft die reale Bibliotheksgeschichte ‒ aus der, wie aus jeder Geschichte, für die Zukunft gelernt werden könnte ‒ einfach verdrängt. Auch das ist als Diskurs verständlich: Wenn bestimmte Vorstellungen davon, wie Bibliotheken sich entwickeln oder wie sie sich ändern müssten, schon einmal vor einigen Jahrzehnten diskutiert wurden, müsste man sich zumindest mit diesem Fakt auseinandersetzen und könnte nicht einfach behaupten, weil etwas neu und innovativ sei, sei es richtig. Oft müsste man vielmehr erklären, warum bestimmte Diskussionen und Vorschläge offenbar keine oder wenige Effekte hatten und warum sie trotzdem gerade heute sinnvoll wären. Einfacher ist es wohl, die Wahrnehmung der Bibliotheksgeschichte der letzten Jahrzehnte stark zu reduzieren. Nicht unbedingt mit Absicht. Es ist offenbar der Hauptmodus in welchem gesellschaftliche Debatten heute geführt werden.

Vor einigen Jahren habe ich in diesem Blog einige Beispiele aus der Vergangenheit der Schulbibliotheken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen, welche unter anderem diese Geschichtsvergessenheit demonstrierten: Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR sowie die Artikel, die zu Schulbibliotheken in der bibliothekarischen Literatur der DDR erschienen waren und auf eine relativ lebhafte Diskussion (im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten) vor allem in den 1960er Jahren hindeuteten (Schuldt 2011c, 2011a); auf der Basis der bibliothekarischen Literatur in der BRD (bis 1989) und dem modernen Deutschland (nach 1989) eine Übersicht zu den Schulbibliothekarischen Arbeitstellen 1970-2000, die praktisch eine Vorstellung, die in den jüngeren Debatten zu Schulbibliotheken vorherrscht ‒ nämlich, dass solche Einrichtungen für professionelle und kontinuierliche Schulbibliotheksarbeit notwendig wären ‒ historisch prüft und eine eher eingeschränkte Nachhaltigkeit aufzeigt (Schuldt 2011b); eine ausführliche Beschreibung zu einem Projekt, in einer Anzahl von Schulen von einer Öffentlichen Bibliothek geleitete Schulbibbliotheken zu gründen, inklusive Evaluation und Erfahrungsbericht (Schuldt 2011b, siehe auch Schuldt 2012a) sowie die Darstellung der Artikel über Schulbibliotheken in einer kantonalen Bibliothekszeitschrift der Schweiz von 1965 bis 2011 (Schuldt 2012b). Gemeinsam war diesen Beispielen unter anderem, dass ihre Existenz nachweisst, dass zahlreiche Vorschläge und Argumente die aktuell im Zusammenhang mit Schulbibliotheken gemacht werden, schon mindestens einmal gemacht wurden, ohne das die Erfahrungen dieser vergangenen Beispiele beachtet werden.

Das Dokument, welches im Folgenden besprochen wird, fügt sich in diese Darstellung ein: Es demonstriert, dass ‒ wie auch im Bildungssytem als solches ‒ vieles, das aktuell als modern und neu gilt in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren schon einmal gedacht und geschrieben wurde, allerdings im Rahmen anderer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Offenbar ist dies heute nicht mehr präsent, kann also als Erfahrungswert die Diskussionen gar nicht beeinflussen. Dabei sollten solche Dokumente, wie angedeutet, nicht als erstaunliche, aber vergessene Novitäten verstanden werden, sondern als Ausdruck einmal geführter Debatten. Offenbar ist es aber für die deutschsprachigen Bibliothekswesen und die Personen, die die Debatten führen, aus bestimmten Gründen gut, diese vorhergehenden Debatten, Projekte und Publikationen nicht mehr zu referenzieren. Zu fragen ist, wieso. Ebenso zu fragen ist, was aus dem Fakt, dass solche Publikationen, wie die im Folgenden vorgestellte, existierten, ohne dass diese und ihr Einfluss heute weiter thematisiert werden, zu lernen ist. Sicherlich ist dies eine Debatte, die nicht alleine in einem Blogpost geführt werden kann. Aber zumindest angedeutet werden soll, dass vor zu grossen Versprechungen der aktuellen Debatten zu warnen ist. Offenbar sind die Effekte, die sich mit solchen Publikationen erhofft wurden nicht in dem Masse eingetreten, dass sie heute als positive Beispiele rezipiert würden. Insoweit steht nicht zu erwarten, dass die aktuellen Publikationen ihre Versprechen erfüllen werden.

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Planung von Schubliotheken (1973)

Das Heft “Planung von Schulbibliotheken” erschien 1973 als drittes Heft des Informationsblatts der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst. Der Schweizer Bibliotheksdienst existiert weiterhin, das Informationsblatt wird nicht mehr herausgegeben. Bedeutsam ist der Erscheinungstermin. In den 1970er Jahren, beginnend mit einem 1970 gestarteten Projekt an der Johann Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt am Main, wurde in der BRD ein Plan zum breitflächigen Ausbau von Schulbibliotheken ausgearbeitet. (Doderer et al. 1970) Dieser Plan, der letztlich nicht die erwarteten Ergebnisse zeitigte, enthielt unter anderem die Publikationen einer Zeitschrift, zuerst benannt als “Informationen für den Schulbibliothekar” (Zentrale Beratungsstelle für das Schulbibliothekswesen 1972-1974), später “schulbibliothek aktuell”. Insbesondere die “Informationen für den Schulbibliothekar” waren als Sammlungen von Richtlinien und Beispielen gestaltet, die den Aufbau solcher Bibliotheken ermöglichen sollten und gleichzeitig die Aufgabe hatten, die mögliche Bedeutung von modernen Schulbibliotheken (im damaligen Verständnis) darzulegen. Sie sollten also auch überzeugen. Diese Vorstellungen waren eingebettet in einer Bildungs- und Schulreform, welche Bildung vorrangig als Menschenrecht definierte und anstrebte, in der gesamten Bundesrepublik Deutschland für qualitativ gute Schulen und Bildungseinrichtungen zu sorgen. Gleichzeitig schlug diese Bildungsreform in bestimmten Regionen radikalere Formen ein und entwarf beispielsweise utopische Bildungsräume, die geprägt waren von elektronischen Apparaten zur Unterstützung des individualisierten Lernens, bei gleichzeitiger Betonung der sozialen Verantwortung der Gesellschaft für die Gestaltung von Bildung. Ähnliche Bildungsreformen und Debatten waren damals auch in anderen Ländern in der Diskussion.

Die schweizerische Publikation fällt genau in diese Zeit und ist in diesen Debatten zu verorten, wobei sie gleichzeitig eine schweizerische Interpretation ‒ einerseits zurückhaltender und konservativer, andererseits technologie- und planungsbegeistert ‒ derselben vornimmt. Sie ist in gewisser Weise ein Gegenstück zu den “Informationen für den Schulbibliothekar”.  Es ist zu vermuten, dass sie ohne die Publikation und die Debatten in der BRD nicht erstellt worden wäre. Gleichzeitig ist sie ein Vorläufer der heute noch fortgeführten, aktuell in der dritten Auflage vorliegenden “Richtlinien für Schulbibliotheken” der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014).

Das Heft mit 32 Seite umfasst: drei Seiten, die für Schulbibliotheken argumentieren (Seite 2-4), eine Seite mit Richtwerten (die zum Teil aus kantonalen Richtlinien übernommen wurden) (Seite 5), einer Seite mit Angeboten des Schweizerischen Bibliotheksdienstes für Schulbibliotheken (Seite 6), eine Seite mit einem Interview mit einem Lehrer, welcher eine Schulbibliothek aufgebaut hatte (Seite 7), vier Seiten mit Angaben zu Licht und zur Position der Schulbibliothek im Schulhaus (Seite 8-11), 14 Seiten mit insgesamt 11 Beispielen von Schulbibliotheken, wobei eines ohne Namen als Negativbeispiel vorgeführt wird, auch und weil nicht auf die Beratung des Bibliotheksdienstes zurückgegriffen wurde (Seite 12-25), vier Seiten auf denen die Organisation und Durchführung eines Bibliotheksfestes und eines Bibliotheksbasars geschildert wird (Seite 26-29), zwei Seiten mit kantonalen Richtlinien, die sich auf Schulbibliotheken beziehen (Seite 30-31) und abschliessend einer Seite mit Literatur (Seite 31). Insoweit stellt das Heft eine Mischung aus Richtlinien (eher wenigen), Beispielen, die anleiten und motivieren sollen, Argumenten für Schulbibliotheken sowie Werbung für den Schweizerischen Bibliotheksdienst dar. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass diese Werbung nicht wirklich mit einer Konkurrenzsituation zu erklären ist. Es gab wohl keinen Anbieter, welcher dem Bibliotheksdienst in Sachen Beratung und Lieferung von bibliotheksfertigen Medien Angebote entgegensetzte. Vielmehr ‒ und darin ähnelt das Heft den “Informationen für den Schulbibliothekar”, dass beständig auf die herausgebende Zentrale Beratungsstelle verwies ‒ scheint die Vorstellung vorgeherrscht zu haben, dass nur mit der Einbindung des Bibliotheksdienstes eine professionelle Schulbibliothek möglich wäre.

Gleichzeitig ist alleine durch die Verteilung offensichtlich, dass versucht wurde, insbesondere durch Beispiele zu überzeugen und Richtwerten eher einen randständigen Ort zuzuweisen. Dies steht zum Beispiel im Gegensatz zu den heutigen Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014), die mit autoritativ vorgetragenen Zahlen und Angaben überzeugen wollen und auf Beispiele verzichten.

Schulbibliotheken: Die ganze Schweiz, gegen Rückständigkeit und zu viel Fortschritt

Die interessantesten Seiten des Heftes bilden jene, auf denen Argumente für Schulbibliotheken vorgetragen werden. Sie sind gleich am Beginn der Publikation positioniert, auf Seite 2-4. Die Doppelseite 2 und 3 liefert unter der Überschrift “Was sagen sie dazu?” ein auffällig inszeniertes Panorama von Personen, die sich vordergründig für Schulbibliotheken aussprechen. Das ist inhaltlich nicht vollständig zutreffend. Ein genaues Lesen offenbart, dass hier vor allem gegen verschiedene Dinge argumentiert wird. Zwei Beiträge gehen zum Beispiel gar nicht auf Schulbibliotheken ein. Recht schnell wird sichtbar, dass auf diesen beiden Seiten das Bild zu vermitteln versucht wird, dass die “ganze Schweiz” beim Thema Schulbibliotheken grundsätzlich einer Meinung sei. Die einzelnen Personen stellen hier Prototypen dar, die zusammengenommen ein vorgebliches Abbild der Gesellschaft bilden. Dies ist ein in schweizerischen Abstimmungskämpfen zu Volksabstimmungen noch heute bekanntes Verfahren; überraschend ist vor allem, dass es auch hier verwendet wird. Von links nach rechts kommen so zu Wort: Eine Primarschülerin, ein Schüler der achten Klasse, eine Primarlehrerin, ein Primarlehrer, ein Gymnasiallehrer, ein Bibliothekar (genauer: der Direktor der Schweizerischen Landesbibliothek, kein Schulbibliothekar), ein Industrieller und ein Landwirt. Dies stellt, in Abstrichen, ein Bild der “ganzen Schweiz” dar: Intelligenz (Lehrerinnen und Lehrer, Bibliothekar) Industrie, Landwirtschaft; gleichzeitig Männer (überwiegend), wenige (genau zwei) Frauen / Mädchen ‒ ein gedämpfter Fortschritt. Gleichzeitig werden Primarschule und Gymnasium, Schule und Bibliothek, Schülerin und Schüler sowie Lehrerin und Lehrer angeführt: Alle die, die mit Schulbibliotheken in Kontakt kommen. Es soll offenbar der Eindruck einer gemeinsamen Zustimmung erzeugt werden.

Auffällig ist aber auch, das dieses Bild der Schweiz klare Strukturen hat: Die Abgebildeten sind offenbar “richtige” Schweizerinnen und Schweizer, keine Zugewanderten, zumindest keine aus zu fremden Kulturen. (Eventuell ist der Primarlehrer dem Namen nach Österreicher, der Gymnasiallehrer Franzose.) Mädchen und Frauen sind zwar Teil der Gesellschaft, aber in sozial niedrigeren Rollen (die jüngste der Aufzählung und eine Primarlehrerin, während die “wichtigen” Positionen von Männern besetzt sind). Dies ist nicht rein schweiz-spezifisch, auch in anderen Staaten gab es ähnliche Darstellungen der jeweiligen Gesellschaft. Aber erstens ist es hier sinnbildlich so konstruiert, ausgewählt und damit zeigbar und zweitens ist es doch erstaunlich, dass immerhin fünf Jahre nach 1968 solch ein Bild noch als überzeugend angesehen und gedruckt werden konnte.

Interessant ist auch, wie erwähnt, dass sich nur ein Teil der abgebildeten Personen zu Schulbibliotheken äussert. Zu erwarten wäre ein Anpreisen derselben, hingegen gibt es in den Wortmeldungen eher Abgrenzungen. Die Schülerin betont beispielsweise, dass in der Schulbibliothek ein Buch schneller gefunden werden kann, als in einer Klassenbibliothek. Ebenso bezieht die Primarlehrerin gegen Klassenbibliotheken Stellung. Diese Haltung zieht sich durch das gesamte Heft: Offenbar schienen Klassenbibliotheken in den 1970er Jahren in der Schweiz so verbreitet gewesen zu sein, dass sie eine Alternative zur Schulbibliothek bildeten, die negativ besprochen werden musste. Gleichzeitig grenzen der Primarlehrer (mit Verweis auf Paul Ladewig) und der Gymnasiallehrer die moderne Schulbibliothek, die als Freihandbibliothek organisiert ist, von älteren Schulbibliotheken ab, bei denen der Zugang zu den Medien von den Lehrkräften kontrolliert wurde. Neben diesen Äusserungen liefern insbesondere der Industrielle und der Landwirt Schlagworte, die mit Schulbibliotheken selber wenig zu tun haben, aber die eigentümliche Haltung zwischen konservativer Bewahrung und Fortschritt, die der schweizerischen Gesellschaft eigen zu sein scheint, widerspiegeln. Der Landwirt befürchtet ein Abgleiten der Gesellschaft, welches von Öffentlichen Bibliotheken aufgehalten werden soll: “Als Optimist bin ich überzeugt, dass mit dem Weiterausbau bestehender und der Gründung neuer Gemeindebibliotheken wirksame Dämme gegen eine sich abzeichnende geistige Verarmung entstehen können.” (S. 3) Der Industrielle betont ‒ wie dies heute auch getan wird ‒ die vorgebliche Bedeutung des Lernens nach der Schulausbildung, da die Arbeit in der Industrie nur durch ständige Weiterbildung und eigenständiges Weiterlernen zu bewerkstelligen wäre (ohne Bibliotheken in diesem Zusammenhang zu erwähnen). Diese Äusserung ist aus der heutigen Sicht irritierend, da Lebenslanges Lernen oft als neue Entwicklung beschrieben wird. Aber dies ist, wie weiter oben erwähnt, eher dem Vergessen historischer Diskurse zuzuschreiben. Auch in den 1970er Jahren war diese Vorstellung verbreitet, sowohl im Zusammenhang mit Bibliotheken als auch ohne.

Daneben finden sich in den ausgewählten Wortmeldungen zahlreiche Behauptungen, die sich heute so oder so ähnlich in der Literatur als Behauptungen im Bezug auf Schulbibliotheken finden lassen (vgl. dafür als aussagekräftiges Beispiel Kirmse 2012), ohne offenbar vollständig überzeugt zu haben: Die Schulbibliothek könne nur sinnvoll sein, wenn die Schülerinnen und Schüler mehrfach am Tag an ihr vorbeigehen (Primarlehrer), die Schulbibliothek biete mehr Anregung als der Unterricht alleine geben kann (Gymnasiallehrer), wenn die Bibliotheksnutzung in der Schulbibliothek geübt wird, würden Bibliotheken auch im späteren Leben benutzt (Direktor der Landesbibliothek), die Nutzung der Schulbibliothek erhöhe das Selbstbewusstsein jünger Schülerinnen und Schüler (Primarschullehrerin).

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Auf der nächsten Seite findet sich, noch bevor über Richtwerte für Schulbibliotheken berichtet wird, eine Aufzählung von neun Argumenten gegen Schulbibliotheken, die jeweils widerlegt werden. Diese Struktur ist mehrfach interessant. Die Anordnung erscheint als Vorläufer einer Liste, die heute (und auch in früheren Versionen) der schweizerischen Richtlinien für Schulbibliotheken enthalten ist. (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014) Heute sind es allerdings zehn Punkte, genannt “Grundsätze”, die nicht als Widerlegung von Argumenten dargestellt werden, sondern als positive Aussagen über Schulbibliotheken. Sie sind ebenfalls an den Beginn der Richtlinien gerückt, gleich hinter der Einleitung. Sowohl in den aktuellen Richtlinien ‒ die allerdings keinen rechtlichen Stand haben ‒ als auch in der hier besprochenen Publikation aus den 1970ern wird es also offenbar als notwendig angesehen, zuerst von Schulbibliotheken zu überzeugen, bevor überhaupt über die Ausstattung von Schulbibliotheken gesprochen werden kann.

Die Gegenüberstellung von Argumenten und Gegenargumenten ist zudem bedeutsam, da sie vollkommen für die Publikation konstruiert wurde. Es ist nicht sichtbar, ob die Argumente gegen Schulbibliotheken, auf die reagiert wird, überhaupt je wirklich vorgetragen wurden und wenn ja, wie verbreitet sie waren. Sie schienen nur so relevant, dass die Redaktion ihr widersprechen wollte. Hierbei schreibt sie gegen drei Richtungen der Kritik an Schulbibliotheken an: (1) Gegen veraltete Vorstellungen, (2) gegen zu radikale oder progressive Schulreformen und (3) gegen falsche Bilder von Bibliotheken.

Zu (1) gehört zum Beispiel das Argument “Ich möchte wissen, welche Bücher meine Schüler lesen und auch kontrollieren, ob jene dann wirklich auch gelesen werden.” (S. 4), das Argument, dass Kinder bei der Buchauswahl beraten werden müssten und sie von der Ordnung einer zu grossen Bibliothek verwirrt wären. Zu (2) gehören Einwürfe, die wieder modern klingen, aber als zu radikal (und in einer teilweise antiquierten Sprache): “Das Medium Buch ist sowieso nicht mehr zeitgemäss. Wir müssen jetzt endlich an echte Schulreformen denken, damit wir nicht als Ewiggestrige dastehen” (S. 4), “Wir müssen jetzt alle Kräfte und Mittel auf die Schulkoordination konzentrieren” (S. 4), “Nur Technik und Elektronik vermögen einen veralteten Schulbetrieb wieder aufzumöbeln. Darum her mit Television, Audiovision, Videorecorder, Sprachlabor und anderen Schikanen!” (S. 4). Zu (3) schliesslich gehören Vorwürfe, “Bibliothekare [seien] verstaubte Outsider, unverbesserliche Idealisten, die stur ihrem Steckenpferde frönen” (S. 4) und Bibliotheken seien zu kompliziert. In den Gegenargumenten für Schulbiliotheken wird gegen zu radikal neue und gegen zu veraltete Haltungen eine moderne ‒ und explizit mit Hilfe des Schweizerischen Bibliotheksdienst aufgebaute ‒ Schulbibliothek skizziert, die darauf vertraut, dass auch Schülerinnen und Schüler im jüngsten Alter mit ihr umgehen können, die diesen Kindern die Freiheit gibt, auch einmal “ein Buch falsch [auszuwählen]” (S. 4) (das dann immerhin gelesen würde) und welche die “Schulreform” (S. 4) darstellen würde, auf die sich alle einigen könnten und die vor allem das Selber-Bilden der Schülerinnen und Schüler unterstützt, die sich gegen Technologie abgrenzt und gleichzeitig modern wäre: “Zeitgemässe, moderne Bibliothekare aber versuchen stets am Puls der Zeit zu sein, haben eine ausgesprochene Nase für alles Neue und Kommende, sind beweglich und stets bereit zu sichten, zu ordnen und zu entscheiden.” (S. 4)

Es ist klar, dass dies vor allem das Bild ist, dass der Schweizerische Bibliotheksdienst von Schulbibliotheken verbreiten will. Auffällig ist auch hier, dass vieles, aber nicht alles, ebenso über heutige moderne Schulbbibliotheken (oder Bibliotheken im Allgemeinen) behauptet wird. Beispielsweise werden Bibliotheken heute als zukunftsgerichtet beschrieben, aber offenbar auch in den 1970er Jahren. Die Freiheit der Nutzerinnen und Nutzer steht im Mittelpunkt nahezu aller Beschreibungen von modernen Bibliotheken, sowohl heute als auch in den 1970er Jahren. (Insoweit ist die Behauptung, dies sein eine relativ neue Entwicklung, mit Vorsicht zu geniessen.) Ebenso sind die falschen Meinungen, von denen sich abgegrenzt wird, ähnlich. Zu radikales (“Ende der Bücher”) wird ebenso verworfen wie zu rückwärtsgewandtes (“Kontrolle”). Eine Veränderung ist heute die weitgehende Akzeptanz von Technik in der Bibliothek. Obwohl sich dies Bibliotheken oft selber zurechnen, lässt sich auch fragen, ob die Haltung zu technischen Lösungen nicht eventuell doch zum Teil auch von der Haltung der Gesamtgesellschaft zu solchen Lösungen abhängt. Die Ablehnung technischer Lösungen war in den 1960er und 1970er Jahren auch gesamtgesellschaftlich verbreiteter, so wie in der hier diskutierten Publikation; während sie heute in Gesellschaft und Bibliothek grundsätzlich akzeptiert sind.

Überzeugen mit Beispielen

Im Gegensatz zu den dichten und stark ausgewählten Argumenten um Schulbibliotheken, fallen die konkreten Vorgaben für Schulbibliotheken relativ kurz und übersichtlich aus. Dies überrascht vor allem im Vergleich mit den heutigen Richtlinien, die grossen Wert auf Vorgaben und Zahlen legen. In “Planung von Schulbibliotheken” beschränken sich diese auf sechs Seiten, eine Tabelle, in der einige Werte zusammengetragen sind, teilweise ohne Quelle und Begründungen, teilweise mit Verweis auf Richtlinien in den Kantonen Bern, Zürich und Luzern sowie ‒ und hier schliesst sich der Kreis wieder ‒ der BRD. Während die erwähnten kantonalen Bestimmungen auf den letzten Seiten der Broschüre zusammengetragen sind, ist nicht ganz klar, welche Wert aus der BRD zitiert werden. Im weiter oben genannten deutschen Projekt gab es Vorschläge, aber keine verbindlichen Richtlinien. Die Angaben beschränken sich auf die Anzahl von Büchern (keine anderen Medien, nicht einmal Zeitschriften), Möbiliar, kurzen Angaben zu Licht, Raumgrösse und Lage der Schulbibliothek im Schulhaus. Die Preise mögen erstaunen (1000 bibliotheksfertige Bücher für 15000 CHF, als im Durchschnitt 15 CHF pro Buch sind heute nicht vorstellbar), aber ansonsten lässt sich insbesondere die Tabelle auf Seite 5 als Kern der heutigen Richtlinien ansehen ‒ obwohl sie das nicht ist, da die erste Aufgabe der Richtlinien für Schulbibliotheken erst im Jahr 2000 erschienen. Eventuell ist die Aufzählung von Buchbestandsgrösse und Grundmöbiliar auch einfach seit Längerem im Denken über Bibliotheken in der Schweiz verankert. Auf der folgenden Seite verweist der Schweizerische Bibliotheksdienst auf eigene Angebote für Bibliotheken wie zum Beispiel seinen Neuerscheinungsdienst.

Zwischen diesen Angaben findet sich ein längeres Interview mit einem Leiter einer Schulbibliothek ‒ ohne Namen oder Ort, insoweit ist nicht ganz ersichtlich, wie sehr oder wenig das Interview inszeniert ist, ob es nicht vielleicht sogar gänzlich erfunden wurde, um ein offenbar die Redaktion bedrängendes Problem anzusprechen ‒ zu den Problemen bei der Gründung derselben. Erstaunlich ist zumindest, dass der befragte Leiter genau die Äusserungen tätigt, welche der Schweizerische Bibliotheksdienst mit der gesamten Publikation vermitteln möchte. Die Unterstützung durch den Bibliotheksdienst (bibliotheksfertige Bücher, Normen) wird hervorgehoben, die Schulbibliothek wird als Institution beschrieben, die alle überzeugte, als sie dann einmal eingerichtet war, es wird eine Professionalisierung des Personals angemahnt (“Sehr wichtig ist, dass sich eine Person für die Bibliothek verantwortlich fühlt und den ganzen Betrieb organisiert und leitet.”, S. 7), kantonale Empfehlungen für Schulbibliotheken werden erwähnt, aber angemahnt und gehofft, dass diese in Zukunft stärker institutionalisiert und mit einer finanziellen Regelung verknüpft würden. Dazwischen reflektiert der befragte Leiter, dass der Aufbau einer Schulbibliothek zeitweise gegen Behörden durchgesetzt werden muss und schwierig sein kann. Im Gesamten liest sich das Interview so, als wäre es explizit daraufhin konstruiert worden, vor allem Lehrpersonen dazu aufzufordern, den Aufbau von Bibliotheken auch gegen Widerstände durchzusetzen und gleichzeitig auf weitergehende Regelungen zu drängen. Es liest sich eher wie der Teil einer Propagandakampagne, der Authentizität vermitteln soll, als wie ein offen geführtes Interviews.

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Relevanter als das Interview sind für die Publikation offenbar die elf dargestellten Beispiele von Schulbibliotheken. Auch diese sind selbstverständlich mit klarem Ziel ausgesucht worden. Vorgestellt werden, zumeist auf einer Seite, je eine Schulbibliothek, jeweils mit einem sehr kleinen Informationsfeld mit einigen Grunddaten zur Bibliothek, einem sehr kurzen Text, zwei bis drei Bildern aus der Bibliothek und einem Grundriss. Dieser Grundriss nimmt in den meisten Fällen den grössten Raum der jeweiligen Darstellung ein. Es ist zu vermuten, dass er auch als der überzeugendste Teil angesehen wurde. In einigen Fällen wurde beispielsweise auf Bilder aus der Bibliothek verzichtet, aber nie auf den Grundriss.

Die Auswahl der Beispiele wird nicht begründet, es ist aber selbstverständlich ein Plan zu vermuten. So umfassen die Beispiele die wichtigsten in der Schweiz vorkommenden Schultypen (Primarschulen, Sekundarschulen, Untergymnasien, Gymnasien), allerdings keine Berufsschulen. Auffällig ist, dass sich alle Beispiel in urbanen Gegenden ‒ grösseren Städten wie Luzern und Bern oder Gemeinden im Einzugsbereich solcher Städte ‒ befinden. Der ländliche Raum ist vollkommen ausgelassen. Sicherlich waren Schulbibliotheken in den Klein- und Kleinstschulen des ländlichen Raumes auch in den 1970er Jahren nicht so gut ausgebaut, wie im städtischen Raum. Angesichts dessen, dass die Publikation auf den ersten Seiten den Eindruck zu vermitteln versucht, die gesamte Schweiz zu umfassen, ist dies aber erstaunlich. Offenbar wird die moderne Schulbibliothek in den Städten verortet, die Schulen in den Dörfern und Gebirgsstädten scheinen auf sich allein gestellt.

Grundsätzlich dienen die Beispiele dazu, die zuvor in den kurzen Ausführungen zu Richtlinien und Vorgaben getroffenen Aussagen noch einmal, auf der Basis der existierenden Realität, zu wiederholen. Offensichtlich wurde davon ausgegangen, dass die Richtlinien alleine keine ausreichende Argumentation bilden. Die reine Zahl wird ergänzt durch die gebaute Bibliothek. Dies hat sich heute offenbar geändert, die aktuellen Richtlinien kommen ohne solche Beispiele aus, dafür begründen sie einige Zahlen stärker. (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014)

Die Frage ist allerdings, an wenn diese Argumentation mit Beispielen gerichtet wurde. Sollten damit Personen überzeugt werden, Bibliotheken zu bauen, die vorher Schulbibliotheken abgelehnt hatten? Sollte für bestimmte Bibliothekscharakteristika geworben werden? Letzteres drängt sich bei einem negativen Beispiel auf, dass ohne Namen in der Mitte der Beispiele integriert wurde und zwei Druckseiten (S. 14-15) einnimmt. An diesem Beispiel wird in gewisser Weise vorgeführt, was offenbar passiert, wenn sich nicht mit Beratungsfragen an den Schweizerischen Bibliotheksdienst gerichtet würde. Dem Beispiel ist der Auszug aus einem Brief des Geschäftsführers des Bibliotheksdienstes beigegeben, in welchem “grosse Enttäuschung, ja Bestürzung über die Gestaltung der Bibliothek” (S. 14) geäussert wird. Der Brief massregelt weiterhin, dass die mögliche Hilfe abgelehnt wurde:

“Vor mehr als Jahresfrist trat Herr … in Kontakt mit uns, um sich betreffend Einrichtung des Raumes beraten zu lassen.

Wir waren bereit, an Stelle der vorgelegten völlig unbrauchbaren Möblierungsskizze des Architekturbüros auf unsere Kosten durch unseren Innenarchitekten einen detaillierten Grundrissplan ausarbeiten zu lassen. Wir wären Ihnen bei der Realisierung gerne mit Rat und Tat und ‒ sofern erforderlich ‒ sogar mit finanziellen Zuschüssen zur Seite gestanden. Der Plan wurde in der Folge ohne unser Wissen willkürlich verändert. Auf des öftern telefonisch angeregte Kontakte mit uns schienen weder Herr … noch Herr … irgendwelchen Wert zu legen: dabei hätten ihnen Anregungen von Bibliotheksfachleuten zumindest kaum geschadet.” (S. 14)

Weiterhin werden detailliert einzelne Fehler in der Planung aufgeführt (Bodenbelag unzweckmässig, zu viele Trennwände für den kleine Raum, kein Blick auf die Kinderecke und anderes) und sogar ein Grundriss der jetzigen Situation dem Grundrissvorschlag des Bibliotheksdienstes gegenübergestellt. Grundsätzlich ist die angriffige Sprache die verwendet wird, um das Beispiel als schlechtes zu kennzeichnen, erstaunlich (Wer genau wird eigentlich angegriffen, wer gemassregelt? Was ist die Gefahr, gegen die argumentiert wird? Fremde Architekturbüros? Uneinsichtige Schulen?). Recht klar ersichtlich ist aber, dass die Meinung etabliert werden soll, dass nur der Schweizerische Bibliotheksdienst in der Lage wäre, Schulbibliotheken zu planen (und gleichzeitig zu bewerten, was gute und schlechte Schulbibliotheken sind).

 

Die letzten beiden Beispiele, denen erstaunlich viel Platz von vier Seiten eingeräumt wurden, stellen keine fertig Schulbibliothek vor, sondern die Planung zweier Benefitzveranstaltungen für Schulbibliotheken ‒ ein Oktoberfest an einer Schule und ein Bibliotheksbasar. Beide Veranstaltungen schlossen mit einem Gewinn ab (Oktoberfest 63000 CHF, Basar 12524.15 CHF ‒ während 1000 bibliotheksfertige Bücher, wie erwähnt, 15000 CHF kosten). Insbesondere das Oktoberfest wird bis in kleine Details (Terminfindung so, dass die Menschen ihren Lohn noch nicht ausgegeben oder für andere Feste verplant haben etc.) beschrieben. Offenbar war es weiterhin eine Aufgabe, trotz finanziellen Zuschüssen, die der Bibliotheksdienst gewährte (siehe Brief im “schlechten Beispiel”), die Finanzierung von Schulbibliotheken auf anderen Wegen sicherzustellen. Die ausführliche Beschreibung lässt vermuten, dass es relativ normal war, dies durch Benefitzveranstaltungen, und nicht über ein regelmässiges Budget, zu sichern, was in einem gewissen Widerspruch zur restlichen Publikation steht, in welcher der Anspruch vorgetragenen wird, Bibliotheken zu bauen und den Eindruck entstehen lässt, dass die grundsätzliche Finanzierung der meisten Einrichtungen gesichert sei.

 

Abgeschlossen wird die Publikation mit Richtlinien für Schulbibliotheken aus den Kantonen Bern und Zürich sowie betreffenden Ausschnitten aus dem Erziehungsgesetz des Kantons Luzern sowie einer kurzen Literaturliste, wobei auf dieser das Buch von Doderer et al. (1970) und die “Informationen für den Schulbibliothek” prominente Plätze einnehmen. Aus der Schweiz konnten Artikel und Handreichungen aus den gleichen Kantonen ausgewiesen werden, aus denen auch die dargestellten Richtlinien stammen. Zudem wurden einige eher entfernt relevante Publikationen aufgenommen.

Fazit

“Planung von Schulbibliotheken” stellt eine erstaunliche Publikation aus der Schweiz der 1970er Jahre dar. Sie ist getragen von Anspruch des herausgebenden Schweizerischen Bibliotheksdienstes, die einzige Einrichtung in der Schweiz zu sein, welche Schulbibliotheken unterstützen und bewerten könne. Gleichzeitig ist die Publikation zu verorten in gesellschaftlichen Entwicklungen, die versuchten (und weiter versuchen), einen Ausgleich zwischen schweizerischer Identität, konservativer Grundhaltung und Fortschritt zu schaffen. Dieser Anspruch zeigt sich insbesondere auf den ersten Seiten des Heftes.

Wichtig ist, dass offenbar davon ausgegangen wurde, dass auf mehreren Wegen von Schulbibliotheken überzeugt werden musste: Mittels direkten Argumenten, mittels Richtzahlen, mittels zahlreichen Beispielen und mittels amtlich erlassener Richtlinien. Offenbar war es nicht möglich, allein auf eine Form der Argumentation zu vertrauen.

Die Grundsätze, die für Schulbibliotheken dargelegt werden, erscheinen in weiten Teilen, aber nicht zu hundert Prozent, die gleichen zu sein, wie sie auch heute vorgetragen werden. Das heisst nicht, dass sie falsch wären; aber offenbar überzeugten sie nicht vollständig. Immerhin gibt es auch heute in der Schweiz zahlreiche Schulen ohne Schulbibliothek (wobei es nur für einige Kantone Zahlen gibt und diese nicht unbedingt öffentlich zugänglich sind). Gleichzeitig ist auch eine Anlehnung an deutsche Debatten der frühen 1970er Jahre zu konstatieren.

Auffällig sind mehrere Dinge, die in der Publikation fehlen: der ländliche Raum wird nicht betrachtet, obwohl dies in der Schweiz immer relevant ist; es wird weder eine kontinuierliche Diskussion zwischen Schulbibliotheken über deren Ausrichtung erwähnt noch eine solche vorgeschlagen, vielmehr versteht sich der Bibliotheksdienst selber offenbar als ausreichend kompetent, um Aussagen zu treffen; es wird nur von Deutschschweizer Schulbibliotheken geredet und sich an bundesdeutsche Debatten angelehnt, die drei anderen Sprachräume kommen in der Publikation nicht vor (nicht einmal die Richtlinien aus Bern, die gewiss zweisprachig vorlagen, sind in französisch abgedruckt), ebenso werden Debatten in den anderen angrenzenden Statten nicht referenziert, auch nicht in der Literaturliste.

Es ist, wie gesagt, eine erstaunliche Publikation, sowohl als Vorläufer heutiger Richtlinien als auch als schweizerische Reaktion auf bundesdeutsche Debatten und Projekte.

Literatur

Anonym (1973a) / Verordnung über die Schulbibliotheken: Ein weiteres Beispiel aus der Schweiz. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1973) 3, 19–21

Anonym (1973b) / „Die Kantonalen Richtlinien für Schulbibliotheken“: Ein Beispiel aus der Schweiz. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1973) 3, 17–19

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung. (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970

Kirmse, Renate (2012) / Mission impossible : Oder: Vom Aufbau einer Schulbibliothek in 154 Tagen. In: Bibliotheksdienst 46 (2012) 11, 894–902

Lutz, Brigitte ; Schuldt, Karsten (2013) / Vergleich von Richtlinien für Schulbibliotheken. In: kjl&m. Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek 65 (2013) 4, 74–78

Müller, Hans A. (1974) / Eine schweizerische Schulbibliotheksverordnung und ihre Auswirkungen. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1974) 5, 23–24

Schuldt, Karsten (2012a) / Doppelarbeit und Wiederholungen beim Versuch, Schulbibliotheksnetzwerke aufzubauen. In: LIBREAS. Library Ideas 8 (2012) 20, http://libreas.eu/ausgabe20/texte/03schuldt.htm

Schuldt, Karsten (2012b) / Schulbibliotheken in Der Berner Bibliothekar bzw. Berner Bibliotheken / Bibliothèques du canton de Berne (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, VI). Blog, 21.02.2012, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2012/02/21/schulbibliotheken-in-der-berner-bibliothekar-bzw-berner-bibliotheken-bibliotheques-du-canton-de-berne-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-vi-2/

Schuldt, Karsten (2011a) / Schülerbüchereien in der DDR. Die Artikel aus Der Bibliothekar (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, IV). Blog, 24.03.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/03/24/schulerbuchereien-in-der-ddr-die-artikel-aus-der-bibliothekar-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-iv/

Schuldt, Karsten (2011b) / Schulbibliotheksprojekt in Weinheim/Bergstraße, 1981-84 (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, III). Blog, 15.03.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/03/15/schulbibliotheksprojekt-in-weinheimbergstrase-1981-84-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-iii/

Schuldt, Karsten (2011c) / Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, II). Blog, 26.02.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/02/26/ein-schulbibliotheksbuch-aus-der-ddr-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-ii/

Schuldt, Karsten (2011d) / Schulbibliothekarische Arbeitsstellen, 1970-2000. Eine Literaturrecherche (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, I). Blog, 10.01.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/01/10/schulbibliothekarische-arbeitsstellen-1970-2000-eine-literaturrecherche-2/

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken (2014) / Richtlinien für Schulbibliotheken: Bibliotheken, Mediotheken, Informationszentren an Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe II ; Grundsätze, technische Daten und praktische Beispiele. Aarau: Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Schweizer Bibliotheksdienst (1973) / Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3

Zentrale Beratungsstelle für das Schulbibliothekswesen in der BRD (1972-1974) / Informationen für den Schulbibliothekar. Frankfurt am Main: Institut für Jugendbuchforschung

Bücher-Box und Lesebank in Graubünden. Zwei Beispiele

In der Schweiz – zumindest in den kleineren Gemeinden, nicht unbedingt in der Sündenpfulhen Basel, Bern, Genf, Lausanne oder gar Zürich – scheint man teilweise mehr Vertrauen in die Ehrlichkeit der Nutzerinnen und Nutzer zu haben, als, sagen wir mal, in Berlin.

Exkurs: Caféstühle

Nicht ganz zu unrecht. Nur mal meine prägende Erfahrung: Am dem Platz, an dem ich in Chur wohne, ist am Wochenende abends immer Durchgangsverkehr von jungen Menschen auf dem Weg von dem einen Hotspot Churs (Goldgasse / Untere Gasse) zum anderen Hotspot (Welschdörfli). Das sind ungefähr fünf Minuten Laufzeit. Auf diesem Platz nun findet sich ein Café, dass zu dieser Zeit dann schon längst geschlossen hat. Dieses Café hat Stühle und Tische draussen stehen. Unabgeschlossen. Die stehen einfach da. Und jeden Freitag, Samstag und Sonntag Morgen stehen die immer noch da. Sowas würde in Berlin nie passieren. Die Tische und Stühle wären binnen kurzem in den WGs um das Cafe drumherum verteilt, auch ohne bösen Willen. (Einer meiner Mitbewohner in einer Vorstadt Berlins hat es mal fertig gebracht, in unserer Küche fünfzehn Stühle zu stappeln, die er alle nach und nach, wenn er angetrunken an einem bestimmten Café vorbeikam, mitgenommen hatte. Einfach, weil ihm das als das natürlichste Verhalten der Welt erschien, nicht etwa weil das Café schlecht gewesen wäre. Später haben wir Platz für neue Stühle gemacht, indem wir die fünfzehn Stück in der Nacht zurückbrachten.) So anders ist die Schweiz dann doch. (Vielleicht gibt es Teile Deutschlands, wo das auch klappen würde mit den Stühlen unangeschlossen lassen. Maybe. In der Schweiz erscheint das natürlicher.)

Bücher-Boxen

Deshalb gibt es aber neben mehreren Bücherschränken in kleinen schweizerischen Gemeinden Bücher-Boxen oder Lesebänke, die von Öffentlichen Bibliotheken betrieben werden. In diesen Boxen befinden sich je eine kleine Anzahl von Bibliotheksmedien sowie ein kurzer Hinweis, dass man die Bücher bitte nach dem Lesen wieder zurücklegen sollte. Ausserdem ein Heft, in welchem die Leserinnen und Leser Nachrichten hinterlassen können. Die Boxen selber stehen oft an touristisch bedeutsamen Orten, an denen aber auch Einheimische verweilen, weil es so schön ist.

Interessant ist, dass viele Bibliotheken, die solche Boxen betreiben, dies nirgends erwähnen. Nicht auf ihren Homepages, nicht in der Bibliothek (soweit ich das bisher überprüfen konnte), nicht einmal unbedingt in den Jahresberichten. Auch in der Fachpublikation für Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz, SAB-Info/Info-CLP, habe ich sie jemals erwähnt gesehen.

Zugeben muss ich, dass ich auch noch nie gesehen habe, wie jemand die Bücher-Boxen benutzte. (Daneben sitzen und knutschen, ja, dass kann man des Öfteren sehen. Aber Lesen – nein.) In den Heften allerdings stehen oft Hinweise, dass irgendwer doch Bücher aus den Boxen gelesen hat und sich jetzt dafür bedankt. Insoweit mag ich auch immer nur zur falschen Zeit geschaut haben.

Ich würde hier gerne zwei Beispiele (eines aus Arosa, eines aus Chur) zeigen, auch um darauf hinzuweisen, wie einfach dieses Angebot umgesetzt werden kann. Zumindest dann, wenn man den potentiellen Nutzerinnen und Nutzern dabei vertraut / vertrauen kann, dass die Medien nicht verschwinden oder zerstört werden, ist es eine nette Möglichkeit, die Bibliothek in der Gemeinde sichtbar zu machen. Ein wenig Risiko ist dabei, aber dafür ist das Bild, dass man von der Bibliothek vermittelt, ein sehr Gutes.

Hübsch is es, oder? Bücher-Box am Obersee in Arosa.

Die gleiche Box geöffnet. Wirklich wenig Aufwand für eine nettes Angebot.

Bitte legen Sie die Bücher wieder zurück, wenn Sie sie gelesen haben. Keine Drohung mit einer Betreibung, kein Verweis auf ein Amtsverbot. Einfach nur eine Bitte. Und ein Hinweis auf die Bibliothek auf der anderen Seite des Sees, die Strasse (und den Berg) rauf.

Eine weitere Bücher-Box in Arosa.

Lesebank auf dem Arcas (Chur). Die Ausstattung ist schon etwas aufwändiger als in Arosa. (Eine weitere Lesebank dieser Art steht im Fontanapark, wo aktuell noch eine Ausstellung, „Säen, Ernten, Glücklich sein“ zu sehen ist. Die Medien in der dortigen Lesebank bestehen aus Monographien und Bildbände der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler.)

Die geöffnete Lesebank. Rechts in der Box das Notizheft und eine „Anleitung“.

Die „Anleitung“. Ebenfalls etwas aufwendiger als in Arosa. Aber auch nicht wirklich schwer selber zu machen. Wozu auch? Alles was zu sagen ist, steht drauf.