Würde ein Schulbibliothekswesen in Deutschland ein Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sein? Hinweise aus anderen Ländern

Okay, noch ein Wort zu Schulbibliotheken. Letzte Woche triggert mich die Nachricht, dass sie demnächst in der deutschen Bibliotheksstatistik auftauchen sollen, so weit, dass ich doch nochmal einen Blogpost zu ihnen geschrieben habe. Dort habe ich in einer Fussnote einen Punkt angesprochen, der mich schon irritiert hat, als ich mich noch tiefer mit dieser Bibliotheksform auseinandersetzte. Damals habe ich nichts dazu geschrieben, weil ich immer auch etwas anderes besprechen wollte. Aber vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn zu thematisieren, bevor mich der Elan wieder verlässt.

Was ist eigentlich mit Schulbibliotheken in anderen Ländern?

Ich komme gleich (nach der nächsten Überschrift) zu diesem Punkt, aber woher noch eine Anmerkung: Eine Sache, die bei der deutschen bibliothekarischen Literatur zu Schulbibliotheken schnell auffällt, ist, dass Verweise auf die Situation von Schulbibliotheken in anderen Ländern eher ungenau sind. Nicht selten wird angeführt, dass Schulbibliotheken in diesem oder jenem Land besser organisiert wären oder Teil des Bibliothekswesens wären oder ähnliches. Daraus werden dann Forderungen für die deutsche Situation abgeleitet. Aber kaum einmal scheint jemand zu schauen, ob diese Aussagen überhaupt stimmen. Die Situation im Ausland wird also als Argument genutzt, aber kaum als Möglichkeit, um etwas zu lernen. (Das ist aber nicht nur im Bezug auf Schulbibliotheken so.)

Sehr gut kann ich mich zum Beispiel daran erinnern, wie damals, als die PISA-Studien in der Öffentlichkeit noch Wellen warfen, mehrfach in der bibliothekarischen Literatur behauptet wurde, die Länder, welche in diesen (ersten Runden der) PISA-Studien gut abgeschnitten hätten, hätte allesamt ein «gut ausgebautes Schulbibliothekswesen» (was dann oft nicht weiter beschrieben wurde) und dann daraus abgeleitet wurde, Deutschland bräuchte auch eines. Das hat als Argument die Politik offensichtlich nicht überzeugt, sonst gäbe es heute in Deutschland wohl mehr Schulbibliotheken der Art, wie sie in der bibliothekarischen Literatur beschrieben werden. Als ich das Argument dann im Rahmen meiner Magisterarbeit überprüfte, zeigte sich, dass viel mehr Ländern, die an den PISA-Studien teilgenommen hatten, auch ein Schulbibliothekswesen hatten, hinter dem Geld und politischer Wille steckte – das dies aber nichts mit der Position innerhalb der PISA-Studien zu tun hatte. Diese Ländern fanden sich auf allen Positionen der «PISA-Listen». Herausstechend war nur, dass Deutschland (und einige andere Länder) aus dem Rahmen fallen, weil sie kaum Schulbibliotheken hatten / haben. Das Argument wurde also gemacht, ohne es selber zu überprüfen.1

Mir scheint, diese Situation, dass die Realität von Schulbibliotheken in anderen Ländern gar nicht richtig wahrgenommen, sondern im besten Fall als Argument dafür angeführt wird, das (durch wen?) in Deutschland mehr getan werden sollte, mit ein Grund ist dafür, dass sich bei diesem Thema so wenig ändert: Es wird kaum geprüft, ob die Annahmen, die im deutschen Bibliothekswesen jetzt seit einigen Jahrzehnten immer wieder reproduziert werden, stimmen (können).2

Das Öffentliche Bibliothekswesen wird die Schulbibliotheken anleiten

Der Punkt, welcher mich immer irritiert, ist folgender: Die implizite Erwartung derer, die sich im Öffentlichen Bibliothekswesen für das Thema Schulbibliotheken engagieren, scheint immer zu sein, dass am Ende die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken sein werden. Es wird – früher, als es mit der schulbibliothek aktuell noch eine regelmässige Publikation gab, expliziter formuliert als heute – offenbar davon ausgegangen, das Schulbibliotheken, wenn sie erst einmal auf weiter Fläche eingeführt sein wären, nicht nur wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren sondern auch in das Öffentliche Bibliothekswesen eingefügt sein würden.

Alle Planungen in diesem Bereich, alle Projekte, alle Konzeptpapiere gehen implizit davon aus. Deshalb erscheint es ja auch offenbar richtig, wenn das Öffentliche Bibliothekswesen schon vorgängig beschreibt, wie Schulbibliothek in dieser Zukunft sein werden. Oder, dass die Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken als eine Seite, Schulbibliotheken als andere Seite der gleichen Aufgabe angesehen wird. (Und deshalb auch in einer Kommission des dbv, die sich aus der Arbeitsgruppe im Deutschen Bibliotheksinstitut entwickelt hat, gemeinsam behandelt wird.) Und auch, wenn realistischer davon gesprochen wird, dass die vorhandenen Schulbibliotheken und Öffentlichen Bibliotheken «verzahnt» werden sollen, «mehr Kooperationen eingehen» sollen und so weiter, scheint diese Vorstellung dahinter zu stehen, dass das Öffentliche Bibliothekswesen die Schulbibliotheken integrieren, beraten und anleiten soll.

Aber: Ist das überhaupt zu erwarten, falls es je dazu kommen würde (beispielsweise weil die Bildungspolitik in Deutschland oder zumindest einigen Bundesländern so will), dass in allen Schulen solche Schulbibliotheken eingerichtet würde, wie sie im Öffentlichen Bibliothekswesen beschrieben werden? Nein, ist es nicht. Wenn man es einmal näher durchdenkt, ist es wenig haltbar. Und wenn man dann wirklich ins Ausland schaut, finden sich da auch vor allem Hinweise, dass es gerade nicht so sein wird. Darum soll es im Folgenden gehen.

So viel Schulbibliothekspersonal, so wenig in den Öffentlichen Bibliotheken

Was sich mir nie richtig erschlossen hat bei dieser Vorstellung: Nehmen wir einmal als Gedankenspiel an, es würden, wie das oft die Forderung ist, in jeder Schule in Deutschland (oder halt eines Bundeslandes) Bibliotheken mit bibliothekarischem Personal eingerichtet. Schon wenn das nur ein Person pro Schule wäre (was nicht zu erwarten ist, in vielen Schulen wären es dann gleich mehrere Personen), dann gäbe es auf einmal viel, viel mehr Schulbibliothekspersonal als es Personal in Öffentlichen Bibliotheken gäbe. Es gibt ja einfach viel mehr Schulen (32.3323) als es Öffentliche Bibliotheken (7.1484) gibt.

Dieses Personal würde nicht explizit gegen Öffentliche Bibliotheken arbeiten oder so, aber es hätte einfach andere Interessen und einen anderen Fokus:

  • Schulbibliotheken haben zum Beispiel – im Gegensatz zu Öffentlichen Bibliotheken – eine sehr klar definierte Nutzer*innenschaft: Die Schüler*innen ihrer Schule und – je nachdem, wie die Bibliothek genutzt wird – die Lehrpersonen (nicht als Privatmenschen, sondern als Personen, die unterrichten). Die Schüler*innen haben dann ein klar definierbares Alter und recht klare Aufgaben: Die, die sich in der Schule stellen und die, die sich mit dem Alter stellen (Stichwort: Adoleszenz). All die Gedanken, die sich Bibliotheken um andere Nutzer*innen oder andere Aufgaben machen, sind für Schulbibliotheken deshalb wenig interessant.
  • Schulbibliotheken dieser Art hätten auch einen anderen Kontext als Öffentliche Bibliotheken: Konkrete Schulen, als Bildungseinrichtungen, in denen sie integriert wären. Während Öffentliche Bibliotheken recht einfach behaupten können, Bildung anzubieten, ohne das das je wirklich geprüft wird, befinden sich Schulbibliotheken in einem Kontext, wo andere Personen eine pädagogische Ausbildung haben und auch pädagogisch handeln – die Lehrpersonen: Sie müssen dann, wenn sie ernst genommen werden wollen, an dieses Wissen anschliessen. Sie würden also mehr in dieser Richtung diskutieren, planen, testen wollen als das bei Öffentlichen Bibliotheken der Fall ist.
  • Der Kontext Schule würde für Schulbibliotheken auch heissen, dass es im Umfeld schon viele andere Orte gibt, die Aufgaben wahrnehmen, welche sich Öffentliche Bibliotheken zuschreiben: Lernorte gibt es zum Beispiel zuhauf in den Schulen; auch Orte, wo Schüler*innen Kommunizieren oder Partizipation üben. Schulbibliotheken müssen sich deshalb viel genauer verorten und ihre Aufgaben definieren, als das Öffentliche Bibliotheken tun.
  • Andere Themen, die Öffentliche Bibliotheken umtreiben, sind für Schulbibliotheken nicht relevant, beispielsweise weil sie betreffende Nutzer*innen gar nicht bedienen oder bestimmte Aufgaben nicht haben (aktuell in der Diskussion zum Beispiel: Bibliotheken und Stadtentwicklung).

In so einer Situation wäre nicht zu erwarten, dass das Schulbibliothekspersonal sich in der Öffentliche Bibliothekswesen einordnen würde. Vielmehr würde es wohl eigene Strukturen ausbilden – nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen, aber doch ausserhalb. Die gemeinsamen Interessen der Schulbibliotheken wären wohl einfach grösser als die gefühlte Verbindung zum Öffentlichen Bibliothekswesen – selbst wenn das Personal in beiden Bibliotheksformen die gleiche Ausbildung hätte. Zu erwarten wäre eher, dass dann, neben Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken eine eigene Bibliotheksform mit einer beachtlichen Grösse wären.5 Aber dann wäre die ganze Vorarbeit aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken auch schnell hinfällig.

Zu erinnern ist nur, dass erst letztens die Medienpädagog*innen in Bibliotheken auch eine eigene Fachgruppe in der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (und nicht einem bibliothekarischen Verband) gegründet haben, weil sie ihre Interessen als so unterschiedlich vom Öffentlichen Bibliothekswesen (aber nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen) ansehen, dass eine eigene Struktur als notwendig ansehen (https://www.gmk-net.de/ueber-die-gmk/lf-fachgruppe/medienpaedagogik-in-bibliotheken/). Und es gibt noch lange nicht so viele Medienpädagog*innen in Bibliotheken,6 wie es Schulbibliothekspersonal gäbe, wenn die Vorstellungen aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen umgesetzt würden.

Schulbibliothekswesen in anderen Ländern

An verschiedenen Stellen habe ich betont, dass sich das Öffentliche Bibliothekswesen in jedem Land unterschiedlich entwickelt, auch wenn sich einige Bibliothekswesen gegenseitig beeinflussen. Insoweit warne ich selber immer wieder davor, die Entwicklung in einem Land als Hinweis dafür zu nehmen, wie sich die Bibliotheken in einem anderen Land entwickeln werden. Aber wenn sich in verschiedenen Ländern ähnliche Strukturen entwickeln, dann lässt sich dies doch als Hinweise darauf lesen, dass sich Bibliothekswesen in anderen Ländern, wenn sie mit vergleichbaren Herausforderungen und Situationen umgehen müssen, zu ähnlichen Ergebnissen gelangen werden.

Im Folgenden werde ich eine Anzahl Länder durchgehen, die alle ein einigermassen etabliertes Schulbibliothekswesen haben, wie es sich in deutschen bibliothekarischen Texten nur vorgestellt wird: Mit Schulbibliotheken in den meisten Schulen, mit für die Arbeit in Schulbibliotheken ausgebildetem (oder weitergebildetem) Personal, mit Einbindung der Schulbibliotheken in den Unterricht und so weiter. Die Auswahl ist beschränkt durch meine Sprachkenntnisse (deutsch / englisch / französisch), durch die Zugänglichkeit zu Informationen im Homeoffice und durch die Zeit, welche ich für diese Recherche aufbringen konnte. Sie kann (und sollte) von anderen also immer ergänzt werden.

Und dennoch zeigt sich bei der schnellen Recherche (rund zwei Stunden), dass sich zumindest in den beschriebenen Ländern immer wieder ähnliche Strukturen zeigen, die darauf hindeuten, dass sich auch in Deutschland «gut ausgestattete Schulbibliotheken» ab einer gewissen Verbreitung halt nicht zum Öffentlichen Bibliothekswesen zählen werden und sich von diesem auch nicht anleiten lassen würden.

Frankreich

Schulbibliotheken in Frankreich heissen seit 1973 centre de documentation et d’information (CDI). Es gibt einen eigenen Verband, die Association des professeur documentaliste de l’education nationale (http://apden.org), der nicht Teil des Öffentlichen Bibliotheksverbandes ist.

Die Ausbildung des Personals ist uneinheitlich und bereitet auch immer wieder Kopfschmerzen (sie wird also immer wieder einmal diskutiert). Grundsätzlich wird das Personal in den CDI als professeur·e·s documentaliste bezeichnet. Aber es gibt keine eigene Ausbildung um professeur·e documentaliste zu werden, sondern verschiedene Wege in die Profession (über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung, immer plus Weiterbildungen) und es gibt Vorgaben, welche Kompetenzen auf diesem Weg zu erwerben sind. (http://apden.org/Prof-doc-un-nouveau-cadre.html) Grundsätzlich wird die Arbeit aber als anders angesehen als die anderer Bibliothekar*innen aber auch anderer Lehrpersonen.

Es gibt eine eigene Zeitschrift, die interCDI (http://www.intercdi.org) und eine Konferenz, welche alle vier Jahre stattfindet (http://apden.org/?page=federation).

USA

Die American Association of School Librarians (AASL) (http://www.ala.org/aasl/) ist eine Division der American Library Association (http://www.ala.org/aboutala/divs), in der es auch Divisionen für Öffentliche Bibliotheken oder Research Libraries gibt. In einigen Bundesstaaten gibt es darüber hinaus selbstständig agierende School Library Associations. Jährlich findet eine Konferenz der AASL statt, zudem ist sie an den halbjährlichen ALA-Konferenzen vertreten.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian (oder School Library Media Specialist) genannt, für das es gesonderte Ausbildungen an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen gibt. Geregelt ist diese von Bundesstaat zu Bundesstaat anders. (http://www.ala.org/aasl/about/ed/recruit/learn)

Die AASL selber gibt zwei Zeitschriften heraus, eine praxisorientierte (Knowledge Quest https://knowledgequest.aasl.org) und eine wissenschaftliche (School Library Research, http://www.ala.org/aasl/pubs/slr). Zusätzlich existiert das School Library Journal (https://www.slj.com), eigene Reihen für Schulbibliotheken in bibliothekarischen und pädagogischen Verlagen und Blogs, Newsletter und Zeitschriften einzelner Verbände auf Ebene der Bundesstaaten.

Kanada

Die bewegteste Situation findet sich in Kanada. Dort brachen Mitte der 2010er Jahre vorhandene Strukturen für Schulbibliotheken auf Bundesebene zusammen (nicht aber die in allen Provinzen und Territorien): Die School Library Division der Canadian Library Association wurden 2010 aufgelöst, die Zeitschrift School Libraries in Canada eingestellt, Projekte nicht mehr weitergeführt. (https://www.canadianschoollibraries.ca/wp-content/uploads/2018/01/CSL_Poster_OLA2018-SMALL.pdf)

2016 dann wurde wieder die Non-Profit Canadian School Libraries (CSL) gegründet, welche eigenständige Verbände für Schulbibliotheken aus den Provinzen und Territorien vereinigt (https://www.canadianschoollibraries.ca). Sie ist nicht Teil der Library Association. Das Personal in den Schulbibliotheken wird zumeist Teacher-Librarian genannt. Es gibt an verschiedenen Universitäten und Ausbildungseinrichtungen Kurse für diese (sowohl zur direkten Ausbildung als auch zur Weiterbildung auf Basis bibliothekarischer oder pädagogischer Ausbildungen). (https://journal.canadianschoollibraries.ca/exploring-teacher-librarian-training-in-canada/) Nicht in allen Schulbibliotheken sind auch Teacher-Librarians angestellt.

Mit dem Canadian School Libraries Journal (https://journal.canadianschoollibraries.ca) gibt es seit 2017 wieder eine Zeitschrift für kanadische Schulbibliotheken. Eine eigene Konferenz ist (noch nicht) wieder etabliert, aber es wurde ein «Think Thank» für Schulbibliotheken (tmc – treasure mountain canada) gegründet, welcher jährlich ein Symposium anbietet (https://tmc.canadianschoollibraries.ca), auf dem Forschung zu Schulbibliotheken diskutiert werden soll.

Australien

Auch in Australien gibt es eine eigenständige Australian School Library Association (ASLA) (https://asla.org.au), die alle zwei Jahre eine Konferenz organisiert sowie eine Zeitschrift, Access (https://asla.org.au/access), und einen Newsletter (https://asla.org.au/asla-newsletter) herausgibt. Das Personal in den Schulbibliothek wird Teacher Librarian genannt, für die es keine direkte Ausbildung gibt. Vielmehr gibt es Wege über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung und dann jeweils kontinuierlicher Weiterbildung, um diesen Beruf auszuführen. Was existiert, sind Dokumente, in denen von der ASLA beschrieben wird, welche Kompetenzen die Teacher Librarians mitbringen sollen. (https://asla.org.au/what-is-a-teacher-librarian, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_tls_in_australia.pdf, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_qualifications.pdf)

Aotearoa New Zealand

Die Struktur in Aotearoa New Zealand ist ähnlich, aber auch nicht gleich wie in Australien. Es gibt wieder einen eigenständigen Verband ausserhalb des Bibliotheksverbandes, die School Library Association of New Zealand Aotearoa (SLANZA) (http://www.slanza.org.nz), welche eine eigene Zeitschrift, Collected (http://www.slanza.org.nz/collected.html), herausgibt. Die Zusammentreffen, welche der Verband auf nationaler oder regionaler Ebene organisiert, sind allerdings unregelmässig.

Das Personal in den Schulbibliotheken des Landes hat keine einheitliche Bezeichnung oder Ausbildung. Vielmehr beschreibt SLANZA die Situation so: «School Librarians and Library Assistants, Teacher Librarians, Teachers with Library Responsibility and school staff involved in managing school libraries». (http://www.slanza.org.nz) Es gibt verschiedene Ausbildungen, um in diese Positionen zu gelangen, die offenbar alle akzeptiert sind.

Grossbritannien

Auch die School Library Association (SLA) (https://www.sla.org.uk) in Grossbritannien ist ein eigenständiger Verband, der eine eigene Zeitschrift, The School Librarian (https://www.sla.org.uk/the-school-librarian), publiziert. Es gibt allerdings keine gesonderte Ausbildung, sondern das Personal wird als School Librarian bezeichnet und durchläuft grundsätzliche eine bibliothekarische Ausbildung, teilweise mit gesonderten Kursen. Die SLA führt keine eigene Konferenzen durch, dafür organisiert sie viele Kurse und Weiterbildungen. Zudem publiziert sie eigene Broschüren und Plakate (https://www.sla.org.uk/publications).

Irland

Erstaunlich, aber dann für das Thema dieses Blogpost auch bezeichnend, ist die Situation in Irland. Es existierte eine eigene School Library Association in the Republic of Ireland (https://www.slari.ie), die nicht Teil des Bibliotheksverbandes ist. Dafür ist sie aber Teil der britischen SLA. Sie führt – im Gegensatz zur SLA – jährlich Konferenzen durch. Als Zeitschrift wird wohl die britische The School Librarian ((https://www.sla.org.uk/the-school-librarian) mitbenutzt.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian genannt und es wird dafür als Ausbildungsweg auf bibliothekarische Studiengänge in Irland, Nord-Irland, Wales und Schottland – aber nicht England – verwiesen (https://www.slari.ie/advice-and-support/becoming-a-school-librarian/).

Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen gibt, wird es sich ausserhalb des Öffentlichen Bibliothekswesens organisieren

Wie gesagt: Vorsicht ist geboten, wenn man aus den Entwicklungen im Bibliothekswesen eines Landes die Entwicklungen in einem anderen Land ableiten will. Nationale Strukturen und Traditionen übertrumpfen immer wieder mögliche Einflüsse aus anderen Ländern. Aber wenn sich Strukturen so oft zeigen – wenn also in verschiedenen Ländern bei ähnlichen Herausforderungen immer wieder ähnliche Entwicklungen vorkommen –, dann lässt sich doch ein vorsichtiger Schluss ziehen.

Und in diesem Fall ist der Schluss – auch weil er unabhängig von den Beispielen theoretisch nachvollziehbarer ist als andere mögliche Entwicklungen –: Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen geben wird, wenn also in allen (oder vielen) Schulen Schulbibliotheken mit dafür explizit angestelltem Personal eingerichtet würden, dann würden sich diese Schulbibliotheken nicht als Form Öffentlichen Bibliotheken verstehen, sondern wohl eigenständig organisieren, um ihre eigenen Fragen zu klären, Herausforderungen anzugehen und gemeinsam zu handeln. Sie werden dann eine eigene Identität als Schulbibliotheken ausprägen.

Die Beispiele zeigen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede: Gemeinsam ist ihnen, dass sich eigenständige Verbände (oder Divisions in grösseren Bibliotheksverbänden, in denen es eigene Division für unterschiedliche Bibliothekstypen gibt) organisieren, dass eigene Publikationsmedien aufgebaut werden (und nicht einfach die Öffentlicher Bibliotheken mitbenutzt werden), dass eigene Treffen und Weiterbildungen organisiert und versucht wird, sich darauf zu verständigen, welche Kompetenzen und Ausbildungen das Schulbibliothekspersonal haben soll. Bei letzterem sind nicht alle Schulbibliotheksverbände gleich erfolgreich, aber immer geht es darum, nicht einfach Bibliothekar*innen aus Öffentlichen Bibliotheken einzusetzen, sondern Personal mindestens mit gezielten Weiterbildungen, wenn nicht gar eigener Ausbildung, auf die spezifische Bibliotheksform Schulbibliothek hin auszurichten. Normalerweise wird dann Wert darauf gelegt, dass das Personal gleichzeitig bibliothekarische und pädagogische Kenntnisse haben soll. Die eigenen Zeitschriften dieser ganzen Verbände weisen auch darauf hin, dass es für Schulbibliotheken genügend Themen gibt, die sie so, wie sie in anderen bibliothekarischen Medien bearbeitet werden, nicht passen: Einige Themen werden Schulbibliotheken viel mehr interessieren als Öffentliche Bibliotheken, andere gar nicht und wieder andere vielleicht nur Schulbibliotheken.7

Was die Beispiele auch zeigen, ist, dass diese Entwicklung nicht immer erfolgreich sein muss (das Beispiel Kanada), manchmal die Zahl der Schulbibliotheken so klein (?) zu sein scheint, dass man sich anderen Verbänden anschliesst (das Beispiel Irland). Auch, dass selbst Länder, die eigentlich viele Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit aufweisen, bei Schulbibliotheken unterschiedliche Lösungen haben können (die Beispiele Aotearoa New Zealand und Australien). Es ist noch nicht mal einheitlich in einem Sprachraum geklärt, wie das Personal in den Schulbibliotheken genannt wird. Es gibt also eine gemeinsame Richtung, in der sich Schulbibliothekswesen vieler Länder entwickeln, aber keine überall gleiche Lösung.

Und so würde es wohl auch in Deutschland sein, würde sich der seit den 1970er Jahren immer wieder im Bibliothekswesen geäusserte Wunsch erfüllen und flächendeckend viele «gut ausgestattete Schulbibliotheken» eingerichtet: Vielleicht mit einiger Verzögerung würde sich dann eine eigene Struktur – als eigener Verband oder auch eigenständige Gruppen in vorhandenen bibliothekarischen Strukturen – entwickeln, eigene Publikationskanäle etabliert (vielleicht eine Zeitschrift, aber vielleicht auch «nur» Blogs und Newsletter), eigene Konferenzen und wohl auch eine von den Schulbibliotheken selber dominierte Diskussion darum, was das Schulbibliothekspersonal an Kompetenzen haben und wie es dafür ausgebildet werden soll. Und dann werden Schulbibliotheken nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen arbeiten, aber sich auch nicht viel von ihm hereinreden lassen. Warum? Weil es sich um zwei unterschiedliche Bibliotheksformen handelt, mit unterschiedlichen Zielsetzungen, «Problemlagen» und Kontexten.

Hat das eine Bedeutung?

Jetzt mag man sagen: Okay, vielleicht wird es sich so ergeben und nicht so, wie es sich implizit erhofft wird, wenn im Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken nachgedacht werden. Ist das aber nicht, im besten Fall, Zukunftsmusik? Ich würde dagegen argumentieren. Die wahrscheinliche Zukunft sagt halt auch etwas über all die immer wieder angemahnten Versuche, «etwas für Schulbibliotheken zu tun», «mal anzufangen», «Schulbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken zu verzahnen» und wie das noch immer ausgedrückt wird: Es funktioniert wohl auch immer wieder nicht, weil die vorhandenen Unterschiede zwischen Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliotheken (egal in welcher Form sie aktuell existieren), die in anderen Ländern zum Entstehen von getrennten Strukturen führen, übergangen werden. Schon für all solche Versuche liesse sich einiges aus dem gerade Dargestellten lernen:

  • «Verzahnen von Schul- und Öffentlichen Bibliotheken» muss immer davon ausgehen, dass es zwei unterschiedliche Bibliotheksformen sind, bei denen keine der anderen «untergeordnet» ist. Das ist etwas anderes, als wenn zum Beispiel zwei Öffentliche Bibliotheken zweier Gemeinden sich «mehr verzahnen wollen».
  • Eine einfach Sache wäre, wenn sich im Öffentlichen Bibliothekswesen nicht mehr nur gefragt würde, wie man die eigenen Vorstellungen auf Schulbibliotheken und Schulen übertragen könnte, sondern vielmehr, was man selber als Öffentliche Bibliotheken von Schulbibliotheken lernen könnte. Schon durch den Kontext gibt es zum Beispiel in Schulbibliotheken (selbst denen, die als Zweigbibliothek von Öffentlichen Bibliotheken geführt werden) auch heute schon mehr Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sowie mehr Erfahrungen mit Unterricht und Erwartungen von Lehrpersonen als in Öffentlichen Bibliotheken.
  • Diese Unterschiede sollten auch beim Nachdenken über Schulbibliotheken einbezogen werden. Anstatt zum Beispiel bei den unregelmässigen Schwerpunktheften zu Schulbibliotheken diese immer wieder möglichst ähnlich zu Öffentlichen Bibliotheken darzustellen (und gerade die vorzustellen, die sich nahe an den Vorstellungen des Öffentlichen Bibliothekswesens befinden) sollte sie eher im Kontext von Schulen und als eigene Bibliotheksform präsentiert werden (und dann vielleicht auch eher die ganze Bandbreite der vorhandenen Schulbibliotheken, nicht nur ausgewählte). Ebenso wäre wohl hilfreich, wenn in den ganzen Abschlussarbeiten, die in bibliothekarischen Studiengängen zu Schulbibliotheken geschrieben wird, nicht immer wieder danach gefragt wird, wie eine «gute» Schulbibliothek aussehen oder wie sie eingerichtet werden sollte, sondern in ihnen den Blick darauf zu lenken, wie die Realität in den Schulen tatsächlich ist und wieso. Und schon gar nicht aus eine Defizitperspektive (im Sinne von «Warum sind die nicht so, wie Öffentliche Bibliotheken? Was fehlt denen?»). [Auch wenn verständlich ist, dass Studierende eher untersuchen wollen, was «gute» Schulbibliotheken sind, wenn sie der vorhandenen bibliothekarischen Literatur folgen. Es wäre wohl Aufgabe der Dozierenden, sie auch auf andere mögliche Forschungsfragen hinzuweisen.]
  • Im deutschen Bibliothekswesen werden die beiden Themen «Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken» und «Schulbibliotheken» oft zusammen verhandelt, als wäre das praktisch eines. So ist es, wie gesagt, beispielsweise eine Kommission im dbv, die sich beiden Themen widmet (und sich mal mehr auf das eine und mal mehr auf das andere fokussiert). In Schwerpunktheften bibliothekarischer Zeitschriften zu einem Thema finden sich auch immer wieder Beiträge zum anderen Thema. Aber es sind zwei unterschiedliche Themen, bei denen sich auch nicht einfach Erfahrungen vom einen direkt zum anderen Thema übertragen lassen. Dieses Zusammenfassen sollte aufhören. Nur, weil Öffentliche Bibliotheken in vielen Fällen gut angenommene Angebote für Schulen und Lehrpersonen machen können, heisst das nicht, das sie automatisch auch wissen, wie Schulbibliotheken funktionieren. Deswegen werden beide Themen in anderen Ländern auch getrennt behandelt. Das sollte auch in Deutschland etabliert werden.
  • Was hoffentlich auch schon durch diese schnelle Recherche sichtbar geworden ist: Es lohnt sich nicht einfach nur immer auf die Situation im Ausland zu verweisen, wenn man das irgendwie als Argument für die eigenen Vorstellungen verwenden will, sondern tatsächlich die dortige Situation genauer anzuschauen. Mir fiel zum Beispiel auf, dass all die genannten Zeitschriften, ausser der französischen und dem School Library Journal, frei als PDF (aber oft nicht mit OA-Lizenz) vorliegen. Man kann die immer lesen oder zumindest überfliegen, was dort als Thema behandelt wird. (Das war, als ich meine Magisterarbeit schrieb, noch nicht möglich. Wie sehr hätte ich das gewünscht.) Das würde gewiss helfen, zumindest diese Unterschiede zwischen Schulbibliothek und Öffentlicher Bibliothek wahrzunehmen.

Fussnoten

1 Dabei wäre vielleicht «fast alle Länder in der OECD haben ein Schulbibliothekswesen, deshalb sollte Deutschland auch eines haben» ein viel besseres Argument gewesen.

2 In meinem Blogpost von letzter Woche habe ich auf ein Buch von 1970 verwiesen, dass ich als Beginn des Denkens über Schulbibliotheken, wie es seitdem im deutschen Bibliothekswesen etabliert ist, bezeichne. Und auch da wurde es schon so gehandhabt: Schulbibliotheken aus dem Ausland wurden einfach als zu erreichendes Vorbild dargestellt, ohne zu fragen, warum die Schulbibliotheken im Ausland (angeblich) so anders waren. Ob sie vielleicht andere Aufgaben erfüllt als in deutschen Schulen oder eine andere Tradition hatten.

3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/235954/umfrage/allgemeinbildende-schulen-in-deutschland-nach-schulart/

4 Deutsche Bibliotheksstatstik, Stand 2019, https://service-wiki.hbz-nrw.de/pages/viewpage.action?pageId=99811337

5 Und daneben selbstverständlich die ganzen weiteren Bibliotheksformen, die sich ja auch oft in eigenen Gruppen organisieren, nur das sie je nicht so viele sind, wie es dann Schulbibliotheken sein würden.

6 In der geschlossenen Facebook-Gruppe sind es aktuell (28.01.2021) 940 Mitglieder.

7 Hier läge eine Arbeit drin: Jemand könnte daher gehen und systematisch schauen, welche Themen überhaupt in diesen «Schulbibliotheks-Zeitschriften» behandelt werden und jeweils vergleichen mit denen, die in anderen bibliothekarischen Medien aus den jeweiligen Ländern behandelt werden. Zeigen sich dann eindeutige Themenbereiche, die Schul- oder Öffentlichen Bibliotheken (oder noch anderen Bibliothekstypen) zugeordnet werden können?

Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik – Wird die Realität in den Schulen pfadabhängig übergangen?

Letztens bin ich fast vom Stuhl gefallen, als eine Nachricht des Deutschen Bibliotheksverbandes über die üblichen Kanäle verbreitet wurde. Die Nachricht: Schulbibliotheken sollen ab demnächst in der Bibliotheksstatistik vertreten sein (https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2021/january/article/deutsche-bibliotheksstatistik-dbs-erfasst-ab-2021-daten-zu-schulbibliotheken-in-deutschland.html?tx_ttnews%5Bday%5D=15&cHash=84ee7046e7eeef7861ab5ddd1d98e4c6). Das ist so falsch, ich habe erst geglaubt, es wäre ein schlechter Scherz. Aber offenbar ist das ernst gemeint.

Ich möchte hier gerne erklären, warum das keine gute Idee ist. Das Bibliothekswesen in Deutschland ist seit 1970 auf einem falschen Pfad was Schulbibliotheken betrifft.1 Dieser Schritt ist nur ein weiterer auf diesem Pfad, der in den meisten existierenden Schulbibliotheken auch gar nichts verändern wird. Das Erstaunliche ist aber, dass das Bibliothekswesen den immer weiter geht.

Ich habe eine ganze Anzahl von Jahren über Schulbibliotheken in Deutschland geforscht: Angefangen von meiner Magisterarbeit über ein Praxisbuch (nicht alleine geschrieben) bis hin zu einer Langzeitstudie (zehn Jahre) über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin. Danach habe ich das Thema aufgegeben, weil alle meine Fragen beantwortet waren. (Und ich zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr in Deutschland, sondern der Schweiz arbeitete; aber auch in der Schweiz bin ich vom Thema Schulbibliotheken nicht unberührt geblieben.)

Es war auch nicht so, dass ich je ein engagierter Vertreter von Schulbibliotheken gewesen wäre. Ich habe das Thema für meine Magisterarbeit gewählt, weil ich einigen Abstand zu ihm hatte. Interessiert hat es mich, weil Schulbibliotheken gerade nicht einfach Bibliotheken sind, sondern Einrichtungen, deren Realität in der jeweiligen Schule selber von verschiedenen Personen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen ausgehandelt werden. Bei vielen Personen, die sich sonst mit Schulbibliotheken beschäftigen, ist das anders. Die meisten Studien werden von Personen durchgeführt, die oft stark in Schulbibliotheken engagiert sind. Ebenso werden meisten Projekte von Engagierten aufgesetzt und auch die meisten Texte von ihnen geschrieben. Eventuell ist das ein Grund, warum ich einen anderen Blick auf die Entscheidung habe, Schulbibliotheken in den Bibliotheksstatistik aufzunehmen als andere, die diese Meldung begeistert retweetet haben. Mir interessiert die Geschichte, die Denkweisen über Schulbibliotheken, die Realität in Schulbibliotheken und die Strukturen hinter diesen. Aber eine Schulbibliothek gründen oder gar Schulbibliotheken sagen, wie sie zu sein hätten, das wollte ich nie. Das ist bei Engagierten anders (mit gutem Grund, sonst wären sie nicht engagiert).

Und eigentlich wollte ich auch gar nichts mehr zu Schulbibliotheken sagen, aber dieses Presseerklärung hat mich doch so erstaunt, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Es ist eine falsche Entwicklung und das Bibliothekswesen sollte endlich aufhören, immer nur diesen Weg weiterzugehen.

Das Bibliothekswesen will bestimmen, was Schulbibliotheken sind

Das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland nimmt für sich in Anspruch, über Schulbibliotheken entscheiden und für Schulbibliotheken sprechen zu können. Es nimmt auch für sich in Anspruch, sagen zu können (und zu wissen), wie Schulbibliotheken sein sollten, also wie sie funktionieren sollten, welche Aufgaben sie übernehmen sollten, welche Wirkungen sie haben würden, wenn sie nur so wären, wie das Bibliothekswesen sich das vorstellt. Aber: Das ist schlicht und ergreifend falsch.

Schulbibliotheken sind keine kleinen, spezialisierten Öffentlichen Bibliotheken. Sie sind nicht Teil des Bibliothekswesens. Die Vorstellungen darüber, wie Schulbibliotheken sein sollen und welche Wirkungen sie haben sollen, die im Bibliothekswesen verbreitet werden, sind weder alternativlos – es gibt immer auch andere Vorstellungen, die in der Praxis in den konkreten Schulen oft eine viel grössere Bedeutung haben als die aus dem Bibliothekswesen – noch sind sie irgendwie besser begründet (oder gar mit empirischen Daten untermauert) als die anderen Vorstellungen. Und dennoch wird im Bibliothekswesen so gehandelt, als wären die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken.

Die reale Situation

Wie sieht die reale Situation aus? (Hier verweise ich gerne darauf: Während meiner «aktiven Jahre» zu diesem Thema war ich in ungezählten Schulbibliotheken in Deutschland, habe viele Interviews geführt – die ersten für meine Magisterarbeit – und habe Daten gesammelt, vor allem für meine Langzeitstudie in Berlin. Das Folgende sind also nicht reine Behauptung. Und auch, wenn ich vor einigen Jahren damit aufgehört habe und sich seitdem bestimmt einiges geändert hat: Soviel wird es nicht sein.)

  1. Schulbibliotheken sind deshalb interessante Einrichtungen, weil sie aus Aktionen verschiedener Stakeholder (in Mangel eines besseres Wortes) entstehen. Die wichtigsten sind dabei die Schulen selber, welche Schulbibliotheken unterhalten und in diesen die Personen, die konkret die Schulbibliothek betreiben sowie die Schulleitungen. Wie die sich vorstellen, was die Aufgabe einer Schulbibliothek ist, prägt am meisten, wie die Schulbibliothek dann tatsächlich aussieht. Und das ist in den Schulen sehr, sehr unterschiedlich.2 Oft, aber nicht so oft, wie man vielleicht vermuten würde, sind es Lehrpersonen, die für die Schulbibliotheken zuständig sind. Werden Schulbibliotheken von Ehrenamtlichen (oder manchmal auch geringfügig Beschäftigten) betrieben, sind auch diese Stakeholder, was vor allem dann relevant ist, wenn ihre Vorstellungen nicht – wie bei Lehrpersonen – durch pädagogische Ausbildungen geprägt sind. Da viele Schulbibliotheken von Schulvereinen unterstützt werden, sind auch die Eltern und anderen Engagierten in diesen Vereinen, Stakeholder. Wichtig sind oft, aber nicht immer, die anderen Lehrpersonen einer Schule – es gibt Schulbibliotheken, die so abgetrennt vom Unterricht existieren, dass es egal ist, was die anderen Lehrpersonen denken und solche, die sehr in den Unterricht integriert sind und in denen es dann relevant ist, was diese Lehrpersonen denken. Ob die Schüler*innen selber Stakeholder sind, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In konkreten Schulbibliotheken ist auffällig, dass einige explizit Schüler*innen einbinden (einige Schulbibliotheken werden sogar ganz von Schüler*innen betrieben), andere aber direkt über sie hinweg entscheiden.
  2. Öffentliche Bibliotheken und das Bibliothekswesen im Allgemeinen sind nur der geringste unter diesen Stakeholdern. Um sicherzugehen: Es gibt Schulbibliotheken, die sind als Zweigstellen Teil Öffentlicher Bibliotheken. Es gibt Städte und Gemeinden, in denen Öffentliche Bibliotheken unterschiedliche Infrastrukturen aufgebaut haben, um mit Schulen zusammen Schulbibliotheken zu betreiben oder Schulen beim Betrieb ihrer Bibliotheken zu unterstützen. Für all das gibt es Beispiele. Aber das sind alles Ausnahmen. Und zwar nicht erst seit Öffentliche Bibliotheken durch Sparmassnahmen seit den 1980ern Zweigstellen in Schulen, die einmal (seit den 1970ern) eingerichtet wurden, wieder schlossen, sondern schon weit davor. Die ganze Zeit über waren die Schulbibliotheken, die von Öffentlichen Bibliotheken oder mit Hilfe Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurde, viel weniger als die Schulbibliotheken, die anders und ohne Kontakt mit den Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurden. Lokal ist das manchmal anders (wie gesagt: Es gibt Städte, wo in allen Schulen eine Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek zu finden ist oder gut ausfinanzierte und aktive «Schulbibliothekarische Arbeitsstellen»), aber alle breiteren Datensammlungen, die seit den 1970ern durchgeführt wurden, zeigen das gleiche: Die Schulbibliotheken mit irgendeinem feststellbaren Kontakt zu Öffentlichen Bibliotheken sind immer in der krassen Minderzahl.
  3. In vielen Schulbibliotheken interessiert sich deshalb niemand dafür, was für Vorstellungen von Schulbibliotheken (oder anderen Bibliotheken) im Bibliothekswesen vertreten werden. Oft denkt niemand überhaupt daran, dass das Öffentliche Bibliothekswesen überhaupt solche Vorstellungen haben könnte. Vielmehr gibt es immer unterschiedliche andere Vorstellungen in den Schulen. Ich habe einmal fünf unterschiedliche Modelle von Schulbibliotheken aufgestellt, die ich in Berlin real vorgefunden habe (also nicht theoretisch formuliert, sondern aus den Daten, die ich gesammelt hatte, herausgezogen), aber es gibt weitere. Aber auch dabei war auffällig: Die Idee, eine Schulbibliothek müsste wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren, war eine Randerscheinung. Die meisten Schulbibliotheken wollten Orte sein, wo Schüler*innen in Ruhe – oft abgetrennt vom anderen Schulalltag – lesen konnten und auf der Basis dieser Vorstellung waren sie auch aufgebaut. Gerade kein Unterrichtsraum, kein Katalog (auch weil es vor allem um Belletristik ging, die nicht tief erschlossen wurde), kein Ort für Hausaufgaben, sondern Platz, um sich anders zu fühlen als in der restlichen Schule. Was man in Interviews mit den Aktiven in solchen Schulbibliotheken oft feststellt, ist, dass sie ihre Bibliothek auch als eine Einrichtung sehen, die ganz andere Aufgaben hat als eine Öffentliche Bibliothek. Und vor allem, dass die Engagierten vor Ort ihre Bibliothek, so wie sie ist, gut finden. Nicht zuletzt sind auch fast alle diese unterschiedlichen Schulbibliotheken recht gut benutzt – es kann also so falsch nicht sein, was sie machen.
  4. Aber selbst in den Schulbibliotheken, die eine Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betreiben, bringen immer andere Vorstellungen ein. Sie sehen immer wieder anders aus und haben andere Aufgaben, selbst in Städten, in denen eine starke Schulbibliothekarische Arbeitsstelle existiert und Beratungen anbietet. Auch dort finden sich viele Schulbibliotheken, die sehr an Leseförderung und «ausserschulischen Räumen in der Schule» interessiert sind und andere, die sich als Ort für das selbstständige Lernen der Schüler*innen verstehen. Es ist einfach nie so einheitlich, wie das im Bibliothekswesen typisch ist, wo trotz aller konkreten Unterschiede ähnliche, durch die berufliche Sozialisation erworbene, Vorstellungen davon, was eine Öffentliche Bibliothek für Aufgaben hat und wie sie organisiert sein soll, die Arbeit in den unterschiedlichen Bibliotheken vorgeben.
  5. Auffällig ist auch, dass sich die meisten Schulbibliotheken als Teil ihrer Schule verstehen und auch versuchen, im Rahmen ihrer Schule zu funktionieren. Nur wenige schauen über diesen Bezugsrahmen hinaus, nur wenige organisieren sich mit anderen Schulbibliotheken (und dann bezeichnenderweise oft in «Landesarbeitsgemeinschaften» von Schulbibliotheken, die weder Teil bibliothekarischer noch pädagogischer Verbände sind). Immer wieder gibt es Engagierte, die ein Zusammengehen von Schulbibliotheken anstossen wollen, aber immer wieder stossen diese auch auf Probleme, andere zu diesem Zusammengehen zu motivieren. Die meisten Schulbibliotheken funktionieren gut in ihrer Schule und versuchen gar nicht erst, darüber hinaus zu gehen. Somit bildet sich auch kein gemeinsames Verständnis davon aus, wie solche Einrichtungen funktionieren sollten.
  6. In konkreten Schulbibliotheken – die als solche, um das nochmal zu sagen, in ihrer Schule immer wieder gut und oft auch über längere Zeiträume funktionieren – finden sich auch immer wieder explizite Unterschiede zu Öffentlichen Bibliotheken. Einige Beispiele:
    1. Öffentliche Bibliotheken streben einen inhaltlich breiten Bestand an, da sie auch für unterschiedliche Funktionen genutzt werden wollen. In vielen Schulbibliotheken ist eine inhaltliche Breite (oder eine Breite von Medienformen) gar nicht gewünscht. Das ist auch logisch: Wenn die Aufgabe die Leseförderung ist (nur als Beispiel) ist ein weitergehender Sachbuchbestand nicht nötig.
    2. Öffentliche Bibliotheken, insbesondere wenn sie Zweigbibliotheken in Schulen betreiben, betonen gerne die Funktion, dass sie den Unterricht, Hausaufgaben und das selbstständige Lernen von Schüler*innen unterstützen. In einigen Schulbibliotheken wird das auch als wichtige Funktion angesehen und dann beispielsweise der Bestand darauf ausgerichtet oder der Raum so eingerichtet, dass Unterricht und / oder selbstständiges Lernen möglich ist. Aber in vielen (viel mehr) Schulbibliotheken ist das explizit nicht das Ziel. Das ist in jeder Schulbibliothek anders. [Öffentliche Bibliotheken scheinen einfach davon auszugehen, dass die Bibliothek der perfekte Ort für solche Tätigkeiten ist. Aber selbst das ist nicht klar. Schulen haben immer auch andere Orte geschaffen, in denen das möglich ist.]
    3. Oft ist, wie gesagt, liegt Fokus einer Schulbibliothek auf dem Lesen an sich. Und das wird dann auch als ausreichend angesehen. Das muss noch nicht mal heissen, dass andere mögliche Funktionen von Bibliotheken als irrelevant angesehen werden – aber dann halt oft als Aufgabe der jeweiligen Öffentlichen Bibliothek vor Ort, nicht als Aufgabe der Schulbibliothek.
    4. Wirklich auffällig ist, wie die Katalogisierung in Schulbibliotheken gehandhabt wird. Meistens gar nicht. Bibliotheken versuchen auch seit Jahrzehnten immer wieder entweder Schulbibliotheken beizubringen, wie man richtig katalogisiert oder aber Kataloge für Schulbibliotheken – gerne mit Fernleihfunktion von einer Schulbibliothek in die nächste – aufzubauen. Der Katalog steht sehr oft im Mittelpunkt des Denkens des Öffentlichen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken. In konkreten Schulbibliotheken ist das ganz anders: Oft gibt es keinen Katalog, sondern der Bestand ist durch Aufstellung erschlossen. Oft ist der Katalog ein reiner Nachweis, der für die Ausleihverbuchung benutzt wird, aber in dem Medien nicht inhaltlich erschlossen sind. (Oft findet sich der eine Rechner in einer solchen Bibliothek mit dem Katalog auf dem Pult der Bibliothekar*in, ohne das die Schüler*innen diesen je selbst für Recherchen benutzen.) Und auch das ist nachvollziehbar: Wenn der Bestand klein ist (einfach so überblickt werden kann) und der Fokus nicht auf die Vermittlung der Medien, warum sollte sich dann jemand die ganze Arbeit machen, einen Katalog à jour zu halten?
    5. In den meisten Schulbibliotheken ist nichts darüber bekannt, was das Öffentliche Bibliothekswesen über Schulbibliotheken denkt und es besteht auch kein Interesse, dass irgendwie zu wissen. Sie sehen sich als Teil der eigenen Schule und sie funktionieren in der Schule. Sie sehen sich nicht als Teil des Bibliothekswesens.

Bibliothekarische Ansprüche

In der oben angeführten Pressemitteilung des dbv, welcher die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik angekündigt, heisst es:

Das Schulbibliothekswesen in Deutschland ist sehr heterogen. So gibt es die Schulbibliothek als Zweigstelle einer Öffentlichen Bibliothek, als Schulbibliotheks-Verbund mit unterschiedlichen organisierenden Institutionen, als kombinierte Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek, oder als selbständige Schulbibliothek, bei der die Schule die Bibliothek eigenständig betreibt.

Auf den ersten Blick scheint es, als würde hier die Vielgestaltigkeit der Schulbibliotheken akzeptiert, aber genau das passiert nicht. Die Passage erscheint so oder so ähnlich seit Jahrzehnten immer wieder, wenn im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken berichtet wird und sie vermittelt ein Denken, das falsch ist. Interessant ist, dass es – pfadabhängig – immer und immer wieder reproduziert wird, obwohl es – was noch diskutiert wird – immer und immer wieder scheitert.

Was ist falsch an diesem Zitat? Zuerst geht es von einem «Schulbibliothekswesen» aus. Das gibt es nicht. Die Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten so eng zusammen, dass man von einem Bibliothekswesen reden kann. In diesem werden Vorstellungen über die Funktion von Bibliotheken geteilt und diskutiert (über den Bibliotheksverband, die Fachpresse, die Konferenzen, die Gremienarbeit, die Ausbildung und so weiter). Die Wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten sogar noch enger zusammen (beispielsweise regelmässig in Projekten) und prägen gemeinsame Vorstellungen aus. Bei ihnen kann man auch gut von einem Bibliothekswesen reden. Schulbibliotheken sind nicht so: Sie arbeiten nicht zusammen. Die meisten Versuche, sie zu organisieren und sie dazu zu bringen, gemeinsame Vorstellungen, Richtlinien und so weiter zu entwickeln, waren seit den 1970er Jahren kurzlebig; meistens blieben sie in der Anfangsphase stecken. (Und selbst die, wie die Landesarbeitsgemeinschaft in Hessen, die lange aktiv blieben, taten dies ausserhalb des Bibliothekswesens.) Schulbibliotheken bilden in Deutschland kein «Schulbibliothekswesen», dass irgendwie gemeinsam handeln würde oder gemeinsame Interessen hätte. Dies zu behaupten, heisst einfach nur, Denken aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen auf Schulbibliotheken übertragen zu wollen.

Schlimmer ist aber, was in dem Zitat – und, wie gesagt, seit Jahrzehnten immer wieder neu – als «heterogen» aufgezählt wird. Im Bibliothekswesen werden Schulbibliotheken seit den 1970er Jahren immer wieder in die gleiche Reihenfolge gebracht, die eine Wertigkeit vermittelt:

  1. Zuerst die «richtigen» Bibliotheken, die als Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken so wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren.
  2. Dann die Schulbibliotheken, die zwar von mehreren Einrichtungen betrieben werden, aber die dann – idealtypisch – von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden. Also Netzwerke, in denen andere Einrichtungen akzeptiert werden – beispielsweise Schulen, die Etat geben und inhaltlich einbringen, welche Medien sie benötigen –, aber die von Öffentlichen Bibliotheken dominiert werden.
  3. Dann die weniger akzeptablen «kombinierten» Schulbibliotheken, wo die jeweiligen Schulen einen grossen Einfluss haben. Nicht in dieser Presseerklärung, aber anderswo oft schon, wird das als Kompromisslösung dargestellt, die eigentlich nur als Übergang zu akzeptieren sei.
  4. Und dann erst die selbstständigen Schulbibliotheken, die gar nicht so richtig als Bibliotheken akzeptiert werden. Deshalb stehen sie immer am Ende dieser Aufzählungen. Gerade in älteren Texten werden sie sogar als Notlösung bezeichnet, die es aufzuheben gälte.

Wie gesagt: Die Reihenfolge ist kein Zufall, sie findet sich immer wieder. Die Realität sieht, wie gesagt, ganz anders aus. Die «selbstständige Schulbibliothek» ist der Normalfall und zwar schon «immer». Sie sind sehr divers, aber im Denken des Bibliothekswesens werden sie immer als eine «Anderes»-Kategorie zusammengefasst, über die nur nicht zu viel nachgedacht wird. In älteren Texten wurde sie auch mit solchen Worten wie «noch» als abzuschaffende Form von Schulbibliotheken bezeichnet, die zu ersetzen sei. Die anderen drei Formen von Schulbibliotheken sind die Ausnahme. Aber das bibliothekarische Denken zu Schulbibliotheken beschäftigt sich eigentlich nur mit diesen drei Formen. Als richtige Schulbibliothek wird immer nur die Bibliothek angesehen, die direkt in das Öffentliche Bibliothekswesen eingebunden ist. Je mehr sie davon entfernt scheint – wenn beispielsweise die Schulen ein grosses eigenes Mitspracherecht nutzen –, je weniger wird sie akzeptiert. Es ist ein absonderlicher Blick, bei dem sich im Bibliothekswesen das Recht und das Wissen zugesprochen wird, über Schulbibliotheken entscheiden zu dürfen und zu können und gleichzeitig den anderen Stakeholdern dieses Wissen und Recht tendenziell abgesprochen wird.

Das erstaunliche ist, dass dies seit 1970 immer wieder passiert und auch Projekte, wie jetzt die Eingliederung von Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik, leitet, die immer wieder scheitern. So, als gäbe es keinen Lerneffekt, sondern immer nur diesen einen Pfad, den das Bibliothekswesen immer weiter geht.

Erfahrungen

Das alles ist nicht erst seit Gestern so, sondern schon lange Jahrzehnte. Und seit langen Jahrzehnten gibt es auch Versuche von Seiten des Bibliothekswesens, das zu ändern. Viele sind schon wieder vergessen worden, aber man sollte nicht denken, dass nicht schon alles mögliche versucht wurde. Einige Beispiele:

  • Am Deutschen Bibliotheksinstitut gab es eine Arbeitsgruppe zu Schulbibliotheken, die – übernommen aus einem Vorgängerprojekt – bis 2000 sogar eine eigene Zeitschrift schulbibliothek aktuell publizierte.
  • In verschiedenen Projekten wurden Schulbibliotheken mit Hilfe von Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, komplett mit Weiterbildungen für Lehrkräfte, die lernen sollten, wie die Bibliothek zu managen und wie sie zu nutzen seien.
  • Es wurden immer wieder neue Broschüren darüber aufgelegt, wozu Schulbibliotheken genutzt werden können. Mindestens ein Lehrfilm wurde gedreht (aber er scheint verschollen).
  • Es wurden «Lehrbriefe Schulbibliothek» herausgegeben, die im Selbststudium und in Lehrgängen genutzt werden sollten, um Schulbibliothekspersonal auszubilden.
  • Immer wieder wurden politische Vorstösse unternommen, um in Schulen gut ausgestattete Bibliotheken einzurichten. Und nicht erfolglos: Gerade in Schulen, die für irgendwelche Reformen gegründet wurden, wurden diese auch tatsächlich eingerichtet. Und dann meistens wieder irgendwann geschlossen.3 Einen «Leuchtturmeffekt», der sich oft davon erhofft wurde, scheint nirgends eingetreten zu sein.
  • Ungezählt sind auch die Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken, die tatsächlich irgendwann einmal in den letzten Jahrzehnten in deutschen Schulen eingerichtet, dann aber auch wieder geschlossen wurden. Niemand hat die gezählt, aber es ist wirklich nicht ungewöhnlich, in eine Schule zu kommen, in der eine Lehrkraft eine Schulbibliothek betreibt, die irgendwann mal Zweigstelle war, aber jetzt mit anderen Zielen geführt wird.4 Es würde mich nicht wundern, wenn es heute mehr solcher ehemaligen Zweigstellen gibt als aktive Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken in Schulen.
  • Es ist auch ganz normal, dass Schulbibliotheken zu Schwerpunkten in solchen bibliothekarischen Zeitschriften wie der BuB werden (in zwei Monaten ist das nächste solcher Hefte angekündigt). Es gäbe also eine Ort, wo sich über die Fortentwicklung von Schulbibliotheken Gedanken gemacht werden könnte, aber immer wieder im Bibliothekswesen, nicht im Schulwesen.
  • Auch endlos oft wurden in Öffentlichen Bibliotheken Schulbibliothekarische Arbeitsstellen oder ähnliche Institutionen eingerichtet oder angedacht, solche einzurichten. Die Hinweise darauf sind verstreut, aber es ist nicht ungewöhnlich, beispielsweise in Bibliotheksentwicklungsplänen oder -strategien von solchen Plänen (die dann oft nicht umgesetzt wurden) zu lesen. Was genau diese tun sollten oder sollen ist (wieder) sehr unterschiedlich. Viel öfter aber sind sie, wenn sie je eingerichtet wurden, heute auch schon wieder geschlossen (und oft vergessen) als das sie weiterbestehen.
  • Auch unzählbar sind die Versuche, Personen, die mit Schulbibliotheken zu tun haben, irgendwie zusammenzubringen, ob jetzt unter dem Dach von Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen oder anderswie. Viele diese Versuche haben bestimmt keine sichtbaren Spuren in Dokumenten oder Artikeln hinterlassen. Aber die, es taten, sind über Jahrzehnte verstreut. (Auffällig ist aber, dass die, die über einen längerem Zeitraum bestanden haben, das oft gerade nicht in Verbindung mit dem Öffentlichen Bibliothekswesen taten.)
  • Vollkommen unüberblickbar sind die Abschluss- und Studienarbeiten zum Thema, die an bibliothekarischen Ausbildungsstellen geschrieben wurden, oft mit dem Ziel, zu klären, wie eine gute Schulbibliothek aussehen soll. Hinzu kommen zahllose Seminare im Studium, die manchmal über das Studium hinaus wirkten.

All das ist ohne grössere Probleme zu recherchieren. Die meisten Dokumente dazu liegen mehrfach in Bibliotheken, beispielsweise die gesamte schulbibliothek aktuell. Als Start dieser Entwicklung ist das Jahr 1970 zu nennen, als das Buch «Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung» (Doderer et al.) erschien. Dieses war Teilergebnis eines Projektes – nicht mal im Bibliothekswesens – des Instituts für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Im gleichen Projekt wurde auch die Zeitschrift gegründet, die dann die schulbibliothek aktuell wurde, und die Grundlage für die Arbeitsgruppe gelegt, die dann im Deutschen Bibliotheksinstitut aktiv war. Was das Buch ausmacht, ist, dass hier der Pfad angelegt wurde, auf dem das deutsche Bibliothekswesen bis heute wandelt, wenn es um Schulbibliotheken geht. Die Vorstellung, dass die Schulbibliothek den Konzepten Öffentlicher Bibliotheken folgen soll – und nicht etwa einer eigenen Entwicklung – wurden hier zuerst öffentlich formuliert. Alle Argumente, die seitdem im Bibliothekswesen vorgebracht werden, wenn es darum geht, diese Vorstellung zu untermauern, finden sich in diesem Buch das erste Mal zusammengefasst. Auch die tendenzielle Geringachtung anderer Formen von Schulbibliotheken und die Staffelung von «richtiger» Schulbibliothek (die wie eine Öffentliche Bibliothek funktioniert) bis hinab zu «selbstständigen Schulbibliotheken», die tendenziell abgeschafft werden müssten, ist in diesem Buch angelegt. Das Bibliothekswesen hat seitdem praktisch diesen Pfad immer nur weiter beschritten und ausgetreten, aber die Grundstruktur nicht mehr verlassen. (Zurückgelassen wurde der Kontext der Bildungsreform, in welchem dieses Projekt durchgeführt wurde.)

Im Buch wird zum Beispiel postuliert,

  1. dass die Bibliothek zentral sein soll, das heisst einerseits eine Einrichtung in der Schulen (und nicht verteilt in Klassenräumen) und andererseits ein zentrale Einrichtung in der Schulen, am Besten zentral gelegen.
  2. dass sie eine Einrichtung sein muss, in der Unterricht und selbstständiges Lernen stattfindet und dass sie auf den Unterricht ausgerichtet sein muss.
  3. dass sie von ausgebildetem Personal geleitet werden muss (im Buch heisst es «sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren»; aber da es diese Ausbildung in Deutschland gar nicht gibt, wurden daraus in der bibliothekarischen Literatur schnell ausgebildete Bibliothekar*innen).
  4. dass der Bestand modern und auf den Unterricht ausgerichtet sein soll (das schliesst dann auch die je aktuellen Medienformen ein) und dass eine Schulbibliothek relevant mehr Medien pro Schüler*in vorhalten müsse als eine Öffentliche Bibliothek pro potentielle*r Nutzer*in.
  5. dass die Katalogisierung und Aufstellung einheitlich sein soll, damit alle Schulbibliotheken ein Netzwerk bilden können.

Das sind alles Argumente, die seit 1970 immer und immer wieder vorgebracht werden, wenn auch manchmal umformuliert. Wenn in der oben angeführten Presseerklärung des dbv die Rede davon ist, dass Schulbibliotheken durch die Eingabe ihrer Daten in die Bibliotheksstatistik «ihr Bildungspotential sichtbar» machen können sollen, ist das nur eine aktuelle Fassung der Idee, dass sie vor allem für Bildung (und im Schulbereich dann Unterricht und Selbstbildung) zuständig seien. Auch die Vorstellung, dass man die Arbeit von Schulbibliotheken durch bibliothekarische Kennzahlen – selbst wenn diese, wie das wohl der Fall sein wird, angepasst werden – ausgedrückt werden kann, ist nur eine Fortschreibung der Idee, dass sei von ausgebildeten Schulbibliothekar*innen auf die immer gleiche Weise geführt werden müssten, um richtige Schulbibliotheken zu sein.

Das ist alles nicht durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte untermauert. (Aber: Auch das ist ein Teil dieses Pfades. Schon im Buch wurden die Aussagen nicht theoretisch oder mit Daten untermauert. Vielmehr wurde gesagt, dass müsste so sein; ausserdem gäbe es andere Ländern, in denen es so wäre und es wäre schlimm, dass in Deutschland nicht so sei.)

  • Eine Erfahrung, die sich durch die ganzen Jahrzehnte zieht, ist, dass das Bibliothekswesen schon in der Lage ist, Bibliotheken nach eigenen Vorstellungen in Schulen einzurichten, solange es die dafür notwendigen Mittel (Etat und Personal) mitbringt. Dann werden sie oft (nicht immer) in Schulen akzeptiert. Aber wenn diese Mittel nicht mehr da sind (weil das Projekt zu Ende ist oder wenn der Etat der Bibliotheken gekürzt wird), dann führen die Schulen die Bibliotheken nicht so weiter, wie das Öffentliche Bibliotheken machen. In vielen Schulen werden die Bibliotheken dann geschlossen, was bedauert wird, aber nicht so sehr, dass sich so eingesetzt wird, dass sie doch irgendwie weiterlaufen. (Das passiert auch: Bibliothekar*innen sind mehrfach aus dem Bibliothekswesen ausgeschieden und vollständig aus einem Schuletat finanziert worden, um Bibliotheken fortführen zu können. Aber immer nur in Ausnahmefällen.) In anderen Schulen werden die Schulbibliotheken weitergeführt, aber verändert. Kataloge werden nicht weitergeführt, der Bestand wird verändert (oder nicht verändert, sondern über Jahre einfach weitergenutzt, aber nicht ergänzt).
  • Alle Beratung durch das Bibliothekswesen, alle Projekte und so weiter führen nicht dazu, dass Schulen ihre Bibliotheken einfach so nach den Vorstellungen des Bibliothekswesens umgestalten. So oft auch Bibliotheken davon schreiben, dass Bibliotheken Unterrichtsort werden oder Plätze für Hausaufgaben und selbstgesteuertes Lernen einrichten sollen, so oft wird das von Schulen nicht wahrgenommen oder wahrgenommen, aber ablehnt. Der einzige überzeugende Weg ist in den letzten Jahrzehnten immer nur der gewesen, dass das Bibliothekswesen selber Mittel zum Betrieb einer Schulbibliothek zur Verfügung stellt.
  • Die Behauptungen über Schulbibliotheken, die im Bibliothekswesen gemacht werden, wandeln sich kaum. Sie werden immer wieder einmal neu formuliert (und der Aspekt der Demokratisierung, welcher im genannten Buch von 1970 wichtig war, wurde fallengelassen). Aber es bleibt immer bei diesen Behauptungen. Zu erwarten wäre, dass das Bibliothekswesen losgeht und die Zusammenhänge, die es behauptet – beispielsweise das gut ausgestattete Schulbibliotheken zu besserem Lernen führen würden – untersucht (und dann aus diesen Untersuchungen lernt). Aber das passiert nicht. Stattdessen werden die gleichen Argumente, die schon vorher keinen Erfolg hatten, wiederholt. Das sie offenbar nicht überzeugen (was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie nicht stimmen), ändert dies nicht.5 Stattdessen werden neue Projekte aufgelegt, um Schulen dazu zu bringen, ihre Bibliotheken nach bibliothekarischen Vorstellungen zu gestalten.
  • Immer weiter findet das meisten «Leben» von Schulbibliotheken ausserhalb des Bibliothekswesens in den Schulen selber statt. Aber – das eine weitere Erfahrung über die letzten Jahrzehnte – die Erfahrungen aus diesen Schulbibliotheken werden gar nicht erst gesucht, auch das Wissen aus Schulen interessiert im Bibliothekswesen nicht.6 Die Erfahrung ist, dass das Bibliothekswesen die anderen Stakeholder immer wieder disqualifiziert oder ganz ignoriert.

Die Bibliotheksstatistik als weiterer Schritt auf dem gleichen Pfad

Die Entscheidung, Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik aufzunehmen, ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Pfad. Wieder wird so getan, als sei es die Aufgabe des Bibliothekswesens – des kleinsten und unerfolgreichsten Stakeholder – über die Schulbibliotheken zu bestimmen und ihre Entwicklung vorzugeben. Die bibliothekarische Wertigkeit – eine richtige Schulbibliothek ist nur eine, die bibliothekarischen Vorstellungen folgt, alle anderen sind Kompromisse – wird so wieder einmal hergestellt.

Weil, was wird wohl passieren? Ersteinmal sind die Schulbibliotheken, die Zweigstellen Öffentlicher Bibliotheken sind, schon in der Bibliotheksstatistik enthalten. Für die ist dieser Schritt nichts. Die anderen Schulbibliotheken, die sich die Arbeit machen werden, sich in die Bibliotheksstatistik einzutragen, werden die sein, die ansonsten sehr nahe an der Öffentlichen Bibliothek sind – vielleicht einige der «aufgegebenen» Zweigbibliotheken, die vollständig von Schulen übernommen wurden.

Aber die anderen Bibliotheken? Mal abgesehen davon, dass die mit hoher Wahrscheinlichkeit nie von dieser Statistik hören werden, würden sie gar nichts davon haben, sich diese Arbeit zu machen. Öffentliche Bibliotheken, die ihre Daten an die Bibliotheksstatistik abliefern, haben den Vorteil, dass sie so in ihrer Identität als Öffentliche Bibliothek bestätigt werden (und theoretisch die Daten nutzen können, um sich zu vergleichen und so weiter, aber ob das passiert, ist eine andere Frage) – eine richtige Öffentliche Bibliothek führt eine Statistik und nimmt an der Bibliotheksstatistik teil. Doch Schulbibliotheken, die gar nicht der Vorstellung folgen, dass sie wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren sollten, würden ihre Realität gar nicht in einer solchen Statistik abbilden können – und selber wenn, gar keinen Mehrwert daraus ziehen können. Müssen sie auch nicht, weil sie gar nicht Teil eines «Schulbibliothekswesens» sind, das über solche gemeinsamen, geteilten Strukturen zusammengehalten wird.

Man darf nicht glauben, dass das diesmal anders gemacht wurde, als bei den anderen Projekten der letzten Jahrzehnte: Wieder wurde vom Bibliothekswesen aus definiert, was eine Schulbibliothek sein soll und damit auch, was sie nicht sein darf. Man muss in der Presseerklärung des dbv nur nach den Vertreter*innen suchen, die eine andere Position hätten einbringen können, beispielsweise solche aus Schulen oder Landesarbeitsgemeinschaften:

An der Arbeitsgruppe der dbv-Kommission Bibliothek & Schule zur Einrichtung der entsprechenden statistischen Abfrage waren beteiligt: Irene Säckel von der Stadtbücherei Frankfurt am Main, Frank Raumel vom Medien- und Informationszentrum Biberach, Ira Foltin, Gaby Heugen-Ecker und Therese Nap von der DBS-Redaktion des Hochschulbibliothekszentrums des Landes NRW sowie Dr. Ulla Wimmer von der Humboldt Universität zu Berlin.

Es gab sie nicht – wieder einmal. Hier haben wieder einmal Bibliothekar*innen, eine Bibliothekswissenschaftlerin und Vertreter*innen das Anbieters der Bibliotheksstatistik über Einrichtungen entschieden, die zumeist gar keinen Kontakt zum Bibliothekswesen haben. Deshalb werden in der Statistik bestimmt Werte abgefragt, die im Alltag der Schulbibliothek gar keine Rolle spielen. (Das Beispiel mit dem Katalog weiter oben ist da nur das sichtbarste. Die Anzahl der Medien ist beispielsweise für eine Schulbibliothek nicht unbedingt wichtig, wenn ihr Hauptfokus der ist, dass die Schüler*innen sich aus dem Schulalltag zurückziehen können. Aber die Statistik wird verlangen, dass die vorhandenen Medien gezählt werden, nicht wie viele Schüler*innen sich in den Raum Schulbibliothek zurückziehen.)

Wieder wird versucht, der Realität ein bibliothekarisches Verständnis von Schulbibliotheken überzustülpen. Das wird genauso wenig funktionieren, wie alle anderen dieser Versuche. Was mich verwundert ist, dass es immer noch passiert. Das Bibliothekswesen betrügt sich einfach selbst und tut so, als könnte es über Schulbibliotheken bestimmen, während die Schulen weiter an ihm vorbei handeln werden. (Was heisst, es ist eher ein Problem des Bibliothekswesens und man könnte es dabei belassen. Wäre es nicht gleichzeitig so unverschämt gegenüber all den Aktiven in den Schulbibliotheken, die vom Bibliothekswesen als «nicht so richtig schulbibliothekarisch arbeitend» disqualifiziert werden.)

Ein besserer Pfad

Ich hatte oben gesagt, dass ich das Thema Schulbibliotheken hinter mir gelassen habe. Nie wollte ich Schulbibliotheken oder anderen Personen sagen, was sie zu tun haben (ausser sie fragen), sondern ich wollte diese wunderbar amorphe Einrichtung «Schulbibliothek» verstehen. Aber wenn ich schon so geschockt bin, dass ich doch nochmal auf das Thema zurückkomme, vielleicht doch einige Worte. Das Bibliothekswesen könnte anders handeln und sollte es auch. Ansonsten wird es nur noch weiter Projekte dieser Art aufsetzen, die es dann nur weiter bestätigen werden, dass «auch mal was für die Schulbibliotheken getan werden muss».7

  1. Das Bibliothekswesen muss endlich von seinem hohen Ross absteigen (und den eingetretenen Pfad verlassen): Schulbibliotheken sind nicht Teil des Bibliothekswesens, sondern eine eigene Form von Einrichtungen, über deren Aufgaben, Arbeit und Entwicklung nicht das Bibliothekswesen entscheiden kann. Sie sind keine kleinen Öffentlichen Bibliotheken, ausser dann, wenn das Bibliothekswesen die dafür notwendigen Ressourcen stellt. Anstatt die Schulbibliotheken zwanghaft in das Bibliothekswesen integrieren zu wollen, sollten sie als eigene Bibliotheksform verstanden und behandelt werden. (Öffentliche Bibliotheken wollen ja auch den Gefängnisbibliotheken, Museumsbibliotheken, Gerichtsbibliotheken und so weiter nicht vorschreiben, was ihre Aufgaben sein sollen. So müsste es auch mit Schulbibliotheken sein.)
  2. Das Bibliothekswesen weiss nicht, was eine richtige und funktionierende Schulbibliothek ist. Es weiss noch nicht mal, ob und wie die Schulbibliotheken, die es selber betreibt, eigentlich wirklich funktionieren. Das sollte akzeptiert und dann davon aus weitergegangen werden. Auf der einen Seite wäre es sinnvoll, die ganzen Argumente, die immer wieder gemacht werden, ernsthaft zu untersuchen: Sind diese kleinen Öffentlichen Bibliotheken in Schulen wirklich für einen besseren Unterricht, selbstgesteuertes Lernen, Hausaufgaben und so weiter relevant? Wie soll das funktionieren? Welche Daten gibt es dazu (Daten, nicht Behauptungen oder hübsche Bilder)? Oder übernehmen sie ganz andere Aufgaben? Das wäre die einfache Seite. Die schwierige wäre für das Bibliothekswesen wohl zu akzeptieren, dass in den meisten Schulen mit Bibliotheken diese Schulbibliotheken andere Aufgaben haben, als sich die Öffentlichen Bibliotheken vorstellen und das sie deshalb auf diese Aufgaben ausgerichtet arbeiten – und das das okay ist. (Eine Kleinigkeit, die mich auch früher schon immer irritiert hat, und die man leicht ändern könnte: Das die Kommission im dbv «Bibliothek & Schule» heisst, also die Bibliothek nach vorne stellt, obwohl Schulbibliotheken viel eher von Schulen bestimmt werden und das in ihr überhaupt keine Vertreter*innen aus Schulen zu finden sind. Wäre ich Schulleiter, ich würde das nicht ernst nehmen können. Der Namen sollte geändert und der ständige Kontakt zu Vertreter*innen von Schulen gesucht werden.)
  3. Das Bibliothekswesen muss akzeptieren, dass es nur ein Stakeholder – und dann auch noch nicht der wichtigste – ist, wenn es um Schulbibliotheken geht. Insbesondere dann, wenn es (wie in den meisten Fällen) gar keine Ressourcen für Schulbibliotheken mitbringt. Es mag sein, dass man das ändern will, weil man gehört hat, dass dies in anderen Ländern anders wäre8 – aber das wäre eine Entscheidung auf Ebene der Bildungspolitik und lässt sich nicht erwirken, indem man immer so tut, als wäre man selber wichtiger als die anderen Stakeholder.
  4. Das Bibliothekswesen sollte aus den vergangenen Projekten lernen: Schulen sind nicht mit den immer gleichen Argumenten zu überzeugen, Bibliotheken nach Vorstellungen des Bibliothekswesens einzurichten. Die Bildungspolitik ist so auch nicht zu überzeugen, dass Schulwesen so zu ändern, dass Schulbibliotheken in jeder Schule notwendig werden. (Die lokale Politik manchmal schon.) Die Engagierten in den Schulbibliotheken sind so auch nicht zu überzeugen.
  5. Was auch auffällt, weil immer nur der gleiche Pfad weitergegangen wird, ist, dass bei den ganzen Texten, Vorträgen und so weiter im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken die konkreten Schulen und die Entwicklungen, die in ihnen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, praktisch nicht auftauchen. Es ist eine von der schulischen Praxis (und der Erziehungswissenschaft) oft ganz losgelöste Debatte. Das sollte aufhören. Schulen haben sich verändert und es ist – nur ein Beispiel – heute normal, das Unterricht als Arbeit in Laboren und Projekten stattfindet. Es gibt in vielen Schulhäusern zahlreiche Lernorte, an denen Schüler*innen selbstbestimmt arbeiten, inklusive der Umstellung des Unterrichts von Wissensvermittlung zu Kompetenzentwicklung. Aber man wüsste es nicht, wenn man bibliothekarische Texte über Schulbibliotheken liest. Da sieht es so aus, als wäre die Schulbibliothek der einzige Ort, wo selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Das muss sich ändern, so oder so. Das Bibliothekswesen muss wahrnehmen, wie Schulen heute funktionieren, wenn es irgendwelche Aussagen über Schulbibliotheken machen will.

***

Fussnoten

1 Ich sage hier Deutschland, um es abzukürzen. Aber historisch ist es selbstverständlich so: Von 1970 bis 1990 meint das die BRD, danach tendenziell Deutschland inklusive der «neuen Bundesländer», obwohl es immer auch Traditionen aus der DDR gab, die länger vorhielten, auch im Bibliothekswesen. Anderswo habe ich auch dargestellt, wie die Vorstellungen über Schulbibliotheken aus der BRD einige Jahre später in der Schweiz rezipiert wurden. Aber dort sind sie wieder auf andere Traditionen und Realitäten getroffen, hatten dann auch eine andere Wirkung. Wie immer bei der Entwicklung von Bibliothekswesens gilt auch hier: Es gibt gegenseitige Beeinflussungen, aber grundsätzlich ist die Entwicklung doch je Land unterschiedlich. Insoweit geht es in diesem Beitrag nicht um den DACH-Raum, sondern um Deutschland.

2 Es gibt, wie ich in der Schweiz gelernt habe, auch Traditionen dabei, was als Aufgaben einer Schulbibliothek angesehen wird, die lange existieren können.

3 Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch, dass in alle Oberstufenzentren, die in den späten 1970ern in Berlin gegründet wurden, eine Bibliothek inklusive Personalstelle eingerichtet wurde und dann, als ich 2005/2006 meine Magisterarbeit schrieb, gerade noch die letzte Bibliothekarin in der letzten dieser Bibliotheken «erwischte», die gerade in Rente ging und deren Bibliothek dann, als letzte, auch geschlossen wurde.

4 Solche Bibliotheken haben dann oft noch Bibliothekstechnik aus den Jahren, in denen sie zuletzt Teil der Öffentliche Bibliothek waren, in der Ecke stehen. Sie wird dann nicht mehr benutzt, aber weggeworfen wird sie auch nicht.

5 Eine Zeit lang wurden auch in der deutschen bibliothekarischen Literatur sogenannte «school library impact studies» aus den USA zitiert, in den angeblich gezeigt worden wäre, dass Schulbibliotheken eine positive Wirkung auf die Noten der Schüler*innen in den jeweiligen Schulen hätten. Aber einerseits stimmte das so nie – nicht nur ist das Schulwesen in den USA anders als in Deutschland, auch nannten die meisten Studien für gut ausgestattete Schulbibliotheken Minimalwerte, die in Deutschland nirgends erreicht werden und waren die Studien selber nicht frei von Bias – und überzeugte auch nicht gross ausserhalb des Bibliothekswesens. Andererseits ist das verstummt, jetzt, wo es auch in den USA immer mehr Schulen ohne Schulbibliothek und ohne Schulbibliothekspersonal gibt (obwohl es die Studien weiterhin gibt).

6 Immer wieder kann man von Engagierten aus Schulbibliotheken und Landesarbeitsgemeinschaften Geschichten hören, wie sie von Vertreter*innen des Bibliothekswesens von Beratungen ausgeschlossen oder so behandelt wurden, als hätten sie keine Ahnung von Schulbibliotheken – nicht immer und von allen, aber doch regelmässig. Erstaunlich ist auch, dass die schulbibliothek aktuell zwar in der Vorgängerzeitschrift der heutigen kjl&m aufgegangen ist, die bis heute deshalb den Untertitel forschung.schule.bibliothek führt, aber das es keinen Kontakt mehr zwischen der Redaktion dieser Zeitschrift und den Vertreter*innen im dbv gibt, welche die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik vorangetrieben haben.

7 Ein Satz, den ich so oft in meiner «aktiven» Zeit gehört habe: Immer wieder wird sich im Bibliothekswesen – auch von Kolleg*innen, die schon lange dabei sind – vorgestellt, man würde am Anfang einer Entwicklung von Schulbibliotheken stehen, man hätte mit dem Projekt XYZ Neuland betreten, obwohl es immer wieder die gleiche Geschichte ist und immer wieder das gleiche Ergebnis schon zu Beginn angelegt ist. So, als hätte es die ganzen Projekte seit 1970 nicht gegeben.

8 Wobei das oft auch so nicht stimmt, wenn man genau schaut. In meiner aktiven Zeit habe ich oft gehört, in den USA wären die Schulbibliotheken Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens – aber, plot twist, in der Realität bilden sie dort ein eigenes (schrumpfendes) Schulbibliothekswesen mit eigener Ausbildung, eigenen Medien, eigenen Verbänden und Strukturen. Sie arbeiten mit den Öffentlichen Bibliotheken zusammen, aber Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sind sie gerade nicht.

Was mich eigentlich an Bibliotheksgeschichte (seit 1870-1880) interessiert: Der Diskurs

Von der Geschichte der Bibliotheken interessiert mich vor allem die Zeit, welche “jüngere Geschichte” genannt wird, also vielleicht seit 1870-1880 bis heute. Und dabei gar nicht so sehr die Bauten, Bestände und so weiter, sondern noch viel mehr die Diskussionen, Beiträge, Behauptungen, Selbstdarstellungen, die sich in den bibliothekarischen Medien finden. Eines der Dinge, das mich hierbei thematisch besonders anzieht, ist diese Ungleichzeitigkeit von ständig wiederholten Themen, Behauptungen, Ängsten, Hoffnungen, Voraussagen auf der einen Seite und der dann doch feststellbaren Entwicklung: Auf der einen Seite ist es wirklich einfach zu zeigen, das bestimmte Themen, Behauptungen, Ideen über die Jahrzehnte hinweg immer wieder aufgenommen werden (und das seit einigen Jahrzehnten immer wieder mit dem Gestus, jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, sei das eine neue Idee, eine neues Thema, eine neue Entwicklung – so, als wäre nicht mehr bekannt, was schon in den Jahrzehnten zuvor thematisiert wurde), ohne das sie sich gross zu verändern scheinen, sondern als hätte man sie einfach nur dem zeitlichen Umständen (zum Beispiel der Technikentwicklung) angepasst. Auf der anderen Seite entwickelt sich aber doch immer wieder etwas. Einige Themen tauchen dann doch auf einmal wirklich neu auf, einige Debatten enden tatsächlich, manchmal ganz abrupt, ohne grosse Thematisierung.1 Und das dann oft gerade bei Themen, bei denen man es den Darstellungen in den Beiträgen selber gar nicht vermuten würde. Vieles, was als “modern”, “zeitgemäss” oder ähnlich beschrieben wird, wurde so oder ähnlich schon vorher gesagt,2 dafür verschieben sich andere Themen, obgleich der Titel beibehalten wird3 und wieder andere Dinge enden tatsächlich.4 Und einige wenige sind wirklich neu.5

Es ist wirklich einfach, wenn man sich nur einmal in ein paar der älteren bibliothekarischen Zeitschriften und Schriftenreihen einarbeitet, dem Bibliothekswesen vorzuwerfen (oder auch zu zeigen), dass es eigentlich fast keine Ahnung von der eigenen Geschichte hat.6 Es ist auch einfach, genervt zu werden, von den ganzen Behauptungen und Gedanken, die als neu präsentiert werden oder den teilweise onmipräsenten “Innovation”, “neu denken”, “modern”, “zeitgemäss”-Behauptungen, die den heutigen bibliothekarischen Diskurs prägen. (Und auch von den paar Beiträgen, die sich selber als dazu konträr verstehen, aber dann meist einfach nur ältere Zukunftsvisionen präsentierten.)

Aber es ist auch spannend, wenn man das immer und immer wieder erlebt. Und von diesem Punkt aus geht es dann nicht mehr darum, jemand zu zeigen, dass sie Unrecht haben mit ihrem Gefühl, neu und einmalig zu sein oder auch nicht darum, dass bestimmte Behauptungen und Argumente einfach absurd werden, wenn sie jahrzehntelang gemacht werden, ohne das sie zu Veränderungen führen. Das ist alles möglich, aber mich interessiert das eher als Geschichte, die den Fragen folgt: Was passiert hier? Wieso gibt es solche ungleichzeitigen Bewegungen? Was wird “vergessen” und “neu gedacht” und was nicht? Was ist das gleiche Argument wie das vor Jahrzehnten schon gemacht wurde, nur in einem anderen Kontext, und was ist wirklich eine Entwicklung? Wie funktioniert das, dass Personen sich nicht (mehr) auf frühere Beiträge beziehen, aber doch das gleiche sagen? (Das hat dann gewiss mit Strukturen zu tun, die sich nicht so gross verändern, aber welche Strukturen? Die der Bibliotheken, die der Gesellschaft?)

Vor allem aber fasziniert mich die Frage: Was sind die diskursiven “Aufgaben” dieser Beiträge und Behauptungen für die Bibliotheken und / oder die Identität Bibliothek / Bibliothekarin / Bibliothekar? Müssen die gemacht werden, um sich selber als “moderne Bibliothek” zu entwerfen?7 Das ist der Hauptgrund, warum ich gerade intensiv vor allem das schweizerische Bibliothekswesen (Fernleihe aus Magazinen des ganzen Land nach Chur) nutze und mir nach und nach all die älteren bibliothekarischen Publikationen, die irgendwie greifbar sind, schicken lasse (falls jemand meinem Twitter-Account folgt und sich fragt, wo die ganzen Bilder aus diesen Zeitschriften herkommen).8

Ein Beispiel

Mir ist klar, dass diese Ausführungen ein wenig im Ungefähren hängen. Ich will sie deshalb hier einmal an einem ausgewählten Text aufzeigen. Thema: Schulbibliotheken. Der Text erschien 1909 im Zentralblatt für Bibliothekswesen. Das hat den Vorteil, dass er digitalisiert vorliegt (was nur bei wenigen bibliothekarischen Medien der Fall ist, auch das Zentralblatt ist nur bis 1926 frei zugänglich.) Gleichzeitig sind alle am Text irgendwie Beteiligten jetzt lange tot, insoweit ist nicht zu erwarten, dass bestimmte Kontinuitäten daher kommen, dass einfach die gleichen Personen immer noch das sagen, was sie schon vor einigen Jahren sagten.

Der Text ist folgender: Valfrid Palmgren: Der Ferienkurs für Schulbibliothekare im Sommer 1908 zu Stockholm. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 26 (1909) 5, 202-209, http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000269212

Palmgren, Bibliothekarin (die erste) an der Königlichen Bibliothek in Stockholm, berichtet im Text, wie der Titel darlegt, von einem Kurs für Personen, die Schulbibliotheken leiten oder leiten sollen. Der Begriff “Schulbibliothekare” ist dabei weit gedehnt, hier meint er eigentlich Lehrpersonen (männlich und weiblich), die Schulbibliotheken betreiben sollen. Der genannte Ferienkurs war auch kein kleiner. Er umfasste zwei Wochen mit jeweils vier Stunden “Vorlesung” und zwei Stunden Besuchen in Bibliotheken oder Diskussionen. (Palmgren 1909: 205) Insoweit war er Arbeit.

Kontinuität: Schweden, USA

Warum wird aber ein Text aus Schweden in einer deutschen Zeitschrift publiziert? Er ist – soweit ersichtlich – keine Übersetzung, sondern explizit für das Zentralblatt geschrieben. Einerseits war Palmgren eine gebildete Frau, die wohl zahlreiche Sprachen beherrschte, insoweit ist es nicht verwunderlich, dass Sie auch Deutsch sprach. Das mag das Entstehen dieses Textes erleichtert haben. Andererseits aber findet sich hier schon eine Tradition, die sich in deutsch-sprachigen Bibliothekswesen seit langem zeigen lässt: Es wird immer wieder in die gleichen Länder geschaut, um sich darüber zu informieren, wie die Bibliotheken sich wohl entwickeln werden.9 Immer und immer wieder wird nach Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland (also Skandinavien, gerne auch zusammen) geschaut, manchmal zusätzlich in die Niederlande, die zum gleichen Kreis gezählt werden. Sonst in die USA und Grossbritannien. Andere Länder kommen auch vor: in den 1970ern wird erstaunlich oft auch aus der BRD und der Schweiz in die Sowjetunion geschaut, andere Länder, beispielsweise Frankreich oder Kanada, finden sich sporadisch. Nur ganz selten Länder aus dem globalen Süden. Aber was auffällt ist, dass diese Dreiheit Skandinavien (inklusive Dänemark), USA und Grossbritannien immer wieder angeschaut und besucht wird, um etwas über die vermeintliche Zukunft der Bibliotheken zu erfahren; die anderen Ländern werden eher als interessante, aber doch andere Wege des Bibliothekswesens vorgestellt. Eher zum Anschauen als zum Lernen. Insoweit überrascht es aber auch nicht, dass schon 1908, als das Produzieren von Zeitschriften weit teurer und arbeitsintensiver war als heute, ein Text gerade aus Schweden eingeworben und ihm Platz eingeräumt wurde.

Man kann vermuten, dass auch die damalige Redaktion des Zentralblatts die Entwicklungen in Schweden als Vorboten dafür verstehen wollten, was wohl möglich ist (Vorbild) und was in der Zukunft für das Bibliothekswesen zu erwarten wäre.10

Bezeichnend ist aber, dass Palmgren selber in ihrem Kurs das US-amerikanische Bibliothekssystem als Beispiel gewählt hatte, welches sie länger diskutierte. Sie verteidigt dies explizit und zwar mit Worten, die eine Überzeugung vermitteln, welche zum Teil bis heute mitschwingt, aber selten so direkt geäussert werden, wenn dieses Bibliothekssystem besprochen wird:

„Mancher wird sich wohl darüber wundern, dass ich von dem Stundenplan des Kursus so viele Stunden amerikanischen Bibliotheksverhältnissen gewidmet habe, doch glaube ich dazu Gründe genug gehabt zu haben. Einesteils nimmt das Bibliothekswesen in keinem anderen Lande eine solche Stellung zur Erziehungs- und Unterrichtsfrage ein wir in der Vereinigten Staaten, andernteils gewinnt man durch das Studium des dortigen Bibliothekswesens einen riechen Vorrat an erhöhtem Interesse für Fragen dieser Art, einen weiteren Blick für die Tragweite der Aufgabe der Bibliotheken zum Heile der Gesellschaft und schliesslich Enthusiasmus für den Beruf.” (Palmgren 1909: 208)

Palmgren scheint der Meinung zu sein, diese Wahl verteidigen zu müssen. Das hat sich seitdem massiv verändert. Aber sie steht wohl am Anfang einer bis heute wirkenden Tradition, sich beständig mit dem Bibliothekswesen in den USA auseinanderzusetzen, nicht nur in den skandinavischen Staaten, sondern gerade in den deutsch-sprachigen, offenbar in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was dem eigenen Bibliothekswesen fehlen würde.11

Kontinuität: Wer soll die Schulbibliothek führen: Lehrpersonen oder BibliothekarInnen?

Ein Thema, welches ganz am Anfang des Textes von Palmgren besprochen wird, ist die Frage, wer eigentlich das Personal in den Schulbibliotheken stellen soll. Ihre Argumentation ist die Folgende: In Schweden(1909, nicht heute) würden quasi alle Schulbibliotheken von Lehrpersonen geführt, immer neben ihrer eigentlichen Arbeit und immer mit grossem Engagement. Das Engagement lobt sie. Besser wäre aber, wenn bibliothekarisch ausgebildetes Personal die Schulbibliotheken führen würde, weil nur dann wirklich das Potential dieser Einrichtungen ausgenutzt werden könnte. Langfristig müsse man dahin kommen. Aber realistisch sei es jetzt erst einmal, das interessierte und engagierte Lehrpersonal weiterzubilden. Das sei besser als nichts.

Diese Argumentation findet sich über die Jahrzehnte in der bibliothekarischen Literatur immer wieder, wenn auch in der (anderen) deutschsprachigen erst ab den 1970er Jahren. Es scheint ein Schritt mit dem Wunsch der Professionalisierung zu sein.

  1. Es wird unterstellt, dass auch Schulbibliotheken nur dann richtig sinnvoll wären, wenn sie bibliothekarisch geführt würden. Dies wird praktisch nicht weiter begründet, sondern als gegeben vorausgesetzt. Bei Palmgren ist dies nur sehr auffällig: Sie stellt erst dar, dass die Schulbibliotheken auch so „irgendwie” funktionieren, was auch darauf hindeutet, dass sie anders, als unter einem explizit bibliothekarischen Blickwinkel angesehen und geführt werden könnten. Vielleicht ist der pädagogische Blick ausreichend? Vielleicht sind bestimmte bibliothekarische Annahmen in der Realität gar nicht stimmig? Das wird gar nicht diskutiert.
  2. Diese Behauptung macht es dann aber auch unnötig, richtig darzulegen, wie denn diese bibliothekarische Arbeit aussehen soll und welchen Mehrwert sie für die Schulbibliothek bringen soll. Es wird einfach von nicht ausgenutzten Potentialen ausgegangen – und vorausgesetzt, dass die Leserinnen und Lesern auch von diesen ohne weitere Begründung überzeugt sind – und dann werden die Schulbibliotheken, die solche Potentiale umsetzen wollten, eigentlich sich selber überlassen.
  3. Was mit dieser Argumentation einhergeht, ist die diskursive Aufteilung in mindestens zwei Formen von Schulbibliotheken: die richtigen, bibliothekarisch geführten und die anderen, nicht so richtig richtigen Schulbibliotheken. Diese Zweiteilung stellt dann das Bibliothekswesen auf die Seite der „richtigen” Schulbibliotheken und auch die Aufgabe, die anderen Schulbibliotheken zu beraten. Solange sie sich beraten lassen, werden sie dann auch für den Moment akzeptiert. Aber das ist Rhetorik, kein Beweis und auch kein Frage, ob die Lösungen, die in den „anderen” Schulbibliotheken gefunden worden sind, nicht auch richtig sein könnten. Durch diese Zweiteilung ernennt sich das Bibliothekswesen zu der Seite, die weiss, was richtig ist für Schulbibliotheken. Das das Schulwesen den gleichen Anspruch erheben könnte, ist gar nicht vorgesehen. Und damit dann auch nicht, den eigenen Anspruch überhaupt zu überprüfen. So funktionieren Diskurse: Durch solche Aussagen, die Abgrenzungen treffen, werden Ansprüche, Aufgaben, Zielsetzungen verteilt, Hierarchien erstellt, bestimmte Dinge „entstehen” als Wahrheit und andere, mögliche Wahrheiten werden praktisch undenkbar.
  4. Im Gegensatz zu späteren Texten, die solche Unterschiede oft nur postulieren und in denen offenbar davon ausgegangen wird, dass sie bekannt sind, nennt Palmgren ein konkretes Beispiel für den Unterschied zwischen den beiden „Formen” der Schulbibliothek: Den Katalog. „[Persönliche Besuche in Schulbibliotheken, K.S.] bestärkten mich in der Ueberzeugung, dass die Katalogisierung und was damit zusammenhängt, den Schulbibliothekaren stets die grösste Mühe bereitet.” (Palmgren 1909: 206) Das ist auch heute noch so: Im Bibliothekswesen wird Wert auf einen Katalog gelegt, der bibliothekarisch geführt ist (viele Texte wurden geschrieben, nur um zu erklären, wie ein solcher angelegt und gepflegt werden kann), in den Schulbibliotheken findet sich praktisch nie so ein Katalog. Selbst wenn Katalogsoftware genutzt wird (was auch nicht normal ist, viele Schulbibliotheken haben Bestandslisten als Excel-Tabelle oder gar keine Kataloge, und selbst wenn sie einen haben, sind Kataloge oft nicht für die Nutzerinnen und Nutzer offen), geht das nicht leicht von der Hand, viele Regeln und zu füllende Felder bleiben unbeachtet. Das ist ein Hinweis darauf, dass über die Funktion eines Katalogs in Schulbibliotheken nachzudenken wäre: Bedarf es eines Katalogs? Welcher Form? Wie viel Arbeit muss in den Katalog gesteckt werden, damit er sinnvoll ist? Wenn die Aufstellung im Raum oder die einfach Liste mit Suchfunktion die gleichen Aufgaben erfüllen kann, was ist dann der Sinn tieferer (und arbeitsreicherer) Katalogisierung? Durch Palmgrens Setzung werden solche Fragen aber praktisch unmöglich. Die Schulbibliothek, wenn sie als richtige Schulbibliotheken gelten soll, muss einen bibliothekarische geführten Katalog haben. Punktum.

Seit den 1970er Jahren lässt sich dieser Diskurs, der bei Palmgren angelegt ist, auch in den Positionen und Veröffentlichungen des restlichen deutschsprachigen Bibliothekswesen nachweisen. Zuvor wurde eher akzeptiert, dass Schulbibliotheken von Lehrpersonen geführt wurden (auch wenn es davon Ausnahmen gab), danach nicht mehr wirklich. Der Anspruch ist aber selbstverständlich nur solange halten – auch weil er nicht nachgewiesen, sondern einfach nur aufgestellt ist –, solange andere Gruppen ihn akzeptieren (Schulen; die Lehrpersonen in den Bibliotheken oder – wie sich später zeigte – andere Personen, welche die Schulbibliotheken führen, Ehrenamtliche, Schülerinnen und Schüler; Schulverwaltungen und Politik). Das dies nicht immer der Fall ist, scheint Bibliotheken wenn überhaupt wahrgenommen, eher für Verwunderung zu sorgen. In einem solchen Fall wird weiterhin der Wunsch geäussert, dass sich das in Zukunft ändern müsste.

Komplizierter geworden ist seit Palmgrens Text, dass heute auch andere Akteurinnen und Akteure mit einem ähnlichen Anspruch auftreten. Oft scheint es so, als würden die Lehrpersonen in den Schulen einfach das Bibliothekswesen mit seinen Ansprüchen ignorieren und machen, was sie richtig finden. Aber einige der Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken, die heute in Deutschland existieren, werden auch von Personen getragen, die Schulbibliotheken leiten, auch ohne bibliothekarische Ausbildung, die aber aufgrund dessen, dass sie es tun, einen guten Anspruch darauf formulieren können, dass sie auch wissen, wie das geht, eine Schulbibliothek führen. Das ist bei Palmgren nicht vorgesehen. Und es scheint auch im Bibliothekswesen nicht reflektiert zu werden. Vielmehr scheint der Diskurs, den Palmgren zeigt, auch heute wirkmächtig – und für das Bibliothekswesen überzeugend.

Kontinuität: Mängel

„Bei der Beurteilung der Verhältnisse an den Schulbibliotheken des Reiches [Schweden, K.S.] im allgemeinen stösst man auf drei, besonders augenfällige, Mängel: 1. Mangel an guten Lokalen, 2. an genügend Mitteln zur Unterhaltung und 3. an Fachausbildung der Schulbibliothekare.” (Palmgren 1909: 203)

Auffällig ist, dass Palmgren in ihrem Text die gleichen Mängel aufzählt, die auch heute immer wieder genannt werden, wenn es darum geht, was Schulbibliotheken fehlen würde: Raum, Geld, bibliothekarisch gebildetes Personal.

Was heisst das? Hat sich die Situation seit über hundert Jahren nicht verändert? Oder ist das einfach ein stetiger Diskurs, der einfach weitergeführt wird? Gerade das sind Fragen, die es spannend machen, solche alten Texte auszuwerten.

Wir wissen, dass sich viel verändert hat seit 1909. Die Schulen sehen anders aus, sind grösser, schöner (wirklich), haben mehr Infrastruktur. Die Aufgaben der Schulen sind andere geworden, zumindest zum Teil. Die Medienformen sind vielfältiger geworden. Die Menschen, die ja in den Schulen arbeiten und lernen, sollen auch viel individueller geworden sein. Und vieles mehr. Aber gerade die Mängel in den Schulbibliotheken sollen die gleichen geblieben sein? Erscheint das nicht absurd?

Doch der Diskurs würde wohl nicht heute ähnlich geführt werden, wie in Palmgrens Text, wenn er nicht irgendwen – und wohl vor allem die, die ihn führen – überzeugen würde. Hat sich vielleicht der Anspruch einfach mit verändert, also gibt es zwar andere, grössere Räume für Schulbibliotheken (so wie es ja 2018 auch andere Schulräume gibt als 1909), aber damit sind einfach die Ansprüche gewachsen? Oder gehört es vielleicht einfach zu Überzeugung wenn man über Schulbibliotheken spricht, dass immer noch bessere und grössere Räume möglich wären?

Interessant ist, dass es heute sehr wohl Schulbibliotheken gibt, die räumlich und finanziell gut ausgestattet sind, auch solche, in denen entweder bibliothekarisches Personal arbeitet oder aber bibliothekarisch weitergebildetes (wie zum Beispiel in Bayern). Es wäre also möglich, zu überprüfen, ob die genannten Mängel eigentlich wirklich Mängel sind, ob es also etwas bringt, sie zu beheben (ob also die Schulbibliotheken dadurch wirklich besser werden und wenn ja, wie). Das wird aber nicht unternommen.

Stattdessen finden sie sich immer wieder (aber nicht immer und überall). Zu vermuten ist also, dass sie eine andere Funktion haben könnten. Ist es vielleicht so, dass der Verweis auf diese Mängel hilft, gar nicht so sehr nach anderen, konkreten Probleme und Mängeln, die mehrere Schulbibliotheken umfassen, zu fragen? Ist es ein Allgemeinplatz, vielleicht auch, um eigentlich etwas anderes zu sagen, zum Beispiel, dass man sich zu wenig ernst genommen fühlt? Auffällig ist zumindest, wie konstant diese Aufzählung geblieben ist.

Kontinuität: Bildungsvorstellung Selbstbildung

Wozu ist die Schulbibliothek da? Auch diese Frage zieht sich durch die bibliothekarische Literatur zu Schulbibliotheken selber. Ständig wird nach Gründen gesucht, die man nach aussen hin angeben könnte, warum Schulbibliotheken wichtig wären, was halt ihr Potential für die Schule oder die Schülerinnen und Schüler wäre. Man würde erwarten, dass sich dies mit der Zeit verändert hätte. Es gibt auch von Zeit neue Vorschläge, vor allem, wie die Schulbibliothek in den Unterricht einzubinden sei. Aber auch die werden eigentlich alle paar Jahre neu gemacht, was darauf hindeutet, dass sie doch selten umgesetzt werden. Vielmehr findet sich seit Jahrzehnten die Argumentation, welche sich auch bei Palmgren findet, wenn Sie für Lesesäle mit Nachschlagewerken in den Schulbibliotheken argumentiert:

„Die Nützlichkeit solcher Lesesäle für die Schüler, das Mittel, sie zur Selbsttätigkeit heranzubilden, wurde [im Kursus, K.S.] besonders stark hervorgehoben; selbständige Initiative, geistige Unternehmungslust und eine für ihre allgemeine Bildung unschätzbare Gewöhnung mit Büchern umzugehen, würde eine sichere Folge dieser Reformen sein.” (Palmgren 1909: 206)

Der freie Zugang zu Medien würde zum selbstständigen Arbeiten der Schülerinnen und Schüler führen und dazu, dass sie sich angewöhnen würden, von sich selber aus zu lernen und „mit Büchern umzugehen” (ergo zu Lesen und zu Lernen). Das wäre bislang nicht der Fall. Heute hat sich die Terminologie etwas gewandelt, zudem werden mehr Medienformen erwähnt. Aber die Argumentation ist die gleiche geblieben. Weiterhin wird argumentiert, dass Schulbibliotheken quasi direkt dazu führen würden, dass Schülerinnen und Schüler selbstständige und – nun ja – lebenslange Lernende würden. Auffällig ist dabei nicht nur, dass dieses Argument ständig wiederholt wird – also als wirksam und richtig gilt, aber offenbar auch wiederholt werden muss und kann, so als ob es halt doch nicht zu Schulbibliotheken führt –, sondern das auch wenig über dieses Argument hinausgegangen wird. Vielleicht hat Palmgren in ihrem Kurs mehr erzählt, aber die bibliothekarische Literatur bleibt eigentlich bei dieser recht einfachen Vorstellung: „freier Zugang zu Medien → Schülerinnen und Schüler lernen, selbstständig zu lernen” stehen. Der Pfeil selber wird praktisch nicht beschrieben und untersucht. Dabei wäre gerade er wichtig, um eine Schulbibliothek und die Arbeit in ihr konkret zu gestalten. Oder zu schauen, ob es überhaupt stimmt und vielleicht darauf zu reagieren, wenn es nicht stimmt. Viel eher scheint es, als wäre das Argument eher eine (weithin in Bibliotheken geteilte) Überzeugung. Eine, die vielleicht auch die Identität des Bibliothekswesens und der bibliothekarischen Profession prägt.

Dabei war die Argumentation in der Zeit, in der Palmgren sie äusserte, nicht so allgemein akzeptiert in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. Palmgren argumentierte noch in einer Zeit, in welcher das Bibliothekswesen den eigenen Bildungsanspruch noch als Aufgabe, die Menschen (gerade Jugendliche oder „untere Schichten”) zu erziehen, definierte und in welcher die Thekenbibliothek, nicht die Freihandbibliothek, der Normalfall war. Auch Plamgren redet nicht von einem direkten Zugang zu den Medien (also der Freihand), aber immerhin von einem Ort, um frei mit Nachschlagewerken und anderen Medien zu arbeiten. Doch trotz der Veränderungen im Bibliothekswesen, ist das von ihr gelieferte Argument grundsätzlich gleich geblieben.

Kontinuität: Richtige Schulbibliotheken entwickeln durch die Weiterbildung des Personals

Schulbibliotheken werden, sowohl bei Palmgren als auch in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur zum Thema seit den 1970ern als ein zu lösendes Problem gesehen. Der jetzige Zustand wird immer als mangelhaft beschrieben und es wird nach Wegen gesucht, diesen zu verändern. Dieser Fokus führt dann, wie geschildert, diskursiv auch dazu, die schon jetzt in den Schulbibliotheken geleistete Arbeit zu bewerten oder als Aussage darüber zu interpretieren, was möglich oder nicht möglich ist.

Auffällig ist, das eine Lösung, die immer wieder vorgeschlagenen wird, auch schon bei Palmgren vorkommt: Die Weiterbildung des Personals. Wie schon dargestellt: Eigentlich gilt, dass Schulbibliotheken von Personal geleitet werden sollen, welches eine gesonderte bibliothekarische oder schulbibliothekarische Ausbildung genossen hat. Aber die nächst beste Lösung ist die Weiterbildung des schon vorhandenen Personals, selbstverständlich in eine bibliothekarische Richtung (es wäre ja zum Beispiel auch eine pädagogische möglich). Palmgren beschreibt, dass so ein Wunsch von den Lehrpersonen in Schweden geäussert worden wäre.

„Die Bibliotheksfrage ist der Gegenstand von Diskussionen und Vorträgen in pädagogischen Vereinen und Lehrerversammlungen gewesen, und hierbei sich Forderungen und Wünsche der Lehrer hinsichtlich einer Reform der Schulbibliotheken behandelt worden.” (Palmgren 1909: 204)

So etwas findet sich heute in den Weiterbildungen, welche Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken organisieren (aber dann nicht unbedingt im Rahmen des Bibliothekswesens). Ansonsten wird die Lösung auch so oft angedacht.

Interessant ist hier wieder, das Palmgren einen Hintergedanken ausspricht, der heute eher nicht so genau formuliert wird, obwohl er weiterhin hinter vielen Weiterbildungsangeboten und Versuchen, solche zu etablieren, zu bestehen scheint: Wenn erst einmal das Personal in Schulbibliotheken bibliothekarisch ausgebildet wäre, würde es sich dafür einsetzen, dass es bessere – also „richtige” – Schulbibliotheken gäbe. Es scheint die Überzeugung zu geben, dass die bibliothekarische Organisation von Schulbibliotheken – also zum Beispiel mit ausführlichen Katalogen, Vermittlungsarbeit und dem, was wir heute Bestandsmanagement nennen – so überzeugend und richtig sei, dass die, die davon erfahren, sie auch als das richtige Ziel akzeptieren. In diesem Diskurs scheint es nicht so zu sein, dass es vielleicht andere berechtigte Formen von Schulbibliotheken geben könnte. In dieser Interpretation scheint das Problem vielmehr einfach zu sein, dass das jetzige Personal in Schulbibliotheken einfach noch nicht weiss, „wie es richtig geht”. Wenn es dies erfahren hätte, würde es auch ganz automatisch richtige Schulbibliotheken wünschen. Mit solchen Weiterbildungen würde man also eine Bewegung „von unten” anstossen, „bibliothekarische Schulbibliotheken” zu fordern und einzurichten.12 Und auch hier: Wie genau das funktionieren soll, wird nicht besprochen. Es reicht die Vorstellung, dass es so funktionieren würde – und damit stellt sich dann als Lösung vor allem die Frage, wie solche Weiterbildungen zu organisieren seien.

„Gelingt es, ein Korps fachlich gebildeter Schulbibliothekare heranzubilden, dann werden diese besser im stande [sic!] sein, die jetzigen Verhältnisse auszunützen und sich dem anzupassen, was schon vorhanden ist.” (Palmgren 1909: 204)

Kontinuität und Diskontinuität: Die Jugend und ihre Lektüre

Ein Diskurs, welcher sich in der bibliothekarischen Literatur den Jahrzehnten verändert hat, aber in Teilen auch nicht, ist der über die Jugend und ihre Lektüre. Ständig wird der Blick auf diese gerichtet, aber wie und mit welchem Ziel, verändert sich mit der Zeit. Der Text von Palmgren ist nicht geeignet, um zu zeigen, dass dieser Blick auf die Lektüre eigentlich nur Kinder und Jugendliche trifft. (Die Lektüre anderer Gruppen ist eigentlich immer nur in einem spezifischen Zeitraum Thema.) Beim Thema Schulbibliotheken ist dies verständlich. Es ist allerdings auffällig, dass nicht auch über die Lektüre der Lehrpersonen geredet wird, obgleich (siehe unten) im Text extra in Bibliotheken für Lehrpersonal und für Schülerinnen und Schüler unterschieden wird.

Schauen wir einmal auf das betreffende Zitat, wird auffällig, dass in ihm eine Wertung von verschiedenen Büchern mitschwingt, die auch ganz einfach als bekannt und gegeben vorausgesetzt werden:

„Die Schüler bedienen sich ihrer [der Schulbibliothek, K.S.] hauptsächlich zur Unterhaltungslektüre, und zwar aus dem natürlichen Grund, weil Unterricht und Bibliothek nicht zusammenwirken. Man kann deshalb ruhig behaupten, dass unsere Schülerbibliotheken noch lange nicht die Aufgabe erfüllen, die den Bibliotheken bei der Erziehung der Jugend zukommt.” (Palmgren 1909: 203)

Für Palmgren ist klar, dass „Unterhaltungslektüre” keine richtige Lektüre wäre, die zur Bildung beitragen würde. Dies gelte nur bei anderen Büchern. Was Unterhaltungslektüre ist und was die anderen Bücher sind, scheint Palmgren nicht genauer beschreiben zu müssen. Das ist ihren Leserinnen und Lesern bekannt. Auch scheint sie ihre Wertung nicht begründen zu müssen.

Auffällig ist die Phrase „Erziehung der Jugend”. Diese sollten man nicht als reine Formulierung abtun. Vielmehr ist hier eine Überzeugung niedergelegt, welche von Bibliotheken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aktiv gepflegt wurde: Bibliotheken sollen erziehen, nicht bilden. Und zwar vor allem die Jugend. Der Unterschied zwischen Bildung und Erziehung ist relevant. Erziehung heisst immer, Erziehung zu etwas. Es gibt ein Bild des „richtigen Menschen”, auf den hin erzogen wird. Und Bibliotheken würden dies tun, zumindest in Bezug auf die Lektüre. Wenn heute Bibliotheken von Bildung reden, meinen sie etwas anderes. Heute überlassen sie die eigentlich Bildung, also auch das Setzen von Bildungszielen, eigentlich anderen (Schulen, den Lernenden, der Politik, der Wirtschaft) und versuchen sich vor allem an der Unterstützung dieser Ziele. Wenn nicht überhaupt (wie oben gesagt) der Zugang zu Medien mit selbstständiger Bildung gleichgesetzt wird.

Insoweit hat ein gewichtiger Wandel stattgefunden. Es ist nicht so, dass die bibliothekarischen Diskurse einfach nur über die Jahrzehnte reproduziert werden. Aber sie nehmen auch nicht einfach immer den einfachen Weg und verschwinden einfach, wenn sie gelöst sind. Es ist komplexer. Sie wandeln sich, aber auch nicht immer einfach und vorhersehbar. Und einige Themen hören tatsächlich auf, immer wieder besprochen zu werden (siehe die folgenden Beispiele). Andere, wie hier der ständige Blick auf die Jugend, werden weitergeführt, aber mit einem ganz anderen Fokus: Heute geht es eher darum, die Jugend irgendwie dazu zu bringen, die Bibliothek aufzusuchen. Geblieben ist dabei die Vermutung, dass sie es nicht täte und wenn doch, dann auch nicht richtig tun würde (was eigentlich empirisch zu untersuchen wäre). Aber offenbar hat dieser ständige Blick auf die Jugend eine Bedeutung für Bibliotheken behalten. Und gerade diese komplexen Entwicklungen machen es interessant, diesen Diskursen über längere Zeit nachzuspüren.

Diskontinuität: Lehrerbibliotheken

Eine dieser Diskontinuitäten findet sich auch im Text von Palmgren: „Lehrerbibliotheken”. Über Jahrzehnte wurde in der bibliothekarischen Literatur darüber diskutiert, ob und wenn ja wie die Bibliotheken in den Schulen zu unterteilen seien. Es gäbe Bibliotheken für Lehrpersonen, deren – so Palmgren – „hauptsächliche Aufgabe [darin] besteht […], das Lehrpersonal mit pädagogischer Literatur, Zeitschriften, Enzyklopädien, Lexika usw.; überhaupt mit solcher Literatur zu versehen, deren es für seine Fachstudien und den Unterricht bedarf” (Palmgren 1909: 202) und solche für Schülerinnen und Schüler, „d. h. eigens für die Schüler eingerichtete Büchersammlungen.” (Palmgren 1909: 202) Palmgren berichtet sogar davon, das im Kurs vermittelt wurde, „dass die Schulbibliotheken vor allem danach streben sollten, Lehrerbibliotheken zu sein.” (Palmgren 1909: 205)

Die heutige bibliothekarische Literatur zu Schulbibliotheken kennt diese Frage nicht. Es ist heute klar, dass Schulbibliotheken (egal welche) wenn es sie gibt, für die Schülerinnen und Schüler da sind. Die Diskussion hörte irgendwann auf und es ist auch nicht ersichtlich, ob sich irgendeine Schulbibliothek heute noch dafür zuständig sieht, die pädagogische Literatur für das Lehrpersonal zu beschaffen. [Höchstens in sehr gut ausgestatteten Schulbibliotheken, die als kleine Filialen von Öffentlichen Bibliotheken funktionieren oder funktionieren könnten, finden sich manchmal pädagogische Bestände, dann aber als Teil der für alle zugänglichen Bestände.]

Es gab in auch bis in die 1970er Jahre hinein immer wieder Diskussionen dazu, ob Klassenraumbibliotheken oder zentrale Schulbibliotheken (also eine Bibliothek für die ganze Schule) sinnvoll wären. Diese wurden teilweise mit grossem Verve geführt. Dann verschwand auch diese Debatte aus der Diskussion, so wie die zu Bibliotheken für Lehrpersonen. Was nicht heisst, dass dies in den Schulen auch vorbei ist. Es finden sich sehr wohl Klassenraumbibliotheken. Aber in der Literatur erscheinen eigentlich nur noch zentrale Schulbibliotheken, ohne das dies noch gross nachgewiesen wird.

Interessant ist zum einen, nachzuvollziehen, wann diese Debatten auftauchten, wann sie intensiv geführt wurden und wann sie verschwanden. Zum anderen wird es dann interessant zu fragen, warum diese unterschiedlichen Formen von Schulbibliotheken nicht nur existierten, sondern zum Thema von bibliothekarischen Diskussionen wurden, die ja auch bestimmen sollten, was Schulbibliotheken an sich sind (also welche Funktion diese Debatten für die Profession hatten) und warum sie ihre Funktion irgendwann verloren – und ob die Funktion verschwand oder einfach an andere Debatten überging.

Diskontinuität: Bewertung des Personals in den Schulbibliotheken

Ein weiterer Unterschied zu späteren und aktuellen bibliothekarischen Texten zu Schulbibliotheken ist die Bewertung des schon vorhandenen Personals in Schulbibliotheken. Wie gesagt, vermittelt auch Palmgren den Eindruck, dass ein richtige Schulbibliothek eine mit bibliothekarisch gebildetem Personal sei. Dessen ungeachtet ist sie aber voller Lobes für das Personal und zeigt grosses Verständnis dafür, dass es die Bibliotheken nicht so führt, wie es der Meinung Palmgrens nach notwendig wäre:

„[Mit Ausnahme einer Bibliothek, K.S.] sind die Bibliothekare immer zugleich Lehrer an der betreffenden Schule. Um der Bibliothek ordentlich vorstehen zu können, müssten sie einen viel grösseren Teil ihrer Zeit opfern; da aber ihr Gehalt als Bibliothekar von etwa 75 Kronen bis höchstens 300 Kronen jährlich schwankt, kann man nicht verlangen, dass jemand in diesen teuren Zeiten gewillt ist, von seinen Mussestunden so viel zu opfern, als nötig ist, um eine Bibliothek, selbst eine kleinere, rationell zu verwalten. Bedenkt man noch den Umstand, dass unsere Schulbibliothekare nicht speziell für das Bibliotheksfach herangebildet, sondern auf diesem Gebiete Autodidakten sind, dann versteht man leicht, dass schon die Kataloge, selbst in ihrer jetzigen Gestalt, den Bibliothekaren mehr Zeit und Mühe kosten als was ihrem geringen Honorar entspricht.” (Palmgren 1909: 203)

Sie zeigt sich auch beeindruckt vom Elan der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an ihrem Kurs. Dies steht im Kontrast zu einigen Beiträgen aus den 1970er bis 1990er Jahren, in denen recht offen gewertet wurde, dass solche Personen eigentlich aus den Schulbibliotheken herausgedrängt werden müssten. Und es steht auch im Kontrast zur heutigen Situation, in welcher das real in den Schulbibliotheken tätige Personal praktisch gar nicht mehr erwähnt wird. War Palmgren einfach nur höflicher? Oder zeigt diese Veränderung auch eine Veränderung des Denkens über Bibliotheken an?

Fazit

Zusammengefasst kann man sagen, dass der Text von Palmgren weit mehr Kontinuitäten zu heutigen bibliothekarischen Texten zu Schulbibliotheken aufweist, als Diskontinuitäten. Was heisst das? Hat Palmgren einfach vor 109 Jahren schon gewusst, was 2018 noch wichtige Themen sind? Haben sich die Themen einfach nur sehr langsam verändert (während die Gesellschaften sich doch massiv verändert haben)? Sind bestimmte Themen und Diskurse einfach Teil der bibliothekarischen Identität? Hat ihre Thematisierung – ja oft eher als Behauptungen und weniger als überprüfte und empirisch gefestigte Aussagen – eine Funktion für das Bibliothekswesen? Muss es diese Behauptungen aufstellen und diese Fragen thematisieren, um sich als modernes Bibliothekswesen zu verstehen? Und – quer dazu – wie ist es dazu gekommen, dass einige Dinge sich doch verändert haben?

Solche Fragen treiben mich um, wenn ich mich mit bibliothekarischen Texten von 1870 (oder so) bis heute beschäftige. Dabei geht es mir gar nicht einmal darum, zu einer Wahrheit über die Bibliotheken vorzustossen, also zu versuchen, zu sagen, was richtig oder falsch ist. Mir geht es erst einmal darum zu verstehen, welche Einschlüsse und Ausgrenzungen durch die bibliothekarischen Diskurse produziert werden (z.B. durch die Einteilung in richtige und nicht ganz so richtige Schulbibliotheken), welche Diskurse langlebig sind und welche kurzlebig. Mich interessieren auch „roads not taken”, also Entwicklungen im Bibliothekswesen, die mal so möglich erschienen, dass sie thematisiert wurden, und die dann doch nicht verfolgt wurden. Es ist also erstmal ein geschichtliches Interesse.

Aber nur, weil ich erst einmal nicht sagen will, was richtig ist und was falsch, und auch nicht, was Bibliotheken aus ihren Diskursen lernen müssen, schiene es mir doch für all die Bibliotheken, in denen ständig Entscheidungen getroffen werden müssen (was warum zu tun ist, welche Argumente für welche Angebote gelten und welche nicht, was als sinnvoller Diskurs / als sinnvolles Argument wahrgenommen wird und was nicht), sinnvoll, wenn mehr über die tatsächlich geführten Debatten der vergangenen Jahrzehnte bekannt wäre. Heute scheint vor allem der Gestus vorzuherrschen, zu behaupten, gerade jetzt würden sich die Bibliotheken neu erfinden und wie sie vorher wären, dass sei bekannt — aber so seien sie nicht mehr. Das ist ein Gestus, der es einfach macht, alles mögliche als neue Entwicklung zu verstehen. Es ist aber falsch: Der Grossteil dessen, was als neu oder innovativ gilt, hat seine Pendants in den schon vorhandenen bibliothekarischen Debatten der letzten Jahrzehnte, auch wenn diese Verbindungen nicht bekannt sind. Wäre es deshalb nicht sinnvoller, zu wissen, was schon diskutiert, behauptet, erhofft wurde, um auf dem Scheitern solcher Behauptungen aufzubauen (wenn zum Beispiel sichtbar wird, dass das gleiche Argument für ein bestimmte Entwicklung seit Jahrzehnten wiederholt wird, also doch nie umgesetzt wird) anstatt das Gleich immer nochmal zu machen?

 

Fussnoten

1 Die ganzen Diskussionen um die “Freihand”-Bibliothek enden zum Beispiel in den 1960ern ganz einfach. Vorher wurde darüber gestritten, ob das eine sinnvolle Form von Bibliotheken sein könne, wie es mit dem Bildungsanspruch der Bibliotheken sei. Es gab Bibliotheken, die “es ausprobierten”, die nach vorne stürmten und (mehrfach) behaupteten, die ersten zu sein, die eine Freihand einrichten würden. Es gab Diskussionen darum, wie viel Personal benötigt würde, um in einer Freihandbibliothek noch Bildungsberatung anbieten zu können. – Und dann, fast auf einmal, werden neue Bibliotheken als Freihand-Bibliotheken gebaut oder als solche neu eingerichtet, und es wird gar nicht mehr thematisiert. Nur, wenn in den Berichten in der bibliothekarischen Presse dazu Bilder oder Raumskizzen beigegeben werden, ist das dann noch sichtbar.

2 Zum Beispiel Bibliotheksstatistik, Effizienzvorstellungen bei Zentralkatalogen oder der Zusammenlegung von Bibliotheken, Berufsbilddiskussionen – das zieht sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder durch, nur halt am Anfang mit einem historischen Wissen davon, was schon gesagt wurde, dann irgendwann ohne dieses Wissen, so als wären die Themen, Argumente und so weiter neu – was sie wohl auch sind im Sinne von “hatte ich, die Autorin / der Autor vorher noch nicht”, aber nicht im Sinne von “gab es vorher noch nicht / hat noch nie jemand geschrieben”.

3 Zum Beispiel wird unter dem Begriff “Jugendliteratur” erst die ganze “Schmutz und Schund”-Debatte geführt und nach der “guten Jugendliteratur” gesucht, dann in den 1960ern ohne grossen Übergang nicht mehr vor Literatur gewarnt, sondern nur noch empfohlen und dann ab den 1980ern gefragt, was die Jugendlichen lesen, damit sie in die Bibliothek kommen.

4 Die ganze “Schmutz und Schund”-Idee, dass ein Grossteil der Literatur für Kinder und Jugendliche schlecht sei und sie auf “schiefe Bahnen” bringen würde, die lange Jahrzehnte ein Antrieb für die bibliothekarische Arbeit war (heute sieht das wie ein absurder Nebendiskurs aus, aber es war eine prägende Überzeugung, die bis in die 1950er explizit in den bibliothekarischen Medien als Mainstream vertreten wurde) – die ist zum Beispiel tatsächlich an ihr Ende gelangt.

5 Marketing in / für Bibliotheken, das taucht offenbar erst in den 1960ern auf, soweit ich das bislang gesehen habe.

6 Übrigens eine neuere Entwicklung. Bis in die 1950er, 1960er war es noch so, dass in vielen Texten in bibliothekarischen Medien referiert wurde, was in den Jahren und Jahrzehnten vorher zum Thema gesagt wurde und dann erst versucht, an diese Debatten anzuschliessen. Heute scheint es manchmal, als würde so eine kurze historische Recherche den ganzen Diskurs von Veränderung und Neuheit unmöglich machen.

7 Da bin ich, ganz ohne Entschuldigung, dekonstruktivistisch geprägt: Diskurse, also was gesagt oder nicht gesagt wird, hat direkte Auswirkungen auf die Identität und das Denken (zum Beispiel was gedacht werden kann und was nicht) – und so auch auf die Realität. Sprache ist Macht. Sprachhandlungen etablieren, bestätigen und reproduzieren Machtbeziehungen. Ohne Diskurs keine Identität. All das. Foucault, Butler, Derrida. Aus dieser Perspektive ist es aber auch sinnvoll, die Beiträge in bibliothekarischen Medien als Diskurs zu untersuchen – und nicht, wie das auch passiert als “interessant, dass hat mal wer gesagt”.

8 Und später wohl zu denen fahren werde, die nicht einfach so per Fernleihe zu beschaffen sind. Das Zentrum für das Buch in St. Gallen scheint da zum Beispiel mehrere Besuche wert zu sein.

9 Das ganze Projekt dieser Geschichtsschreibung ist ein langfristiges, also auch keines, das schon fertig wäre. Insoweit eine Einschränkung: für das deutsche Bibliothekswesen bis 1933 und für das bundesdeutsche nach 1945, für das österreichische, auch in diesen Zeiten, sowie für das schweizerische kann man von dieser Tradition ausgehen. Für das Bibliothekswesen in der DDR vermutlich auch, aber da muss ich noch genauer schauen. Für die NS-Zeit weiss ich es noch nicht.

10 Es wird kein Grund dafür angeführt, warum dieser Text präsentiert wird. Aber das ist normal. Auch Texte über andere Ländern werden einfach so präsentiert. Vielleicht kann man das positiv als liberale Geisteshaltung des Bibliothekswesens interpretieren. Aber es ist nicht klar, wieso die Redaktion diesen Text abdruckte. Wir sind zu Interpretationen gezwungen.

11 Es scheint notwendig für diese Bibliothekswesen zu sein, eine Position gerade zum US-amerikanischen Bibliothekswesen zu entwickeln. Auch im ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus finden sich in den bibliothekarischen Zeitschriften (zumindest den deutschen) Abhandlungen dazu, wenn auch genau mit dem gegenteiligen Gestus, nämlich dem Anspruch, nachzuweisen, dass das deutsche besser als das US-amerikanische sei. Aber es ist auffällig: Kein anderes Bibliothekswesen regt diese ständige Auseinandersetzung an, obwohl z.B. das französische auch immer diskutiert werden könnte.

12 Wie sollte es anders sein? Zum Beispiel könnte das Personal auch Fragen haben, die es schon gemeinsam besprochen wünscht, die aber nicht so sehr mit den bibliothekarischen Überzeugungen übereinstimmen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Session für Schulbibliotheken auf einem der österreichischen Bibliothekskongress, die viele Lehrpersonen besuchten welche Schulbibliotheken leiten. Besprochen wurde in der Session welche Bücher (Nachschlagewerke) gut wären und gekauft werden sollten. Nicht mehr, nicht weniger. Dazu treffen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare heute eigentlich nicht (mehr). Oder: Bei unserer Studie zu Volksschulbibliotheken im Kanton St. Gallen äusserten die Lehrpersonen in den Schulbibliotheken, die wir besuchten, auch Fragen, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare irritieren würden, die sie aber beschäftigen. Zum Beispiel wollten sie Katalogsysteme, bei denen man möglichst wenige Daten eingeben muss. Welches gäbe es da? Es ging nicht darum, Daten von anderswo zu übernehmen oder aber auf RDA vorbereitet zu sein.

Schulbibliotheken in Berlin 2017: Nur leichte Entwicklung, etwas gerechter. Erfahrungen nach 10 Jahren Recherche

Seit jetzt zehn Jahren wird hier in diesem Blog – erhoben nach immer der gleich Methodik – die Anzahl der Schulbibliotheken, die sich in Berlin über die Homepages aller Schulen (Quelle: offizielles Schulverzeichnis) finden lassen, berichtet. Erhoben werden diese Zahlen immer im April, d.h. zu einer Zeit, in welcher der Schulalltag für das jeweilige Schuljahr schon etabliert ist und auch zu erwarten ist, dass die Homepages mindestens für das Schuljahr aktualisiert worden sind.

Die Grenzen und Potentiale dieser Erhebung sind in den letzten Jahren schon dargestellt worden; grundsätzlich aber gilt, dass es bislang keine andere Form der systematischen Erhebung dieser Zahl gibt. Die Daten sind als ungefähre Angaben zu verstehen, da die Homepages der Schulen als Präsentation dieser an die Öffentlichkeit, aber nicht immer als vollständig mit der Schulrealität übereinstimmend zu verstehen sind. Es ist möglich, dass Bibliotheken in Schulen existieren, die im Schulalltag aber so wenig Relevanz haben, dass sie nicht nach außen präsentiert werden. Ebenso ist es möglich, dass Bibliotheken geschlossen sind, aber noch auf der Homepage einer Bibliothek auftauchen (die bei dieser langjährigen Recherche angesammelte Erfahrung zeigt, dass eine ganze Anzahl von Schulen in Berlin ihre Homepage nur langsam updaten).

Am Beginn dieser Recherche (2008) wurden Thesen und Fragen über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin aufgestellt, die nun überprüft beziehungsweise besser beantwortet werden können. Ein Publikation dazu ist in Vorbereitung. In diesem Beitrag hier sollen kurz, zur Informationen, die Daten für dieses Jahr präsentiert werden.

Kaum Entwicklung

Die reinen Zahlen über die vorhandenen Schulbibliotheken in Berlin zeigen seit einigen Jahren ein ganz leichtes Wachstum und nur leichte Veränderungen bei der Verteilung nach Schultypen. Während die Veränderungen von 2008 bis 2012 massiv waren, scheint sich die Zahl seit damals zwar langsam zu erhöhen, aber bei der Verteilung ungefähr gleich zu bleiben. Auffällig ist, dass sich diese praktisch parallel zu den Veränderungen im Berliner Schulsystem entwickeln. Während die Reformen des letztens Jahrzehnts die Schullandschaft in Berlin massiv veränderten (tendenzieller Abbau reiner Schulen für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Inklusion – d.h. oft Umwandlung in inklusive Schulen –, die Schaffung der neuen Schulform „Integrierte Sekundarschule“, in die Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammengeführt wurden, was oft mit einem Zusammenlegen von Haupt- und Realschulen umgesetzt wurde, die Schaffung von Gemeinschaftsschulen, die durchgängig von der ersten Klasse bis zur Sekundarstufe geführt werden und die Etablierung von gemeinsamen JüL-Klassen für die Jahrgangsstufen eins bis drei als Normalfall in Grundschulen), veränderte sich z.B. die Zahl der Schulen in den letzten Jahren kaum noch. Die wenigen Änderungen lassen sich eher mit Schulneubauten oder den normalen Schwankungen aufgrund sich verändernder demographischer Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in den Berliner Kiezen (mehr oder weniger Kinder und Jugendliche im Schulalter) erklären. Eine ähnliche Entwicklung scheint sich auch bei den Schulbibliotheken zu zeigen (was der These, dass diese eher von den Schulen und weniger von bibliothekarischen Vorstellungen abhängen, zu entsprechen scheint), mit einem massiven Wachstum zur Zeiten der konkreten Änderungen in der Schullandschaft bis 2011, 2012 und einer langsamen Entwicklung danach.

Die folgende Tabelle zeigt die Zusammensetzung, die im April 2017 vorgefunden wurde.

(Für eine besser Bildqualität der Tabellen siehe die PDF-Datei am Ende des Beitrags.)

Weiterhin finden sich in den meisten Schulen in Berlin keine Schulbibliotheken, aber in einer großen Minderheit schon. Die Zahl der Grundschulen, welche eine Schulbibliothek führen, hat sich leicht erhöht, dies gilt auch für die Integrierten Sekundarschulen und die Schulen mit Förderschwerpunkten (jene, die nicht zu inklusiven Schulen umgebaut wurden), nachgelassen hat sie leicht in den Gymnasien und den Freien Walddorfschulen (wobei sie hier von drei auf zwei zurückging, was nur wegen der wenigen Schulen eine Relevanz hat). Grundsätzlich hat sich die Verteilung über die Schultypen hinweg nicht geändert.

Immer noch ist die Wahrscheinlichkeit, eine Schulbibliothek vorzufinden, in Grundschulen (d.h. den Klassen eins bis sechs) wahrscheinlicher, als in den anderen Schulen. Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium besuchen, haben mit höherer Wahrscheinlichkeit die Chance, eine Schulbibliothek zu nutzen als in den anderen Schultypen mit Sekundarstufe. In diesem Zusammenhang fand allerdings die größte Änderung zum Vorjahr statt: Die Differenz zwischen Integrierten Sekundarschulen und Gymnasien mit Schulbibliotheken, die sich in den letzten Jahren wieder – entgegen dem Anspruch der Schulreform, mit der neuen Schulform zu mehr Chancengerechtigkeit beizutragen – vergrößert hatte, ist in diesem Jahr kleiner geworden. (In der folgenden Graphik, welche die Prozente der Schulen mit Schulbibliothek angibt, in schwarz dargestellt.)

Überblickt man die Entwicklung der letzten zehn Jahre in Prozenten (folgende Graphik) und konkreten Zahlen (darauffolgende Graphik) zeigt sich, wie schon gesagt, eine langsame Aufwärtsentwicklung in den Gesamtzahlen.

 

In den letzten Jahren wurde hier in diesem Blog postuliert, dass mit 30% bis 35% der Schulen in Berlin, die eine Schulbibliothek unterhalten, vielleicht eine Sättigung eingetreten sei. In diesem Jahr stiegt die Zahl leicht über 35%, insoweit wäre die These zu revidieren auf einen Korridor von 30% bis 40%. Trotzdem scheint kein massives Wachstum und auch kein massiver Rückgang der Zahl der Schulbibliotheken bevorzustehen.

Zu den konkreten Schulbibliotheken

Auffällig sind die konkreten Schulbibliotheken selber. Weiterhin sind die Angaben zu den meisten dieser Einrichtungen sehr knapp gehalten, teilweise werden sie auf den Homepages nur unter „Ausstattung“ oder im Schulprogramm einfach einmal erwähnt, ohne das klar würde, was genau mit „Bibliothek“ gemeint ist. Immer wieder finden sich auch Einrichtungen, die als „Bücherei“ bezeichnet werden, aber offensichtlich die Schulbuchsammlungen meinen. (Diese werden nicht gezählt.)

Bei den Schulbibliotheken, die ausführlicher dargestellt werden, finden sich sehr unterschiedliche Typen. „Leseecken“, die offenbar der reinen Freizeitunterhaltung dienen ebenso wie ausgebaute Bibliotheken, die sich am Modell Öffentlicher Bibliotheken orientieren. Es finden sich Bibliotheken, die in den Unterricht – vor allem als Leseorte, z.B. zum Freien Lesen – eingebaut sind, ebenso wie Einrichtungen, die nur einmal in der Woche geöffnet haben. Die Betreuung der Schulbibliotheken wird weiterhin vor allem von den Schulen selber und von Ehrenamtlichen getragen. Schulische Arbeitsgemeinschaften, bei denen Schülerinnen und Schüler die Bibliothek betreiben, scheinen sich hingegen zu den Vorjahren kaum noch zu finden. Von einer direkten Trägerschaft von Öffentlichen Bibliotheken ist nirgends mehr die Rede, in den Bezirken Spandau und Reinickendorf finden sich Bibliotheken, die in Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betrieben werden. Grundsätzlich scheinen die Formen der Schulbibliotheken weiterhin sehr gemischt zu sein.

Auffällig sind einige Veränderungen in konkreten Schulen selber. So werden einige Schulbibliotheken, die in den letzten Jahren beständig gefunden wurden, nicht mehr erwähnt (und scheinen geschlossen), in einem Fall (Trelleborg Grundschule) wird sogar explizit angegeben, dass die Schulbibliothek aktuell geschlossen sei. Die zwei Bibliotheken des Canisius-Kolleges, die in den letzten Jahren extensiv auf der Homepage der Schule dargestellt wurden, sind jetzt in der Außendarstellung reduziert worden auf Orte, die im Zusammenhang mit der Hausaufgabenbetreuung genannt werden. Offenbar verändert sich mit der Zeit die Haltung zu den Bibliotheken in den Schulen selber. Das Vorhandensein einer Schulbibliothek überzeugt die Schulen nicht durchgängig, diese auch kontinuierlich zu unterhalten.

Gleichzeitig gab es eine ganze Reihe von Neugründungen, beispielsweise (relativ gut dokumentiert) in der Spartacus-Grundschule, die im März 2016 den Plan verkündete, eine Bibliothek zu gründen und im Januar 2017 schon die Eröffnung derselben feierte. Die Gesamtzahl der Schulbibliotheken, die eine so klare Entwicklung zu nehmen scheint, setzt sich also aus sehr unterschiedlichen Situationen zusammen, bei denen Neugründungen (oder auch Wiedereröffnungen) die Schließungen „ausgleichen“. (Eine Datenbank mit Berliner Schulen, die in den letzten zehn Jahren mindestens einmal eine Schulbibliothek auf ihrer Homepage angaben, welche im Rahmen der hier dargestellten Recherche geführt wird, hat aktuell immerhin 532 Datensätze (einer je Schule), bei jetzt etwas mehr als 700 Schulen in Berlin; allerdings enthält die Datenbank auch Schulen, die heute geschlossen oder mit anderen zusammengeführt sind. Die Zahl zeigt aber doch, dass eine große Zahl an Berliner Schulen Erfahrungen mit Schulbibliotheken gesammelt hat, diese Erfahrung aber oft auch dazu führt, dass die Bibliotheken wieder geschlossen werden.)

Überprüft man, wie viele Schulen in den letzten Jahren kontinuierlich eine Schulbibliothek betrieben haben (wobei bei der Auszählung davon ausgegangen wurde, dass die einmalige Nichterwähnung einer Schulbibliothek heißt, dass sie wohl doch existierte, aber nicht dargestellt wurde, die zweimalige Nichterwähnung, dass sie wohl geschlossen war; gleichzeitig, das eine „kontinuierlich betriebene“ Schulbibliothek an mindestens drei aufeinander folgenden Jahren nachgewiesen sein muss), kommt man auf folgende Zahlen.


Anders ausgedrückt: von den 260 Schulbibliotheken, die sich 2017 in Berlin nachweisen lassen, werden 141 (54,3%) schon seit mindestens drei Jahren betrieben, wobei in den letzten Jahren eher weniger dieser „kontinuierlichen“ Schulbibliotheken gegründet wurden. Es kristallisiert sich also eine Anzahl von langfristig etablierten Schulbibliotheken heraus, denen eine ganze Anzahl von kurzfristig (nur einige Jahren lang) betriebenen Schulbibliotheken gegenüberstehen. Nicht sichtbar ist in dieser Recherche, warum Schulbibliotheken wieder geschlossen werden. (Nur bei einigen finden sich öffentlich verbreitete oder in Protokollen z.B. von Elternvertretung oder Fördervereinen dokumentierte Hilferufe nach neuem oder mehr Personal, die nicht immer erfolgreich zu sein scheinen.)

Dies ist relevant, nicht nur in Bezug darauf, wie verankert oder projekthaft die Schulbibliotheken in den Schulen sind. Es hat auch eine Auswirkung darauf, ob die Schulbibliotheken, also das jeweilige Team, welche sie betreiben, genügend Zeit hat, eigene Alltagspraktiken zu entwickeln, die sich aus Erfahrungen speisen können, oder ob sie im Projektstatus, also dem ersten Ausprobieren, verbleiben. (Es heißt auch, dass sich in vielen Schulen in Berlin Räume finden, in denen einst eine Schulbibliothek vorhanden war, teilweise wohl noch mit den alten, nicht mehr weiter betreuten Beständen.)

Insoweit zeichnet sich die Schulbibliothekslandschaft in Berlin – obwohl es offenbar nicht ganz richtig ist, von einer Landschaft, also einem System von Einrichtungen, die sich aufeinander beziehen, zu sprechen – durch einen ständigen Wandel, mit einigen festen Punkten, aus. Das ständige Neu- und Wiedergründen von Schulbibliotheken lässt aber auch daran zweifeln, ob ein Wissenstransfer zwischen diesen stattfindet oder überhaupt stattfinden kann. Sicherlich gäbe es einige Einrichtungen, die ihre Erfahrungen berichten könnten. Die Arbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken Berlin-Brandenburg bietet dafür auch eine Infrastruktur. Aber die Wandelbarkeit deutet eher darauf hin – positiv gedeutet –. dass immer wieder neu Menschen in Berlin auf die Idee kommen, einen Schulbibliothek zu gründen, insbesondere Lehrpersonen und Schulen, dabei aber oft auch eigenen Vorstellungen folgen.1 Dies zeigt aber auch, dass bibliothekarische Vorstellungen von Schulbibliotheken, die von Zeit zu Zeit publiziert werden, offenbar wenig Einfluss auf den Schulalltag in Berlin haben.

Dateien

Beiträge zur Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin aus den letzten Jahren

Fußnote

1 Die GutsMuth-Grundschule schreibt zum Beispiel zu ihrer Bibliothek: „Die Idee [der Schulbibliothek, KS] ist angelehnt an eine Bibliothek, aber es soll mehr sein, als nur ein Ort zum Lesen.“ (http://www.gutsmuths-grundschule.de/content/unterricht/sprachfoerderung/index.html) Diese Aussage deutet auf ein Bild von Öffentlichen Bibliotheken hin, das diese von sich selber gar nicht (mehr) haben. Die Abgrenzung ist eigentlich unnötig, zeigt aber, wie sehr Lehrpersonen von ihren eigenen Vorstellungen – und eben nicht von bibliothekarischer Literatur, die darüber aufklären würde, dass Bibliotheken heute soziale Orte sein wollen und dass auch Schulbibliotheken das sein sollen – ausgehen.

Die moderne Schulbibliothek. Bestandsaufnahme und Modell (1970). Die erste grosse Untersuchung und der davon losgelöste, grosse Entwurf (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XV)

Am Anfang der Entwicklung zeitgenössischer Schulbibliotheken und vor allem der Diskurse um diese im deutschsprachigen Raum steht eine Monographie, welche 1970 weder von bibliothekarischer noch von pädagogischer Seite publiziert wurde, sondern im Rahmen eines Projektes des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt am Main) entstand: Die moderne Schulbibliothek. Bestandsaufnahme und Modell. (Doderer et al., 1970) Zuvor waren – sowohl in der DDR und Österreich als auch historisch früher in der Weimarer Republik – schon andere Monographien zu Schulbibliotheken erschienen, aber diese Publikation und insbesondere das dazugehörige Projekt hatte einen längerfristigen Einfluss.

1975 wurde es von der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen übernommen, insoweit gab es Verbindungen des Projekteams mit bibliothekarischen Strukturen, dennoch war es nicht, wie viele folgende Projekte, ein von bibliothekarischer Seite durchgeführtes.1 Die Arbeitsstelle wurde später zum Deutschen Bibliotheksinstitut und nahm in einer gesonderten Abteilung bis 2000 Aufgaben der Beratung für Schulbibliotheken war. Die heutige Expertengruppe Schule und Bibliothek im dbv steht in einer gewissen Kontinuität zu dieser Abteilung. Wenn auch nicht ganz ohne Friktionen verlaufen, besteht eine Kontinuität von diesem Projekt aus dem Jahr 1970 – und damit dem hier zu besprechenden Buch – und der heutigen dbv-Gruppe. Zumindest zum Teil scheint dies auch für die Argumentationen und Blickwinkel, die im Bezug auf Schulbibliotheken eingenommen werden, zu gelten.

Zugleich wurde im Rahmen des Projektes eine Zeitschrift begründet, die zuerst als Materialien für den Schulbibliothekar und später als schulbibliothek aktuell kontinuierlich von 1974 bis 2000 erschien.2 Anders gesagt: Das Projekt, welches von 1970 bis 1975 lief, etablierte relativ langlebige Strukturen zur Unterstützung von Schulbibliotheken, zuerst in der BRD und nach 1989 in Gesamtdeutschland. Das dazugehörige Buch, Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell, legte Diskurse fest, an denen lange argumentativ festgehalten wurde, auch wenn bestimmte Teile der Argumentationen der Studie fallen gelassen und später kaum noch reproduziert wurden. Es ist ein grundlegendes Buch. Nicht zuletzt bietet es, da es auf zahlreichen Besuchen in Schulen basiert, einen Einblick in die Situationen von Schulbibliotheken in der BRD im Jahr um 1970.

Kontext Bildungsreform

Um das Buch und das dahinter stehende Projekt nachzuvollziehen, ist es wichtig, sich zu erinnern, dass die später 1960er und frühen 1970er Jahre in der Bundesrepublik unter anderem eine Zeit massiver Bildungsreformen war. Dabei wurde unter anderem eine Demokratisierung des gesamten Bildungssystems angestrebt, inklusive des direkten Abbaus sozialer Ungleichheiten, dem Aufbau eines meriokratischen Schulsystems, dass gleichzeitig junge Menschen zu selbstständigen Bürgern und Bürgerinnen – und nicht zu Menschen, die untertänig schweigen – ausbilden sollte. Zudem sollte das Bildungssystem, dass zum Teil über das Schulsystem hinaus geplant wurde, modern werden, dass heisst auch moderne Techniken und moderne pädagogische Theorien nutzen. Die gesamte Planung war von einem heute erstaunlichen Pathos des Fortschritts und der Demokratisierung getragen; gleichzeitig wagte sich die Bildungspolitik und -planung an heute fast unfassbare Grossentwürfe. (Deutscher Bildungsrat, 1970) Beispielsweise wurde in Opposition zu den bestehenden Schulformen die Gesamtschule als neue Schulform, die auch gleich neue pädagogische Räume umfassen und neue Lehrerinnen und Lehrer benötigen würde, entworfen.

Es war offenbar eine spannende Zeit, in der nicht sicher war, wie sich die Bundesrepublik und das bundesdeutsche Bildungswesen wirklich entwickeln würden. Im Rückblick ist sichtbar, dass die Veränderungen weitgehend, aber lange nicht so radikal waren, wie vielleicht um 1970 zu vermuten gewesen wäre – oder zumindest viel länger dauerten, als damals vermutet worden wäre. (Friedburg, 1989) Aber 1970 war dies noch nicht sichtbar. Vielmehr beteiligten sich zahllose Gruppen, Initiativen und Institutionen mit unterschiedlichen Möglichkeiten an den utopischen Diskussionen zur Reform des Bildungswesens, wobei diese Diskussionen eingelassen waren in ebenfalls zum Teil massive gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.

Das im folgenden zu besprechende Buch ist in seinem Entstehen nur aus dieser Zeit heraus zu verstehen, ebenso die Entwürfe, die ihm gemacht werden. So war es in Zeit der Bildungsreform, als es Usus war zu konstatieren, dass das bisherige Bildungssystem gescheitert sei – beispielsweise bislang statt zur Demokratie zum Untertanengeist erzogen hätte oder statt Chancengleichheit herzustellen die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert hätte – normal, den bisherigen Zustand in den Schulen nicht nur negativ zu bewerten, sondern als gänzlich falsch zu verurteilen, auch weil es leicht möglich war, sich eine viel bessere Bildungslandschaft als anzustrebendes Ziel vorzustellen und von diesem als Idealbild ausgehend die Schulrealität zu bewerten. Eine solche Radikalität erschien zum Teil als notwendig. Gleichzeitig war sie aber nicht unbedingt immer fair gegenüber der Arbeit in den Schulen selber. Der Gestus dieses radikalen Verwerfens verlor mit der Zeit bis Mitte der 1970er seine Berechtigung.3

DieModerneShulbibliothek

Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell

„In Sorge um die Verbesserung der schulischen Bildungsformen unserer heutigen Jugend ist die vorliegende Untersuchung über die Schulbibliotheken entstanden, und in der Hoffnung auf Beachtung und Realisierung sind die hier vorgelegten Vorschläge zur Entwicklung von zentralen Bildungsbibliotheken in den Schulen der Bundesrepublik ausgearbeitet worden. Es gilt, auf diesem Gebiet den Anschluß an den internationalen Stand hochentwickelter Erziehungssysteme zu gewinnen. Die bisher schon erstaunlich große und zustimmende Resonanz auf unsere Vorstellungen läßt uns zuversichtlich die Einsicht der betroffenen Stellen und der Öffentlichkeit erwarten.“ (Doderer et al., 1970, 9)

Der zitierte Absatz eröffnet das hier zu besprechende Buch. Er beschreibt die Zielsetzung der gesamten Studie: Es geht um nicht weniger, als darum, einen neuen Typ von Schulbibliothek für die Schulen in der Bundesrepublik zu entwerfen. Grund dafür sei die „Sorge um die Verbesserung der schulischen Bildungsformen unserer heutigen Jugend“ (Doderer et al., 1970, 9), eine Formulierung, die in den frühen 1970er Jahren so weit verbreitet war, dass sie nicht wirklich erklärt werden musste. Es galt als ausgemacht, dass das Bildungssystem veraltet sei und, für die Jugend, radikal verändert werden müsste. Diese Vorstellung war so verbreitet, wie vor einigen Jahren noch die Behauptung, die Bildungssysteme müssten die Lesekompetenz fördern oder Bibliotheken müssten innovativ sein: Aussagen, die für eine gewisse historische Zeit als allgemeine, fast unwidersprechbare Wahrheiten gelten (und die dann allerdings mit der Zeit an Überzeugungskraft verblassen und durch neue Aussagen dieser Art ersetzt werden).4 Man würde erwarten, dass dieser Punkt im weiteren ausgeführt wird, das beispielsweise erklärt würde, warum es eine Sorge um die Jugend gibt und welcher Art diese Sorge wäre – aber das passiert nicht. Es war 1970 auch nicht notwendig, dies zu erklären.

Wichtig ist zudem, dass nicht etwa bessere Schulbibliotheken entworfen, werden, sondern gleich die (neue) Form von „zentralen Bildungsbibliotheken in den Schulen der Bundesrepublik“ (Doderer et al., 1970, 9). Diese waren in der Vorstellung der Projektteams weit mehr, als die vorhandenen Schulbibliotheken. Aber auch dies war 1970 nicht ungewöhnlich. Der Deutsche Bildungsrat legte im selber Jahr einen Strukturplan für das Bildungswesen (Deutscher Bildungsrat, 1970) vor, der gleich das Schulwesen und den Unterricht in allen Schulen, zudem die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer verändern wollte. Insoweit war der Entwurf gänzlich neuer Schulbibliotheken zeitgenössisch. Interessant ist in diesem Zusammenhang eher, dass die Studie behauptet, diesen Entwurf auf der Basis einer Analyse von realen Schulbibliotheken in der Bundesrepublik sowie Schulbibliothek in „hochentwickelten Erziehungssysteme[n]“ (Doderer et al., 1970, 9) vorgenommen hätte. Dies ist, wie noch zu zeigen sein wird, zu hinterfragen.

Der letzte Satz des zitierten Absatzes ist vor allem im Vergleich zu späteren Versuchen, Schulbibliotheken auszubauen, interessant. In immer neuen Projekten wurde und wird versucht, Schulbibliotheken zu fördern und dabei davon ausgegangen, dass vor allem politisch Verantwortliche zu überzeugen wären. Bei Doderer et al. (1970) scheint es aber so, als wäre das Interesse in den Ministerien schon lange vorhanden, was eventuell auch mit der spezifischen Situation in den 1970er zu tun hatte. Gleichwohl führte dieses Interesse nicht dazu, dass das vorgeschlagene Modell einer modernen Schulbibliothek weithin aufgegriffen worden wäre, vielmehr fanden sich später fast nur in Neubauten, insbesondere in Gesamtschulen, aber auch bei diesen wäre zu untersuchen, was sie vom Modell selber übernahmen.

Der Aufbau der Studie ist auf den ersten Blick klar und einfach. Im Teil A werden die Grundfragen geklärt, im Teil B wird von Besuchen in einer Anzahl von Schulbibliotheken in der Bundesrepublik und West-Berlin (so die Diktion im Buch selber) berichtet, im Teil C dann das Modell einer modernen Schulbibliothek und Strategien zur Durchsetzung desselben dargestellt. Abgeschlossen wird die Studie mit einem umfangreichen Anhang von Dokumenten, die im Laufe der Studie gesammelt wurden. Gleichwohl gibt es einen erstaunlichen Bruch zwischen Teil B und Teil C. Relevant ist, dass sich dieser Aufbau auch in späteren Projekten findet. Erst wird eine Analyse des Status Quo der Schulbibliotheken unternommen, dann daraus ein Modell für moderne Schulbibliotheken entworfen – wobei nicht immer klar ist, wie die Auswahl der untersuchten Schulen vorgenommen oder die Kriterien, nach denen die jeweils modernen Schulbibliotheken entworfen wurden, gebildet wurden.5

Die Situation der Schulbibliotheken, 1970

Auch dieses Studie wählte, wie späterhin viele andere Studien zu bibliothekarischen Fragen, die sich an „internationalen Beispielen“ orientieren, als Vergleichsstaaten nicht irgendwelche, sondern die USA, England sowie einige skandinavische Länder (Dänemark, Schweden). Allerdings, und das unterscheidet die Studie wieder von späteren, bibliothekarischen, wurden auch Frankreich, die UdSSR und die DDR einbezogen. Es findet sich keine Begründung für diese Auswahl. Zeichnen sich diese Staaten durch ein besonders gutes Schulbibliothekssystem aus? Frankreich tat dies zumindest 1970 nicht. USA und UdSSR waren 1970 weltweit die bestimmenden Staaten, was zumindest vermuten lässt, dass sie deshalb einbezogen wurden (inklusive Besuchen in Washington und Moskau), aber warum wurden die anderen Staaten einbezogen? Und warum andere nicht? Wenn die DDR wegen der gleichen Sprache einbezogen wurde, warum dann nicht zum Beispiel auch Österreich und die Schweiz? Solche Unklarheiten durchziehen die gesamte Studie. Sie ist in einer Struktur geschrieben, die eine Vollständigkeit suggerieren, welche nicht gegeben ist. Offensichtlich wurden im Rahmen der Studie immer wieder Entscheidungen getroffen, die im Nachhinein nicht begründet werden. Dies bezieht sich nicht nur auf die Auswahl der ausländischen Beispiele, sondern auch darauf, was dargestellt wird und was nicht. Letztlich scheint dies sehr interessensgesteuert geschehen zu sein. Gleichwohl ist nicht klar, wozu diese internationalen Beispiele, zum Teil mit sehr umfangreichen Dokumenten im Anhang, dargestellt werden. Für den weiteren Text der Studie haben sie keinen weiteren Einfluss.

Dabei beginnt die Studie mit einem nachvollziehbaren Forschungsplan. In einem ersten Schritt wurde versucht, in den Kultusministerien der Länder mit den Verantwortlichen für Schulbibliotheken Interviews zu führen, die einen ersten Überblick zur Situation der Schulbibliotheken geben sollten. In diesen Interviews sollten zudem Schulbibliothek erfragt werden, die als vorbildlich gelten können, um sie anschliessend zu besuchen. (In der heutigen Diktion wären dies wohl eine „Best Practice Analyse“.) Allerdings war es schon schwierig, in den Ministerien Verantwortliche für Schulbibliotheken zu lokalisieren. Die Zuständigkeiten waren selten geklärt, kaum gab es jemand speziellen, der oder die ein Wissen über die Schulbibliotheken im jeweiligen Bundesland hatte. Deshalb konnte das Projektteam auch kaum vorbildliche Schulbibliotheken ausmachen, sondern bekam stattdessen vorbildliche Schulen genannt, bei denen vermutet wurde, dass sie auch gute Schulbibliotheken hätten. Anschliessend besuchte das Team diese insgesamt 55 Schulen und bewertete sie anhand eines Leitfadens; gleichzeitig informierte es sich über die Situation den oben genannten Ländern.

Der längste Teil der Studie beschreibt die Ergebnisse dieser Besuche. Die Ergebnisse seien ernüchternd, genauer: Die Schulbibliotheken seien, wenn sie vorhanden sind, nicht modern. Die wenigen offiziellen Texte zum Thema sowie die meisten Schulbibliotheken selber seien daraufhin ausgerichtet, der Jugend „gute Literatur“ zur Verfügung zu stellen, nicht aber, den modernen Unterricht oder die Selbstarbeit der Jugendlichen zu befördern. Die Schulen würden nicht verstehen, dass Schulbibliotheken für den Unterricht genutzt werden könnten, vielmehr „[wurde i]n den zahlreichen Gesprächen […] sichtbar, wie tief die Vorstellung von der Übereinstimmung von Schülerbüchereien und Unterhaltungs- und Freizeitbüchereien im Denken der Lehrerschaft verwurzelt scheint.“ (Doderer et al., 1970, 49)

Im Gegensatz zur Vorstellung des Projektteams, die Schulbibliotheken in der Schule integriert sehen wollen, würde von den Lehrerinnen und Lehrern oft den Kolleginnen und Kollegen, welche die Schulbibliothek betreuten, damit Respekt gezollt, dass ihnen nicht in die Arbeit hinein geredet wurde – oder anders, dass sie machen konnten, was sie wollten, ohne das dies Einfluss auf den restlichen Schulalltag haben musste.

Sowohl in den Schulen als auch in Öffentlichen Bibliotheken fanden sich Stimmen, die sich für eigenständige Schulbibliotheken und solche, die sich für die starke Zusammenarbeit von Schulbibliotheken und Öffentlichen Bibliotheken aussprachen. Dabei würde den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren teilweise das notwendige pädagogische Wissen abgesprochen, eine Schulbibliothek zu führen. Eine einheitliche Meinung zu dieser Frage fand sich aber nicht.

Moderne Schulbibliotheken, 1970

Wie erwähnt, bewertete das Projektteam die vorgefundenen Schulbibliotheken, vor allem von den eigenen Vorstellung einer modernen Schulbibliothek ausgehend, negativ. Allerdings ist auch diese moderne Schulbibliothek eher skizziert, als klar dargestellt. Im ersten Teil der Studie – also noch vor der Darstellung des Status Quo – werden dazu einige Behauptungen aufgestellt. Schulbibliotheken müssten zentrale Einrichtungen einer Schule sein. Ohne solche zentralen Schulbibliotheken sei es nicht möglich, im Unterricht eine sinnvolle Didaktik zu entwickeln, die auf wissenschaftliches Arbeiten abzielt und zum eigenständigen Umgang mit Büchern und anderen Informationsmitteln zu erziehen.6 Zentrale Schulbibliotheken wären Teil demokratischer Schulen, die Kinder und Jugendliche dazu erziehen würden, selbstständig zu denken und zu entscheiden.7

„Es geht im Umgang mit einer Bibliothek um die Erkenntnis und das tägliche Durchüben des »know how«, was zur Entwicklung der geistigen Selbständigkeit des Menschen unerläßlich ist. Es geht damit zugleich auch um eine Entromantisierung des literarischen Bewußtseins, das sich manchmal heute noch mit unreflektierten Affirmationen begnügt, statt kritische Reflektionen in Gang zu setzen.“ (Doderer et al., 1970, 14)

Diese zentralen Schulbibliotheken sollten sich dadurch auszeichnen, dass sie (a) grundsätzlich für alle Schultypen gleich sein müssten (da sie die gleichen Chancen bieten sollten), wobei sie in den (geplanten) Gesamtschulen ihre grösste Wirkung entfalten würden, (b) für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer zugleich konzipiert wären, und keine spezielle „Lehrerbücherei“ mehr zuliessen, (c) der Zugang zu ihnen demokratisch, also für alle gleich, geregelt und pädagogisch (und nicht auf „das gute Jugendbuch“ hin) orientiert wäre, und sie (d) grundsätzlich auf eigenständige Bildung der Jugendlichen ausgerichtet seien.

„[Die] Freigabe des Buches ist eine notwendige Forderung auch innerhalb des Demokratisierungsprozesses, den unsere Schule durchzumachen hat, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, nämlich mündige Bürgen von morgen heranzubilden.“ (Doderer et al., 1970, 12)

Diese Schulbibliotheken wären sinnvoll in die Didaktik moderner Schulen, inklusive Gruppenarbeiten und selbstständigen Lernen, zu integrieren. Sie würden als Lernwerkstätten funktionieren. Autoritäre Lehrmethoden würden hingegen keine modernen Schulbibliotheken benötigen. (Mit dieser These können „alte“ Schulbibliotheken auch als Einrichtungen verstanden werden, die autoritäre Lehrmethoden fördern würden.)

„Eine Schule, die den Schülern also [mittels autoritärer Didaktik] auf das genormte Lehrbuch und auf den überhöhten Wissensvorsprung des Lehrers anlegt, bedarf in ihrer hierarchischen Ordnung prinzipiell auch keiner jedermann zugänglichen Bibliothek.“ (Doderer et al., 1970, 16)

Insoweit schliesst das Projektteam, dass moderne, zentrale Schulbibliotheken Teil der Bildungsreform sein müssten. Nur mit ihnen seien deren Ziele – nämlich demokratische Schulen – zu erreichen.

„Es wird höchste Zeit, daß die Schulreform sich dieses Gebietes annimmt. Wir brauchen überall moderne zentrale Schulbibliotheken!“ (Doderer et al., 1970, 17)

Exkurs: Erstaunlich ist mit dem Blick von heute, dass sich die Argumentationen für Schulbibliotheken immer noch gleichen: Der jeweils aktuelle Diskurs über Bildung wird aufgerufen und es wird postuliert, nur mit Schulbibliotheken sei dieser zu bedienen, dabei wird zumeist auf modernen Lehrmethoden verwiesen, die sich in der Schulbibliotheken sinnvoll durchführen liessen, wobei sich diese „modernen Lehrmethoden“ kaum unterscheiden, sondern über Jahrzehnte immer wieder Teamarbeit, Projektarbeit und selbstständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler mit den jeweils aktuellen Medien und Informationsmitteln bedeuten. Dabei wird die existierende Situation fast vollständig als defizitär beschrieben und kritisiert. Hingegen werden hohe Forderungen an Schulbibliotheken – sowohl was ihre Aufgaben und angenommen Wirkungen als auch was ihre Infrastruktur angeht – gestellt, die selber nur zum Teil begründet sind und gleichzeitig von kaum einer Schulbibliothek in Deutschland erfüllt werden. Zudem wird in vielen Texten der Eindruck erzeugt, es wäre „jetzt“ notwendig, zu handeln. Dies unterscheidet die Studie (Doderer et al., 1970) nicht wirklich von aktuellen Äusserungen. (Deutscher Bibliotheksverband 2015; Lücke & Sühl, 2015; Kirmse, 2012)

Rabiate Thesen

Teil C der Studie beginnt dann, nach der Schilderung des Status Quo, ohne weitere Ankündigung, mit Thesen zur modernen Schulbibliothek, gefolgt von einigen kurzen Ausführungen zu diesen. Wie diese entstanden sind, ist nicht ersichtlich. Der Logik des Buches folgend, hätten sie aus dem Status Quo der Schulbibliotheken (Teil B) entwickelt werden müssen, aber dies ist offenbar nicht geschehen. Stattdessen erhebt das Projektteam mit diesen Thesen bestimmte Forderungen, die kaum begründet sind. Wie gesagt, findet sich in den darauf folgenden Jahrzehnten eine ähnliche Struktur in weiteren Texten und Projekten wieder. Diese Praxis, einer Schilderung der Situation von Schulbibliotheken direkt Forderungen anzuschliessen, um diese Schulbibliotheken grundlegend zu verändern, scheint in dieser Studie ihren Ausgangspunkt gehabt zu haben.

Die Thesen seien hier in Gänze zitiert:

„Neun Thesen zum Modell einer modernen Schulbibliothek

1. Die Schulbibliothek steht zentral im schulischen Leben. Das erfordert ihre entsprechende räumliche Gliederung.

2. Die Schulbibliothek dient Schülern wie Lehrern gleichmaßen als Informations-, Lese- und Arbeitsstätte, aus der sich Schüler wie Lehrer ständig neue Impulse für die Unterrichtsarbeit holen können.

3. Soll die Schulbibliothek die an sie gestellten Forderungen erfüllen, muß sie von sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren geleitet werden.

4. Die Schulbibliothek steht Schülern wie Lehrern während der gesamten Unterrichtszeit (am besten ganztägig) zur Verfügung,. Sie muß die notwendigen Voraussetzungen bieten, um von Schülern oder Lehrern jederzeit für individuelle Studien oder Gruppenarbeit genutzt werden zu können.

5. Quantität und Qualität des Buchbestandes müssen der zentralen pädagogischen Bedeutung der Schulbibliothek gerecht werden. Zehn Titel pro Schüler sind zu fordern. Die Titelauswahl hat nach den Belangen der unterrichtlichen und gesamtpädagogischen Konzeption der betreffenden Schule zu erfolgen.

6. Die Katalogisierung und Aufstellung der Bücher soll in allen Bundesländern einheitlich sein. Die Schulbibliothek erfordert ein an ihren Funktionen orientiertes eigenes Katalogisierungssystem, das geeignet ist, die Schüler auf die spätere Nutzung von Öffentlichen, Wissenschaftlichen, Fach- und Spezialbibliotheken vorzubereiten, dessen Konstruktion aber auch das unterschiedliche Auffassungsvermögen von Schülern der verschiedenen Schulstufen berücksichtigt. Jede Schulbibliothek braucht einen Autoren-, Sach-, Titel- und Standortkatalog.

7. Um eine möglichst große Effektivität der Schulbibliothek zu gewährleisten, müssen Buch- und Bibliothekskunde in den Arbeits- und Stundenplan einbezogen werden.

8. Die Schulbibliothek kann ihre Funktionen nur erfüllen, wenn alle an der Schule beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und Personen (Schulleiter, Lehrer, Schulbibliothekar, Schüler und Eltern) in aufgeschlossener Weise zusammenarbeiten.

Dem Aufbau der Bibliothek und ihrer Integration in den Unterricht ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

9. Die moderne Schulbibliothek soll die Demokratisierung der Bildung im heutigen Schulwesen ermöglichen helfen und den jungen Menschen frühzeitig durch Bereitstellen von Quellentexten zum selbständigen Erwerb von Informationen und intellektuellen Erfahrungen als Grundlage kritischen Urteilsvermögens befähigen.“ (Doderer et al., 1970, 88f.)

Diese Thesen zeichnen einen Bibliothek, die vom Grundgedanken der „Demokratisierung der Bildung“ ausgehend eine zentrale Einrichtung innerhalb der Schule darstellt; insbesondere soll sie die Rolle als Arbeitsplatz für selbstständige Arbeiten darstellen und zugleich als bibliothekarisch geführte Einrichtung den Bestand an Unterricht und dieser Selbstbildung orientieren. Zudem soll die Schulbibliothek mit der Schulgemeinschaft zusammenarbeiten. Diese Thesen klingen nicht unbedingt, als wären sie veraltet; vielmehr werden sie auch heute noch erhoben. (Deutscher Bibliotheksverband, 2015) Einzig die neunte These, diejenige, in der es um Demokratisierung geht, wird heute nicht mehr genannt.

Das Projektteam hat diese Thesen erstellt, um eine Einrichtung zu skizzieren, welche in einer demokratischen Schule ihrer Meinung nach bestmöglich funktionieren würde. Das Problem ist allerdings, dass sie in ihrer eigenen Studie keine Einrichtung dieser Art gefunden haben. Im Rahmen der Bildungsreform scheint das nicht erstaunlich: Wenn die Schulen, wie sie vorgefunden werden, normalerweise als unzureichend angesehen und nur utopisch entworfene Schulen der (nahen) Zukunft als richtig angesehen werden, ist es auch verständlich, die vorgefundenen Schulbibliotheken als unzureichend anzusehen und utopische Modelle von Schulbibliotheken – deren Sinn sich den zeitgenössischen Schulen noch nicht erschlossen haben kann, weil diese ja unzureichend seien – zu entwerfen. Die Aufgabe der Umsetzung dieser Thesen wird dann, wie in den frühen 1970er Jahren normal, dem Staat zugeteilt. (Hierbei kommt dann auch das Wort „Übergangslösungen“ (Doderer et al., 1970, 105) auf, dass dann in späteren Texten zu Schulbibliotheken eine Rolle spielen wird.) Das ist aus der historischen Situation, in der diese Studie entstand, heraus zu erklären.

Dennoch ist der Sprung erstaunlich. In der ganzen Studie gibt es zum Beispiel, ausser dem Verweis, dass es in einigen anderen Staaten, aber nicht allen, so gehandhabt würde, keine Herleitung, warum die Schulbibliothek, die von einer bibliothekarisch ausgebildeten Person geführt wird, besser für die Schule (oder die Demokratisierung der Bildung) wäre, als andere Formen von Schulbibliotheken. Dies wird einfach behauptet. Dies gilt auch für die anderen Thesen. Sie stellen eine Wunschvorstellung dar, die man selbstverständlich entwickeln kann, gerade in Zeiten, in denen utopische Entwürfe gefragt sind.8 Aber es ist nicht ersichtlich, warum sie einer umfangreichen Studie zum Status Quo bedurften. Erstaunlich ist auch, dass nicht wirklich gezeigt wird, wie diese „modernen Schulbibliotheken“ den Schulalltag verändern würden, sondern das einfach behauptet wird, dass sie es tun werden.

Fazit: Langfristige Wirkungen für das Denken über Schulbibliotheken

Wenn in diesem Text immer wieder auf die Zeit, in welche die besprochene Studie entstand, verwiesen wurde, hatte dies vor allem den Grund, zu zeigen, dass der Aufbau und das Vorgehen der Studie auch in dieser Zeit der Bildungsreform in der Bundesrepublik verankert war. Dies ist bedeutsam, da, wie ebenfalls mehrfach betont, die Studie am Anfang eines Projektes stand, dass langfristige Wirkungen hatte. Im Buch wird die These aufgestellt, dass es eine Zeit dauern wird, bis Politik und Verwaltung vom Nutzen zentraler Schulbibliotheken überzeugt wären und es gälte, die Zeit bis dahin zu gestalten. (Doderer et al., 1970, 105ff.) Hätte dies zugetroffen, dann wäre der Verdienst der Studie, diese Entwicklung angestossen zu haben. Aber dies ist nicht, was späterhin eintrat. Sicherlich wurden in den nächsten Jahren, zumeist zusammen mit Gesamtschulen, einige zentrale Schulbibliotheken gegründet, teilweise sind diese noch heute aktiv oder in eine andere Form überführt worden. Andere sind währenddessen wieder geschlossen worden. Aber der Grossteil der Schulen ist auch bis heute ohne diese ausgekommen, Verwaltung und Politik sind nicht überzeugt.

Die langfristige Wirkung der Studie scheint eher, dass sie ein Denken über Schulbibliotheken strukturell vorbereitet hat, dem insbesondere im bibliothekarischen Rahmen in den deutschsprachigen Ländern lange gefolgt wurde. Ausläufer sind bis heute zu finden, auch wenn es – beispielsweise durch die Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken – zum Teil relevante Gegendiskurse gibt. Die Vorstellung, dass Schulbibliotheken immer wieder neu als bibliothekarische Einrichtungen zu entwerfen seien, dass andere Formen von Schulbibliotheken als unzureichend abgelehnt werden müssten, das Schulbibliotheken vor allem das selbstständige Lernen unterstützen würden und auf der Seite des Fortschritts (wenn schon nicht des gesellschaftlichen, dann des pädagogischen oder technischen) stehen würden, findet sich das erste Mal so klar ausformuliert in dieser Studie und wird dann immer wieder reproduziert. Allerdings, und das ist das erstaunliche, wird sehr schnell die Begründung für diese „modernen Schulbibliotheken“ fallen gelassen. Vielmehr scheint es, als würden die Behauptungen über die Bedeutung von Schulbibliotheken immer wieder dem gerade aktuellen Diskurs angepasst. War der Entwurf 1970 noch erstellt worden, um einen demokratischen Zugang zu Medien und damit in den Schulen ein Lernen und Lehren „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen, scheint dies im Laufe der Zeit fallen gelassen zu sein. Aktuell ist es – noch – die Lesekompetenz, aber auch schon die Medienbildung, die von Schulbibliotheken unterstützt werden soll, in den Jahren dazwischen die jeweils vorherrschenden Themen. (Deutscher Bibliotheksverband 2015; Lücke & Sühl, 2015; Kirmse, 2012) Das macht die Behauptungen zumindest fragwürdig: Die Schulbibliotheken, die als jeweils modern beschrieben werden, werden nicht mehr von den Aufgaben, die sie erfüllen sollen, ausgehend hergeleitet, sondern immer wieder dem aktuellen Diskurs angepasst. Gleichzeitig ändert sich die Vorstellung davon, was diese Bibliothek sein soll, nicht.

Insoweit ist die Argumentation für Schulbibliotheken mit der Zeit schwächer geworden. War sie 1970 aus dem vorherrschenden Diskurs heraus, mit der gleichen ungeduldigen Haltung entworfen worden, wie zahlreiche andere Programme im Bildungswesen der damligen Zeit, scheint sie heute an die Debatten „angehangen“ zu werden und ist, im Vergleich mit anderen Reformvorschlägen, ungewöhnlich rabiat und fordernd. Gleichzeitig ist sie immer noch so schwach an die Realität in den Schulen gebunden, wie 1970. Wie gesagt: 1970 war es normal, die vorgefundenen Schulen und damit auch die vorgefundenen Schulbibliotheken als unzureichend zu verwerfen. Aber nach einigen Jahrzehnten lässt sich feststellen, dass es einen Grund geben muss, wenn Schulbibliotheken sich nicht so entwickeln, wie immer wieder aus dem bibliothekarischen Kontext heraus gefordert. Wenn Schulen sich nicht immer, aber doch beständig für andere Formen von Schulbibliotheken entscheiden, muss es dafür Gründe geben. Eine These wäre, dass sie sich die Schulbibliotheken schaffen, die sie benötigen. Zumindest wäre es sinnvoll, die Realität in den Schulen selber stärker wahrzunehmen.

Die Studie von 1970 ist von historischer Bedeutung, da sie die heutige Diskussion über Schulbibliotheken strukturiert hat. Aber sie ist historisch und bedarf einer Neufassung. In einer vergleichbaren Studie, die heute durchgeführt würde, wäre es notwendig, Schulbibliotheksmodelle, die als „modern“ entworfen werden, aus dem Schulalltag und den Aufgaben der Schulen heraus zu entwerfen (was in der Studie von 1970 getan wurde, nur dass sich diese Aufgabe, nämlich die Demokratisierung von Bildung, extrem in den Hintergrund geschoben wurde), vor allem würden Entscheidungen (Wieso wurden bestimmte Länder, Schulen, Schulbibliotheken besucht? Wieso wurden bestimmte Bewertungen getroffen? Wieso wurden den „modernen Schulbibliotheken“ bestimmte Charakteristika zugeschrieben und andere nicht?) begründet. Nicht zuletzt würde die historische Erfahrung mit Forderungen für „moderne Schulbibliotheken“ und den Umsetzungsversuchen, die es währenddessen gegeben hat, mit einbezogen.

Literatur

Arbeitsgemeinschaft multimediale Schulbibliothek; Schöggl, Werner ; Hofer, Stephan ; Hujber, Wendelin ; Macho, Margit ; Rathmayer, Jürgen ; Sygmund, Bruno ; Funk, Sabine (2003). Die multimediale Schulbibliothek. Wien : Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2003, https://www.bmbf.gv.at/schulen/service/bibl/SB_Multimedia_11285.pdf?4f2jk2

Deutscher Bibliotheksverband (2007). Der Ausbau schulbibliothekarischer Arbeit als Herausforderung für das deutsche Bibliothekswesen. Ein Positionspapier des dbv. Deutscher Bibliotheksverband, 2007, http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/Kommissionen/Kom_BibSchu/Publikationen/2007-07-30_Positionspapier_schulbiblioth_Arbeit.pdf

Deutscher Bibliotheksverband (2015). Lesen und Lernen 3.0: Medienbildung in der Schulbibliothek verankern!. Deutscher Bibliotheksverband, 2015, http://www.schulmediothek.de/fileadmin/pdf/DieFrankfurterErklaerung.pdf

Deutscher Bildungsrat (1970). Strukturplan für das Bildungswesen: Empfehlungen der Bildungskommission. Stuttgart : Klett Verlag, 1970

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Gattermann, Jutta ; Siegling, Luise (1970). Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung ; 19). Hamburg : Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970

Friedeburg, Ludwig von (1989). Bildungsreform in Deutschland : Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1989

Kirmse, Renate (2012). Mission impossible: Oder: Vom Aufbau einer Schulbibliothek in 154 Tagen. In: Bibliotheksdienst 46 (2012) 11, 894–902

Lücke, Birgit ; Sühl, Hanke (2015). Schulbibliotheken als Dreh- und Angelpunkt medienpädagogischer Arbeit: Die Frankfurter Erklärung: Lesen und Lernen 3.0. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 67 (2015) 08-09, 540–541

Fussnoten

1 Vgl. den letzten Post zur Geschichte der Schulbibliotheken: Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek (1975) Alles muss einheitlich sein. (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIV), https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2015/06/11/theorie-organisation-und-praxis-der-schulbibliothek-1975-alles-muss-einheitlich-sein-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-xiv/

2 Heute existiert sie als unregelmässig bediente Rubrik in der kjl&m weiter.

3 Das ein ähnlicher Gestus dann in den 1990er Jahren wiederkehrte, der vor allem in allen möglichen Zusammenhängen vorgebliche Ineffizienz und Bürokratie bemängelte, Krisensituation ausmachte, zum Teil auch eher behauptet statt nachwies, um dann vor allem betriebswirtschaftliche Lösungen anzubieten, ist bemerkenswert. Aber es gibt wichtige Unterschiede: Ging es Ende der 1960er, Anfang der 1970er auch im Bildungswesen vor allem um eine bessere, demokratischere, sozialere Welt, die angestrebt wurde, ging es ab den 1990ern um eine effizientere Gesellschaft, zumeist aus Gründen der Effizienz selber.

4 Oder mit einem anderen Wort: Ideologeme.

5 Nicht nur in Deutschland, ein gutes Beispiel ist das Projekt „Multimediale Schulbibliothek“ aus Österreich (Arbeitsgemeinschaft multimediale Schulbibliothek, 2003), dass erst mittels Fragebogen den Status Quo erhob und dann daraus Schlüsse zog, wie diese zu verändern seien.

6 Bemerkenswert ist wohl, dass auch 1970 nicht von Büchern alleine gesprochen wurde, sondern andere Informationsmittel explizit erwähnt wurden. Zumindest die vom Projektteam entworfenen Schulbibliotheken beschränkten sich nicht nur auf „traditionelle“ Medien. Wenn dann noch in den 2010er Jahren teilweise argumentiert wurde, dass Bibliotheken „jetzt“ aufhören müssten, Buch-orientiert zu sein, scheint dies anachronistisch. Neu war die Forderung nicht, also muss es einen Grund gehabt haben, dass sie sich zumindest bei einigen Bibliotheken auch bis in die 2010er Jahren nicht durchgesetzt hatte – oder aber, die Feststellungen in den 2010er Jahren waren nicht situationsgerecht.

7 Aus der heutigen Diskussion erscheint es absurd, Jugendliche zum selbstständigen Denken „erziehen“ zu wollen; vielmehr würde heute davon ausgegangen, dass sie nicht „erzogen“, sondern auf ihrem Lernweg unterstützt werden müssten. Aber dieser Widerspruch war 1970 nicht unbedingt verbreitet.

8 Auf Seite 90 (Doderer et al., 1970, 90) findet sich zum Beispiel auch die Vorgabe, dass das Projektteam für eine moderne Schulbibliothek mit 10 Büchern pro Schülerin und Schüler (im Buch nur „Schüler“) rechnen würden. Diese Zahl ist nirgendwo begründet, aber von dieser Studie ausgehend wird sie anschliessend – zumeist ohne Quelle – in Texten zu Schulbibliotheken immer wieder reproduziert.

Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek (1975) Alles muss einheitlich sein. (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIV)

1974, in einer Zeit, in der in der damaligen BRD (und West-Berlin) intensiv über umgreifende Bildungsreformen gesprochen wurde – beispielsweise über die Arbeit des „Deutschen Bildungsrates“ oder das Wirken von Ludwig von Friedeburg als hessischem Bildungsminister, der damals daran ging, das dreigliedrige deutsche Schulsystem abzuschaffen – beschloss die Kommission „Schulbibliotheken“ in der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (die später zum Deutschen Bibliotheksinstitut wurde) die Arbeit für die folgenden Jahre. Grund dafür war unter anderem, dass die Arbeitsstelle im Januar 1975 eine „Beratungsstelle für Schulbibliotheken“ übernahm, die seit 1970 in einem Projekt an der Universität Frankfurt am Main aufgebaut worden war. (Doderer et al., 1970) Der Zeitpunkt ist bedeutsam: Die Bildungsreform, die Mitte der 1960er mit grossem Effort begonnen worden war, neigte sich einem Ende zu. Im Nachhinein kann festgehalten werden, dass in dieser Reform – in Verbindung mit den Reformen, die innerhalb der Gesellschaft durchgesetzt wurden – viel erreicht wurde: Bildungseinrichtungen wurden in grossem Masse aufgebaut worden (Schulen, Universitäten etc.), als Ziel von Bildung galten jetzt grundsätzlich selbstbewusste, kritischen Schülerinnen und Schüler, der Ausgleich von sozialen Ungleichheiten wurde angestrebt, neue Unterrichtsformen – sowohl solche, die demokratischer waren als zuvor als auch solche, die auf neue technische Möglichkeiten setzten – waren nicht nur erprobt, sondern teilweise auch durchgesetzt worden, Schulen und Universitäten in Ansätzen demokratisiert. Gleichwohl: 1975 war auch das Jahr, in welchem der Bildungsrat seine Arbeit einstellen musste, Dezember 1974 war von Friedeburg wegen heftiger Proteste gegen seine Bildungspolitik zurückgetreten, in der grossen Politik ging die Ära Brandt zu Ende, die Ära Schmidt begann. Es ging immer mehr um das Erhalten des Erreichten als um weitere Veränderungen.

Genau in dieser Umbruchszeit legte die Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, nachdem dies in der Beratung 1974 besprochen wurde, 1975 eine Publikation vor, welche vom Anspruch her den Leitfaden für den Aufbau eines alle Schulen der damaligen BRD umfassenden Schulbibliotheksnetzwerkes und für die Arbeit der Arbeitsstelle selber darstellen sollte: Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek: Ein Diskussionsbeitrag (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975). Dieser Text hatte eine grossen Einfluss, indem er das Denken des deutschen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken zum Teil bis in die 2000er Jahre hinein prägte. Eine Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Text – genannt werden im Impressum Birgit Dankert, Horst Meyer, Klaus Schleusener, Erich H. Wurster, Peter Zimmermann, Wolgang Dittrich und Helga Goedecke – waren lange Jahre mit Schulbibliotheken beschäftigt (Birgit Dankert lehrte beispielsweise bis 2007 in Hamburg und publizierte noch 2009 einen Text zu Schulbibliotheken in der BuB (Dankert, 2009).), gleichzeitig finden sich Angaben und Vorstellungen aus dieser Publikation später in vielen Texten wieder (z.B. Hoebbel & Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts, 2003). Zudem hatte er, durch seine Veröffentlichung durch den Deutschen Bibliotheksverband selber, eine quasi-offiziellen Charakter.

Die gesamte Publikation ist auf der einen Seite vom Geist der Bildungsreform, insbesondere vom damaligen Planungsoptimismus, der praktisch davon ausging, dass Bildungseinrichtungen einfach einheitlich geplant werden können und auch sollten, durchzogen. Gleichzeitig ist die Publikation praktisch bei ihrem Erscheinen schon überholt: Der Zeitgeist, welcher die Bildungsreform, aber auch die anderen gesellschaftlichen Reformen, getragen hatte, hatte sich gewandelt. (Nur zur zeitlichen Verortung: 1975 war beispielsweise auch das Jahr, in dem sich die Auseinandersetzung um die erste Generation der RAF im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim zuspitzt, 1974 mit dem ersten Toten im Hungerstreik und sich auch der „Deutsche Herbst“, der dann 1977 voll beginnt, ankündigt. Die Euphorie des Aufbruchs vor vorbei, überall.) Gleichzeitig passt der Text in seine Zeit: Auf der einen Seite – insbesondere bei der Darstellung der zukünftigen Schulpädagogik – ist er fortschrittlich, auf der anderen Seite ist er erstaunlich autoritär.

Idee: Überall muss eine Schulbibliothek sein

Der Text geht grundsätzlich von der Annahme aus, dass es ein Schulbibliothekswesen für die gesamte BRD (über die damals nachgedacht wurde) geben müsse und auch würde. Es wurde angenommen, dass diese Schulbibliotheken grundsätzlich dem Öffentlichen Bibliothekswesen beigeordnet sein müssten, dass sie in allen Schulen errichten werden müssten und das der Text aufzeigen müsse, wie ein solches Schulbibliothekssystem aussehen sollte. Dabei fällt auf, dass es nur eine sehr kurze Begründung dafür gibt, warum Schulbibliotheken überhaupt eingerichtet werden müssten; vielmehr wird, mit Rückgriff auf ein damals oft zitiertes Gutachten der „Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung“ (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, 1973) über Öffentliche Bibliotheken sowie den „Bibliotheksplan 1973“ (Deutsche Bibliothekskonferenz, 1973), einfach angenommen, dass es praktisch eine überall geteilte Position sei, dass dieses Netz an Schulbibliotheken aufgebaut würde. Dies kann für den gesamten Text nicht stark genug betont werden: Es geht nicht darum, zu begründen oder abzuwägen, was Schulbibliotheken sein könnten oder wozu sie sinnvoll wären, sondern es gibt ein Idealbild – jede Schule in der BRD mit einem einheitlichen Angebot – von dem aus alles andere bewertet wird. Zugleich erhebt die Arbeitsstelle mit dem Text den Anspruch, die Institution zu sein, welche über Schulbibliotheken und deren Ausstattung entscheiden könne. Dies macht einen grossen Teil der autoritären Haltung des Textes aus.

Beispielsweise – und das wird in den folgenden Jahren, zum Teil bis heute, ein, wenn auch nicht immer ausgesprochener, Konfliktpunkt zwischen Aktiven in Schulbibliotheken und dem Öffentlichen Bibliothekswesen sein – werden nur Schulbibliotheken, die als Spezialfall von Öffentlichen Bibliotheken wirken, dem Öffentlichen Bibliothekswesen eingegliedert sind, von bibliothekarischem Personal geführt werden und bibliothekarischen Regeln folgen, wirklich als Schulbibliotheken anerkannt.1 Alle anderen Einrichtungen gelten als unfertig. Sie seien in einer „Übergangszeit“ zu akzeptieren, aber eigentlich nicht hinzunehmen. Dies ist keine Überspitzung, sondern erscheint in ähnlichen Formulierungen, insbesondere mit dem Begriff „Übergang“, immer wieder im Text. Gleichzeitig werden alle Projekte, die in den Jahren zuvor im Bereich Schulbibliotheken unternommen wurden, als Vorläufer der eigenen Arbeit interpretiert. Beklagt wird allerdings, dass diese Projekte und Ansätze uneinheitlich seien.

Grundsätzlich alles wird im Bezug auf diese Idealbild bewertet, gleichzeitig scheint die Vorstellung vorzuherrschen, dass dieser Zustand in absehbarer Zeit erreicht werden würde. Im Nachhinein ist das absurd, da die Bildungsreform – für die, man denke nur an die zahlreichen Universitätsgründungen dieser Jahre, tatsächlich relativ viel Geld in Hand genommen wurde – praktisch vorbei war, als der Text entstand. Ob dies in der damaligen Zeit auch so erlebt wurde, ist eine andere Frage. Grundsätzlich schwierig sind an dieser Haltung aber zwei Dinge: Zum einen hat sich diese Vorstellung indirekt bei einem Teil der aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen heraus für Schulbibliotheken Tätigen über lange Jahre erhalten. So wurde lange Schulbibliotheken, die zum Beispiel von Lehrerinnen und Lehrern oder Ehrenamtlichen geführt wurden, als unvollständig angesehen. (Siehe nochmal als gesammeltes Beispiel solcher Haltungen, Hoebbel & Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts, 2003) In den Jahren nach 1975 hätte aber klar werden müssen, dass ein solcher Aufbau von Schulbibliotheken nicht zu erwarten wäre. Zum anderen verzichtet diese Haltung darauf, zu fragen, was Schulen eigentlich genau mit Schulbibliotheken anfangen sollen, wie diese im Schulalltag zu welchen Zwecken und mit welchen Effekten eingebaut werden sollten. Auch diese Haltung wird in späteren Texten immer wieder auftauchen: Anstatt sich um die mögliche Arbeit in Schulbibliotheken Gedanken zu machen, wird oft darüber geredet, wie diese ausgestattet sein müssten und das dies bislang nicht geschehen sei. Im Endeffekt verstellt das Idealbild also einen Blick auf die Realität in den Schulen, da es Schulbibliotheken offenbar nur als spezialisierte Öffentliche Bibliotheken verstehen kann.

Es wäre ein Aufgabe zu untersuchen, wie diese Haltung zustande kam. Zum Teil wird dies aus den Diskursen und Vorgehensweisen in der Bildungsreform zu erklären sein – der oben erwähnte Ludwig von Friedeburg war beispielsweise auch dafür bekannt, Pläne, die er richtig fand, einfach gegen jede Kritik durchdrücken zu wollen2 –, aber das kann nicht die alleinige Erklärung sein. Das Buch, welches am Anfang des Projektes in Frankfurt am Main stand (Doderer et al., 1970) ist beispielsweise noch nicht so einseitig.

Gleichwohl ist der Ton des Textes an vielen Stellen auch optimistisch. Es wird auf eine rege Diskussion zum Thema Schulbibliotheken im Bibliothekswesen verwiesen (bezeichnenderweise nicht auf Diskussionen in pädagogischen oder bildungspolitischen Zusammenhängen), es werden Projekte angeführt, die schon laufen oder demnächst beginnen sollen. Es wird behauptet, dass Schulbibliotheken Thema in der bibliothekarischen Ausbildung geworden seien. Offenbar sind die Autorinnen und Autoren zum Zeitpunkt der Publikation davon überzeugt, dass die Entwicklung umstandslos in Richtung ihres Idealbildes gehen würde und nur noch eine „Übergangszeit“ überbrückt werden muss.3

Zudem ist der Text an einigen Stellen irritierend fortschrittlich, insbesondere an den Stellen, an den es um pädagogische Fragen geht, beispielsweise um die neuen Aufgabe von Schulen, und gerade nicht um die Schulbibliotheken selber.

Aufbau und Begründung

Der Publikation folgt einem logischen Aufbau: Nach einigen einleitenden Worten wird die Situation von Schulbibliotheken dargestellt – immer von der Annahme ausgehen, sich in einer „Übergangszeit“ zu befinden –, anschliessend eine Herleitung der Aufgabe von Schulbibliotheken aus den pädagogischen Aufgaben der Schulen versucht. Der grössere Teil der Arbeit wird darauf verwendet, die Richtwerte und Leitlinien zukünftiger Schulbibliotheken darzustellen, anschliessend Angaben zum Betrieb und Personal dieser Schulbibliotheken zu machen. Allerdings ist das Verhältnis nicht ausgeglichen: Die Herleitung selber ist wenig überzeugend und vor allem kurz, während die Angaben zur Organisation der Schulbibliotheken ausführlich sind.

Die Broschüre greift die Grundtendenzen der zeitgenössischen Schulreformen auf und beschreibt den modernen Unterricht als einen, der selbstständig entscheidende Schülerinnen und Schüler hervorbringen will. Zudem werden die Ziele in einer Weise beschrieben, die gerade heute wieder (als innovative, jetzt von gesellschaftlichen Zielen und Debatten losgelöste) moderne Pädagogik beschrieben wird: Kompetenzorientiert und konstruktivistisch.

„Lehrer sollten sich nicht nur als Mittler von Wissen verstehen, sondern vor allem als Organisatoren und Anreger von Lernvorgängen; ihre Funktion ist eher beratend als instruierend. Die Schüler sind dementsprechend nicht mehr einseitig Informationsträger, sondern werden selbst aktiv durch Mitarbeit bei der Formulierung von Lernzielen und bei der Auswahl der Lerninhalte und -methoden. […]

Anzustreben ist eine Vermittlung und Anwendungen dieser Fähigkeiten [Grundfertigkeiten im Umgang mit Informationen, KS.] in möglichst allen Schulfächern, damit nicht nur Techniken erlernt werden, hinter denen die Inhalte zurückstehen, sondern daß die Inhalte bestimmen, welche Grundfertigkeiten gelernt oder angewendet werden.“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:17)

In diesem Zusammenhang findet sich auch die These, dass Schulbibliotheken, in denen die Medien enthalten wären, welche die Lehrerinnen und Lehrer für ihre Unterrichtsplanung benutzen, allen Schülerinnen und Schülern ermöglichen würden, diese auch zu nutzen und sich somit demokratisierend auf die gleiche Ebene zu begeben, wie die Lehrenden. Ohne Schulbibliothek sein dies nur den Lernenden aus privilegierten Elternhäusern möglich. Schülerinnen und Schüler würden durch den Zugang zu Medien in der Schulbibliothek und einer aktiven Medienpädagogik dazu angehalten, die Distanz zu Medien abzubauen und den „relative[n] Charakter aller Medien, die notwendige Subjektivität aller ihrer Aussagen und Information“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:22) verstehen. Der Text spricht explizit von einer „Profanisierung der Medien“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:22) und postuliert, dass „Informationen […] im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit allen dienen [könnten]“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1973:22). Solche Aussagen und Anspielungen auf marxistische Theoretiker (hier Walter Benjamin) sind noch schwache Verweise auf die vorhergehenden Debatten um Bildung in der breiten Gesellschaft.

Ansonsten sei die Schulbibliothek nötig, weil der moderne Unterricht auf den Einsatz vielen unterschiedlicher Medien und Medienformen angewiesen sei. Dies sei neu mit Schulbibliotheken „systematisch“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:21) möglich.

Mit diesen Aussagen erschöpft sich aber die Begründung für Schulbibliotheken. Sie werden inhaltlich an die Bildungsreform gebunden, die dann einige Zeit später ausläuft.4 Gleichzeitig wird diese Verbindung nur behauptet, nicht nachgewiesen. Andere Möglichkeiten, wozu Schulbibliotheken im Alltag sinnvoll sein könnten, kommen gar nicht erst in den Blick. Vielmehr fährt die Broschüre damit fort, Einführungen in die Schulbibliothek zu entwerfen, die wenig mit dem zuvor geäusserten demokratisierenden Zielen, sondern eher mit der „richtigen“ Benutzung von Bibliotheken zu tun haben. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:25-31) Anschliessend folgt im Text die konkrete Arbeit der Schulbibliothek, teilweise sehr umfangreich. So wird der Schulbibliothek zum Beispiel die Aufgabe zugeschrieben, beständig Auswahl-Listen für Unterrichtsmaterial zu pflegen oder Medienpakete zusammenzustellen. Ganz offensichtlich wird hier die Schulbibliothek als kleine Öffentliche Bibliothek verstanden.

Erstaunlich ist auch, dass zwar an Stellen der Broschüre betont wird, dass eine Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrern notwendig wäre (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:29), aber gleichzeitig grosse Bereiche der Bestandsentscheidungen dem bibliothekarischen Personal vorbehalten werden: „Das Entscheidungsrecht der Pädagogen sollte […] solche Materialien nicht einbeziehen, die zur freien Nutzung bereitgestellt werden.“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:56)

Wie die Schulbibliotheken sein sollen

Wie schon mehrfach betont, geht der Text davon aus, dass der intensive Aufbau eines Schulbibliothekssystems bevorstehen würde. Dieses System entwirft der Text. Im Rückblick ist es erstaunlich, wie hoch die gestellten Forderungen sind. Grundsätzlich sollte es ein einheitlichen System von Schulbibliothek geben, mit gemeinsamen Richtlinien, die sich mit der Zeit aus den Erfahrungen der Schulbibliotheken ergeben sollten (der Text nennt zwar eine Anzahl von Werten, betont aber, dass es „zu früh“ sei, diese festzuschreiben), wenn auch nicht zu sehr standardisiert. (Hier widerspricht sich der Text, an einer Stelle wird die Standardisierung als unmöglich beschrieben, an anderen werden Richtlinien als notwendig angesehen.)

Grundsätzlich sollte es in jeder Schule der BRD eine Schulbibliothek geben – nur für die angebliche „Übergangszeit“ und für sehr kleine Schulen im ländlichen Raum werden Ausnahmen zugestanden –, die fachlich von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden sollten. Eingebunden wären diese Schulbibliotheken als Sonderformen von Öffentlichen Bibliothek in das Öffentliche Bibliothekssystem, nicht in das Schulsystem. Gleichwohl, und das ist Nachhinein wohl eine der erstaunlichsten Forderungen, sollte die laufenden Kosten aus dem Schuletat getragen werden. Oder anders: Die Öffentlichen Bibliotheken hätten über die Arbeit der Schulbibliotheken entschieden, die Lehrerinnen und Lehrer hätten in bestimmten Bereichen kooperieren dürfen, die Schulen hätten das bezahlt und unter anderem die Räume zur Verfügung gestellt. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:46) Diese Forderung wird mehrfach in unterschiedlicher Form erhoben, gleichzeitig wird, wie angedeutet, den Schulen kaum klargemacht, warum eine solche Schulbibliothek für die Schulen überhaupt sinnvoll wäre.

Eine der wenigen klaren Angaben, die sich in der Broschüre zugetraut wird, ist die vorläufige Personalplanung: für Schulen mit bis zu 500 Schülerinnen und Schülern wird eine bibliothekarische Fachkraft für 10 Wochenstunden und eine Bibliotheksangestellte / ein Bibliotheksangestellter für 20 Wochenstunden veranschlagt, für grosse Schulen (ab 2000 Schülerinnen und Schülern) eine Fachkraft für 40 Wochenstunden und zwei Angestellte für insgesamt 80 Wochenstunden.5 (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:79) 1975 gab es in der BRD (mit etwas mehr als 3000 Schulkindergärten) rund 29.000 Schulen.6 Es ist einfach zu sehen, wie hoch die Forderung in der Broschüre eigentlich war: irgendwo zwischen 58000 und 87000 Stellen (teilweise in Teilzeit) wurden auf diese Weise geplant.

Die Schulbibliothek sollten weiterhin Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen (SBA) beigeordnet sein. Diese Arbeitsstellen – deren heute noch bestehende Vorzeigeeinrichtung in Frankfurt am Main geplant und aufgebaut wurde, als die Broschüre entstand – erhalten im Text klar definierte Aufgaben zugeschrieben. Soweit ersichtlich, findet sich in diesem Text die umfassendste Darstellung der allgemeinen Aufgaben dieser SBAs. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:48) Sie sollten:

  • Die Einrichtung der Schulbibliotheken (Bauberatung, Planung der Einrichtung) vornehmen.

  • Für den Bestandsaufbau Empfehlungslisten für Grundbestände zusammenstellen und diese pflegen, zugleich Modellbestände vorhalten.

  • Die Medien katalogisieren.

  • Den Austausch von Beständen unter den Schulbibliotheken in „ihrem“ Bereich ermöglichen.

  • Investitionsmittel für neue Schulbibliotheken verwalten.

  • Die Dienste „ihrer“ Schulbibliotheken entwickeln.

  • Fort- und Ausbildung des Schulbibliothekspersonals organisieren.

  • Die Fachaufsicht über dieses Personal übernehmen.

Im Nachhinein wurden unterschiedliche SBAs geplant und aufgebaut, nach 1990 auch noch einmal in Ostdeutschland, aber die meisten dieser Einrichtungen sind heute geschlossen oder haben sich in Richtung anderer Aufgaben entwickelt. (Zum Teil sind auch nicht bei bibliothekarischen, sondern schulischen Stellen angesiedelt.) In der Broschüre von 1975 hingegen werden sie beschrieben als notwendig für alle Städte; einzig in kleinen Gemeinden sollen bibliothekarische Fachstellen die Aufgaben der SBAs übernehmen. Auch bei diesem Konzept ist schnell ersichtlich, dass die Schulbibliotheken als faktische Filialen Öffentlicher Bibliotheken konzipiert wurden. Dafür allerdings ist, ohne eine richtige Begründung, im Konzept vorgesehen, dass die SBAs von Lehrkräften geleitet und erst die Stellvertretenden eine bibliothekarische Ausbildung haben sollen.

Wie schon angedeutet, wird, von diesem Konzept ausgehend, jede andere Form von Schulbibliotheken nur als Notbehelf verstanden und als „Übergang“ bezeichnet. Allerdings lässt sich auch die Frage stellen, ob nicht einfach das Konzept so ausgreifen ist, dass quasi jede andere Situation als unvollständig angesehen werden muss.

Fazit: Eine falsche Grundfrage, nachhaltige Wirkung

Die Broschüre hat, wohl auch dadurch, das sie für weitere Texte über Schulbibliotheken ab 1975 – insbesondere in der von 1975 bis 2000 erschienenen Zeitschrift schulbibliothek aktuell – als Grundlage diente, einen nachhaltigen Einfluss gehabt. Über lange Zeit wurden in Texten aus dem Bibliothekswesen Schulbibliotheken vor allem von der Idee her bewertet, dass sie als Sonderform der Öffentlichen Bibliotheken zu gelten hätten, diesen fachlich untergeordnet aber trotzdem wie diese ausgestattet sein müssten. Alles andere wurde niedrig geschätzt. Dieser Blickwinkel verhindert selbstverständlich, die Schulbibliotheken, die an den Schulen zumeist ohne Verbindung zu Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet wurden, als sinnvolle Lösung auf Fragen, die sich in diesen Schulen stellten, zu verstehen.7

Dabei muss noch einmal betont werden, dass die Grundfrage der Broschüre offensichtlich falsch ist: Es wurde offenbar einfach davon ausgegangen, dass die Bildungsreform weitergehen würde und nach den neugebauten Universitäten, Volkshochschulen und Schulen die Schulbibliotheken eine weitere Institution wären, die massiv ausgebaut und gefördert werden würden. Das dies nicht passieren würde, hätte eigentlich klar sein können. Die oben angeführten Debatten um Ludwig von Friedeburgs Bildungspolitik und die sich formierende Opposition dagegen waren zum Beispiel nicht zu übersehen und werden im Nachhinein auch oft als ein Endpunkt der Reformprozesse wahrgenommen. Die Broschüre allerdings macht es sich zur Aufgabe, ein System von Schulbibliotheken zu skizzieren, dass für Aussenstehende wenig nachvollziehbar ist. Selbst wenn zugestanden wird, dass in der Zeit selber das Ende der Reformprozesse nicht sichtbar gewesen wäre, ist es erstaunlich, dass die rabiate Grundhaltung und -konzeption auch noch in den folgenden Jahrzehnten beibehalten wurde.

Dabei sind Schwachpunkte der Broschüre nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass teilweise widersprüchlich argumentiert wird – gegen Standardisierung, aber für Richtlinien et cetera – fehlen einfach die unterschiedlichen Blickwinkel der Schulgemeinschaften vollständig. Es wird vorausgesetzt, dass Schulbibliotheken in den Schulen genutzt würden. Lehrerinnen und Lehrer kommen im Text nur selten vor, selbst dann soll mit ihnen vor allem kooperiert werden. Ob sie das überhaupt wollen oder ob das überhaupt sinnvoll ist, ist nicht ersichtlich. Gänzlich fehlen – und das ist nach den kurzen Ausführungen zur Demokratisierung der Schulen besonders auffällig, weil widersprüchlich – im Text die Schülerinnen und Schüler selber. Obwohl fürh im Text ein Bekenntnis dazu abgelegt wird, dass sie auf gleicher Augenhöhe mit den Lehrerenden sein sollen, wird dann offenbar im Bezug auf Schulbibliotheken wieder über deren Köpfe hinweg entschieden.

Eine weitere Sache, die einfach fehlt, ist die „Theorie der Schulbibliothek“, welche im Titel der Broschüre angekündigt wird. Als gibt in ihr keine theoretische Auseinandersetzung, sondern vor allem ein aufeinander aufbauendes Aufzählen von Forderungen und Behauptungen. Ebenso ist nicht mehr sichtbar, ob die Diskussion, die im Untertitel „Ein Diskussionsbeitrag“ eingefordert wird, überhaupt geführt wurde. (Zumindest wurde sie es nicht in den bibliothekarische Zeitschriften der damaligen Zeit.)

Gleichwohl die Schwächen des Ansatzes dieser Broschüre und der Broschüre selber beim heutigen Lesen offensichtlich sind, hat sie über Jahrzehnten – mindestens bis in die ersten Jahre nach dem deutschen „PISA-Schock“ – das Denken über Schulbibliotheken in Deutschland geprägt. Wie schon in der Broschüre angelegt, war dies zumeist ein Denken innerhalb der bibliothekarischen Profession, in weiten Strecken ohne pädagogische Beiträge. Die Grundlinien werden zum Teil heute weiter reproduziert, obgleich andere Stimmen laut geworden sind, die Schulbibliotheken anders verstehen.

Literatur

Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, Deutscher Bibliotheksverband (1975) / Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek : Ein Diskussionsbeitrag (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 14). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes

Dankert, Birgit (2009) / „Und sie bewegt sich doch…“ : Bibliotheca Johannei: Die neue Schulbibliothek der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 61 (2009) 7/8, 519–521

Deutsche Bibliothekskonferenz (1973). / Bibliotheksplan 1973 : Entwurf eines umfassenden Bibliotheksnetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Deutsche Bibliothekskonferenz

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung

Hoebbel, Niels ; Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts (Hrsg.) (2003) / Schulbibliotheken: Grundlagen der Planung, des Aufbaus, der Verwaltung und Nutzung (Beiträge Jugendliteratur und Medien, Beiheft, 14). Weinheim: Juventa-Verlag

Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (1973). Öffentliche Bibliothek : Gutachten (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1979). Statistisches Jahrbuch 1978 für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart ; Mainz: W. Kohlhammer, http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/?PPN=PPN514402342_1978

Fussnoten

1 Ein aktuelles Beispiel findet sich in der Broschüre „Tipps für den Aufbau einer Schulbibliothek“ aus dem letzten Jahr (Büchereizentrale Niedersachsen (Hrsg.) (2014). Tipps für den Aufbau einer Schulbibliothek: Eine Arbeitshilfe für Öffentliche Bibliotheken in Niedersachsen . Lüneburg : Büchereiverband Lüneburg-Stade e. V, 2014, http://www.bz-niedersachsen.de/download-s.html?&file=tl_files/bz-niedersachsen/Content/Arbeitshilfen/Arbeitshilfe.Schulbibliotheken.pdf), in der sich weiterhin Schulbibliotheken eingeteilt werden in „Selbstständige Schulbibliothek“, „Schulbibliothek als Teil der Öffentlichen Bibliothek“ und „Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek kombiniert “. (ebenda:4) Diese Dreiteilung ist nicht sinnvoll, wenn man sich die unterschiedlichen Formen der Schulbibliotheken anschaut, die sich entwickelt haben und in Deutschland fast durchgängig „Selbstständige Schulbibliotheken“ (also solche ohne Anbindung an Öffentliche Bibliotheken) darstellen. Geht man aber, wie der Text von 1975, davon aus, dass Schulbibliotheken nur dann vollständig sind, wenn sie fachlich von den Öffentlichen Bibliotheken geleitet werden, ergibt sich eine solche Dreiteilung, weil damit die „Reife“ einer Schulbibliothek bestimmt werden kann. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:51) Allerdings wird dies in der Broschüre aus Niedersachsen nicht so offen gesagt.

2 Wobei er damit in vielen Fällen aber auch Recht hatte, immerhin musste er sich als linker Sozialdemokrat in einer Gesellschaft durchsetzen, für die Bildung in vielen Teilen noch Erziehung zur Konformität hiess. Es ist nicht so eindeutig.

3 Dies erinnert, aber das mag eine sehr subjektive Einschätzung sein, an die Haltung, die Jürgen Kuczynski (In: Kuczynski, Jürgen (1989 [1983]). Dialog mit meinem Urenkel : neunzehn Fragen und ein Tagebuch. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf) gerade im Bezug auf den Kommunismus macht. Kuczynski betont in seinem Dialog ständig, dass er als Kommunist wisse, dass der Kommunismus am Ende kommen würde und sich nur frage, wann das endlich der Fall wäre. Diese Haltung mag insbesondere für Intellektuelle in der DDR hilfreich und aufbauend gewesen sein, aber heute hinterlässt sie eine komischen Eindruck. Nicht, weil es um den Kommunismus geht, sondern weil diese eschatologische Idee offensichtlich blind macht für die realen Situationen. Wenn man davon ausgeht, dass Ende zu kennen, ist es einfach, nicht mehr danach zu fragen, ob man damit Recht hat. So fragt die Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen auch gar nicht danach, ob vielleicht Schulen ohne Schulbibliotheken oder mit anderen Schulbibliotheken, als sie sich vorstellen, sinnvoll sein könnten oder ob Gründe gegen „ihre“ Schulbibliotheken vorliegen könnten; ähnlich so wie Kuczynski (der ja zum Beispiel um Stalin einen grossen Bogen macht) nicht fragt, ob eine andere Gesellschaftsform sinnvoll sein könnte (wie gesagt, er hat auch gute Gründe dafür, insbesondere weil er als Historiker wusste und gezeigt hat, was der Kapitalismus alles anrichten kann – aber es geht hier einmal nicht darum, sondern um die grundsätzliche Parallele, nämlich darum, warum die Haltung, die in der hier besprochen Publikation zu Schulbibliotheken vertreten wird, komisch ist.)

4 Auch hier gibt es eine Parallele zu späteren Projekten. In Hamburg wurde 2009-2011 ein Schulbibliotheksprojekt aufgegleist, dass eng mit der angestrebten Schulreform des schwarz-grünen Senats verknüpft war und mit dem vorzeitigen Ende dieses Senats auch auslief.

5 Und auch hier wieder eine historische Note: 1974/1975 waren Forderungen nach einer 35 Stundenwoche schon laut geworden, 1978 kommt es dann sogar schon zu den ersten Streik mit dieser Forderung. Die Broschüre ignoriert diese Diskussion und geht von einer 40 Stundenwoche aus.

6 Statistisches Bundesamt, 1979:338.

7 Dazu hat aber nicht nur das Bibliothekswesen, sondern auch die Bibliothekswissenschaft beigetragen. Diese hat sich in Deutschland nur selten für die Schulbibliotheken interessiert, und wenn, dann zumeist aus dem hochtrabenden Blickwinkel, der in dieser Broschüre angelegt war. Diese Haltung, die bis nach 2000 in vielen Texten durchscheint, war überhaupt ein Grund, warum ich 2006 meine Magisterarbeit über Schulbibliotheken in Deutschland geschrieben habe: Weil mir diese Haltung so realitätsfern vorkam und diese Texte mir ein Unbehagen bereiteten.

Am Beginn der modernen Schulbibliotheksentwicklung (in den USA) (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIII)

„Today’s school library is not a dusty tomb of silence, but a beehive of varied, quiet, activity. Gone is the Victorian ‚keeper of the books‘, replaced by a dynamic, skilled professional with a keen knowledge of the age groups with which he works.“ (Joseph G. Hibbs in: Bowers, 1971:VII)

Die Zentralbibliothek Zürich hält, aus Gründen die wohl nicht mehr zu rekonstruieren sein werden, fünf Bücher aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu Schulbibliotheken in den USA, veröffentlicht im gleichen US-amerikanischen Verlag, Scarecrow Press, und zudem alle von der gleichen Person – Albert Daub – gespendet. (Bowers, 1971; Lowrie, 1970; Saunders, 1968; Saunders & Polette, 1975; Swarthout, 1967) Diese kleine Sammlung erscheint nicht ganz zufällig, aber sie ist nur eine Auswahl der Bücher welche in diesem Zeitraum zu US-amerikanischen Schulbibliotheken erschienen. Auffällig ist zum Beispiel, dass Medien aus anderen Verlagen nicht vorhanden sind. Angesichts dessen, dass die Zentralbibliothek Zürich in gewisser Weise darauf stolz ist, keine Medien auszusondern, sondern die einmal erworbenen zu behalten, scheint dies intendiert gewesen zu sein. Offenbar wurden die Medien der anderen Verlage nicht angeschafft. Wieso es gerade diese Bücher sind, die es nach Zürich geschafft haben, ist aber schwer zu sagen.

Dennoch vermitteln sie zusammengenommen einen Einblick in eine interessante Zeit der Schulbibliotheksentwicklung, nämlich den Zeitpunkt, an welchem in den USA Schulbibliotheken im modernen Sinne etabliert wurden; nur etwas früher als in den deutschsprachigen Staaten, wenn auch viel nachhaltiger. Zusammengenommen wird in den fünf Büchern sichtbar, dass diese Zeit zuerst von einem grossen gesellschaftlichen Reformwillen getragen war, der sich auch auf Schulbibliotheken niederschlug, vor allem von einem grossen Optimismus bezüglich der Möglichkeit, gesellschaftliche Infrastrukturen im grossen Rahmen planen und für eine gerechtere Gesellschaft zu nutzen. Gleichzeitig – hier vor allem im Vergleich von Saunders (1968) mit Saunders & Polette (1975) – wird auch sichtbar, wie schnell dieser Optimismus umschlug in ein „professionelles“, an der Verwaltung des Bestehenden orientiertes Denken. In der historischen Rückschau ist es ein wenig ein Blick in eine mögliche Zukunft, die dann – aus Gründen, die mit Schulbibliotheken wenig, aber mit gesellschaftlichen Umschwüngen viel zu tun hatten – nicht eintraten und gleichzeitig auf den Anfang der Wege, in denen sich heute Schulbibliotheken bewegen.

Bemerkenswert sind zwei Dinge: Erstens, wie modern die meisten dieser Texte heute noch klingen. Vieles findet sich in ähnlicher Diktion, wenn auch teilweise mit abweichenden Terminologien, noch heute in Texten zu Schulbibliotheken – nur oft vor einer anderen gesellschaftlichen Realität und ohne den Verweis oder auch das Wissen, dass die Aussagen nicht neu sind, sondern schon einmal getroffen wurden. Zweitens zeigen die Bücher auch, dass Schulbibliotheken, so wie heute über sie geredet wird, keine Einrichtungen sind, die unendlich weit in die Schulgeschichte zurückreichen, sondern um Einrichtungen, die so, wie sie heute existieren, erst mit den gesellschaftlichen Umschwüngen Ende der 1960er Jahre möglich wurden, insbesondere mit der Betonung der Individualität der Schülerinnen und Schüler und dem Ziel von Schulen, deren individuelle Entwicklungen zu unterstützen.

Umbruchzeiten

Mehrere der Bücher berichten in kurzen Abrissen davon, wie sich Schulbibliotheken zumindest auf der offiziellen Ebene in den 1960er entwickelten.

Standards und Gesetze

1960 wurden von der American Association of School Librarians (AASL), die damals rund zehn Jahren als eigenständiges Mitglied der American Library Association (ALA) existierte, in Zusammenarbeit mit einer Reihe von pädagogischen und bibliothekarischen Vereinigungen und staatlichen Einrichtungen „Standards for School Library Programs“ formuliert. Zuvor gab es eine kleine Anzahl von „Statements“ der AASL, die eine Verankerung von Bibliotheken in Schulen forderten. Wichtig war offenbar für die Standards – die ja per se noch nichts bedeuten, weil ihnen niemand folgen müsste – ein Projekt der ALA, das School Library Development Project, in welchem das Erstellen von solchen langfristigen Programmen für Schulbibliotheken in einzelnen Bundesstaaten finanziert wurde, die auf der Basis des allgemeinen Standards von mehreren Akteuren in den einzelnen Staates erarbeitet werden sollten. Dies führte – so zumindest die Darstellung bei Saunders (1968) und Saunders & Polette (1975) – dazu, dass diese auch verbreitet wurden. Zudem wurden 1965 der „Elementary and Secondary Education Act of 1965“ erlassen, der es unter anderem ermöglichte, Bundesgelder für Bibliotheken in allen Schulen der USA einzusetzen. Bei diesem Gesetz handelte es sich um das bis dahin umfangreichste und einflussreichste Werk dieser Art für die US-amerikanische Bildungspolitik; Schulbibliotheken kamen im Gesamt eher am Rande vor.

1969 wurden dann die Standards, die Saunders (1968) und Saunders & Polette (1975) als wichtige Meilensteine ansehen, überarbeitet und mit den „Standards for School Media Programs“ – die umfangreiche Forderungen zur Ausstattung von Schulbibliotheken stellten – ersetzt. In Saunders & Polette (1975) wird versucht, den Einfluss dieser Publikation positiv darzustellen, aber dies gelingt kaum:

„[…] the publication entitled Standards for School Media Programs was an attempt to define clearly the roles of the members of the library/media center team and to provide both quantitative and qualitative standards for library/media programs. […] However, many educators studied primarily the quantitative standards and reacted negatively to what they considered a [sic!] utopian view of materials, staffing and facilities. They ignored the rationale behind the Standards and thus, these Standards did not have quite the impact of the 1960 Standards.” (Saunders & Polette, 1975:5)

Die Standards scheinen – vielleicht vergleichbar mit dem Schicksal des kurz später in der Bundesrepublik erschienen der Bibliotheksplan ’73 – die eigentlich angesprochenen Verantwortlichen nicht überzeugt zu haben, egal wie sie argumentierten.

1975 zumindest wurden schon die nächsten, stark reduzierten Standards publiziert. Auch wenn Erfahrungen nicht direkt aus der US-amerikanischen Geschichte in europäische Verhältnisse übertragen werden können, ist es doch beachtlich, dass die Wirkungen der Standards – vor allem ohne finanzielle Rückendeckung – offenbar innerhalb weniger Jahre nicht mehr überzeugend waren, während heute in der Schweiz auf Richtlinien für Schulbibliotheken gesetzt und dies für Deutschland auch immer wieder als positives Beispiel hingestellt wird.

Knapp Foundation Project

Ein Projekt, dass – in zwei Phasen – von 1963 bis 1967 lief und von einer Knapp Foundation finanziert wurde, taucht in den fünf Büchern mehrfach auf. Dieses Knapp Foundation Project wurde in gewisser Weise umfangreicher, als heutige vergleichbare Projekte konzipiert: In einer ersten Phase wurden insgesamt acht Schulbibliotheken in Elementary Schools mithilfe des Geldes der Stiftung massiv ausgebaut, was nicht nur einen materiellen, sondern auch inhaltlichen Aufbau bedeutete. In einer zweiten Phase dienten diese Schulbibliotheken als Demonstrationseinrichtungen, die von über 100 Personen aus anderen Schulen jeweils einen Tag lang – inklusive Gesprächen mit den Schulkräften und Bibliothekspersonal – besucht wurden (wobei die Kosten für diese Besuche auch vom Geld der Stiftung getragen wurden).

In einem Artikel, der auf den Archivmaterialien zu diesem Projekt aufbaut, beschriebt Cara Bertram dessen Ziele wie folgt:

„The project had four objectives: The first was to demonstrate the educational value of school libraries. The second was to promote improved understanding and use of library resources by teachers and administrators. The third objective was to guide other libraries to develop their own programs by having them observe the demonstration schools. And the last objective was to increase interest and support for school library development by producing and circulating information about the program and the demonstration schools.“ (Bertram, 2014)

Diese Ziele lesen sich wie die ähnlicher Projekte, die seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum durchgeführt werden, zuletzt 2009-2011 in Hamburg (Schuldt, 2012): Schulbibliotheken werden mit finanzieller Unterstützung aufgebaut und relativ intensiv gefördert, dies wird mal mehr mal weniger dokumentiert und sich dann erhofft, dass dies dazu führt, dass anderswo eigenständige Schulbibliotheken in der gleichen Form entwickelt werden. Gleichzeitig wird gehofft zu zeigen, dass Schulbibliotheken funktionieren können, weil angenommen wird, dies sei bislang nicht ausreichend geschehen. Das Knapp Project ging darin weiter, direkt die Verbreitung des Wissens aus den geförderten Schulbibliotheken heraus zu organisieren.

Wenn es in den fünf Büchern erwähnt wird, dann mit grossem Wohlwollen. Offensichtlich versprachen sich in den USA diejenigen, die zu Schulbibliotheken publizierten, viel von diesem Projekt. Die Auswirkungen des Projektes sind aus den Büchern allerdings nicht zu ersehen, interessant ist aber, dass grundsätzlich – wenn auch oft auf der Seite „Verbreitung der Ergebnisse“ vermindert – viele Projekte im Schulbibliotheksbereich immer noch so funktionieren, wie in den 1960er Jahren (obgleich sie – aber das ist Projektlyrik, die so sein muss, um überhaupt Geld zu beantragen – immer wieder behaupten, innovativ zu sein).1

Das Wachstum der Schulbibliotheken und das Moderne der modernen Schulbibliotheken

Das Buch von Jean Elizabeth Lowrie (Lowrie, 1970), welches die ZB Zürich besitzt, ist die zweite Auflage. Die erste wurden 1960 publiziert, Besuche in Grundschulbibliotheken, die als Grundlage des Buches dienten, fanden 1957 statt. Die Autorin reflektiert die Entwicklung zwischen diesen Besuchen und der zweiten Auflage als rasantes Wachstum von Schulbibliotheken in den USA und gleichzeitig als eine Zeit, in welcher sich diese als unabkömmliche Einrichtung etablierten:

„The growth of the elementary school library program over the past three decades has been tremendous. It has become a segment of the modern elementary school program which has more than justified its existence in situations where it has been allowed to come to fruition. This can be attributed to research in child growth and development, to new methods of teaching, and to changes in the concepts of school library service.” (Lowrie, 1970:12)

Diese Darstellung vermittelt eine Haltung, die sich auch in den anderen Büchern – ausser in Saunders & Polette (1975) – findet: Die Überzeugung, dass die modernen Schulbibliotheken sich ungefähr in den 1960er Jahren verbreitet und etabliert hätten. Die Bücher, die zum Teil eigentlich den Anspruch haben, die Entwicklung von Schulbibliotheken zu unterstützen – ebenso wie das Knapp-Projekt – scheinen deshalb in gewisser Weise „zu spät“ erschienen zu sein: Nämlich nach dem Wachstum, mit dessen Auswirkungen umzugehen ist. Auffällig ist, dass sich durch die gesamten Texte eine optimistische Grundhaltung finden lässt, einzig die spätere Publikation von Saunders & Polette (1975) – die ebenso eine überarbeitete zweite Auflage darstellt – ist weniger optimistisch und klingt eher fordernd; so, als ob die Zeit des Neubeginns vorbei sei und jetzt Professionalität herzustellen wäre.

Was alle der Bücher versuchen, ist, die modernen Schulbibliotheken – auch in Abgrenzung zu den Schulbibliotheken zuvor, die es offenbar auch gab, wenn auch lange nicht so verbreitet – zu beschreiben:

  • Lernen in den Elementary School hiesse Lernen in vielen unterschiedlichen Kontexten, unter Einbezug von verschiedenen Medien, sowohl individuell als auch in Klassen, Problem-solving statt Faktenlernen, Kinder würden als Individuen ernst genommen. Einen solchen Kontext müssten die Kinder eine Schulbibliothek haben, um sowohl Lesen zu lernen als auch Nachschlagewerke nutzen zu können. (Lowrie, 1970)

  • Eine moderne Schulbibliothek würde bestehen als space (inklusive Arbeitsplatz für Klassen, „Space is necessary to help create the friendly, helpful, pleasant climate that will both attract patrons to the facility and be condicive to a healthy study and browsing environment.“ (Bowers, 1971:9)), material (alle Medien der Schule, die direkt zur Verwendung bereitstehen würden), service (Schulbibliotheken seien definiert durch die Services, die sie zum „educational program of the school“ (Bowers, 1971:10) beitragen würde, sowie speziellen Angeboten), instructional center (für die Bibliotheksbenutzung und das für das Lesen) sowie dem personnel (bibliothekarisch ausgebildet, aber mit Unterrichtserfahrung, denn „The professional librarian should be many things to a school, but first and above all he is a teacher.“ (Bowers 1971:13))

  • Schulbibliotheken würden benötigt, da es immer mehr Materialien gäbe, die im Unterricht benutzt würden (Bowers 1971)

  • Unter den neuen Medien, die von der Schulbibliothek zu verwalten wären, würden sich vor allem audiovisuelle Medien finden, wobei Bücher beziehungsweise Texte für moderne Unterrichtsformen weiter notwendig wären. (Swarthout, 1967)

  • Schulbibliotheken würden den Unterricht verändern, nicht nur ergänzen, können: „Good school libraries make curriculum change and educational innovation possible: Their collections of materials make it possible to extend the scope of learning beyond that available from any single textbook. To achieve its potential for curriculum development, the school library must become a fully functioning part of the instructional system.“ (Swarthout, 1967:205)

  • Schulbibliotheken müssten das Ziel haben, effektiv zu arbeiten und alle Mitglieder der Schulgemeinschaft zu erreichen: „The goal of the school library administrator is effective utilization of the materials and services by every student and teacher in the school; consequently, all other activities of the library lead to this objective.“ (Saunders, 1968:3)

Oder anders: Grundsätzlich scheinen sich die Versprechen davon, was Schulbibliotheken können und die Forderungen, was für und mit ihnen zu tun wäre, die in den 1960er und 1970er Jahren in den USA publiziert wurden, kaum von dem zu unterscheiden, was heute (noch) in Deutschland oder der Schweiz über Schulbibliotheken gesagt wird. Ebenso scheint der „moderne“ Unterricht in den späten 1960ern sich nicht so sehr von „modernen“ Unterricht, wie er in den letzten Jahren etabliert wurden oder zumindest werden sollte, zu unterscheiden. (Was auch erstaunlich ist: Hat sich das mit dem „Kinder als Individuen anerkennen“ in den 1970ern einfach nicht durchgesetzt? Ist es zurückgegangen? Oder warum wird das heute wieder betont?) Der „grosse Bruch“ scheint nicht in den letzten Jahren, sondern in den 1960er und 1970er Jahren stattgefunden zu haben.2

Utopien sterben

Interessant ist der Unterschied von The Modern School Library: Its Administration as a Materials Center (Saunders, 1968) und The Modern School Library (Saunders & Polette, 1975). Ersteres ist ein Versuch, alles, was für das Führen einer Schulbibliothek benötigt wird, zusammenzufassen, letzteres ist die Überarbeitung dieses Buches, wobei relativ weitläufige Änderungen vorgenommen wurden.

Das erste Buch spriesst über von Optimismus und Begeisterung. Die Autorin gliedert das Buch zwar in Kapitel, aber ansonsten springt sie thematisch immer wieder zwischen der Schilderung grosser, teilweise abstrakter Zusammenhänge und der Schilderung einzelner Beispiele und Projekte. Jedes Kapitel enthält eine lange Liste von Quellen. Teilweise will das Buch Überzeugen, teilweise Anleiten. Es ist nicht immer stringent, aber motivierend. Die Überarbeitung ist das Gegenteil. Hier ist der Text auf eine einheitliche Abstraktionshöhe getrimmt, es wird wenig argumentiert, dafür werden klarere Anweisungen gegeben. Alles ist klarer: Es werden nur noch wenige, genauer ausgewählte Quellen genannt und das auch nur an einer Stelle. Der Text ist aufgeräumter. Die Schulbibliothek wird als professionell geführte Einrichtung beschrieben, aber es gibt keinen Ausblick auf Entwicklungen oder Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Schulbibliotheken mehr. Schulbibliotheken gelten als gut, also müssen sie geführt werden. Es ist ein wenig so, als wäre das erste Buch die Widerspiegelung des von den Hippies und sozialen Bewegungen geprägten Aufbruchs in eine besser Gesellschaft, in der Zukunftsentwürfe und der persönliche Einsatz zählten und das zweite Buch dann eine Widerspiegelung eines scheinbar abgeklärten, aber wenig einfallsreichen und vor allem nichts mehr gross verändernden Liberalismus – oder anders: als würden die beiden Bücher die grundsätzlichen Entwicklungen der US-amerikanischen Gesellschaft der damaligen Jahre mitvollzogen haben. Das ist schon erstaunlich, beziehen sie sich doch nicht auf Gesellschaft, Kunst oder Musik – und vermeiden es zum Beispiel, über den Vietnam-Krieg zu reden –, sondern auf Schulbibliotheken.

Scheinbar ist das Schreiben über Schulbibliotheken – auch wenn es sich um Handbücher dreht – sehr stark an die vorherrschenden gesellschaftlichen und pädagogischen Diskurse gebunden, was die Frage aufwirft, was genuin „schulbibliothekarisch“ an den Texten über Schulbibliotheken ist. Das sichtbarste Zeichen dieser Verschiebung ist das jeweils letzte Kapitel der beiden Bücher. Bei Saunders (1968:176-191) heisst dieses „The Future: A Forecast of Things to Come“ – wobei quasi alle Vorhersagen falsch sind, insbesondere die, dass in den folgenden Jahren Soziale Gerechtigkeit ein Hauptthema der US-amerikanischen Gesellschaft sein würde –, bei Saunders & Polette (1975:162-181) „Evaluation of the LMC [Library Media Center, KS.] Program and Personnel“. Ging es Ende der 1960er Jahre noch um die Zukunft, geht es Mitte der 1970er um die Überprüfung der Arbeit von Schulbibliotheken und um wenig mehr.

Literatur

Bertram, Cara (2014). Knapp School Libraries Project. In: American Library Association Archives at the University of Illinois Archives (Blog), http://archives.library.illinois.edu/ala/knapp-school-libraries-project/

Bowers, Melvyn K. (1971). Library Instruction in the Elementary School. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1971

Lowrie, Jean Elizabeth (1970). Elementary School Libraries. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1970

Saunders, Helen E. (1968). The Modern School Library: Its Administration as a Materials Center (First Edition). Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1968

Saunders, Helen E. ; Polette, Nancy (1975). The Modern School Library (Second, completely revised Edition). Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1975

Schuldt, Karsten (2012). Doppelarbeit und Wiederholungen beim Versuch, Schulbibliotheksnetzwerke aufzubauen. In: LIBREAS. Library Ideas 20 (2012) 1, http://libreas.eu/ausgabe20/texte/03schuldt.htm

Swarthout, Charlene R. (1967). The School Library as Part of the Instructional System. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1967

Fussnoten

1 Es existiert ein Evaluationsbericht – Sullivan, Peggy (ed.) (1968) / Realization : the final report of the Knapp School Libraries Project. Chicago : American Library Association –, aber den an den bin ich bislang nicht gelangt. Falls jemand den zur Hand hat, würde ich ihn gerne einmal ausborgen.

2 Ähnliches findet sich in deutschsprachigen Publikationen ab den 1970er Jahren. Zuvor wurden Schulbibliotheken beispielsweise oft mit der Aufgabe in Verbindung gebracht, gegen „Schundliteratur“ vorzugehen. Das findet sich nach 1970 nicht mehr.

ABC der Schulbibliothek (1958) In der Praxis ist alles relaxter als in den Richtlinien (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, XII)

Nicht nur in der Schweiz, aber dort besonders, versuchen unterschiedliche Einrichtungen seit Jahrzehnten, den sehr unterschiedlichen Schulbibliotheken mit Richtlinien und der Vorgabe von Standards beizukommen – was selbstverständlich immer nur zum Teil funktioniert. Aber: Das war offenbar nicht immer so, vielmehr finden sich immer auch Dokumente, vor allem ältere, in welchen versucht wird, Schulbibliotheken mit einer offeneren Beratung zu unterstützen. Irgendwann scheint zumindest in der publizierten Darstellung ein Umschwung stattgefunden zu haben – wenn auch vielleicht nicht unbedingt in der Praxis, in welcher kantonale Bibliotheksbeauftragte immer noch die Möglichkeiten von Schulbibliotheken erst einmal lokal eruieren, um von diesen Voraussetzungen ausgehend zu beraten und nicht gleich die Orientierung an den aktuellen Richtlinien des Bibliotheksverbandes einzufordern. (Rahn, 1951 ; Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken, 2014)

Ein Beispiel für solche „relaxteren“ Publikationen stellt die kurze (8 Seiten) Broschüre ABC der Schulbibliothek dar, die 1958 von der Zürcher Kantonalen Kommission für Jungend- und Volksbibliotheken herausgegeben wurde. (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958) Die Broschüre hat im Laufe der Jahrzehnte Fortsetzungen gefunden, 1971 unter dem gleichen Titel, zuletzt indirekt 2014 mit dem Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule – das vom Umfang her weiterhin eher eine Broschüre denn ein Handbuch darstellt – der Bildungsdirektion Kanton Zürich. (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2014)

Grundidee dieser Publikationen ist es immer, dem Personal in den Schulbibliotheken – und in der 2014er Broschüre darüber hinaus den Lehrerinnen und Lehrer – eine gedrängte Übersicht zu den wichtigsten Fragen zu geben, die beim Betreiben einer Schulbibliothek auftreten. Die Broschüre von 1958 wird nicht der erste Versuch gewesen sein, dies zu tun, aber es scheint aktuell der älteste noch in den Magazinen der Bibliotheken greifbare.1 Vorteil dieser Publikation ist, dass die herausgebende Kantonale Kommission offenbar oft zu diesen Themen angesprochen wird (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:1) und mit der Broschüre auf diese Fragen reagiert. Damit gibt sie einen Einblick in die Probleme der damaligen Schulbibliotheken in der Schweiz.2

Dieser Einblick zeichnet Schulbibliotheken, die mit relativ basalen Problemen zu tun hatten – Bestandsaufbau, Geldbeschaffung, Fragen der Ausleihorganisation – und sich zum Beispiel wenig Gedanken über die Nutzung der Bibliothek für den Unterricht machten (im Vergleich zu späteren Texten zu schweizerischen Schulbibliotheken). Gleichzeitig scheint mit der Kantonalen Kommission und einigen anderen Einrichtungen (vor allem der Schweizerischen Volksbibliothek, heute Stiftung Bibliomedia) ein funktionierendes Netzwerk an Unterstützungseinrichtungen bestanden zu haben. Der Text zeigt auch, dass es sich beim Schulbibliothekspersonal nicht um bibliothekarisch ausgebildetes Personal handelte, sondern um Personen, denen die Grundlagen bibliothekarischer Arbeit vermittelt werden sollten. Zugleich hält sich die Broschüre sehr zurück und gibt keine normativen Anweisungen dazu, wie die Schulbibliothek auszusehen oder funktionieren hätte, was wieder im Vergleich zu späteren Texten zu schweizerischen Schulbibliotheken auffällt. Ob aus Realitätssinn, demokratischer Gesinnung oder anderen Gründen – die Kantonale Kommission trat nicht an, den Schulbibliotheken Vorgaben zu machen, sondern sie tatsächlich zu Beraten. Gleichzeitig ist der Text extrem kurz, was auch heisst, dass nur wenige Punkte überhaupt ausgeführt werden können.

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Insgesamt sind es 29 Punkte, die in der Broschüre kurz besprochen werden:

  1. Anschaffungen (hier die Empfehlung, Verzeichnisse aus der Schweizerischen Lehrerzeitung und der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare zu nutzen und planmässig jedes Jahr einen bestimmten Teil des Bestandes gesondert auszubauen)

  2. Aufbau („Neigungen und Interessen der Altersstufe“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) sollen beachtet werden, Fachliteratur wird explizit einer „Lehrerbibliothek“ (ebenda) zugeordnet)

  3. Bestand (angesichts dessen, dass sich heute durchgesetzt hat, für Schulbibliotheken 10 Medien pro Schülerin/Schüler zu fordern, muss folgende Angabe überraschen: „Entspricht Ihre Bücherzahl pro Klasse der doppelten Schülerzahl, so verfügen Sie bereits über eine ansehnliche Bücherei.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) Gleichzeitig mag diese Zahl besser durchsetzbar gewesen sein und sich, ebenso wie die heute angeführten 10 Medien, aus der Erfahrung der Schulbibliotheken begründet haben.)

  4. Bezug (heisst hier Ausgabe der Medien und Länge der Ausleihe; eine wöchentliche Medienausgabe sollte gegeben sein, ausserdem sollte nicht vergessen werden, „am letzten Tag vor den Ferien besonders großzügig zu sein“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2))

  5. Einband (hier die Aufforderung, nur noch durchsichtig einzubinden, da die Umschläge der Bücher kunstvoll genug dafür geworden seien)

  6. Entschädigung (hier werden einerseits Klassenbibliotheken als „wesentliche Erziehungs- und Bildungshilfen“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:2) akzeptiert – was wieder im Vergleich mit späteren Texten auffällig ist, welche Klassenbibliotheken explizit ablehnten –, als auch gefordert, dass die Arbeit in grösseren Schulbibliotheken als Verwaltungsarbeit – nicht als pädagogische Arbeit – entschädigt, das heisst entlohnt, werden sollte)

  7. Freihandsystem (die Freihhandaufstellung wird als sinnvoll und effektiv – weil werbeträchtig für die einzelnen Bücher – angepriesen; heute ein Hinweis darauf, dass sie in den späten 1950ern verbreitet, aber noch nicht überall durchgesetzt war)

  8. Geldbeschaffung (es wird betont, dass Bibliotheken Geld kosten, explizit auch ein Abgang von 10% pro Jahr postuliert, der zu ersetzen wäre, gleichzeitig wird behauptet, dass die Schulpflege – das die Schule führende Amt, in Deutschland wäre es das Schulamt – diese Kosten tragen würde, wenn nur die richtigen Anträge gestellt werden; zudem wird auf andere Subventionsmöglichkeiten (Bezirksbibliothekskommissionen, Gemeinnützige Gesellschaften) hingewiesen)

  9. Gruppierung (das ist die Aufstellung, wobei hier keine – ansonsten in der Schweiz heute verbreitete – DDC oder eine andere verbreitete Systematiken erwähnt werden, sondern für kleine Klassenbibliotheken Gliederungen als nicht notwendig, bei grösseren Bibliotheken die Aufstellung nach Altersstufen als sinnvoll bezeichnet wird; grosse Bibliotheken sollten den Bestand nach Sachgruppen strukturieren (ein mnemotechnisch aufgebautes Beispiel wird angegeben) und diese mit farbigen Etiketten auszeichnen)

  10. Jugendbuchausstellungen (werden als sinnvoll dargestellt; erwähnt wird hier auch das erste Mal das SJW-Heft, welches in der Broschüre späterhin öfter auftaucht; SJW ist das Schweizerischer Jugendschriftwerk, eine Stiftung, die Hefte mit schweizerischen Erzählungen in allen vier Landessprachen vertreibt, heute vorrangig zur Leseförderung, aber bei ihrer Gründung 1931 – und wohl auch noch in den 1950ern – hauptsächlich „gegen Schundliteratur“ und für schweizerische Werte)

  11. Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (hier stellt sich nicht nur die herausgegebende Kommission selber vor, sondern verkündet auch ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 1959: „Die Kantonale Kommission fördert durch ihre Beiträge nicht nur Neugründungen und Erweiterungen von Jugend- und Volksbibliotheken, sondern ist auch am Ausbau der Schulbüchereien unseres Kantons als Unterbau und wertvolle Ergänzung der Volksbibliotheken stark interessiert. Ihre Delegationen nehmen darum anläßlich ihrer periodisch erfolgenden Besuche (ab 1959 auch der Schulbibliotheken der einzelnen Bezirke) Fühlung mit den verantwortlichen Lehrkräften, die dieses unschätzbare Bildungsgut verwalten.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:4))

  12. Kontrolle (hier geht es um das Ausleihsystem, wobei das System mit Leih- und Buchkarten erläutert, aber vor allem die Forderung aufgestellt wird, dass jedes Kontrollsystem „zuverlässig, rasch und doch großzügig“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken 1958:4) sein solle)

  13. Lesealter (hier der Hinweis, dass sich Bilderbücher für „Erstkläßler“ (sic!, Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:4) eignen und Schulbibliotheken nicht erst für die vierten Klassen sinnvoll seien, was offenbar im Umkehrschluss heisst, dass Schulbibliotheken oft erst ob der vierten Klasse zugänglich waren)

  14. Mittelstufenbücherei (als Mittelstufe gelten in der Schweiz die Klassen vier bis sechs, hier wird aufgezählt, welchen Bestand sie enthalten sollte, wobei neben den SJW-Heften, die explizit erwähnt werden, auffällt, dass keine Sachliteratur genannt wird; die Schulbibliothek ist offenbar zum Lesen vorgesehen)

  15. Nachschlagwerke (hier wird darauf gedrängt, dass, wenn überhaupt Nachschlagewerke in der Schulbibliothek stehen müssten, es das Kinderlexikon „Die Kinderwelt von A bis Z“ und das Jugendlexikon „Die Welt von A bis Z“ sein sollten)

  16. Numerierung (sic!) (Klassenbibliotheken sollten im Numerus Currens (nicht so genannt) nach der Erwerbung nummeriert werden, erst grössere Bibliotheken sollten Signaturen verwenden (aber auch die werden nicht so genannt, sondern umschrieben))

  17. Oberstufenbücherei (ab der siebenten Klasse; auch hier wird nur kurz aufgezählt, was sie enthalten soll, Sachliteratur wird nur nebenher angedeutet, wichtiger scheinen bestimmte Formen der Belletristik)

  18. Pflege (hier wird darauf gedrängt, die Bücher zu pflegen, gar ganze Schulklassen zum Polieren der Bücher anzuhalten und gegebenenfalls auf Buchbindereien zurückzugreifen)

  19. Qualität (unter diesem Abschnitt findet sich keine Aussage zur Qualität der Medien in der Schulbibliothek, sondern Aussagen dazu, dass die Schulbibliothek aktuell gehalten werden und auch „Klassiker“ aus dem Bestand entfernt werden sollten, wenn die Bücher alt werden; Qualität ist also Aktualität)

  20. Räumlichkeiten (hier wird nicht, wie in späteren Texten, gefordert, dass sich die Schulbibliothek im Zentrum des Schulgebäudes befinden sollte, sondern nur, dass sie nicht aus Schränken bestehen soll; ansonsten wird die Aufstellung der Bestände in offenen Regalen gefordert, selbst wenn dies im Korridor geschehen sollte, denn: „Die beste Werbung für das gute Buch sind die Bücher selber, sofern man sie nicht einsperrt.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6))

  21. Schweizer Buch (hier wird gefordert, dass Bücher aus der Schweiz gekauft werden sollten, da es schwer wäre, solche zu verlegen und es vaterländisch wäre, sie zu kaufen: „Schweizer Bücher verdienen […] aus vaterländischen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen bei sonst gleicher Qualität den Vorzug vor ausländischen […]“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6); bei dieser Argumentation wird ersichtlich, dass die Broschüre noch zur Zeit der geistigen Landesverteidigung erschien – auch, wenn es weiterhin inhaltlich ähnliche Aufrufe gibt, werden sie heute anders formuliert und begründet)

  22. Schweizerische Volksbibliothek (heute die Stiftung Bibliomedia, hier werden ihre Blockbestände („Wanderbüchereien“) angepriesen, die für 10 Rappen pro Band und Monat als Ergänzung für die Schulbibliothek genutzt werden könnten; der Preis ist selbstverständlich schwer in einen heutigen Wert zu übersetzen)

  23. Statistik (wird als nur sinnvoll bezeichnet, wenn aus ihr auch Schlüsse gezogen würden; weitere Vorgaben werden nicht gemacht)

  24. Unterstufenbücherei (erste bis dritte Klasse, wieder ein kurze Aufzählung von Genres, wobei das „viele, viele SJW-Hefte“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:6) heraussticht; offenbar waren Kinder noch mehr von der „Schundliteratur“ abzulenken als die Jugendlichen in höheren Schulklassen)

  25. Urteile (hier sind Besprechungen oder zumindest Einschätzung von Lernenden gemeint; es wird vorgeschlagen, einen „Schülerausschuß“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7) zu bilden, der regelmässig mithilfe von Beurteilungsbögen Bücher für die Anschaffung bewerten soll; was teilweise heute noch immer wieder einmal als „innovative“ Möglichkeit für Schulbibliotheken neu angedacht wird)

  26. Verbote (Verbote, die Bibliothek zu benutzen, sollten grundsätzlich nicht erlassen werden, da sie kontraproduktiv sind; wobei vor allem die Formulierung erstaunlich ist, weil sie offenbar auf eine verbreitete Verbotspraxis anspielt: „Wer einen Rückstand der Kinder im Rechnen, unbefriedigende Rechtschreibung oder Schneeballwerfen gegen die Schulhausfassade durch Verbannung der Klassenbibliothek für ein Vierteljahr auf den Estrich bestraft, ist ein Barbar.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7); hierbei wird wieder sichtbar, dass die Kantonale Kommission den Klassenbibliotheken eine wichtige Funktion zuschreibt)

  27. Verzeichnisse (hier Hilfsmittel, um den Bestand zu repräsentieren, wenn nicht mit der Freihandaufstellung gearbeitet wird, was wieder ein Hinweis dafür ist, dass diese Form der Aufstellung nicht überall vorgenommen wurde)

  28. Werbung (es wird betont, dass ein gutes Buch an sich für sich selber wirbt, aber weitere Werbung immer gut sei; genannt werden die Ausstellung der Neuanschaffungen, Rätsel und Wettbewerbe, bei denen der Bestand genutzt werden muss, Leseproben und Vorlesungen mit Schweizer Jugendautoren, die über die Kommission vermittelt werden können)

  29. Zielsetzung (Schulbibliotheken werden, wie erwähnt, in dieser Broschüre nicht als Orte für den Unterricht oder für die Freizeitgestaltung der Schülerinnen und Schüler angesehen, sondern als Ort, um Kinder und Jugendliche „an das gute Buch zu gewöhnen.“ (Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958:7); gleichzeitig zeigt die Kommission noch im letzten Satz der Broschüre, dass sie sich zeitgenössisch im Denken der geistigen Landesverteidigung befindet: „Wir [die Schulbibliotheken] verhelfen ihnen [den Kindern und Jugendlichen] damit zu einem bleibenden Lebenskameraden [das gute Buch], der Geist und Seele fördert, und tragen bei, im Kampf gegen den Ungeist der Zeit die geistige Substanz unseres Volkes zu mehren.“ (ebenda))

Die Schulbibliotheken, die in dieser Broschüre gezeichnet werden, haben also eine andere Aufgabe, als den heutigen Schulbibliotheken zugeschrieben wird, sie sind eher ehrenamtlich oder zumindest wenig bibliotheksfachlich geführt. Auffällig ist, dass sie nur aus Büchern und SWJ-Heften zu bestehen scheint, andere Medienformen wären wohl für die Zielsetzung und Organisation der Schulbibliotheken nicht sinnvoll. Interessant ist, dass die Kantonale Kommission daran überhaupt keine Anstoss nimmt, sondern diese Realität weiter zu befördern wollen scheint.

Literatur

Bildungsdirektion Kanton Zürich (2014) / bischu : Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule. Zürich: Bildungsdirektion Kanton Zürich, Amt für Jugend und Berufsberatung, Volksschulamt, 2014, http://www.bischu.zh.ch/

Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (1958) / Abc der Schulbibliothek : [Eine Handvoll praktischer Ratschläge für die Sammelmappe des Schulbibliothekars]. Zürich : Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1958

Rahn, Magdalena (1951) / Leitfaden für Volks- und Schulbibliotheken (Publikationen der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare ; XXI). Bern : Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare, 1951

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014) / Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau : Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Fussnoten

1 Was nicht heisst, dass mir im Laufe der Zeit nicht noch ältere dieser Publikationen unterkommen könnten. Ich wäre an Hinweisen interessiert.

2 Allerdings hat auch Magdalena Rahn in ihrem 1951 erschienen Leitfaden für Volks- und Schulbibliotheken betont, der eher den heutigen normativen Texte (insbesondere den Arbeitstechniken für Schul- und Gemeindebibliotheken) zuzuzählen ist, dass dieses aufgrund von häufigen Anfragen aus der Praxis geschehen sei (Rahn, 1951); obgleich sich der Text von Rahn und der der Kantonalen Kommission in Fragen der vom Personal verlangten bibliotheksfachlichen Kenntnisse teilweise diametral gegenüberstehen.

Team-Teaching und Schulbibliotheken (1972) Eine ganz neue Schulbibliothek für eine ganz neue Schule (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, X)

Beginnend in den späten 1960er und dann durchgreifenden in den 1970ern Jahren kam es im deutschsprachigen Raum (ausser der DDR) zu einer massiven Diskussion um notwendige Reformen des Bildungswesens, insbesondere der Schulen. (Siehe als ein oft zitiertes Beispiel Schmiederer, 1971) Diese Reformdiskussion war massiv und mutig, schlug grundlegende Veränderungen des gesamten Systems und des Unterrichts in den Schulen vor, inklusive neuer Bildungsziele. Es ging darum, auf eine wahrgenommene „Bildungskatastrophe“ zu reagieren und gleichzeitig einer neuen, demokratischeren und technologisch fortschrittlichen Gesellschaft gerecht zu werden. Die bundesdeutsche – sowie, wenn auch mit Verzögerung akzeptiert, die österreichische und schweizerische – Gesellschaft wurden anders, offener, mehr an sozialer Gerechtigkeit interessiert. Schulen sollten Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, erfolgreich an dieser neuen Gesellschaft partizipieren zu können: Als selbstverantwortliche Menschen und nicht als Untertanen. Getragen wurden die Debatten und darauf aufbauenden Projekte von einer politisierten Erziehungswissenschaft und -praxis, aber auch einer Bildungspolitik, die sich zum Teil sehr viel zutraute. (Siehe u.a. Hessischer Kultusminister,, 1970) Im Vergleich dazu nehmen sich heutige Debatten und Reformprojekte um Bildung, auch im Zuge der ersten PISA-Studien, wenig mutig und ein wenig ziellos aus.

Die Broschüre, um die es in diesem Beitrag gehen soll (Lutz 1972), ist in dieser Diskussion zu verorten: Sie versuchte eine mögliche Neukonzeption von Schulbibliotheken im Rahmen dieser Debatten. So, wie in den Debatten ganz neue Schulen und ein ganz neuer Unterricht gefordert wurden, postuliert die Broschüre eine ganz neue Schulbibliothek.

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Gesamtschulen als Schulprojekte

Integrierte Gesamtschulen waren eines der grossen Projekte dieser Bildungsdiskussionen, an die viele Hoffnungen gebunden wurden. (Klafki 1968) Diese neue Schulform, die alle bisherigen Schulabschlüsse anbieten sollte, würde eine höhere Durchlässigkeit der Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Sie sollte Anstoss zu einer radikalen „Schulerneuerung“ sein. Organisiert mit einem flexiblen Unterrichtsmodell, das auf der Nutzung unterschiedlicher Unterrichtsformen (von Lehrvortrag über Projektarbeiten bis zu Selbststudium), moderner technischer Geräte und Lehrmethoden basieren sollte, orientiert an den Interessen der Kinder und Jugendlichen und eher auf Bildung als Menschenbildung denn als Ausbildung abzielend, sollte sie die Basis liefern für eine neue Schule. Der Unterricht in diesen Gesamtschulen sollte in immer wieder neu zusammengesetzten Gruppen erfolgen, so dass sich fast schon ein individualisierter Unterricht ergeben würde, der unter anderem dafür genutzt werden könne, Entscheidungen über eine Schullaufbahn immer wieder zu revidieren und nicht, wie beim gegliederten Schulsystem, früh vorzugeben. Gleichzeitig würden die Schülerinnen und Schüler beständig in Gruppen an Lernprojekten „forschend lernen“. Unterricht würde in flexiblen Zeiten erteilt – orientiert am Inhalt und nicht an starren Zeitplänen. Gleichzeitig sollte für Teile auf den „programmierten Unterricht“ – ein Unterricht, der mithilfe von technischen Apparaten das zu vermittelnde Wissen so darbieten und prüfen sollte, dass die Lernenden ihr eigenes Lerntempo bestimmen würden (und damit ein Vorläufer von Blended Learning und Lernplattformen darstellt) – und weitere pädagogische und technische Entwicklungen zurückgegriffen werden.

Gleichzeitig sollte die Schule demokratisch organisiert sein: „Schülerselbstverwaltung“, Schulzeitung, Mitsprache im Unterricht und bei der Unterrichtsplanung wurden regelmässig als notwendig für solche neuen Schulen postuliert. (Händle, 1977) Die Kinder und Jugendlichen, welche eine solche Schule durchlaufen würden, wären am Ende selbstbewusst und offen. Kurz: Es ging darum, die ganzen Schulen (und darüber die ganze Gesellschaft) zu verändern.

Im Endeffekt wurde vom Bildungsrat – der von der deutschen Bundesregierung eingesetzt wurde – vorgeschlagen, eine Anzahl von Gesamtschulen, die intern unterschiedliche Organisationsmodelle ausprobieren sollten, als Schulprojekte einzurichten und wissenschaftlich zu begleiten. (Deutscher Bildungsrat, 1969) Grundsätzlich sollten in diesen Projektschulen Erfahrungen gesammelt und von diesen ausgehend langfristig alle Schulen verändert werden. Diese Gesamtschulen wurden tatsächlich in einer grossen Zahl eingerichtet und teilweise von engagierten Eltern und Lehrenden gegen lokale Behörden erkämpft.

Sicherlich: Im Rückblick ist klar, dass vieles, was sich von den Gesamtschule erhofft wurde, nicht eintrat. Warum, soll hier nicht Thema sein. Sie etablierten sich eher als weiterer Schultyp neben den anderen Schultypen, oft auch ohne die eigenen Ansprüche erfüllen zu können. Gleichzeitig wurden in den Gesamtschulen Dinge ausprobiert – beispielsweise der flexibilisierte Unterricht – die in den letzten Jahren als angebliche Innovation in vielen Schulen eingeführt wurde. (Wie sich vieles, was im Bildungswesen heute als innovativ gilt, schon in den Diskussionen der 1970er Jahre findet.) Die Broschüre aber, die hier thematisiert wird, wusste davon noch nichts, sondern ist sowohl zeitlich als auch vom Anspruch und Gestus her in die frühen 1970er einzuordnen. Sie nimmt die Schulreform als eine in naher Zukunft kommende wahr und versucht, relativ zeitnah darauf zu reagieren.

Team Teaching

Team Teaching war eines der neuen pädagogischen Angebote, welche diese neuen Schulen auszeichnen sollte. (Warwick, 1971) Es gab und gibt unterschiedliche Vorstellungen, was genau dies heisst, die Autorin der hier behandelten Broschüre stellt aber sehr klar, an welchen in den Diskussionen vertretenen Konzepten sie sich orientieren will (Lutz, 1972:9-15): An relativ weitgehenden.

In der von der Autorin der Broschüre genutzten Vorstellung wird Team Teaching im Deutschen als „Beweglicher Unterricht“ bezeichnet: Ein Team, bestehend aus mehreren Lehrenden, pädagogischen Assistentinnen und Assistenten, technischem Personal sowie, wenn sinnvoll, Personen von ausserhalb der Schule, planen zusammen diesen Unterricht und zwar immer neu, bezogen auf die jeweiligen Schülerinnen und Schüler. Zudem bewerten sie zusammen die Leistungen die Lernenden, aber auch das in jeweils zum Unterricht und Inhalt passender Weise. Der Unterricht ist insoweit beweglich, als das sich Lehr- und Lernmethoden immer wieder abwechseln. Grundsätzlich sollen die Schülerinnen und Schüler in ihm in Gruppen forschend und selbstständig lernen, aber dies eingebettet in einen Unterricht, der grundlegende Fakten in Lehrvorträgen (70 bis 200 Lernende) vermittelt, in Kleingruppenunterricht (8 bis 15 Lernende) weitergeführt und dann in Einzelunterricht und Selbststudium/Selbstarbeit einen Grossteil des tatsächlichen Lernens ermöglichen soll. Grundsätzlich soll das, was die Lernenden sich selber erarbeiten können, auch von diesen erarbeitet werden. Die Arbeit in immer wieder wechselnden Gruppe soll eine grössere Durchlässigkeit zwischen den Leistungsgruppen ermöglichen.

Ein solcher Unterricht würde vom lehrenden Team eine ständige Kooperation und auch Neu- oder Überarbeitung ihrer Lehrmaterialien ermöglichen. Was also im Gegensatz zum traditionellen Unterricht an Lehrzeit an die Gruppen von Schülerinnen und Schüler abgegeben wird, wird auf der anderen Seite für die ständige Überarbeitung des Unterrichtsplans benötigt. Zudem müssen sich Lehrerinnen und Lehrer auf die Zusammenarbeit mit anderen einlassen.

Dieser neue Unterricht würde sowohl herkömmliche als auch neue, jeweils angepasste Lehrmittel benötigen:

Konventionelle Lehrmittel (Buch, Landkarte, Foto, Demonstrationsobjekte) bleiben in ihrer Bedeutung für den Unterricht voll erhalten, bedürfen jedoch einer Ergänzung durch andere Medien, und zwar solchen, die eine den jeweiligen Lernzielen optimal entsprechende Informationsvermittlung und Anschauung bieten.

Multimediale Hilfen können und müssen in jeder Form des „beweglichen Unterrichts“ eingesetzt werden: im Großgruppenunterricht (z.B. Overhead-Projektionen, Filmvorführungen), im Kleingruppenunterricht (z.B. Stoffvermittlung durch Programmierten Unterricht und Lerncomputer […]). Den nachhaltigsten Lernerfolg erzielt der Einsatz von multimedialen Hilfen beim Einzelstudium, weil der einzelne Schüler beim konzentrierten Umgang mit audiovisuellen Informationsträgern dem höchsten Grad von Anschaulichkeit ausgesetzt ist.“ (Lutz, 1972:13)

Diese Medien würden, wie im Zitat sichtbar wird, neue „Lernmaschinen“ benötigen. Solche Computer und Maschinen wurden in den 1970ern in grosser Zahl gebaut und ausprobiert, zum Teil auch tatsächlich in die Schulen gebracht, beispielsweise in Sprachlabors. Gleichzeitig gab es lange hohe Erwartungen an die „kommenden Geräte“. (Siehe nur die Ausgaben der Zeitschrift „Programmiertes Lernen und programmierter Unterricht“, http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?IDDOC=627045, später „Programmiertes Lernen“) Die Autorin der Broschüre geht davon aus, dass die kommenden neuen Schulen zumindest für die Selbstarbeit der Schülerinnen und Schüler einen neuen, mediengestützten Unterricht aufbauen würden:

„[So] ist die eigentliche Innovation des Unterrichts im Medienverbund darin zu sehen, daß an die Stelle der Lehrer-Schüler-Beziehung ein mediales Lehrsystem tritt, das selbst lehrt, also die Objektivierung der Lernfunktion bewirkt […].“ (Lutz, 1972:14)

Diesen Konzepten angemessen wurde auch der Raum der neuen Schule konzipiert: Er sollte die unterschiedlichen Lernformen ermöglichen, am Besten als Campus mit mehreren Häusern, wobei es für die Schülerinnen und Schüler immer einen „Heimatort“ geben sollte, also eine Gebäude oder Raum, der als Klassenzimmer funktionieren sollte, von dem aus sie andere Gebäude und Räume besuchen würden. Die Flexibilität wäre also nicht vollständig.

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Eine ganz neue Schulbibliothek

Den radikalen Konzepten einer neuen Schule angemessen, entwirft die Autorin eine zum Teil ganz neue Schulbibliothek. Dabei ist zu erwähnen, dass die Broschüre zuerst als Abschlussarbeit in der bibliothekarischen Diplom-Ausbildung erstellt wurde. Gleichzeitig wurde sie durch den Deutschen Büchereiverband als Heft 1 einer Schriftenreihe der Bibliothekar-Lehrinstitute verlegt und damit zu einer offiziellen Publikation erhoben. Allerdings behielt der Text die Einschränkungen einer Abschlussarbeit: Er basiert auf einer Analyse der vorhanden Debatten zur neuen Schule, auf denen aufbauend eine betreffende Schulbibliothek skizziert wird. Eine empirische Forschung gibt es in ihr nicht. Es ist ein Zukunftskonzept, dass auf der Überzeugung basiert, dass die in der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik geführten Debatten umgesetzt werden würden.

Grundsätzlich ist die Idee, dass eine solche Schule, wie sie als neue Schule beschrieben wurde, auch eine bestimmte neue Schulbibliothek benötigen würde. Diese Schulbibliothek sollte explizit darauf ausgerichtet sein, den „neuen Unterricht“ zu unterstützen. Andere Funktionen von Schulbibliotheken werden gar nicht erst erwähnt. Vielmehr gilt der Autorin – und damit gleicht ihr Text zahlreichen anderen Konzepten –, dass die Schulbibliothek als eine der Zentralen der Schule dienen müsse.

Im Gegensatz zu anderen Konzepten – sowohl früheren als auch späteren – gilt für sie, dass diese neue Schulbibliothek nicht vorrangig für die Schülerinnen und Schüler sondern fast gleichberechtigt auch für die Lehrerinnen und Lehrer und pädagogischen Assistentinnen und Assistenten arbeiten solle. Diese sollten in der Schulbibliothek die Materialien finden, mit denen sie den Unterricht planen und gestalten könnten, inklusive moderner Lernmittel. Wie in vielen anderen Publikationen zu Schulbibliotheken enthält auch diese eine lange Aufzählung von Tätigkeiten, die in der Schulbibliothek ausgeführt werden sollten:

  • Für Lehrende
    • Planung und Vorbereitung des Unterrichts
    • Zentrale für Materialien, die im Unterricht verwendet werden können
    • Kontrolle der Arbeiten von Schülerinnen und Schüler
    • Austausch mit dem Bibliothekspersonal über geeignete Medien für den Unterricht
    • Prüfung der vorhandenen Lehrmittel (nicht nur der Lehrbücher, sondern auch der anderen Medien und Geräte)
    • Erstellung eigener Lehrmittel
    • Beratung zum Ankauf von neuen Materialien
  • Für Lernende
    • Vorbereitung auf den Unterricht, allein und in Kleingruppen
    • Materialien und Informationen für Vorträge
    • Erlernen, mit Informationsträgern umzugehen
    • Den Umgang mit Lerngeräten erlernen
    • Lesen aus „bloßer Freude“ (Lutz, 1972:17)
    • Befriedigung aktueller Wissensbedürfnisse mit Zeitungen und Zeitschriften

Aus diesen Anforderungen ergibt sich eine weitere Liste von Aufgaben und Anforderungen an solche neuen Schulbibliotheken:

  • Die Schulbibliothek muss flexibel sein, sowohl räumlich als auch inhaltlich
  • Die Schulbibliothek muss immer geöffnet haben, wenn die Schule geöffnet ist, im Idealfall darüber hinaus auch in den Ferien
  • Die Schulbibliothek muss so konzipiert sein, dass sie entwickelbar ist, das heisst „daß sie sich künftigen Entwicklungen der Unterrichts- und Informationstechnologie problemlos anpassen lässt“ (Lutz, 1972:18)
  • Der Bestand (mit einer jährlichen Erneuerungsquote von 30%, und damit viel mehr, als in Öffentliche Bibliotheken) plus die Geräte, die vorgehaltenen werden (aufgezählt werden: Plattenspieler, Tonbandgeräte, Kassetten-Aufnahme und Wiedergabegeräte, Radiogeräte, Projektoren für 16mm-Filme und Super 8-Kassetten, Diaprojektoren, Overhead-Projektoren, Videorekordern, Bildkassettenabspielgeräte, Maschinen und Programme für den programmierten Unterricht, Mikrofilmgeräte für die schuleigene Dokumentation), müssen vorrangig auf Unterricht ausgerichtet sein
  • Das Schulbibliothekspersonal soll dem Lehrkörper gleichgestellt sein, da es sich auch in ständiger Beratung mit den Lehrerinnen und Lehrern befindet. Es soll diese Beratung sicherstellen können („Er [der Schulbibliothekar] muß bibliothekarischer Fachmann sein, pädagogisch-didaktische Fähigkeiten haben, technische Kenntnisse besitzen, die an der Schule unterrichteten Fächer gründlich kennen, kooperationsbereit sein, Spezialkenntnisse über alle in der Schule vertretenen oder auf die Schule zukommenden Informationsmedien haben und elektronische Speicheranlangen bzw. Lehrmaschinen in ihrer Arbeitsweise und Programmflexibilität kennen […].“ Lutz, 1972:30) Die Ausbildung dieses Personals konzipiert die Autorin als eine mindestens sechsemestrige pädagogische Ausbildung (Lutz, 1972:31) plus ständiger Weiterbildung.
  • Gleichzeitig empfiehlt sie die Einbeziehung des Schulbibliothekspersonals in den Unterricht für Recherchetraining und die Arbeit mit Informationsmedien. Zudem könnte das Personal im Team Teaching eine Rolle wahrnehmen, wenn es den Schülerinnen und Schülern am Anfang eines Lernprojekts die vorhandene Medien zum Thema darstellt.
  • Die Erschliessung der Medien sollte möglichst tief erfolgen, da nur so die betreffenden Dokumente gefunden werden könnten. Eine Erschliessung, die auf eine oberflächliche Beschreibung der vorhandenen Medien abhebt, sei in der Schule nicht angemessen.
  • Die Bibliothek sollte zudem ständig Anregungen zu weiteren Lernprojekten – sowohl in der Schule als auch ausserhalb – geben, beispielsweise mit Ausstellungen oder Veranstaltungen.
  • Der Raumbedarf, den die Autorin postuliert, ist riesig: Mindestens 30% der gesamten Schulgemeinschaft sollten gleichzeitig in der Bibliothek arbeiten können. In einem eigenen Abschnitt beschreibt sie die unterschiedlichen Funktionen, die baulich zu lösen wären. Auch hier ist sie von den zeitgenössischen pädagogischen Diskussionen geprägt, beispielsweise wenn sie in den Zugangsbereich sowohl Rauchzonen (in der Schule) als auch Räume für „Schülerselbstverwaltung“ und „Schülerzeitung“ (Lutz, 1972:24) verortet. Gemäss ihrer Konzeption, dass die Schulbibliothek eine Zentrale der Schule sein soll, verortet sie zum Beispiel auch Konferenzraum und unterschiedliche Zonen (Multimedia-Zone, Allgemeine Lesezone, Studierzone, Großraum, Disskussion (Lutz, 1972:26-27)) in der Schulbibliothek.

Interessant ist das Verhältnis der Schulbibliothek zur Öffentlichen Bibliothek, das die Autorin postuliert. Die neue Schulbibliothek würde kaum Belletristik enthalten. Vielmehr sei dies die Aufgabe der Öffentlichen Bibliothek, an die bei Leseinteresse verwiesen werden könne. Gleichzeitig wird den Öffentlichen Bibliotheken unterstellt, den Bestand nicht ausreichend tief zu erschliessen und auch nicht so aktuell zu halten, wie die neue Schulbibliothek. In gewisser Weise werden sie den Schulbibliotheken nachgeordnet, was der tatsächlichen Praxis entgegensteht.

Wie gesagt basiert dieses Konzept nicht auf empirischen Material. Nur ganz kurz erwähnt die Autorin die Situation von Schulbibliotheken zu ihrer Zeit und stellt eine grosse Uneinheitlichkeit fest, zudem sei die Schulbibliothek „ein bloß flankierendes Instrument der Schule“ (Lutz, 1972:16). Zudem erwähnt sie eine Differenzierung in Klassenbücherei, Zentrale Schulbücherei und Lehrerbücherei, allerdings ohne grössere Wertung.

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Fazit

Nimmt man die Autorin ernst – und das sollte man – so würde die neue Schulbibliothek, die sie zeichnet eine Einrichtung sein, in der Teams aus Lehrkräften, Assistentinnen, Assistenten und weiteren Personen beständig einen flexiblen Unterricht besprechen, planen, vorbereiten und dessen Ergebnisse bewerten. Gleichzeitig würde sie in der Bibliothek alle Lehrmaterialien – welche die ganze Zeit aktuell gehalten würden – finden und selber solche Materialien erstellen. Dabei würden sie auf das Wissen des Schulbibliothekspersonals zurückgreifen, dass sich auf Augenhöhe mit den Fachlehrerinnen und -lehrern befindet. Zur gleichen Zeit würden Schülerinnen und Schüler in der Bibliothek arbeiten, sowohl in Kleingruppen als auch alleine, ihre Lernprojekte durchführen oder sich auf den Unterricht vorbereiten. Dies alles in einem flexiblen, grossen Raum auf einem flexibel zu nutzenden Campus, in einer relativ demokratischen Atmosphäre und unterstützt von der jeweils aktuellsten Lehr- und Lerntechnik. Ständig wäre in dieser Bibliothek ein aktiver Betrieb. Nur für das „reine Lesen“ müssten die Schülerinnen und Schüler in die Öffentliche Bibliothek. Diese neue Schulbibliothek würde selbstverständlich erhebliche Kosten verursachen; aber auch die angedachten Gesamtschulen wären teurer als die herkömmlichen Schulen. Alleine die Vorstellung, dass den Lehrerinnen und Lehrern noch pädagogische Assistentinnen und Assistenten hinzugestellt werden, ist ein Kostentreiber. Gleichzeitig sollen beide – die neue Schule und die neue Schulbibliothek – zu besseren Lernergebnissen führen. Heute, nach Jahren einer Politik, die vor allem auf das Sparen setzt, ist das vielleicht wenig vorstellbar, aber es gab eine Zeit, in der in den deutschsprachigen Staaten (auch in der DDR, aber dort aus anderen politischen Überlegungen) eher gefragt wurde, was notwendig für eine neue Gesellschaft wäre und dies dann zu grossen Teilen auch finanziert werden konnte. (Siehe die Universitätsgründungen „in der Fläche“ in den 1960er und 1970er Jahren.)

Heute liest sich die Publikation ein wenig grössenwahnsinnig und der realen Praxis in Schulbibliotheken enthoben. Aber auch dies ist zeitgenössisch: Die damalige Bildungsdiskussion traute sich grosse Entwürfe zu (Hessischer Kultusminister, 1970), die untermauert wurden durch einen gesellschaftlichen Aufbruch, der mindestens zu mehr Demokratie und Freiheiten führen sollte (wobei weitergehende Konzepte, gerade kommunistische und anarchistische, in der breiten Diskussionen mit einem heute vielleicht kaum vorstellbaren Effort vertreten und ernsthaft diskutiert wurden). Es ging um nicht weniger als einen Neuentwurf der Gesellschaft und damit auch der Schule. Insoweit passt sich das Konzept von Lutz gut in diese Debatten ein. Sicherlich ist es in einer solchen gesellschaftlichen Situation gut und sinnvoll, dass zukunftsgerichtet konzipiert wird. Ob diese Konzepte je umgesetzt werden können, ist da erst einmal eine nachrangige Frage.

Grundsätzlich kommt das Konzept, wie schon dargestellt, ohne weitere Empirie aus, nur einige Erfahrungswerte werden zitiert. Dafür aber ist es weit mutiger als alle heutigen Konzeptionen und Fachpapiere, die zumeist Veränderungen als graduelle Weiterentwicklungen des schon Bestehenden beschreiben. Insoweit ist „Team-Teaching und Schulbibliothek“ auch erfrischend zu lesen, da sich hier Visionen zugetraut werden. Gleichzeitig ist dies auch ein Mangel: Die Autorin behauptet, dass neue Schulbibliotheken für den neuen Unterricht notwendig wären, sie beweist dies nicht. Die Idee ist eher, dass neue Medien und Geräte verwendet werden und der Unterricht ständig neu geplant werden müsse – und dies in der Schulbibliothek geschehen solle. Die Praxis hat gezeigt, dass dies auch immer anders geht und Lehrerinnen und Lehrer sich oft selber ihre Lehrmedien besorgen, ohne auf das Wissen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren über die Entwicklungen auf dem Medienmarkt zurückzugreifen. Das Konzept stellt eine Möglichkeit dar, den Anforderungen der neuen Schule zu begegnen; aber dies ist noch kein Beweis dafür, dass dies der sinnvollste Weg wäre.

Auffällig ist eher, was aus der zeitgenössischen Diskussion fehlt: Nur kurz erwähnt die Autorin überhaupt das Wort „Demokratisierung“, ansonsten geht es ihr aber nie wirklich um die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler zu den neuen, offenen und selbstbewussten Menschen werden sollten, von denen in den bildungspolitischen Diskussionen gesprochen wurde. Es geht ihr stattdessen vor allem um technische und pädagogische Aspekte, dies aber vor allem unter dem Fokus, dass diese Änderungen wohl demnächst kommen und die Schulbibliotheken darauf mit einem Konzept reagieren müssten. Sie erwähnt das Ziel einer grösseren Durchlässigkeit innerhalb des Schulsystems, aber weitere politische Zielstellungen und Diskussionen finden sich nicht. Das ist, insbesondere für die politisierte Diskussion am Beginn der 1970er, erstaunlich.

Es gibt in dieser Konzeption auch einige bemerkenswerte Differenzen zu heutigen Diskussionen um Schulbibliotheken. Neben den Teilen zum neuen Unterricht und die Hoffnungen auf neue Lehrmaschinen ist vor allem offensichtlich, dass die Autorin die Schulbibliothek explizit nicht als Ort von Leseförderung, Freizeitlesen oder partiellen Rückzug entwirft, sondern konsequent an den – vorgeblichen – Herausforderungen des neuen Unterrichts orientiert. In heutigen Konzepten ist dies, wenn der Unterricht überhaupt angedacht wird, andersherum: Zumeist steht in den Schulbibliotheken das Lesen im Vordergrund.

Literatur

Deutscher Bildungsrat (1969) / Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen : verabschiedet auf der 19. Sitzung der Bildungskommission am 30./31. Januar 1969. – Bad Godesberg : Bundesdruckerei, 1969

Händle, Christa (1977) / Begründung und Realität von Demokratisierung in der Schule ( Pädagogische Forschung). – Frankfurt am Main : Päd. Extra Buchverlag, 1977

Hessischer Kultusminister (Hrsg.) (1970) / Grosser Hessenplan: Schulentwicklungsplan (2. Aufl.). – Wiesbaden : Hessischer Kultusminister, 1970

Klafki, Wolfgang (1968) / Integrierte Gesamtschule : ein notwendiger Schulversuch. – In: Zeitschrift für Pädagogik 14 (1968) 6, 521-581

Lutz, Liselotte (1972) / Team-Teaching und Schulbibliothek : Mögliche Entwicklungen von Informationszentren an gesamtschulen im Hinblick auf den Beweglichen Unterricht (Schriftenreihe der Bibliothekar-Lehrinstitute. Reihe A. Examensarbeiten, Heft 1). – [Zgl. Große schriftliche Hausarbeit zum Diplom-Examen beim Süddeutschen Bibliothekar-Lehrinstitut Stuttgart im Lg. 1968/71 angefertigt in der Zeit vom 15.1. – 15.4.1971]. – Berlin : Deutscher Büchereiverband, Arbeitsstelle für das Büchereiwesen, 1972

Schmiederer, Rolf (1971) / Bildungskrise und Schulreform (Modelle für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht; 13 ). – Frankfurt am Main : Europäische Verlagsanstalt, 1971

Warwick, David (1971) / Team Teaching. – London : University of London Press, 1971

Multimedia-Schulbibliothek: Leseförderung mit neuen Medien (2001). Angst vor neuen Medien in Bayern (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, IX)

Die vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2001 herausgegebene Broschüre „Multimedia-Schulbibliothek“ (Rothmann, 2011) („Basisbaustein“ einer Reihe von Publikationen für die Medienbildung in Schulen) stellt eine Besonderheit dar, da sie die Schulbibliothek von pädagogischer Seite aus beschreibt und nicht, wie die meisten ähnlichen Texten, mit einem bibliothekarischen Fokus. Das führt erstaunlicherweise dazu, dass der Schulbibliothek an sich ein unglaublich grosser Einfluss zugeschrieben wird. Gleichzeitig ist die Broschüre ein Beispiel für die Angst vor den Folgen des Internets, die in dieser Art in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Teilen der Gesellschaft offenbar verbreitet waren. Das macht den Text wenig glaubwürdig.

Bayern hat als Bundesland ein relativ dichtes Netz an Unterstützungsleistungen für Schulbibliotheken aufgebaut. Heute beispielsweise bietet die Landesfachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen drei Beraterinnen und Berater für Schulbibliotheken, organisiert Schulbibliothekstage sowie die Aus- und Weiterbildung der „Schulbibliotheksbetreuer“ (offizieller Titel). Diese Betreuung ist durch eine Vereinbarung zwischen dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst geregelt. Zudem existiert ein vom Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung herausgegebener und zuletzt 2004 aktualisierter „Praxisleitfaden Schulbibliothek“, der sich an Lehrkräfte richtet, welche eine Schulbibliothek leiten sollen und eine Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus mit grundsätzlichen Regelungen zur Schulbibliotheksarbeit. In der bundeslandeigenen bibliothekarischen Fachzeitschrift „Bibliotheksforum Bayern“ erscheinen regelmässig Artikel und Hinweise mit Bezug auf Schulbibliotheken. Dieses, im Vergleich zu anderen Bundesländern, relativ enge Netz hat sich mit der Zeit etabliert. Schon in den 1970er Jahren gab es Bemühungen zu einer bundeslandspezifischen Förderung. (Treter, 1973) Gleichzeitig betonen Texte, die einen Überblick zu bayerischen Schulbibliotheken geben, damals (Malottki, 1976), wie heute (Liebel, 2014) die „große Heterogenität […] hinsichtlich ihrer Lage, Ausstattung, Bestandserfassung, Systematik, technischen Ausstattung und Organisationskultur“, (Rothmann, 2001:8) obgleich die Existenz von Schulbibliotheken in offiziellen Stellen bekannter und akzeptierter zu sein scheint, als in anderen Bundesländern.

Die Broschüre „Multimedia-Schulbibliothek“ ist nur ein kleiner Bestandteil dieses Systems an Bestimmungen, Institutionen und Publikationen zu Unterstützung von Schulbibliotheken, zumal sie als Teil einer umfassenderen Sammlung von Broschüren erschien, die zusammengefasst Hinweise zur Medienbildung in den bayerischen Schulen geben wollen und nicht als eigenständige Publikation, die sich nur auf Schulbibliotheken beziehen würde.

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Angst vor dem Internet

Der Text erschien 2001 mitten hinein in die politischen und öffentlichen Debatten in Deutschland, welche im Anschluss an die PISA-Studien als „PISA-Schock“ beschrieben wurden. Innerhalb dieser Debatten wurden zahlreiche Fehler im Schul- und Bildungssystem aufgezeigt oder behauptet und gleichzeitig Lösungen vorgeschlagen, die zusammengenommen höchst widersprüchlich waren. Gleichzeitig wurden diese Studien herangezogen, um als Argumentation für sehr unterschiedliche Themen zu wirken. Auch diese Broschüre tut dies, in einer recht erstaunlichen Weise:

„Zahlreiche auch internationale Studien [in Fussnote: PISA-Studie] zeigen auf, dass das Leseverhalten sich unter dem Einfluss der neuen Medien, aber auch durch die Veränderung der Lebensweisen in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich verändert hat. […] Schon vor der Veröffentlichung der OECD-PISA-Studie […] war bekannt, dass weniger und vor allem aber auch anders gelesen wird als früher. Die Ergebnisse von PISA sind aber im Hinblick auf die Fähigkeit, kritisch, bewusst und reflektiert zu lesen für Deutschland im internationalen Vergleich besorgniserregend. […] Offensichtlich passen die Leserinnen und Leser ihr Leseverhalten an die Art und Weise an, wie sie mit elektronischen Medien täglich umgehen, nämlich in der Form des schnellen Konsums, in der Form der Aufnahme von klein portionierten ‚Lesehäppchen‘. Es geht um die schnelle Information, den kurzen Genuss. Geduld und Konzentrationsvermögen sollen nicht allzusehr beansprucht werden.“ (Rothmann 2001:5-6)

Solche Aussagen haben mit dem tatsächlichen Inhalt der PISA-Studien – deren Daten aus von Schülerinnen und Schüler geschriebenen Test zu vordefinierten Kompetenzen, Angaben zu deren ökonomischen Hintergrund und Grunddaten der Schulen bestehen, nicht mehr und nicht weniger – wenig zu tun. Aber diese Aussage gibt den Ton der gesamten Broschüre vor: Elektronische Medien werden als Unheil angesehen, da sie zum schnellen und ungenauem Lesen führen würden. Dem gelte es, mit einer Arbeit in der Schulbibliothek entgegenzuwirken. In gewisser Weise scheint der Text tatsächlich vom Konservatismus, welcher Bayern oft zugeschrieben wird, getragen zu sein, beispielsweise in Abschnitten wie dem Folgenden, in welchem Gründe dafür aufgezählt werden, warum die „Lesefähigkeit“ der Schülerinnen und Schüler angeblich mangelhaft sei:

„Ursachen könnten dafür sein, die immer wieder angeführte Informationsflut, die veränderten Sehgewohnheiten der Konsumenten, schlechte Vorbilder unter den Erwachsenen, die schnelle Verfügbarkeit von Informationen durch das Internet, die raschen Schnittfolgen audiovisueller Medien, mangelnder Leistungswillen, die Hektik, aber auch Selbstzufriedenheit der Zeit.“ (Rothmann 2001:6)

Diese Vorwürfe an moderne Zeiten und Medien sind wohl für kulturellen Konservatismus normal und lassen sich auch für andere Zeiten – teilweise mit der gleichen Terminologie – finden. Interessant ist, dass sie als Grundlage dienen für einen Broschüre, welche den Einsatz dieser „neuen Medien“ – „CD-Rom, DVD-ROM und online-Angebote“ (Rothmann 2001:7) – in Schulbibliotheken explizit anleiten will. Es geht darum, dass dieser Einsatz gesteuert und immer daraufhin ausgerichtet erfolgen soll, dass Schülerinnen und Schüler den richtigen Umgang mit Medien – möglichst wenig elektronische Medien, möglichst lange und eingehende Beschäftigung mit einem Medium – erlernen sollen.

Was die Schulbibliothek alles kann

Dabei schätzt der Autor der Broschüre Schulbibliotheken als äusserst effektive Einrichtungen ein, wobei er Versprechen dazu, wie sie wirken können, in einer langen Liste zusammenträgt:

„Die Schulbibliothek ist der Ort,

– an dem Erziehungsziele, wie sie in den Aufgaben und Lehrplänen der Schule umrissen sind, unterstützt und gefördert werden können,

– an dem Kinder und Jugendliche auch aus nicht so gut situtierten Familien an Lesen und Mediennutzung herangeführt werden können,

– an dem Leseerziehung als Bestandteil von Medienbildung in unmittelbarer Anschauung und Übung erfolgen kann,

– an dem der bewusste Umgang mit traditionellen Medien und den modernen Hilfsmitteln der Informations- und Kommunikationstechnik gelernt und praktiziert werden kann,

– an dem Schüler befähigt werden, Informationen effizient zu finden, zu beurteilen und kreativ und intelligent weiterzuverarbeiten,

– an dem die spezifischen Vor- und Nachteile der einzelnen Medien erfahren und eingeschätzt werden können,

– an dem der Unterricht als Alternative, Fortführung oder Ergänzung des Unterrichts im Klassenzimmer stattfinden kann,

– an dem Lehrkräfte neue Lehr- und Lernformen, Methoden und Sozialformen erproben können,

– an dem eigenverantwortliches, selbstgesteuertes Lernen der Schüler praktiziert werden kann,

– an dem eine aus der Sicht des Schülers sich ergebende Monopolstellung des Schulbuchs relativiert werden kann,

– an dem die Schüler einerseits individuell durch stilles Lesen oder durch soziales Lernen etwa bei der gemeinsamen Suche nach Informationen oder dem Austausch über Gelesenes sich selber finden können,

– an dem Team- und Kooperationsfähigkeit erprobt werden können,

– an dem Kreativität gefördert und Fantasieentwicklung gepflegt werden können,

– an dem Lesen auch als Freizeitbeschäftigung schmackhaft gemacht werden kann,

– an dem im Bibliotheksteam die Schüler Verantwortung übernehmen und systematisches Arbeiten erlernen können

– an dem über die Unterrichtszeit hinaus Veranstaltungen durchgeführt werden können, die das Schulprofil schärfen können.“ (Rothmann, 2001:6-7)

Zudem wird sie als Ort dargestellt, „an dem neue Formen des Lehrens und Lernens (handlungsorientierter Unterricht, Projekte, Freiarbeit) erprobt werden“ (Rothmann 2001:6), gleichzeitig „als ein besonders geeigneter Ort für selbstgesteuertes, interaktives Lernen unter vielfältiger Nutzung der vorhandenen Medien“ (Rothmann 2001: 7) und als potentielle „Informations- und Medienzentrale der Schule“ (Rothmann 2001:9).

Oder anders: Der Autor stellt die Schulbibliothek als einen Ort dar, an dem ein Grossteil der Aufgaben von Schulen erfüllt werden könnte. Selbstverständlich erscheint dies in seiner Verdichtung übertrieben und wenig überzeugend, letztlich trägt er aber Aussagen zusammen, die in den Jahrzehnten zuvor und bis heute als möglicher Effekt von Schulbibliotheken besprochen werden. (Siehe z.B. mit einer ähnlich wertkonservativen Grundhaltung und ähnlichen Versprechen von Funktionen einer guten Schulbibliothek die Dissertation von Neumann (1989)) Sicherlich wird sich kaum eine Schulbibliothek finden lassen, die wirklich alle diese Versprechen erfüllt; zumal einige von Ihnen auch als Lernziel diskutiert werden könnten. Auffällig ist aber vor allem, dass diesen Versprechen keine Anweisungen zur Umsetzung folgen; nur ein kurzer Verweis auf eine weitere Broschüre („Handreichung für Bibliotheksbeauftragte“, in der heutigen Version Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, 2004) findet sich in einer Fussnote. (Rothmann 2001:7) Wie die Schulbibliothek aufgebaut sein soll und wie die Arbeit in ihr organisiert sein soll, damit sie all die Versprechen, die mit dieser Liste gemacht werden, erfüllen kann, wird nicht thematisiert. Darin gleicht sich die Broschüre wieder anderen Texten zu Schulbibliotheken.

Gleichzeitig ist in diesem Text – im Gegensatz zu ähnlichen Broschüren – relativ eindeutig sichtbar, an wen sich diese Aufzählung richtet und von was sie überzeugen soll: Lehrerinnen und Lehrer sollen davon überzeugt werden, dass Schulbibliotheken sie bei ihrer Arbeit unterstützen. Zudem sollen sie selber für ihren Unterricht Schulbibliotheken nutzen. So begründen sich die relativ übertriebenen Versprechen. Deshalb enthält die Broschüre allerdings auch keine Angaben zu konkreten bibliothekarischen Aspekte der Schulbibliotheksarbeit, dafür aber Themen, die im Schullalltag eher diskutiert werden, wie die Aufsichtspflicht.

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Mit neuen Medien arbeiten

In weiten Teilen der Broschüre wird argumentiert, dass Schulbibliotheken Orte wären, an denen die Schülerinnen und Schüler das richtige Arbeiten mit den neuen Medien erlernen könnten. Dabei wird einerseits betont, dass sie in der Schulbibliothek selbstständig lernen würden, was als motivationssteigernd wahrgenommen wird; gleichzeitig werden relativ viele Lernziele vorgegeben. Am Ende der Publikation finden sich einige wenige direkte Hinweise zum Unterricht. Viel eher ist der Texte eine lange Argumentation dafür, was den Lernenden beim Unterricht in der Schulbibliothek beigebracht werden könne, wenn diese auch neue Medien vorhält. Immer geht es dabei darum, den vorgeblichen Gefahren der Arbeit mit den neuen Medien vorzubeugen. Dabei wird den Schülerinnen und Schülern erstaunlich wenig zugetraut: Ständig werden neue Gefahren aufgezählt, denen sie ausgesetzt seine, gleichzeitig wird bei ihnen wenig Wissen beim Umgang mit diesen neuen Medien vermutet.

Vielmehr müssten sie lernen, die notwendige Zeit für eine strukturierte Recherche einzuschätzen, die Kosten von Informationsquellen zu schätzen („[…] ist ganz allgemein wichtig, dass bei eigenständiger Nutzung von Informationsquellen den Schülern ein Kostenbewusstsein vermittelt wird und sie zu sparsamer und effizienter Recherche angeleitet werden.“, Rothmann 2001: 12), die Qualität von Informationen zu erkennen und effizient mit den elektronischen Medien zu arbeiten. In gewisser Weise spiegelt sich hier noch die Vorstellung, dass Informationen immer in teuren Datenbanken und Lexika zu finden seien wieder, die sich heute – auch aufgrund dessen, dass sie wirklich nicht mehr haltbar ist – nicht mehr findet. Gleichzeitig deuten sich die Vorstellungen und Aufgabestellungen für Bibliotheken, die heute unter dem Begriff „Informationskompetenz“ besprochen werden, schon in dieser Broschüre an, ohne den Begriff selber zu nutzen, obwohl dieser – wenn auch im bibliothekarischen, nicht im pädagogischen Rahmen – schon vorhanden war. Zudem wird als Grundlage jeder Arbeit mit elektronischen Medien immer noch das genaue und intensive Lesen angesehen, auf das jedes andere Wissen nur aufbauen könne:

„Daher bedarf es einerseits verstärkter Bemühungen Schüler hinzuführen, Printmedien sinnvoll und erschöpfend zu nutzen und andererseits die tatsächlichen Nutzungsvorteile elektronischer Medien auszuschöpfen.“ (Rothmann 2001:17)

„Zentrale Grundvoraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen sind die Fähigkeiten und Fertigkeiten, sich Informationen eigenständig, gezielt und erfolgreich beschaffen zu können. Im Laufe der Unter- und Mittelstufe müssen die Schüler u. a. lernen, Texte zu lesen, zu markieren, zu gliedern, Informationen zusammenzufassen, Nachschlagewerke zu benutzen, die Bibliothek, ihre Fachbücher, Printmedien, AV-Medien, PCs zu nutzen. Hauptschwierigkeiten insbesondere im Sekundarbereich I sind beim Lesen:

– Texte werden oft ohne den Inhalt angemessen zu erfassen lediglich nur optisch abgetastet.

– Die Textmarkierungen erfolgen meist zu ‚großzügig‘ und ‚flächendeckend‘, weil alles für wichtig gehalten wird.

– Das Formulieren von Marginalien, Textüberschriften, Gliederungen, Fragen, Ergänzungen wird oft zu wenig geübt und beherrscht.

– Die Verwendung allgemeiner Symbole bei der Informationsaufnahme ist sehr selten.

– Gezielte Übungen zur Textstrukturierung und Zusammenfassungen werden eher selten gemacht.“ (Rothmann 2001: 19)

Während heute darüber diskutiert wird, wie Lernende Kompetenzen aufbauen können, um Informationen zu bewerten und zu nutzen, stellt der Autor dieser Broschüre als Problem bei der Nutzung von elektronischen Medien heraus, dass angeblich nicht ausreichend sorgfältig mit gedruckten Texten gearbeitet würde. Eigenheiten von elektronischen Medien kommen dabei quasi nicht zur Sprache, vielmehr werden sie den „richtigen Texten“ untergeordnet.

Fazit

„Multimedia-Schulbibliothek: Leseförderung mit neuen Medien“ ist eine erstaunliche Broschüre in dem Sinne, dass Schulbibliotheken vom Autor sehr geschätzt und ihnen grosse Einflussmöglichkeiten zugeschrieben werden, während gleichzeitig zu konkreten Schulbibliotheken oder Schulbibliotheksarbeit wenig gesagt wird. Vielmehr konzentriert sich der Text darauf, angebliche Gefahren bei der Nutzung von – für 2001 – neuen Medien durch Schülerinnen und Schüler darzustellen, denen durch die angeleitete Nutzung der Schulbibliothek begegnet werden könne. Das Hauptargument für die Integration solcher Medien in den Bestand scheint zu sein, dass dann diese Nutzung besser angeleitet werden können.

Trotz des positiven Bildes von Schulbibliotheken hinterlässt die Broschüre einige Irritationen. Nicht nur, dass die konkrete Schulbibliotheksarbeit überhaupt nicht erwähnt wird – auch nicht wirklich die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrer, welche die Schulbibliotheken nutzen sollen –, sondern auch, dass diese positive Schilderung aus einer erstaunlich konservativen Grundhaltung heraus formuliert zu sein scheint. Zu einem Bild von neuen oder modernen Schulbibliotheken trägt dies wenig bei. Das gleichzeitig immer wieder betont wird, dass die Schülerinnen und Schüler in der Bibliothek „selbstständig“ arbeiten könnten und deshalb motivierter sein würden, irritiert dabei nur. Offenbar wird ihnen Selbstständigkeit immer nur in einem sehr engen Rahmen zugestanden, nicht als Teil einer demokratisierenden, potentialfördernden Bildung.

Literatur

Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (2003). Schulbibliotheksarbeit in Bayern: Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 17. November 2003 Nr. III.6-5 S. 1301-5.93 772. KWMBI I 23. 534–537, https://www.oebib.de/fileadmin/redaktion/schulbibliothek/Schulbibliotheksarbeit.pdf

Liebel, Mirjam (2014). Willkommen in der Zukunft – Schulbibliotheken im Zeitalter von Multimedia und Internet. In: Bibliotheksforum Bayern 8 (2014) 1, 66–67

Malottki, Hans von (1976). Zur Situation der Schulbüchereien in Bayern. In: schulbibliothek aktuell 2 (1976) 2, 73–74

Neumann, Helga (1989). Die bildungspolitische und pädagogische Aufgabe von Schulbibliotheken: Schulpolitische und Schulpädagogische Beiträge zur Förderung der Leseerziehung. (Dissertation) Hamburg: Universität Hamburg

Rothmann, Peter Heinz [2001]. Multimedia-Schulbibliothek: Leseförderung mit neuen Medien (Medienzeit Basisbaustein). München : Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus

Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (2004). Praxisleitfaden Schulbibliothek: Eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer. München: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung

Treter, Bodo (1973). Bayerischer Büchereitag 1973 in Erlangen: Die Schulbibliothek – Baustein der Literaturversorgung. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 25 (1973), 1100–1101