Wie wird der Raum einer Hochschulbibliothek benutzt? (Plakate)

Letztes Jahr führte ich eine Studie dazu durch, was wir über die Nutzung des Raumes von Hochschulbibliotheken wissen. Dazu hatte ich die dazu publizierten Forschungen der (damals) letzte zehn Jahre systematisch ausgewertet. Die Ergebnisse hatte ich bei einem Vortrag auf dem #vBIB20 (https://doi.org/10.5446/47567) und einem Artikel in der IWP (https://doi.org/10.1515/iwp-2020-2112) vorgestellt. (Sie sind auch nicht so überraschend: Die Studierenden wollen vor allem in Ruhe arbeiten.)

Jetzt habe ich sie noch einmal anders dargestellt, als Plakate. Es ist so eine andere Form von Übersicht, die man gut nutzen kann, wenn man sich in einer Bibliothek in einer Arbeitsgruppe trifft um zu diskutieren, wie man den Raum umgestalten (oder gar neu bauen) soll. Die Ergebnisse sind die gleichen, wie im Vortrag und im Artikel. Aber schon weil der Ruf danach, dass die Forschung ihre Ergebnisse «doch auch mal anders darstellen» soll, nicht verstummt (und auch, weil ich ein wenig mit den Formaten spielen will) hier die beiden Poster. (Auch bei e-LIS http://hdl.handle.net/10760/40556)

Neue Hygienedispositive – werden wohl auch die Bibliotheken verändern

Das Buch „Un siècle de banlieue japonaise‟ von Cécile Asanuma-Brice (2019) hat die Geschichte der ständigen Um- und Neubauten der Vorstädte Tokios seit der Meiji-Restauration (1868) zum Thema. Diese ist geprägt von rasanten Veränderungen nicht nur des Bauens, sondern auch der Vorstellungen über gutes Wohnen, über die Organisation von Stadt und Umland oder auch der Frage, wer für das Bauen guter Wohnungen zuständig ist (der Staat oder der Markt). Als ich es letztens gelesen habe, fiel mir aber noch etwas ständig Wiederkehrendes auf: Die Bedeutung je neuer Dispositive um Hygiene, die sich vor allem als Antwort auf Gesundheitskrisen (konkrete Epidemien und der sich wandelnde Blick auf Problemlagen, die je neu als Krisen, wahrgenommen wurden, die anzugehen wären1) etablierten und dazu führten, dass anders geplant, gebaut und dann auch gelebt wurde.

Das ist in der Geschichte der Stadtentwicklung ein ständiges Thema (Lévy 2012), aber mit der Beschleunigung von Entwicklungen und Veränderungen in der Moderne seit dem 19. Jahrhundert halt auch eines mit beschleunigter Dynamik. (Ich erinnere mich an meine alte Nachbarin in Neukölln, die Ende der „Nuller Jahre‟ rund 50 Jahre in der gleichen Wohnung lebte und sich jeder Renovierung widersetzte, deshalb aber mit Kohlen heizte und als einzige im Haus noch ein Etagenklo nutzte – was vollkommen aus der Zeit gefallen war, obwohl es kein Menschenleben vorher offenbar in diesem Haus vollkommen normal war, wie man im Treppenhaus sieht, wo die Aussparungen für die Etagenklos weiterhin sichtbar sind.) Es ist mir nur beim Lesen dieses Buches wieder aufgefallen. Beispielsweise auch in der ständigen Ausstellung des gerade wieder geöffneten Musée Historique hier in Lausanne über die Entwicklung dieser Stadt kommen Gesundheitskrisen, sich etablierenden Hygienedispositive und dann darauf teilweise langsam, teilweise schnell reagierende Umbauten prominent vor. Die Überbauung der beiden Flüsse Louve und Flon Ende des 19. Jahrhunderts, um weitere Typhus-Ausbrüche zu verhindern – die ja auch in vielen anderen Städten stattfand –, nimmt in dieser Ausstellung einen grossen Raum ein. Ebenso, wie der Umbau der Häuser in den proletarischen Quartieren, so dass alle Wohnungen fliessend Wasser und ausreichende Sanitäreinrichtungen erhielten. Oder die Schaffung von städtischen Strukturen für das sanitäre System Ende des 19. Jahrhunderts.

Andere Hygiene – andere Formen des Alltags

Oft ist auch schon darauf hingewiesen worden, dass solche Umbauten, die zuerst aus Gründen der Hygiene vorgenommen wurden, im Anschluss dazu führten, das sich neue, unerwartete Möglichkeiten zu wohnen oder die Stadt zu nutzen ergaben. (Zum Beispiel Hardy 2005, Lévy 2012) Menschen und die Gesellschaft haben sich da immer wieder angepasst (oder, wie meine alte Nachbarin, widersetzt, sind aber dann damit recht aus der Zeit gefallen). Die immer wieder erzählte Geschichte davon, wie Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Planung von Baron Haussmann die Strassen und Viertel in Paris auch umgebaut wurden, damit Militär bei Aufständen nicht in engen Gassen manövrieren muss, aber gleichzeitig die Hygiene so sehr verbesserten, dass sich an diesen Strasse zahllose Cafés mit offenen Flächen ansiedeln konnten, in denen sich dann besser und schneller revolutionäre Gedanken entwickeln und verbreiten liessen, als vorher, ist eindrücklich, aber auch nicht originär. (Sennett 2018) Ähnliche unvorhergesehene Veränderungen des Alltags kamen immer wieder vor. Schon, dass heute allgemein überall fliessend Wasser und Sanitäreinrichtungen erwartet werden – nicht nur in der Wohnung, sondern überall, selbst auf dem schmutzigsten Festival – und alle mit ihrem Vorhandensein planen, ist ein Hinweis darauf, wie sehr Einrichtungen, die der Hygiene wegen etabliert werden, sich in unser Leben integrieren.

Mir scheint sehr klar, dass auch die COVID-19-Pandemie dazu führen wird, dass sich neue Hygienedispositive etablieren. Die Frage scheint mir gar nicht, ob man die jetzt gut oder schlecht finden wird, sondern nur, wann und welche. Aktuell sehe ich zum Beispiel viele Bilder, wo Sitzplätze (in Schulen, in Cafés, aber auch in Bibliotheken) auseinander geschoben und in ihrer Zahl verringert werden. Gleichzeitig haben wir alle vielleicht jetzt neu gelernt, Hände zu waschen und überall Desinfektionsmittel vorzufinden. Das Tragen von Gesichtsmasken wird sich vielleicht auch als Normalität – nicht für alle, aber für die, die es wollen oder als notwendig ansehen – etablieren (zumindest haben andere Epidemien in anderen Gesellschaften bekanntlich dazu geführt). Vielleicht wird es sich auch etablieren, dass Menschen allgemein im Alltag mehr Distanz einfordern werden. Wer weiss.

Rasante Veränderungen. Nicht nächste Woche, aber vielleicht nächstes Jahr

Sicherlich, gerade stellen sich Leute wieder sehr, sehr nah, weil Leute den Eindruck zu haben scheinen, dass die Krise vorbei wäre. Oder, weil sie es nicht mehr aushalten, achtsam zu sein. Hier in der Schweiz durften zum Beispiel die Clubs dieses Wochenende wieder öffnen und bei dem direkt hier vor der Tür konnte man sehen, wie sich niemand in der Schlange an irgendeine Distanz gehalten hat. Für eine kurze Zeit scheinen viele Menschen vergessen zu haben, dass wir weiterhin eine Pandemie haben, die sich vor allem durch Nähe zwischen Menschen überträgt. Aber man sollte die mittelfristigen Veränderungen nicht unterschätzen. (Ebenso wie man die ersten Tage nicht überschätzen sollte. So voll, wie dieses Wochenende, ist der Club sonst nie. Da war „Nachholebedarf‟, wie woanders wohl auch – aber der ist irgendwann auch befriedigt.) Spätestens eine zweite Welle dieser Pandemie oder halt die nächste Pandemie (die mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen wird, wir sind ja in den letzten Jahren nur knapp an anderen „vorbeigeschrammt‟) wird – wenn die Geschichte eine Struktur zeigt – dazu führen, dass sich Dispositive und damit auch das Verhalten ändern werden.

Bibliotheken

Aktuell scheint auch bei Bibliotheken die Vorstellung vorzuherrschen, dass man über kurz oder lang wieder zur gleichen Nutzungsweise von Bibliotheken und Bibliotheksräumen übergehen wird, wie vor der Pandemie. Das also alles eher eine Frage der Zeit sei. Und, zugegeben, ich bin nicht gut darin, treffende Vorhersagen zu machen. Aber: So, wie wir bislang gelebt haben, hat es ja zur Pandemie geführt. Mir ist nicht klar, wie es sicher und sinnvoll sein kann, wieder dahin zurückzukehren.

Ich kann auch nur vermuten, was passieren wird. Mir scheint aber, es wäre sinnvoll, wenn Bibliotheken das zumindest mal andenken würden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in kurzer Zeit Menschen nicht mehr von der Idee angetan sein werden, in ein „Wohnzimmer der Stadt‟ zu gehen, wenn das Bilder von ungewollter Nähe vermittelt. Auch die Vorstellung, Communities herzustellen, indem man Menschen in Workshops, Veranstaltungen und so weiter zusammenbringt, dürfte jetzt zumindest mehr Raum benötigen. Ebenso scheinen mir Arbeitsplätze in Lesesälen nebeneinander, in langen Reihen, potentiell tendenziell weniger beliebt zu werden. Kann auch gut sein, dass mehr Menschen anfangen, sich mehr Gedanken darum zu machen, wie Viren „funktionieren‟ (so, wie man sich heute grundsätzlich auch mehr Gedanken darum macht, was man isst) und dann darauf zu achten – was immer dieses „darauf achten‟ heissen wird.

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass in den letzten 150 Jahren oder so sich immer wieder schnell, aufgrund von Gesundheitskrisen, neue Hygienedispositive etabliert haben und dann zum Beispiel dazu führten, dass die Vororte Tokios umgebaut oder überall in Lausanne Sanitäreinrichtungen installiert oder ganz grundsätzlich neue Verhaltensregeln etabliert wurden. Oder, dass Wohnungen so gebaut wurden, dass man sie lüften kann. Oder das Städte Parks und Grünflächen erhielten. Solche Veränderungen kamen nicht in zwei-drei Wochen, aber doch – wie zum Beispiel im oben erwähnten Buch von Asanuma-Brice (2019) dargestellt wird – zum Teil rasend schnell. Ich schaue immer wieder auf Bilder von Bibliotheken aus verschiedenen Jahrzehnten. Wenn man darauf achtet, zeigen sich in diesen die jeweiligen zeitgenössischen Hygienevorstellungen selbstverständlich auch. Bibliotheken sind von den Veränderungen in der Nutzung öffentlicher Einrichtungen nie ausgeschlossen.

Aktuell scheinen Bibliotheken, wenn sie über mögliche Veränderungen durch die Pandemie reden, vor allem über digitale Angebote, Homeoffice und so weiter nachzudenken. Schön und gut. Aber sie sollten sich darauf vorbereiten, dass sich mittelfristig auch die Dispositive dazu, was akzeptable Räume (nicht nur von Bibliotheken) sind und wie sie zu nutzen sind, ändern wird. Bislang können wir zu den bevorstehenden Veränderungen – aber das ist ja auch bei anderen Themen so – nur ein paar Vermutungen äussern. Aber ich würde mich wundern, wenn es nicht diesen Monat in einem Jahr ein intensiv diskutiertes Thema wäre. Einfach so, wie es „vorher‟ war, wird es nicht werden. Die Menschen werden sich (mit Ausnahmen) beginnen, anders zu verhalten.

 

Literatur

Asanuma-Brice, Cécile (2019). „Un siècle de banlieue japonaise: Au paroxysme de la société de consommation‟. Genève: Mētis Presses, 2019

Elsig, Alexandre (2015). „La ligue d’action du bâtiment – L’anarchisme à la conquête des chantiers genevois dans l’entre-deux-guerres‟. (Coédition Collège du travail) Lausanne: Editions d‛en bas, 2015

Hardy, Anne (2005). „Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit : Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts‟. (Kultur der Medizin, 17) Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2005

Lévy, Albert (2012). „Ville, urbanisme & santé: les trois révolutions‟. (Société et santé) Paris: Pascal / Mutualité Française, 2012

Sennett, Richard (2018). „Building and dwelling : ethics for the city‟. London: Allen Lane, 2018

1Alexandre Elsig (2015) stellt in seiner Geschichte einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft im Genf der 1930er unter anderem da, wie die Wohnverhältnisse der Arbeiter*innen zu einem politischen Thema wurden und die Gewerkschaft irgendwann begann – als direkte Aktion – „Typhus-Häuser‟ abzureissen, weil ihrer Meinung nach die Regierung sich nicht schnell genug darum kümmerte, diese Häuser zu verbessern. Auch hier hatte sich in wenigen Jahren die Vorstellung etabliert, dass bestimmte Formen des Wohnens – die vorher noch akzeptabel schienen – ein Gesundheitsrisiko darstellten.

Vom Unbehagen mit „den Bibliotheken‟ von Aat Vos

Hier ein Geständnis von mir (vielleicht ist es auch keines): Die neu eröffneten Bibliotheken, welche gerade durch die bibliothekarische Presse gereicht werden und bei denen in den Begleittexten oft in den Vordergrund gestellt wird, dass Aat Vos an ihrer Gestaltung beteiligt war – ich finde sie alle abstossend. Hässlich ist das falsche Wort – aber weder einladend noch gemütlich (wie sie immer wieder genannt werden), sondern auf Effizienz und genaue Aufgaben hin durchgeplant; ausgestattet wie diese Co-Working-Spaces, die auf Firmen ausgerichtet sind und den Vibe ausstrahlen, dass man in ihnen einerseits so tun muss, als wäre man gerade heftig entspannt kreativ und entspannt, bei denen aber andererseits fühlbar ein „travail travail travail‟ über allem geschrieben steht. Wie eine unbelebte Bühne, wo alles zu sauber, neu, ungebraucht dasteht, aber einen cooles Café darstellen soll. Halt wie Räume, die auf Effizienz, Arbeitssamkeit und korrekte Manieren hin geplant wurden. Aber selbstverständlich könnte das ein rein subjektives Empfinden sein. Das Leute Dinge mögen, die ich nicht ausstehen kann – das ist mein Leben.

Doch mir scheint, es ist komplizierter, als das man es einfach auf subjektive Eindrücke reduzieren könnte. Die Bibliotheken, welche in den betreffenden Texten begeistert beschrieben und in den Bildern dargestellt werden, scheinen mir erstaunlich klar einen eindeutigen Habitus auszustrahlen. Während andere („alte‟) Bibliotheken mit ihren offenen Flächen zwar auch bestimmte Dinge zu „fordern‟ scheinen, scheinen sie mir doch immer offener zu sein als die Bibliotheken „von Aat Vos‟. Oder anders: Letztgenannte, „neue‟ Bibliotheken scheinen mir – entgegen ihrem Anspruch – viel einschränkender zu sein, als die heute im Bibliothekswesen offenbar als langweilig wahrgenommenen Bibliotheken des letzten Jahrzehnts. Und gleichzeitig auch entgegen dem eigenen Anspruch eben nicht „alle‟ ansprechend, sondern sehr klar vor allem gutsituierte Personen. Sozial Schwache, so scheint es mir, werden aus diesen „neuen‟ Bibliotheken eher draussen gehalten werden – obwohl selbstverständlich der Anspruch ist, das sie auch die Bibliothek nutzen sollen – wie sie halt praktisch aus den höherpreisigen Coffeeshops und Co-Workingspaces herausgehalten werden, die so aussehen, wie diese Bibliotheken.

Wie diesen Vibe fassen? Wo kommt dieses Feeling, dieses Unbehagen her? Wie es über den subjektiven Eindruck hinausheben, der alleine ja nichts sagt und allgemein auch als nicht zu diskutieren gilt? Das denke ich langsam zu wissen und möchte er gerne hier zeigen. [Und, dass ist mir wichtig: Es geht mir nicht darum die Person Aat Vos zu kritisieren. Das hier ist keine Polemik und kein persönlicher Angriff. Er wird nur immer und immer wieder als Designer erwähnt, deshalb erwähne ich ihn. Wie so oft geht es mir um strukturelle Fragen. Es ist ja zum Beispiel nicht nur Vos, seine Beratung und seine Arbeit anbietet, sondern es sind auch immer Bibliotheken, die diese annehmen.]

Soziologie, Ethnologie

Bourdieu und Lefebvre – beziehungsweise die Arbeiten dieser beiden Soziologen scheint mir eine gute Grundlage, um das Unbehagen besser zu fassen und auch das Nachdenken (und dann das Verändern, wenn das gewünscht ist) dieser Situation zu ermöglichen. [Und ja, es fällt auf, dass dieser Text durchgehend von Männern spricht; offensichtlich gäbe es sowohl bei der Kritik als auch der Gestaltung von Bibliotheken andere Bezugspersonen, die gewiss das Design vielfältiger und die Kritik inhaltlich besser machen würden.]

Zu Bourdieu: Was gemütlich ist, ist schichtspezifisch

Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft‟ (Original: „La distiction. Critique sociale du jugement‟, 1979) ist (bekanntlich?) eine empirische Studie zum Zusammenhang von sozialer Position und ästhetischen Urteilen; also grundsätzlich der Frage, ob das, was als schön, sinnvoll, gemütlich et cetera angesehen wird ein individuelles Charakteristikum ist – oder aber in einem Zusammenhang mit der sozialen Position steht, die eine Person einnimmt. Oder noch anders: Ob Reiche, Arme und die Menschen dazwischen jeweils einen eigenen Stil haben (in der Wohnungseinrichtung, dem Bezug zur Kunst, dem, was sie schön oder hässlich finden…), oder ob das zufällig verteilt ist. Die Daten dazu sind heute alt (erhoben in den 1960er und 1970er Jahren) und aus Frankreich, aber die Ergebnisse wurden grundsätzlich immer wieder auch in anderen Zusammenhängen bestätigt. Die Struktur scheint zu stimmen, nur die Ausprägung ändert sich.

Und die Ergebnisse waren (bekanntlich?), dass: Ja, die ästhetischen Urteile und die soziale Lage eng miteinander verknüpft sind. Was in der einen Sozialschicht als schön, gut et cetera galt, gilt in anderen Sozialschichten nicht auch als gut, schön und so weiter. Teilweise, aber nicht immer, gilt es explizit als hässlich, als Ausdruck eines schlechten Geschmacks, eines falschen Lebens. Diese Geschmacksurteile, die als subjektiv gelten (siehe oben, die Vermutung, dass meine Wahrnehmung der genannten Bibliotheken rein subjektiv sein könnte), sind sehr sehr eng daran gebunden, welcher sozialen Schicht wir entstammen oder welcher wir zugehören. Deshalb lässt sich auch nicht so einfach etwas finden, was „alle‟ schön, gemütlich oder zumindest okay finden (ausser, die sozialen Schichten sind nicht weit voneinander entfernt, aber unsere Gesellschaft strebt ja eher auseinander als aufeinander zu).

Bei Bourdieu geht es dann auch darum, wie sich diese Geschmacksurteile in die Körper einschreiben und dazu führen, dass sich Angehörigen einer Sozialschicht „erkennen‟. Aber schon in der originalen Datenaufnahme – im Buch dargestellt – geht es darum, wie Menschen aus unterschiedlichen Schichten ihre Wohnungen einrichten. Dabei wird sichtbar, dass dies selbstverständlich auch damit zu tun hat, wie viel Geld jemand für die Einrichtung einer Wohnung investieren kann, aber nicht nur. Menschen bezeichnen unterschiedliche Stile als schön, gemütlich und nannten auch ganz andere Kriterien, nach denen sie ihre Wohnungen bewerten würden. Die Wohnungen von Menschen mit wenig Geld sehen nicht aus wie billige Kopien der Wohnungen von Menschen mit viel Geld – sondern wirklich anders. (Im Buch neigen Menschen mit wenig Geld zum Beispiel zu einem „praktischen Stil‟, also dazu, dass als schön angesehen wird, was auch praktisch ist – aber das kann sich geändert haben.) Das heisst nicht, dass die soziale Schicht den Geschmack, den Stil und so weiter vollständig determiniert. Es gibt immer persönliche Unterschiede und Ausnahmen. Aber was Bourdieu et al. zeigten, war, dass der Zusammenhang sehr, sehr eng ist.

Mir scheint, dass lässt sich selbstverständlich auch auf Räume wie Bibliotheken übertragen. Bibliotheken behaupten gerne – und wieder einmal in den Texten, welche die hier thematisierten neu gebauten / eingerichteten Bibliotheken beschreiben – Orte sein zu wollen, die für alle offen sind. Aber wie baut man Räume, die „für alle offen sind‟, wenn sich das, was als schön, gemütlich und so weiter gilt, je nach sozialer Schicht unterscheidet? Vielleicht, indem man sie sehr einfach und funktional macht. Zumindest aber nicht, indem man einfach behauptet, dass es eine spezifisch „gemütlichen‟ Stil gäbe, der die meisten Menschen ansprechen würde. Und schon gar nicht so, wie das in diesen Bibliotheken gemacht wird: mit Möbeln aus dem höherpreisigen Design-Möbelgeschäften, vollgestellten Räume, überall Designelemente und so Pseudo-verspielte-Garten-Farben. Wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass die soziale Schicht auch den Stil mitbestimmt, und dann auf diese Räume blickt, dann fällt schnell auf, dass die vor allem für den Geschmack einer gut-situierten Schicht gebaut scheinen; einer Schicht, die einen Stil (vielleicht) gemütlich findet, der Arbeit und Freizeit nicht wirklich voneinander trennt. Wie halt, wie oben schon gesagt, Co-Working-Spaces, die Gemütlichkeit eher simulieren und eher zum Arbeiten auffordern, zum etwas-machen, zum aktiv sein auffordern. Andere soziale Schichten trennen aber zum Beispiel Arbeit und Freizeit ganz explizit.

Zu Lefebvre: Was der Raum ist, bestimmt nicht das Design allein

Noch etwas irritiert mich bei den ganzen positiven Darstellungen dieser neuen Bibliotheken immer wieder: Es wird über das Design berichtet, auch über die Prozesse, wie über die Umbauten / Neubauten entschieden wurde und es werden Bilder aus den Räumen publiziert. Aber das ist das schon der Raum Bibliothek?

Hier kommen mir immer und immer wieder die Arbeiten von Henri Lefebvre darüber in den Sinn, wie Städte „funktionieren‟. (Vor allem, aber nicht nur „Das Recht auf Stadt‟, Original „Le droit à la ville‟, 1968.) Hauptthese bei ihm – die auch wieder nicht aus der Luft gegriffen, sondern theoretisch und empirisch untermauert und bis heute immer wieder genutzt und bestätigt wird – ist, dass das „Funktionieren‟ von Städten und Räumen sich nur verstehen lässt aus dem Zusammenspiel von Gebautem Raum (Infrastruktur) – Wahrgenommenen Raum (Was soll er? Was sind die „sozialen Regeln‟ des Raumes? Was „gehört‟ sich und was nicht?) – Gelebten Raum (Wie wird sich verhalten? Wie wird der Raum „bewohnt‟). Ein Raum, seine Struktur, seine Ausstattung hat immer einen mehr oder minder klaren Aufforderungscharakter: Was in ihm passieren soll. Dazu hat jeder Raum aber auch seine eigenen Regeln, die sich sozial ergeben. Nicht nur, was erlaubt oder verboten ist, sondern auch was sozial erwünscht ist und was nicht, was als schicklich gilt oder nicht. Und daneben gibt es das, was im Raum wirklich passiert.

Ohne das gleich empirisch zu fassen, lässt sich das ganz gut nachvollziehen, wenn man nur ähnliche Räume in unterschiedlichen Gesellschaften oder auch nur Städten / Gemeinden besucht und dann jeweils eine Zeit lang in ihnen aufhält. Jetzt gerade sitze ich zum Beispiel in einem Café in Basel, dass so leicht alternativ ist, mit intellektuelleren Zeitschriften und eher linken bis mitte-linken Zeitungen in der Auslage, WLAN, kleinen Speisen, gutem Kaffee etc. Es könnte sich so auch gut in Berlin, Wien, Lausanne befinden, mit dem gleichen Aufbau, dem gleichen Fokus und so weiter. Aber es würde sich anders anfühlen. In Berlin oder Lausanne zum Beispiel nicht so arbeitssam, auch nicht so „zur Stadt passend‟. Wieso, wenn die Möbel und die Infrastruktur die gleichen sein könnten? Weil der „wahrgenommene Raum‟ und der „gelebte Raum‟ nicht der gleiche ist. Die sozialen Regeln sind in schweizerischen Grosststädten halt etwas anders als in deutschen oder österreichischen Metropolen und in der Deutschschweiz auch anders als in der Romandie. Sie sind schwieriger (aber bei genau Zeit auch nicht unmöglich) zu fassen, als einfache Auszählungen von Nutzer*innen. Auch das Leben ist leicht anders. Sonst wären die Städte ja alle gleich – was sie bekanntlich nicht sind. [Man kann das aber auch selber an anderen Beispielen überprüfen, wenn man Cafés nicht mag. Ich war in den letzten Wochen zum Beispiel auch in Öffentlichen Bibliotheken mehrerer Städte, die alle mit dem Möbeln des gleichen Bibliotheksausstatters gestaltet wurden und deshalb auch in vielem gleich waren – aber doch gänzlich unterschiedlich laut, benutzt und so weiter. Ich bin der Überzeugung: Hätte ich etwas mehr Zeit in ihnen verbracht und nicht nur einen kurzen Blick in sie geworfen, wären mir mehr Unterschiede aufgefallen. – Das Experiment kann jede und jeder auch selber einmal durchführen, wenn sie oder er mir das nicht glaubt.]

Aber, bezogen darauf, wie die neu gestalteten Bibliotheken dargestellt werden, scheint das überhaupt nicht thematisiert zu werden. Hier scheint eher die Überzeugung vertreten zu werden, dass es praktisch nur auf das Design der Räume ankäme, um sie zu verändern. Das scheint mir leicht absurd: Was ist den mit denen anderen Bereichen? Wie soll man den etwas über die Wirkung der Bibliotheken sagen können, wenn man nur über Design redet und Bilder der Räume (meiste ohne Menschen drin) zeigt? Mir scheint, wenn man einmal mit Lefebvre den Blickwinkel einnimmt, dass Räume nicht einfach nur durch den gebauten und designten Raum funktionieren, stellt sich schnell die Frage, was alles in der Planung und Darstellung fehlt (beziehungsweise zu fehlen scheint): Neben der Frage nach dem sozialen Charakter der Räume, die da gebaut werden (siehe oben), auch die Frage nach den sozialen Regeln, die mit den Räumen aufgerufen werden und denen, die tatsächlich etabliert und dann gelebt werden.

Kurz noch Habermas, Oldenburg

Gleichzeitig wird in den Texten zu diesen Bibliotheken immer wieder behauptet, dass sie gebaut würden, um eine Ort herzustellen, in dem sich alle zusammenfinden sollen und so Gesellschaft entsteht. Es wird auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und darauf, dass „heute‟ Bibliotheken als Ort wichtig würden, an denen Vertrauen geschaffen wird und so weiter. Die immer gleichen Schlagworte und immer wieder genutzten Formulierungen sind wohl bekannt.

Aber nochmal: Am Ende wird in den Texten vor allem von Design und Planungsprozessen geredet; nicht vom sozialen Leben. Mir scheint, dass oft eine sehr einfache Überlegung im Hintergrund steht: Nähe von Personen wird mit Kommunikation über soziale und andere Grenzen hinweg gleichgesetzt. Oder anders: Weil die Räume gemütlich wären, würden sich hier viele unterschiedliche Menschen einfinden und dann beginnen, miteinander zu reden. Der Raum scheint dafür oft als genügend anregend zu gelten. Abgesehen davon, dass der Stil meiner Meinung nach eher zu einer Verengung der sozialen Schichten, welche diese Bibliotheken gerne nutzen, führen wird: So funktioniert Gesellschaft selbstverständlich überhaupt nicht.

Mir scheint hier ein ganz vereinfachtes – so einfach, dass es falsch ist – Verständnis von öffentlichen Raum vorzuliegen. Das wird gerne mit Habermas und seinen Arbeiten zum Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft durch Kommunikation in Verbindung gebracht, aber selbstverständlich ist das nicht das, was bei Habermas drin steht. Bei ihm geht es auch um soziale Unterschiede, um Kommunikationsbarrieren, um Themensetzungen und so weiter.

Bei den Texten zu den neuen Bibliotheken scheint es aber die Vorstellung zu geben, dass man einfach Räume bauen könne, in denen soziale Unterschiede, Unterschiede in Verständnis, Wahrnehmung, Interpretation von sozialen Regeln, Erwartungen und so weiter verschwinden – und dadurch dann schon Leute miteinander reden und deshalb Gesellschaft herstellen. Das müsste man aber nachweisen (und meiner Meinung nach kann man das nicht nachweisen, weil es so nicht passiert). Wenn man Räume baut, in denen Menschen miteinander reden sollen (ganz abgesehen davon, dass nicht klar ist, ob das überhaupt schon Gesellschaft ausmacht), dann muss man über die Funktion dieser Räume nachdenken – und das funktioniert nicht durch Infrastruktur oder Design, sondern durch aktives Tun: Irgendetwas oder irgendwer muss die Kommunikation erst motivieren oft auch am Laufen halten.

Sicherlich kann man Räume bauen, die praktisch Kommunikation verhindern – deshalb ist es ganz gut, wenn man darüber nachdenkt, wie man das gerade nicht tut. Aber einfach gemütliche Räume bauen und dann hoffen, dass das schon ausreicht – – – das funktioniert selbstverständlich nicht. Das führt nur dazu, dass Menschen, die sich schon kennen, miteinander reden und die anderen daneben vor sich hinarbeiten / hinleben. (Auch das kann man in den Cafés, auf die sich implizit ja bei den ganzen „gemütlichen Bibliotheken‟ bezogen wird, beachten. Wenn es keinen Grund gibt, miteinander zu reden, sitzen die Menschen auch da getrennt voneinander. Auch hier: Jetzt sitze ich seit vier Stunden in diesem gemütlichen, kleinen, hellen Café in Basel und habe genau mit den beiden Herren am Tresen gesprochen, sonst niemand. So wie andere auch. Die Idee, dass es in solchen Räumen zu Kommunikation kommen würde, scheinen mir oft Menschen zu haben, die sich praktisch nie in solchen aufhalten. – – – Auch hier mein Hinweis: Wer es nicht glaubt, kann ja mal ein paar Stunden in solchen Cafés verbringen und sich das selber anschauen.)

Dabei: Allgemein wird bei solchen Bibliotheken ja auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und das wiederum könnte auf das Buch von Ray Oldenburg („The Great Good Place‟, 1989) zurückverweisen, in dem er diesen Begriff „Dritter Ort‟ geprägt hat. Ich weiss, das wird gerne ignoriert und der Begriff eher gefühlt als begründet. Aber ist doch auffällig, dass Oldenburg bei der Prägung des Begriffes immer und immer wieder darauf verweist, dass die Orte, die er als „Dritter Ort‟ beschreibt, „plain‟ sein: Einfach, ohne notwendig grossen Schnick-schnack, ohne grosses Design. Sehr offen in der Nutzung. Nur so könnten sie funktionieren (und dazu würden sie noch einige andere Dinge brauchen, beispielsweise „anregende Getränke‟ und „Kommunikation als Hauptzweck‟ und „Stammnutzer*innen‟, welche erst die sozialen Regeln etablieren und leben). Das „gemütlich‟, von dem Oldenburg spricht – und im Buch anhand von Bildern illustriert – ist etwas anderes als das, was in den neuen Bibliotheken gebaut wird und auch etwas anderes als das, was Bibliotheken unter „erhöhter Aufenthaltsqualität‟ zu verstehen scheinen. Oldenburg ist schlecht im Begründen seiner Thesen, aber ich denke, was er andeutet ist, dass „Dritte Orte‟ vor allem so sein müssen, dass sie weniger dem Stil einer sozialen Schicht folgen, sondern offen genug sind, damit sie zumindest nicht den bevorzugten Stilen mehrerer sozialer Schichten widersprechen. (Oder die unterschiedlichen Stile verbinden. Deswegen ist er so begeistert von englischen Pubs, in denen so unterschiedliche Räume nebeneinander untergebracht sind.) Vielleicht gilt das ja viel eher für Bibliotheksräume, die als „langweilig‟ bezeichnet werden, als für die neu gebauten? Zumindest ist es schon erstaunlich, wie weit eigentlich diese „neuen‟ Bibliotheksräume von den Thesen sind, auf die sie sich vorgeblich – durch die Verwendung des Schlagworts „Dritter Ort‟ – beziehen.

Nicht zuletzt bin ich auch deshalb über das Fehlen von allen Aussagen dazu, wie diese Räume „funktionieren‟ (sollen) bei gleichzeitiger Behauptung, sie wäre für die Herstellung von Gesellschaft geschaffen, so irritiert, weil es selbstverständlich eine ganze Wissenschaftsdisziplin gibt, die sich damit beschäftigt, wie Gesellschaft auf der Ebene von Individuen und Gruppen hergestellt wird: Der Ethnologie. In ihr geht es um gelebte soziale Regeln, Erwartungen, Rituale, Verhaltensweisen und so weiter. Wie kann man diese ganze Disziplin ignorieren? (Klar, wie ich schon sagte: Indem man behauptet, die Bereitstellung des richtig gestalteten Raumes sein schon ausreichend. Aber das ist doch erstaunlich, wenn man aus der Ethnologie eigentlich lernen könnte, wie viel Arbeit erst von Menschen dareingesteckt wird, Gesellschaft auf lokaler Ebene herzustellen. Wäre es so einfach, dass man dafür einfach nur den richtigen Raum bereitstellen müsste, dann bräuchte es diese ganze Disziplin überhaupt nicht.)

Wieso ist das so?

Zusammengefasst: Ich habe ein grossen Unbehagen mit den neu gebauten Bibliotheken, die aktuell durch die bibliothekarischen Publikationen als neu und zukunftsweisend gereicht werden. Und mit etwas Theorie scheint mir das Unbehagen mehr als eine rein subjektive Abneigung. Mir scheint sogar, ungewollt aber doch real, hat man hier Räume gebaut, die noch mehr ausgrenzen, als man das schon von „langweiligen Bibliotheksräumen‟ vermutet hat. Stimmt das? Das müsste empirisch überprüft werden. (Aber man kann es erst überprüfen, wenn man den Verdacht äussert und zeigt, wieso es so sein könnte – was ich hier versuche.)

Aber wieso ist das so? Es ist ja nicht so, dass Bibliotheken Räume bauen wollen, die ausgrenzen. Ganz im Gegenteil. Und auch Aat Vos würde ich so was nicht unterstellen. Grundsätzlich kann man bei allen Beteiligten von good wil ausgehen. Nur: good wil alleine führt noch nicht zu guten Ergebnissen – „nur‟ zu gut gemeinten.

Ich denke, es sind zwei Dinge, die hier hineinspielen.

Zuerst, da es in den Texten auch immer um Aat Vos geht, soll es hier auch um Aat Vos gehen: Der ist Designer (und „Kreativ-Coach‟, ich weiss aber nicht, was ein Kreativ-Coach macht; aber was Designer*innen machen weiss ich ein bisschen). Als solcher muss er wohl davon überzeugt sein, dass vor allem Design die Welt retten oder zumindest besser machen wird. Es gibt im Design und der Architektur (bekanntlich?) eine lange, lange Tradition, sich gerade nicht an „the man‟ verkaufen und nur für Reiche irgendetwas Hübsches designen oder bauen zu wollen – sondern etwas, was besser ist für alle Menschen. Mit sozialem Anspruch Designen und Bauen. Wir haben gerade noch „100 Jahre Bauhaus‟, da sollte so eine Aussage nicht irritieren. Aber immer und immer wieder wurden Dinge designt, Gebäude gebaut, Plätze und Städte geplant, damit es allen besser geht und die Gesellschaft besser funktioniert – immer wieder auf der Basis von spezifischen Überzeugungen der Personen, die Designen oder Planen, was gut für die Gesellschaft wäre, wie die Gesellschaft funktioniert und so weiter. (Auch da ist das Bauhaus ein gutes Beispiel für.) Einiges hat zu einem besseren Leben beigetragen, vieles ist eher gescheitert (die „New Towns‟ in GB, die Banlieus in Frankreich, die sozialistischen Kollektivhäuser in der frühen Sowjetunion), noch mehr wurde anders genutzt, als geplant (zum Beispiel die ganzen Bauhaus-Wohnungen, die dann von Bewohner*innen doch nicht spartanisch und funktional durchgeplant belassen, sondern vollgestellt wurden). Diese Tradition ist da – und selbstverständlich ist es sympathischer, wenn mit so einem Anspruch geplant und designt wird. Aber sie wird auch fast „nur‟ mit Mitteln des Designs und der Architektur reflektiert und interpretiert, also eher mit einem Ansatz der Untersuchung von Beispielen mit ästhetisch und anderen Kriterien, aber zum Beispiel wenig soziologischem Verständnis. In einem solchen Denken kann es als ausreichend gelten, die funktionierende Gesellschaft auf lokaler Eben als eine zu verstehen, in der Menschen miteinander reden und dann nach Design-Lösungen zu suchen, die das ermöglichen würden.

Nachvollziehbar. Aber nur, weil Designer*innen davon überzeugt sind, dass Design die Welt besser machen würde, müssen Bibliotheken das nicht gleich glauben. Schon die Geschichte all der gescheiterten Interventionen durch Design sollte zeigen, dass diese eher Scheitern als Funktionieren. Darum scheint mir die Soziologie (und Ethnologie) weit besser zu erklären als das Design. Mich erstaunt deshalb, wie umstandslos Behauptungen aus dem Design in bibliothekarische Texte (und wohl auch bibliothekarisches Denken) übernommen zu werden scheinen.

Das dies so einfach übernommen wird scheint mir – das ist der zweite Punkt – ein Ergebnis der Untertheoretisierung von Bibliotheksbau und Raumplanung (und der tatsächlichen Funktion von Bibliotheken) zu sein. Eigentlich haben wir, wie oben gezeigt, genügend Wissen darüber, worauf und wohin wir zumindest schauen müssten, wenn wir darüber nachdenken, Bibliotheken umzubauen oder neu zu bauen. Aber weil das Bibliothekswesen eher schlecht darin ist, wirklich öffentlich und nachvollziehbar darüber nachzudenken, scheint es manchmal, als könnte einfach jemand etwas über die Wirkung von Räumen behaupten – und wenn das nur selbstbewusst und oft genug gemacht wird, dann wird das übernommen.

Das ist nicht perfekt, weil es nicht per se gute Räume baut (sondern auch zu solchen führen kann, die vielleicht eher ausschliessen). Sicherlich: Ich könnte es zu meiner Mission machen, auch selbstbewusst und oft etwas über Räume und Bibliotheksbau zu behaupten. Aber das kann ja nicht die Lösung sein. Sinnvoller wäre es wohl, Design und Architektur als das zu sehen, was sie sind: Design und Architektur. Und die Aussagen und das Nachdenken über Gesellschaft und Wirkung von Bibliotheksräumen nicht diesen zu überlassen, sondern eher auf die Disziplinen zurückzugreifen, die das Wissen dazu systematisch erwerben. Das ist halt vor allem die Soziologie.

Sinnvoll als Praxis wäre es wohl auch, regelmässig mit einem soziologischen Blick Bibliotheksräume zu interpretieren. Übung macht dabei auch die Anwendung soziologischer Modelle besser. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass diese Theorien nicht „einfach dahergesagt‟ sind, so wie Berater*innen einfach vieles auf der Basis ihrer eigenen Überzeugung dahersagen, sondern auf Empirie, Theoretisierung und wiederholter Anwendung / Testung beruhen. Sie erklären auch etwas – und mehr, als doch eher einfache Annahmen über die Funktion von Räumen und Gesellschaft, welche aktuell das Nachdenken über Bibliotheksräume zu prägen scheint.

Aber irgendetwas muss man ja bauen…

Sicherlich: Bibliotheken werden ständig um- oder neugebaut. Deshalb müssen auch immer wieder Entscheidungen darüber getroffen werden, was gebaut / in den Raum gestellt wird und wie. Das kann nicht einfach unentschieden gelassen werden, bis die best-mögliche Lösung erarbeitet ist. Irgendwas muss halt doch gebaut werden. Und es ist auch richtig, dass dafür bestimmte Methoden verwendet werden müssen. Und grundsätzlich wäre es wohl richtig zu sagen, dass alle Methoden erst mal sinnvoll sein können, wenn sie nur je zum zu lösenden Problem oder den gestellten Fragen passen.

Bei den „neuen Bibliotheken‟ ist es aber auffällig, wie oft diese – am Ende ja doch immer wieder ähnlich aussehenden – Bibliotheken mit vor allem einer Methode, nämlich Design Thinking verbunden werden. Wenn etwas zum eigentlichen Entscheidungsprozess für diese Neu- und Umbauten in den betreffenden Texten mitgeteilt wird, dann, dass es diese Methode war. Und, wie gesagt, die Bibliotheken scheinen mir gerade viel geschlossener und nicht offener zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Methode doch etwas damit zu tun hat, das die Bibliotheken am Ende immer wieder so werden, wie sie werden. Es wäre deshalb sinnvoll, sich diese doch noch einmal genauer anzuschauen, bevor sie weiter einfach immer wieder als vorgeblich zeitgemässe, innovatives Vorgehensweise genutzt wird. Mir scheint, dass zumindest Teile der Methode dafür verantwortlich sind, dass ständig einer offenbar stark verkürzte Vorstellung davon, wie Gesellschaft und Räume funktionieren, gefolgt wird und das immer wieder diese, meiner Meinung nach, ausschliessenden Räume gebaut werden. [Drei Vermutungen: Das „Kritikverbot‟, welches oft am Anfang der Methode eingeführt wird, führt dazu, dass offensichtliche Widersprüche nicht genannt werden. Der Fokus auf „Tun‟ (Making, Rapid-Prototyping etc.) verengt den Blick und das, worüber man nachdenken soll / kann auf Design-Lösungen. Der vorgeblich kreative, spielerische Ansatz zieht Personen aus bestimmten Sozialschichten – die Arbeit und Freizeit beziehungsweise Arbeit und Spiel nicht wirklich voneinander trennen – an und stösst andere eher ab. Aber das nur erste Vermutungen.]

Was sein könnte

Grundsätzlich aber scheint mir, dass gerade diese neuen Bibliotheken eine Aufforderung darstellen, mehr über die tatsächliche Nutzung und Wirkung von Bibliotheksräumen nachzudenken; dabei nicht nur einer Erzählung über „kreative Räume‟ und so weiter zu glauben, sondern auch das einzubeziehen, was als einigermassen gesicherter Wissensbestand über Gesellschaft, Stil, Wahrnehmung bekannt ist. Und es wäre sinnvoll, vielleicht wieder andere Methoden mit zu benutzten – und nicht eine, die so eindeutig aus dem Design kommt, ungefragt zu übernehmen. Was dabei rauskommen wird? Keine Ahnung, das wäre ein (gemeinsamer) Prozess.

Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass am Ende klar wird, dass das, was als „langweiliger Raum‟ beschrieben wird (nicht als schlechter, lauter, billiger; sondern als langweilig und bland) sich als sinnvoller Raum herausstellen kann, wenn man wirklich dem Ziel folgen will, Räume „für alle‟ zu bauen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass man dahin kommt, Planung von neuen Bibliotheken gar nicht erst rein als Design- und Architekturprojekt zu verstehen und zu präsentieren, sondern als umfassender: Mit Raum und Infrastruktur, aber auch Angeboten, Regeln, die man durchsetzen möchte, Dingen, die man ermöglichen möchte (und wie) und so weiter. Und vor allem kann ich mir vorstellen, dass man nicht mehr einzelne BeraterInnen als Wissensquelle benutzt und deren Thesen einfach zu übernehmen scheint.

Was sich aus so einem Nachdenken wie hier meiner Meinung nach auch ergibt, sind zahlreiche Forschungsfragen, die mal angegangen werden könnte – und sei es, um meine Wahrnehmungen zu widerlegen (anstatt einfach zu behaupten, dass sie nicht stimmen). Beispielsweise, wie Menschen aus verschiedenen Sozialschichten diese (und andere) Bibliotheken wahrnehmen und nutzen. Oder wie und ob die erhofften (und in vielen Texten zu den neuen Bibliotheken ja explizit erwähnten) Kommunikationen zwischen Nutzer*innen überhaupt stattfinden. Oder ob andere Methoden, bezogen auf die gleichen Aufgaben, bessere Ergebnisse hervorbringen und es tatsächlich eine Methodenfrage ist. (So funktioniert Theorie, wenn sie angewandt wird: Sie lenkt den Blick darauf, was zu beobachten sein müsste.) Aber das nur als Aufforderung.