Eine Sammlung, was man im Feld der Bibliotheken nach der Pandemie untersuchen / besprechen könnte

Wir befinden uns jetzt also unbestreitbar in der (in Europa) zweiten Welle der COVID-19-Pandemie. Sicherlich: Alle haben dadurch wieder zu tun. Und dennoch scheint es mir, es wäre auch eine gute Zeit, um einmal festzuhalten, was sich Bibliothek oder die Bibliothekswissenschaft im Anschluss an diese Pandemie fragen könnten und sollten.

  • Die Extremsituation hat – wie alle Extremsituationen – Strukturen und Vorstellungen getestet. Haben die Infrastrukturen gehalten? Wenn nicht, wie kann man sie verbessern? Aber auch: Haben die Vorstellungen der Bibliotheken davon, was Bibliotheken sind, wofür sie genutzt und geschätzt werden, gehalten? Antworten auf solche Fragen würden nach der Pandemie helfen, Bibliotheken weiterzuentwickeln.
  • Gleichzeitig hatten wir jetzt schon einmal eine Phase, in der Bibliotheken geschlossen wurden und eine, in der Bibliotheken «wiedereröffnet» wurden. Auch wenn die Situation jetzt teilweise anders ist als während der ersten Welle, wird es (mindestens) wieder eine Phase der Wiedereröffnung geben, wohl irgendwann im Frühling / Sommer 2021. Für diese wäre es selbstverständlich gut, aus der ersten Phase zu lernen, um dann diesen Prozess zielgerichteter organisieren zu können.
  • Nicht so sehr aktuell, aber in den ersten Monaten der Pandemie wurde immer wieder die Erwartung geäussert, dass sich durch diese viel ändern wird: Beispielsweise würden mehr elektronische Medien genutzt werden, weil die Menschen im März, April, Mai so viele nutzten. Oder die Arbeit im «Home-Office» würde sich (noch mehr) etablieren. Es wäre Zeit, auch aus den Erfahrungen im Sommer 2020, als an vielen Orten eine gewisse Normalität eingekehrte, zu lernen, ob diese Voraussagen immer noch haltbar sind – und wenn ja, was das für die Zukunft nach der Pandemie heisst. Wenn nein, warum nicht.

Hier eine erste Zusammenstellung von mir über die Fragen, die man in diesem Zusammenhang bearbeiten / diskutieren könnte. Es gibt Liste für diese keine richtige Basis ausser meine eigenen Beobachtungen und Überlegungen. Insoweit bin ich mir sicher, dass es noch viele andere Themen gäbe und das einige Themen von anderen als nicht wichtig erachtet werden. Ich unterbreite sie hier einfach als ersten Vorschlag und freue mich, wenn sie jemand aufgreift / ergänzt / überarbeitet (und wenn es dann erst nach der Pandemie ist, die hoffentlich irgendwann vorbei sein wird). Es soll vor allem eine Erinnerung daran sein, dass man aus dieser Krise etwas lernen kann und nicht einfach so schnell als möglich zur Normalität übergehen sollte.

Direkt die Bibliothek betreffend (Ebene 1)

Eine erste Liste von Fragen betrifft die Bibliothek als Einrichtung selber (ich nenne das hier Ebene 1, im Gegensatz zum Blick auf die Bibliothek von anderen Einrichtungen, die ich weiter unten Ebene 2 nenne).

  • Was und wann wurde während der ersten Welle in der Bibliothek gemacht? Nicht nur wann wurden die Räume geschlossen, sondern auch wann wurden Dienste eingestellt, wieder eingeführt oder ganz neu aufgesetzt? Hier zum Beispiel wäre es schon hilfreich, wenn möglichst viele Bibliotheken eine Chronologie der Ereignisse liefern würden, welche man dann miteinander vergleichen könnte. Einige haben das schon in ersten Artikeln gemacht, aber man könnte das beispielsweise in einer Abschlussarbeit auch systematisieren. Dann könnte man schauen, ob es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gab und warum. Das würde vielleicht etwas darüber sagen, wie sehr Bibliotheken vernetzt oder nicht vernetzt sind, wie sehr oder wenig sie von Entscheidungen anderer abhängig sind und so weiter.
  • Warum wurde es so gemacht? Hier wäre es interessant, Gründe zu erfahren: Warum haben einige Bibliotheken ganz geschlossen, andere Lieferdienste eingerichtet, andere trotz Homeoffice-Empfehlung viel im Backoffice arbeiten lassen? Wer hat diese Entscheidung getroffen? Auf der Basis welcher Überlegungen?
  • Mit welchem Ergebnis? Wie waren zum Beispiel die Ausleihzahlen? Hier wäre es wirklich interessant, Zahlen zu erhalten. Beispielsweise haben sehr viele Bibliothek im April angefangen, entweder Medien per Post zu verschicken oder die Abholung von Medien zu ermöglichen. Interessant wäre, wie das genutzt wurde – die Zahlen, die man hier und da hört, sind eher gering, aber das muss ja nicht überall so gewesen sein – und wie es wahrgenommen wurde. Interessant wäre zum Beispiel auch, ob diese Dienste über die Bibliothekskreise und die der engen Stammnutzer*innen hinaus bekannt wurden. Wurde das zum Beispiel in der Presse oder der lokale relevanten Social Media-Kanälen aufgegriffen?
  • Was ist jetzt mit den elektronischen Medien? Eine besondere Frage wäre, wie sich die Nutzung der elektronischen Medien tatsächlich entwickelt hat. Zu Beginn der Pandemie, im März, April, wurde viel davon geschrieben, dass Bibliotheken den Zugang zu elektronischen Medien vereinfacht und zum Beispiel die Anmeldung für die Bibliotheksnutzung online ermöglicht hätten. Zudem wurde davon berichtet, dass die Nutzungszahlen explodieren würden und daraus unter anderem abgeleitet, dass dies der Beginn es längerfristigen Trends wäre. Aber jetzt, einige Monate später, stellt die Frage, wie sich die Zahlen entwickelt haben: War das ein kurzfristiges Hoch oder tatsächlich ein Trend? Wie waren / sind die Zahlen? Auch hier hört man hier und da, dass sie während des Sommers wieder massiv zurückgegangen wären, aber eine systematische Sammlung wäre selbstverständlich aussagekräftiger.
  • Gab es Rückmeldungen zu den Schliessungen, Angeboten und so weiter der Bibliotheken? Wenn ja, von wem und welche? Hier wäre es interessant zu erfahren, ob und wenn ja wer wahrgenommen hat, was Bibliotheken während der ersten Welle getan haben. Bibliotheken haben immer wieder die Angst, dass sie übersehen werden und teilen gleichzeitig über interne Kanäle immer wieder, wenn sich jemand über sie äussert: Aber wie war es den während der Pandemie? Und vor allem: Kann man aus diesen Rückmeldungen, egal ob direkt an Bibliotheken gemacht, beispielsweise in Kommentaren, oder über Bibliotheken, beispielsweise in Berichten, etwas lernen?
  • Gab es Kooperationen oder andere Formen von Zusammenarbeit während der Pandemie (zwischen Bibliotheken, zwischen Bibliothek und anderen Einrichtungen)? Extremsituationen zu meistern ist oft einfacher, wenn man dies in Zusammenarbeit mit anderen tut. Zudem streben eigentlich alle Bibliotheken, nimmt man die ganzen Strategiepapiere der letzten Jahre ernst, Kooperationen mit anderen Einrichtungen an. Interessant wäre, welche Kooperationen Bibliotheken während der Pandemie eingegangen sind und wofür. Wurden zum Beispiel soziale Stiftungen angesprochen, um über sie Medien an Nutzer*innen zu liefern? Zudem relevant in diesem Zusammenhang wäre es zu wissen, ob dabei auf bestehende Kooperationen zurückgegriffen oder neue aufgebaut wurden. Lohnte sich die Arbeit in die Kontakte, die in den Jahren zuvor geleistet wurden? Und auch, wenn Bibliotheken gerade keine Kooperationen eingegangen sind, sondern eher alleine agiert haben: Was würde das heissen?
  • Wie wurde über «Wiedereröffnung» entschieden? Was genau hiess «Wiedereröffnung»? Was waren die Erfahrungen? Wie wurden die Angebote genutzt? Gab es Trends / Veränderungen über den Sommer? Wie haben sich die Nutzungszahlen entwickelt? Gab es Rückmeldungen von Nutzer*innen? Die Frage ist schon deshalb relevant, weil es zwar vielleicht (hoffentlich) keine neue Welle geben wird, aber wieder eine Phase der «richtigen» Wiedereröffnung.

Interne Ebene

Nicht unbedingt im Bibliothekswesen, aber anderswo schon wurden sich schon während der ersten Welle viele Gedanken dazu gemacht, welche Auswirkungen diese auf die zukünftige Arbeit haben würden: Wird sich das Homeoffice durchsetzen? Wenn ja, was wird das für Arbeit, Zufriedenheit, Infrastruktur bedeuten? Von anderer Seite wurde aber auch gefragt, wie mit dem Personal während der Krise umgegangen wird und wie sich das für die Zeit nach der Krise auswirken wird. Beispielsweise gab es Hinweise darauf, dass Personal, dass gegen den eigenen Willen entweder zum Arbeiten vor Ort oder zum Arbeiten daheim genötigt wurde, vielleicht nach der Pandemie daran gehen wird, sich andere Arbeitsstellen zu suchen. Zudem wurden Vermutungen angestellt, wer überhaupt zum Beispiel darüber entscheiden kann, wo sie*er arbeitet oder wer nicht.

Die Personalebene in Bibliotheken wird selten besprochen, ebenso die Frage, wie die Arbeit in Bibliotheken überhaupt genau organisiert ist. Dennoch gäbe es auch hier einige relevante Fragen.

  • Erfahrungen des Remote Work: Welches, wie, mit welchen Ergebnissen und Erkenntnissen? Wie hat sich das Personal dabei gefühlt? Insbesondere für viele Öffentliche Bibliotheken und Spezialbibliotheken scheint, wenn man dem was man hier und da hört Glauben schenken kann, die Umstellung auf die Arbeit im «Homeoffice» ein neuer, teilweise schwieriger Schritt gewesen zu sein. Aber auch nicht für alle. In Wissenschaftlichen Bibliotheken war dies eher schon verbreitet, aber auch nicht für alles Personal oder in allen Bibliotheken. Und einige Bibliotheken sind offenbar so schnell wieder zur Arbeit vor Ort zurückgekehrt, dass es eigentlich keine Arbeit im Homeoffice für sie gab. Und dennoch: Es wäre interessant zu erfahren, wie genau Bibliotheken mit dem Homeoffice umgegangen sind. Nicht nur, ob sie es getan haben, sondern auch, wie sie die Arbeit umgestellt haben, wie das Personal damit umgegangen ist, wie die allgemeinen Erfahrungen sind und so weiter. Dies ist ja schon für die Frage wichtig, ob es jetzt wirklich eine Hinwendung zum Homeoffice geben wird oder nicht – und ob Bibliotheken sich darauf einstellen müssen.
  • Gab es Lernprozesse? Wie wurden die organisiert? Die erste Krisenzeit und dann die ersten Entspannungen im Sommer wären eine gute Zeit dafür gewesen, intern Lernprozesse zu gestalten, also vielleicht gemeinsam zu reflektieren, welche Erfahrungen gesammelt wurde und wie sie in Zukunft benutzt werden. Sicherlich: Solche Prozesse zu organisieren und zu managen sollte in jeder Organisation zu jeder Zeit geschehen und das passiert ja auch in vielen Bibliotheken. Aber es wäre interessant systematischer zu sehen, was Bibliotheken wann gelernt haben, auch zum Beispiel, ob sie irgendwann zu Einschätzungen gelangten, die sie dann in den nächsten Monaten / Wochen wieder verwarfen.
  • Wurde etwas am Bestandsmanagement geändert? Weiterhin ist der Bestand (inklusive der Zugänge, die über Bibliotheken organisiert werden) der Hauptteil bibliothekarischer Arbeit. Zudem war in der ersten Welle die Arbeit mit und am Bestand der Teil bibliothekarischer Arbeit, welcher noch durchgeführt werden konnte, während zum Beispiel Veranstaltungsarbeit vor Ort oder das Angebot von Lern- und Leseplätzen nicht möglich war. Aber hat sich bei der Arbeit am und mit dem Bestand mittel- und kurzfristig etwas verändert? Wird jetzt zum Beispiel anders ausgewählt, eingekauft, lizenziert, katalogisiert, Zugang geschaffen? Wurden Bestandsstrategien überarbeitet? Wie? Hat sich die Nutzung elektronischer Medien in den ersten Monaten der Pandemie in der Bestandsarbeit niedergeschlagen?
  • Wie wurde mit dem Personal umgegangen? Das ist vielleicht eine gewerkschaftliche Frage: Aber während der ersten Welle waren immer wieder Stimmen zu vernehmen, bei denen sich Personal darüber beschwerte, was von ihm erwartet würde; dass nicht auch auf die Gesundheit des Personals geachtet wurde; dass erwartet wurde, dass es einfach wie immer «funktioniert»; dass ihm Aufgaben übertragen wurden, die es nicht übernehmen wollte / kann (und wenn es nach der Wiedereröffnung «nur» die Durchsetzung der Hygieneregel sind). Die Stimmen waren recht viele, gefühlt mehr als sonst. Aber das heisst nicht, dass es überall so gewesen sein muss. Es gab auch Personal, dass sich positiv geäussert hat. Insoweit wäre die Frage schon, wie das Personal die Situation erlebt hat – und ob sich daraus etwas für die Bibliotheken ergibt. Wird es jetzt zum Beispiel nach der Pandemie schwieriger werden, Personal zu halten oder zu gewinnen, wenn negative Erfahrungen überwogen haben? Oder andersherum einfacher? Was sagt es über Bibliotheken, wenn sich (einiges?) Personal so negativ äussert? Was unterscheidet vielleicht diese Bibliotheken von anderen Bibliotheken? [Diese Fragenkomplex wäre wohl wirklich was für die Gewerkschaften. Ich habe gelernt: Sie einfach so zu stellen ist gefährlich. Manche Menschen wollen sie nicht hören.]
  • Gab es eine Krisenplanung? Hat die geholfen? Wobei? Gibt es jetzt eine Krisenplanung? Krisen lassen sich besser durchstehen, wenn man auf sie vorbereitet ist und zum Beispiel weiss, wohin man sich um Unterstützung wenden kann. Gab es solche Planung in Bibliotheken? Wie sahen die aus und welchen Effekt hatten sie? Und: Wird jetzt vielleicht an neuen Krisenplanungen gearbeitet? (Zu vermuten, dass diese Pandemie die einzige Krise ist, die uns in den nächsten Jahren / Jahrzehnten treffen wird, ist ja illusorisch. Nicht nur ist die Chance auf die nächste Pandemie immer da, solange sich die Strukturen, welche die Verbreitung des Virus ermöglicht haben, nicht verändern. Aber die Klimakatastrophe und deren Auswirkungen ist auch immer noch da.)

Indirekt die Bibliothek betreffend (Ebene 2)

Bibliotheken beobachten nicht nur sich selbst, sondern sie werden auch von anderen Institutionen beobachtet, nicht zuletzt von ihren Trägern. Zudem gab die Krise auch einen guten Einblick darin, was Bibliotheken selber darüber denken, was an ihnen wichtig ist, warum sie (gerne) genutzt werden, was die Nutzer*innen von ihnen wollen und wie wichtig sie im Vergleich mit anderen Einrichtungen sind – den Bibliotheken schrieben mehr darüber, als sonst, wenn sie zum Beispiel Lobbyarbeit dafür betrieben, öffnen zu dürfen oder sich bei der jeweiligen «Wiedereröffnung» präsentierten. Und gleichzeitig gab die Krise auch eine Gelegenheit zu schauen, wie andere Institutionen – beispielsweise die Kantone und Bundesländer – oder die Nutzer*innen darauf reagierten.

Auf diese Ebene wäre eine systematische Sammlung und Auswertung solcher Äusserungen von Bibliotheken und der Reaktion darauf erhellend und würden eine Basis dafür liefern, dass Bibliotheken darüber nachdenken können, welche Bedeutung sie sich selber zuschreiben, warum sie das tun und wie die Nutzer*innen und die Öffentlichkeit darauf reagiert.

  • Was vermuteten / behaupteten Bibliotheken über sich selbst? (Verlautbarungen et cetera)
  • Wurden diese Vermutungen bestätigt / widerlegt / widersprochen? Was heisst das?
  • Welchen Aufgaben schrieben sich Bibliotheken zu? Welche wurden ihnen zugeschrieben (zum Beispiel durch die konkrete Nutzung, durch andere Stellen)?

Soll man einfach so zum Status quo ante zurückkehren?

So, Bibliotheken sperren langsam auf. Nicht überall, immer mit Einschränkungen, unterschiedlichen Lösungen und Zeithorizonten (und vielleicht auch nur erstmal, falls „die zweite Welle‟ kommt). Dazu hätte ich mal eine Frage: Ist das Ziel jetzt am Ende des Prozesses alles wieder so zu haben, wie es – sagen wir mal – im Januar 2020 war? Soll neue Normalität heissen vor allem irgendwie die alte Normalität, wenn auch in Schritten, wieder zu erreichen?

Weil, zumindest das was man hört und sieht, wenn man vor allem weiter daheim bleibt und Online arbeitet, scheint darauf hinzudeuten. Das muss nicht heissen, dass es überall so ist. Vieles was in einzelnen Bibliotheken lokal geschieht, gerade internes, sieht man so ja nicht. Aber wenn dieser Eindruck stimmt, würde ich doch etwas einwerfen wollen: Das muss überhaupt nicht das Ziel sein und es wird viel Unzufriedenheit hervorrufen. Es wäre falsch. Ich würde hierbei vor allem, aber nicht nur, vom Personal sprechen.

Was gelernt wurde

Während der Pandemie ist in den letzten Monaten unter anderem in Bibliotheken klar worden, (a) was in den einzelnen Bibliotheken auch anders möglich wäre, (b) was von den Nutzenden als wichtig angesehen und genutzt wird oder nicht, (c) was für Vorstellungen Bibliotheken über sich und ihre Funktion haben und wie sehr sich das mit der Realität (also dem, was wirklich benutzt oder wertgeschätzt wird) deckt, (d) was für interne Strukturen vielleicht gar nicht nötig sind, zumindest aber nicht in der hergebrachten Form. Nur ein paar Punkte:

  • Das ganze Arbeiten Online und vielleicht mit weniger direkter Kontrolle durch ständigen Kontakt in der Bibliothek / im Büro hat gezeigt, wie gut oder schlecht das wirklich funktioniert. Etwas überrascht (weil, zugegeben, ich als Forschender eigentlich schon immer so arbeite) konnte man in den letzten Wochen ja feststellen, dass einige Einrichtungen und Personen jetzt, 2020, erst damit wirlich Erfahrungen sammeln. Und diese Erfahrungen sind selbstverständlich ganz unterschiedlich (das hätten Leute wie ich, die schon so arbeiten, auch sagen können, hätte man mal gefragt). Viele kamen damit nicht gut klar, bei vielen auch wegen dem Betreuungsaufwand, den sie auf einmal zusätzlich hatten. Aber bei vielen auch, weil sie die Organisation auf diese Weise nicht gewohnt waren. Andere kamen gut klar und konnten besser und effektiver, vielleicht auch zufriedener arbeiten. Gleichzeitig wurden viele Annahmen über die Leitung von Bibliotheken und das Management von Personal auf die Probe gestellt. So viele Leitungen und Personen mit Personalverantwortung, welche die Überzeugung hatten, Führung ginge nur über direkten Kontakt in Sitzungen und Gesprächen vor Ort (ansonsten würde niemand arbeiten?) waren jetzt gezwungen, das anders zu organisieren. Bestimmt wieder mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Aber mit realen Erfahrungen.

  • Das Personal in vielen Bibliotheken musste und konnte in diesen Wochen die eigene Arbeit anders organisieren als in der Bibliothek / im Büro. Auch hier: Einige werden damit Schwierigkeiten gehabt haben, andere werden gut damit zurecht gekommen sein und eine Anzahl wird so viel besser als sonst gearbeitet haben. Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben viele auch selber erlebt (und werden vielleicht in den nächsten Tagen beim vBIB20 noch erleben), das Weiterbildung auch Online gut möglich ist, und wenn es einfach nur die Zeit ist, die man sich nimmt, um einen Vortrag zu schauen, anstatt extra dafür hunderte Kilometer zu fahren und dann da mit Leuten kommunizieren zu müssen. (Das ist ja auch ein Lernprozess.)

  • Es scheint auch so, als wäre das eigentliche Empfinden des Personals – also sowohl die, die in dieser Krise belastet waren, beispielsweise mit mehr Ängsten, depressivem Phasen, Stress, Unsicherheiten als auch denen, die positivere Erfahrungen hatten, beispielsweise freier arbeiten konnten oder konzentrierter – kaum Thema von Diskussionen. Das kann täuschen, es ist schwer in die internen Prozesse der einzelnen Bibliotheken zu schauen. Aber – wie auch in der breiten Öffentlichkeit, wo mehr über die Sorgen vermögender Firmen und Restaurants-Lobbygruppen geredet wurde, als über die Belastungen für Menschen mit wenig Geld oder mehr Ängsten – scheint auch im bibliothekarischen Diskurs vor allem eher über institutionelle Dinge geredet worden zu sein. Das zeigt auch eine gewisse Wertigkeit (die, wie gesagt, vor Ort anders aussehen kann).

  • Viele Bibliotheken, vor allem Öffentliche, gingen in den Anfangswochen dieser Krise davon aus, dass es einen grossen Bedarf daran gäbe, irgendwie Bücher bereitzustellen. Wir haben das alle irgendwo gelesen: Lieferdienste per Post oder direktem Vorbeibringen, Anrufen in der Bibliothek und vor der Bibliothek abholen und alle anderen möglichen Lösungen. Mehr Onleihe, Filmfriend und so weiter sowie die Möglichkeit, sich online einzuschreiben. Es wäre jetzt möglich, mal zu schauen, wie sehr diese These stimmte. Wie waren den die Zahlen? Hat sich der Aufwand gelohnt? Und selbst wenn die Zahlen nicht gut waren (die wenigen, die bislang durchgedrungen sind, klangen nicht überragend; aber das kann ja wieder anderswo anders gewesen sein1), fand es vielleicht die Öffentlichkeit, die Träger und so weiter gut, dass es das Angebot gab? Oder war das eine verkehrte Annahme der Bibliotheken davon, was Nutzende (in dieser Situation) wichtig finden?

Wie immer wird die Antwort nicht einfach Ja oder Nein, Gut oder Schlecht sein. Nicht zum Beispiel: „Ja, ab jetzt nur noch Online arbeiten‟ oder „Nein, nur noch vor Ort‟. Aber was wohl klar sein sollte: Alle haben in dieser Krise Erfahrungen gesammelt (und sammeln sie weiter, auch beim jetzigen „Öffnungsprozess‟; die Krise ist ja noch nicht um). Viele haben erlebt, dass Dinge wirklich nicht so sein müssen, wie sie sind.

Was man tun könnte

Mein Argument wäre: Einfach anstreben, die Bibliothek im, sagen wir mal, Oktober, wieder so zu haben, wie sie im, sagen wir mal, Januar war, wäre ein Fehler. Das wird Teile des Personals (und damit meine ich auch Leitungen selber) und vielleicht auch der Öffentlichkeit enttäuschen. Menschen haben jetzt nicht einfach als denkbare Möglichkeit, sondern in der Realität, gelernt, dass es anders sein kann. Das heisst nicht, dass alle wollen, dass es so anders bleibt. Aber viele werden sehen wollen, dass ihre Bibliothek aus diesen Erfahrungen lernt. Die einfache, undiskutierte Rückkehr zum Status quo ante wird den Eindruck vermitteln, dass man die Erfahrungen des Personals – gute, schlechte und die dazwischen – nicht relevant findet und nur an der Aufrechterhaltung vorhandenen Strukturen und Prozesse interessiert ist, egal was deren – auch wieder guten, schlechten und dazwischen – Effekte sind. (Das wird Auswirkungen auf die Motivation von Teilen des Personals haben und vielleicht auch dessen Wunsch, sich anderswo um Karrieren umzusehen.)

Was könnten Bibliotheken praktisch tun?

  1. Bibliotheken sollten nicht einfach davon ausgehen, dass alle den Wunsch und das Ziel haben, ungefragt und unbedacht wieder zum Zustand vom Januar 2020 zurückzukehren und die Frage einfach nur wäre, wie und über welchen Zeitraum. Das wäre schlicht eine falsche Annahme. (Ungefähr so, wie wenn die Leitung alleine das Leitbild schreibt und dann davon ausgeht und plant, als wenn das von allen in der Einrichtung geteilt wird.)

  2. Bibliotheken sollten zeitnah einen Prozess aufsetzen, in dem sich alle in der Bibliothek gemeinsam darüber Gedanken machen können, was jetzt eigentlich in der Krise passiert ist, wie sie das erlebt haben, was sie gelernt haben und so weiter. Der Prozess kann ganz unterschiedlich aussehen, wie solche Prozesse in den Bibliotheken halt aussehen: Ein grosses Treffen (online?), ein strukturierter Prozess in mehreren Phasen mit verschiedenen Formen der Rückmeldung. Die Managementliteratur ist voll mit Vorschlägen für solche Abstimmungsprozesse, man kann da einen auswählen. (Bibliotheken, die Prozesse etabliert haben, in dem das Personal sich wirkmächtig – also so, dass auch tatsächlich etwas passiert und ohne Angst haben zu müssen, dass es für sie negative Auswirkungen hat, wenn sie sich äussern – äussern können, sind dabei im Vorteil. Solche, die bislang solche internen Prozesse nicht haben und eher hierarchisch organisiert entscheiden oder bislang dem Personal keinen realen Einfluss auf Entscheidungen gewährt haben, werden damit weiter Probleme haben. Aber das liegt dann gerade an der internen Struktur über die gerade reale Erfahrungen gesammelt wurden.) Verschiebt man diesen Prozess auf irgendwann nach der Krise oder geht ihn gar nicht an, sendet man an das Personal die Nachricht, dass deren Erfahrungen irrelevant sind im Gegensatz zur Aufrechterhaltung des Bestehenden.

  3. Was in einem solchen Prozess geklärt werden sollte, ist nicht nur, welche Erfahrungen die Einzelnen in den letzten Monaten hatten (wobei dabei wichtig wäre zu merken, wie unterschiedliche diese Erfahrungen wohl waren und nicht die Erfahrungen einzelner zum normalen Empfinden stilisiert werden sollten). Es sollte thematisiert werden, was funktioniert hat und was nicht (wobei hier klar sein sollte, dass nicht alles gut funktionieren kann und vor allem die tatsächlichen Anstrengungen wertgeschätzt werden sollten), was an „alten Strukturen‟ und vielleicht auch Denkweisen (oben schon erwähnt die Annahme, Leitung müssen in Sitzungen und Gesprächen vor Ort durchgeführt werden) dem Funktionieren im Weg stand, was an Vorstellungen davon, was die Bibliothek ist und soll, sich bestätigt oder nicht bestätigt hat.

  4. Geklärt werden sollte auch gemeinsam, was das Ziel für die Normalität nach der Krise sein soll. Wie gesagt, gerade scheint mir, dass an vielen Stellen einfach vorausgesetzt wird, dass alle zum Status quo ante zurückkehren wollen würden. Aber: So, wie es Januar 2020 war, war es vielleicht gar nicht bestmöglich. Vielleicht haben sich durch die Erfahrungen der letzten Monate alternative Vorstellungen davon, wie die jeweilige Bibliothek sein soll, wie die internen Strukturen sein sollen, wie die Arbeit sein soll, entwickelt. Vielleicht haben sich Lockerungen ergeben. Vielleicht hat sich erst durch die neuen Erfahrungen gezeigt, wie die Strukturen eigentlich sind. Oder vielleicht wollen wirklich alle in der Bibliothek wieder zum gleichen Stand zurück und die gleichen Angebote machen. Das wäre in einem solchen Prozess zu klären. Aber es einfach vorauszusetzen, hiesse nur, die Erfahrungen des Personals überhaupt nicht ernstzunehmen.

Keine dummen Sprüche

Auch wenn es vielleicht nicht so anfühlt, weil wir vor allem daheim geblieben sind: Für diejenigen von uns, die bislang ihr ganzes Leben im DACH-Raum verbracht haben und nicht etwa aus Bürgerkriegs-/Kriegsgebieten eingewandert sind, war dies (beziehungsweise ist dies weiterhin) die grösste Katastrophe, die wir (bislang) erlebt haben: Die mit der grössten Anzahl Toter und den meisten bleibenden Schäden. (In der Presse ist vor allem von Schäden für die Wirtschaft die Rede, aber nachdem ich den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft erlebt habe, kann ich nur sagen, dass uns das nicht schocken sollte. Wirtschaft jammert immer, redet dabei nicht von den Menschen und erholt sich am Ende zumeist innerhalb kurzer Zeit wieder. Aber die Gesundheitsschäden und die Schäden an der conditio humana, die machen mir Sorgen.) Deswegen finde ich es auch unangebracht, wenn jetzt schon wieder Marketingsprüche von „der Krise als Chance‟ die Runde machen oder leichter Hand irgendwelche Voraussagen dazu gemacht werden, wie „uns‟ die Krise verändert haben wird, wie das in den Kommentarspalten vieler Zeitungen gerade passiert. Vielleicht ist mein moralischer Kompass falsch, aber das ruft bei mir Verachtung hervor. Weder muss man den Ernst der Lage mit motivierenden Sprüchen überdecken, noch muss man mit Tunnelblick eine Entwicklungsrichtung (und wenn es die von „alles soll werden wie vorher‟) vorgeben. Die so vorhergesagten Veränderungen treten eh nie ein. Das will nicht machen, weil ich es auch nicht besser weiss.
Eine Krise ist keine Chance, die man nur nutzen muss, um das durchzusetzen, was man gerne hätte (wie das in der Marketingliteratur gerne vorgeschlagen wird). Sie ist vielmehr immer ein Zeitpunkt, an dem der Status quo, die Annahmen davon, wie etwas ist und wirkt sowie die Strukturen, so wie sie sind, belastet werden. Einige brechen, einige biegen sich, einige halten oder beweisen eine grössere Stärke als angenommen. Das ist jetzt auch in den Bibliotheken passiert. (Ich würde vermuten, dass sich die Vorstellungen, Leute würde sich in Krisen auf Bücher stürzen und in grosser Zahl Liefer- und Onlineangebote nutzen, nicht bestätigt hat, aber das der Willen des Personal zu arbeiten, auch wenn es nicht eng geführt wird, sich als viel stärker bewiesen hat, als viele Leitungen Angst hatten – aber das nur meine Vermutungen.) Diese Belastungsproben jetzt nicht zu nutzen, um zumindest zu schauen, ob man etwas anders machen sollte, würde nur den Eindruck vermitteln – nach innen und nach aussen – dass Bibliotheken gar kein Interesse daran haben, sich zu verändern oder auch nur zu fragen, ob etwas anders sein könnte. Aber das wird, da sich – egal ob Krise oder nicht – immer etwas ändert, nicht funktionieren.
Ich bin mir sicher, dass in vielen Bibliotheken auch jetzt wieder das Argument vorgebracht wird (weil es so oft vorgebracht wird), dass man jetzt gerade keine Zeit hätte, sich damit zu beschäftigen, darüber nachzudenken, ob man zurück zur gleichen Normalität möchte, die es schon mal gab, oder zu einer anderen oder was passiert ist und so weiter. Aber das ist immer ein schlechtes Argument, auch jetzt. Wenn man es jetzt nicht zeitnah angeht, wird man es nie angehen und wohl eher negative Effekte haben, weil das Nicht-Behandeln (wie oben gesagt) sich zumindest auf Teile des Personals negativ auswirken wird. Zudem ist die Verteilung von Ressourcen, also auch der Arbeitszeit, die für interne Prozesse, wie den hier angemahnten, aufgebracht wird oder nicht aufgebracht wird und dafür, was als wichtig wertgeschätzt wird oder nicht, immer eine politische Entscheidung, auch innerhalb einer Bibliothek. Ressourcen wie Zeit nur dafür einzusetzen, ungefragt ein Ziel (den Status qua ante) anzustreben, sagt halt auch etwas über die jeweilige Bibliothek.

[Zumal: Wir sollten auch wenn diese Krise irgendwann durchgestanden ist, nicht davon ausgehen, dass es dann einfach „weitergeht‟. Wir – nicht die Bibliotheken, die Menschen – haben die Erde umgestaltet. Es ist wirklich das Anthropozän. Wir haben dabei Bedingungen für vieles geschaffen, aber eben auch dafür, dass es immer schneller und öfter Epidemien und Pandemien geben wird, neben den ganzen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die auch – ich erinnere nur an den warmen April dieses Jahr – auf uns zukommen werden. Es wird mehr solche Krisen geben. Vielleicht werden wir als Gesellschaft auf die nächste Pandemie schneller reagieren. Aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das „Herunterfahren der Gesellschaft‟ in den letzten Monaten etwas einmaliges war. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die aus dieser Krise lernen, werden besser darauf vorbereitet sein, wenn es wieder soweit kommt. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die nur den Status quo ante anstreben, werden dann wieder vor den gleichen Problemen stehen.]

 

Fussnoten

1 Es ist aber erstaunlich, wie wenig man von diesen Angeboten, jetzt, wo man sie auswerten könnte, hört. Mag unterschiedliche Gründe haben, aber man könnte erwarten, dass sie pro-aktiv nach aussen dargestellt würden, wenn sie sehr erfolgreich gewesen wären.

Thekenbibliotheken / Pandemie-gerechte Bibliotheken

Thekenbibliotheken – aktuell, wo sich jetzt viele Bibliotheken darauf vorbereiten wieder für das Publikum zu öffnen, unter strengen Hygiene-Regelungen und vor allem für die Ausgabe zuvor bestellter Medien und die Rücknahme derselben, wird immer wieder einmal der Witz gemacht, sie seien jetzt halt wieder Thekenbibliotheken. Solche Witz kann man machen und es ist selbstverständlich auch gut, in der jetzigen Situation einmal zu lachen. Unbenommen.

Aber Thekenbibliotheken sind das selbstverständlich nicht.

Sicherlich: Da ist – in den meisten Bibliotheken – eine Theke, vor die die Nutzer*innen treten werden, dahinter Bibliothekar*innen, die Medien zurücknehmen oder zuvor bestellte Medien aushändigen. So ähnlich war es in den Thekenbibliotheken bis in die 1950er / 1960er auf den ersten Blick auch. Aber die Unterschiede sind doch immens.

Wenn man den Witz einmal gemacht hat, kann man die Situation auch nutzen, um sie als Beispiel dafür zu nehmen, was sich seitdem alles geändert hat. Die Bibliothek ist, so kann man bei diesem Vergleich gut sehen, immer mehr als der Raum selber. Es geht immer auch darum, was sich die Bibliotheken – also das Personal konkret vor Ort, aber auch die Profession als Ganzes – unter einer Bibliothek, deren Aufgaben, Möglichkeiten, Zielen vorstellt und was sich die Öffentlichkeit – die Nutzer*innen vor Ort, aber auch die Allgemeinheit – darunter vorstellt. Sicherlich: Der Raum repräsentiert dieses Denken und prägt es auch wieder (insbesondere, wenn dieser nicht von den notwendigen Regeln zur Reduktion des Ansteckungsrisikos in einer Pandemie geprägt ist – obgleich wir weiter unten sehen können, dass gerade das eine Verbindung zu den „alten Thekenbibliotheken‟ darstellt). Aber das ist nur ein Teilaspekt.

Was waren Thekenbibliotheken?

Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum begannen in den 1910er Jahren langsam darüber nachzudenken (und allererste Experimente dazu durchzuführen), ob den Leser*innen nicht der direkte Zugang zum Bestand gewährt werden könnte. Immer mit Einschränkungen, immer erstmal bezogen auf Teile des Bestandes und immer mit grossem Widerstand aus der Profession. Es dauerte lange, bis dieser Zugang zum Allgemeingut wurde. Jahrzehnte lang gab es diese Diskussionen, immer mit Verweis darauf, dass ein solcher Zugang – die Freihandbibliothek – in anderen Ländern normal sei (was übrigens so auch nicht stimmte).

Während des Nationalsozialismus gab es eine ganze Reihe von Bibliotheken, die als Freihand eingerichtet wurden, aber es scheint, als seine viele davon nach 1945 zerstört gewesen oder zurückgebaut worden. Zumindest wurde kaum über diese Phase geredet.

Erst während der 1960er scheint sich die Freihand-Bibliothek im DACH-Raum als normale Bibliotheksform etabliert zu haben. Zumindest finden sich ab Anfang der 1960er in der bibliothekarischen Literatur Raumskizzen für neugebaute Öffentliche Bibliotheken, die nicht mehr lange begründen, warum bestimmte Bereiche als Freihand gebaut oder geplant wurden, sondern offenbar stillschweigend voraussetzen, dass dies die richtige Form für eine Bibliothek sei. (Selbstverständlich gab es eine Übergangszeit mit Bibliotheken, die nicht oder nur so halb umgebaut wurden. Aber in den 1960ern verschwindet zumindest die Debatte über die Freihand-Bibliothek aus der bibliothekarischen Literatur.) Das gilt eigentlich für den gesamten DACH-Bereich.1

Zuvor, seit man von Formen Öffentlicher Bibliotheken reden kann (also je nach Land und Region den 1870er-1890er Jahre), waren diese im DACH-Raum alle als „Thekenbibliotheken‟ konzipiert. Es gab von der Grösse her unterschiedliche Formen. Beispielsweise bei sehr kleinen Beständen „Bibliotheksschränke‟, die in anderen Einrichtungen (Schulen, Gaststätten, Partei- und Gewerkschaftslokalen, Kirchen und so weiter) standen und die nur vom jeweiligen Bibliothekar (bis zu Bona Peiser, die 1895 als solche zu arbeiten begann, offenbar keine Bibliothekarin) verwaltet wurden, der dann auch die Bücher ausgab und wieder einstellte. Etwas grössere Bibliotheken hatten keine richtigen Theken, sondern Tische, die vor Buchregalen an der Wand standen. Nur die grösseren Einrichtungen hatten wirklich Theken, die baulich den Raum zwischen Leser*innen und Bibliothekspersonal trennten, mit Türen, verschiedenen – oft auch verschliessbaren – Ausgabe- und Rücknahmetresen und anderen gebauten Feinheiten. Dies hing immer von der Grösse des Bestandes und den verfügbaren Mitteln ab. Aber grundsätzlich waren das alles Thekenbibliotheken.

Die räumlich Gestaltung war aber, wie gesagt, nur ein Teil der Thekenbibliotheken. Was diese ausmacht, war ein spezifisches Denken über (a) das Lesen, (b) davon, was für eine Einrichtung Bibliotheken darstellten und (c) was für Aufgaben sich daraus ergaben.

  • Zuerst verstanden sich alle diese Bibliotheken explizit als Bildungseinrichtungen. Und zwar nicht im recht offenen, recht unbestimmten und immer auch mit anderen Aufgaben wie Unterhaltung oder Kultur in Konkurrenz stehenden Sinne, wie dieser Begriff heute manchmal für Öffentliche Bibliotheken verwendet wird – sondern ganz explizit: Die Aufgabe der Bibliotheken war es, die Leser*innen zu bilden und zwar zum richtigen Lesen. Die heutige Idee, dass einige (viele) Nutzende die Bibliothek selbstbestimmt für ihre eigene Bildung nutzen, andere aber für etwas anderes, wäre diesen Bibliotheken zumindest als Ziel fremd. Bibliotheken hatten den Anspruch, die, die sie nutzen zu erziehen. Selbst Unterhaltungsliteratur stand unter diesem Vorbehalt, wenn sie überhaupt vorhanden war. (Das impliziert auch, dass die Bibliotheken halt nicht „für alle‟ da waren, sondern für die, die diese Bildung nötig hätten.)
  • Alle diese Bibliotheken hätten deshalb ein Konzept für die „Leserlenkung‟. Wie erreicht man die Menschen, damit sie überhaupt anfangen, in die Bibliothek zu kommen? Wie lenkt man sie dahin, die richtige Literatur zu wählen, nicht nur keine „schlechte‟, sondern auch keine so komplexe, dass sie von den Leser*innen „noch nicht‟ verstanden werden kann? Was genau ist „richtiges Lesen‟ und wie schafft man es als Bibliothek, die einzelnen Leser*innen zu diesem Lesen zu führen? Wie viel ist zu viel oder zu wenig Lesen? Die Antworten auf diese Fragen waren unterschiedlich, änderten sich mit den Jahrzehnten, waren Thema von Diskussionen in der bibliothekarischen Literatur, in Debatten, in der Ausbildung. Aber die grundsätzliche Idee, dass die Leser*innen „gelenkt‟ werden müssten (und der Anspruch als Bibliotheken, das zu können und zu dürfen), war allen diesen Bibliotheken gemein.
  • Die Bewertungskriterien und die Strategien dazu waren unterschiedlich. Es gab nicht die eine Öffentliche Bibliothek – so wie wir das heute kennen –, sondern bis in die 1950er Jahre Bibliotheken, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielen dienten: Neben den Lesehallen, die nach eigenem Verständnis neutral und für alle da sein wollten (ein Anspruch, der von anderen bestritten wurde und deren Ideologie man auch eher als Teil des rechts-konservativen Mainstreams der beiden Kaiserreiche und des Bürgertums bis in die 1950er Jahre bezeichnen müsste), gab es zum Beispiel „Arbeiterbibliotheken‟, die sich vor allem als Teil der sozialistischen Bewegung verstanden (und die Arbeiter*innen dazu ermächtigen wollten, Produktionsmittel und Gesellschaft zu übernehmen) oder die katholischen Bibliotheken, die ein konservatives (aber eigentlich modernes, weil erst in der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft gewonnenes) Gesellschaftsbild etablieren wollten.2 Es gab auch teilweise massive Auseinandersetzung über diese Strategien innerhalb der unterschiedlichen Bibliotheksformen, insbesondere den sogenannten „Richtungsstreit‟ innerhalb der Lesehallen, indem es vor allem darum ging, was eigentlich die von diesen angestrebte „Volksbildung‟ sei und wie sehr zur Gewinnung von Leser*innen Unterhaltungsliteratur eingesetzt werden sollte. Aber wichtig hier: Alle Formen der Thekenbibliothek hatten Bewertungskriterien von Literatur und Strategien zur Lenkung von Leser*innen als gedanklichen Hintergrund und fanden diese so wichtig für die eigene Identität als Bibliothek, dass sie bereit waren, darüber zu streiten.
  • Die bibliothekarische Literatur der Jahrzehnte der Freihandbibliotheken ist voll von Texten (und Streitigkeiten) über „Bibliothekstechnik‟ (Technik auch im Sinne von Arbeitsweisen, -abläufen), die sich nur durch diese Form von Bibliothek erklären lassen: Einerseits die Frage, wie das Ausheben der benötigten Bücher aus dem Bestand am Effektivsten organisiert werden kann (das ist heute noch für Bibliotheken mit Magazinen Thema), anderseits aber auch, wie die Beratung der Leser*innen, die Ausgabe und Rücknahme der Medien zu organisieren sei. Pläne wurden gezeichnet, wie sich die Personen durch den Raum vor der Theke bewegen sollte. Gesonderte Kataloge für die Leser*innen wurden entworfen, die immer anders waren als die, welche das Bibliothekspersonal benutzte. Es gab Diskussionen um die „offene‟ und die „gebundene Theke‟ (bei der offenen kann an allen Plätzen alles gemacht werden, bei der gebundenen gibt es Plätze für die Rückgabe, für die Ausgabe und so weiter).
  • All diese Planungen und Diskussionen hiessen selbstverständlich nicht, dass alles immer funktionierte. Ebenso finden sich in der bibliothekarischen Literatur immer wieder Klagen, dass sich die Leser*innen den Zielen, der Beratung, den Arbeitsweisen der Bibliotheken entziehen. Dass sie eigene Interessen durchsetzen. Dass sie sich nicht darauf einliessen, sich „empor zu lesen‟. Zudem gab es – zumindest in den Städten – immer die Möglichkeit, dass Leser*innen auf andere Bibliotheken auswichen. Einerseits zum Beispiel nicht in die Lesehalle gingen, sondern in die Arbeiterbibliothek. Andererseits – das war eher der Horror – in die „kommerziellen Leihbibliotheken‟, welche Medien als Gewerbe vermieteten, oft direkten Zugang zu den Beständen boten und – so die Behauptung der ganzen unterschiedlichen Thekenbibliotheken, der die Leihbibliotheken selbstverständlich widersprachen – vor allem schlechte Literatur anbieten würden, weil es ihnen nur um Geld und nicht um Bildung ginge.
  • Ein Punkt, der in der bibliothekarischen Literatur der damaligen Jahre auch immer wieder einmal auftauchte war der der Hygiene. Es gab Diskussionen darüber, ob die Erreger verschiedenster Krankheiten – von denen vermutet wurde, dass sie bei Leser*innen aufgrund deren ökonomischer Verhältnisse, aber auch aufgrund ihres Lebenswandels verstärkt auftreten würden – sich über die Bücher von Bibliotheken verbreiten würden. Es gab auch dazu verschiedene Meinungen und Lösungsansätze, verschiedene Vorschläge zur Reinigung der Medien nach der Rückgabe oder auch Vorschläge, wie lange sie zu lagern wären, bevor sie wieder ohne Gefahr ausgegeben werden könnten. Eine eindeutige Lösung gab es nie, aber das Thema tauchte immer wieder auf. An sich war das in den letzten Jahrzehnten nicht mehr Thema der bibliothekarischen Literatur (was nicht heisst, dass es nicht von Zeit zu Zeit auf anderen Kanälen antönte), aber jetzt ist es das aus guten Gründen wieder. (Wobei es die Desinfektionsmittel, die heute zur Verfügung stehen, damals nicht gab.)

Zum Übergang zur Freihand

Wie gesagt, begangen die Bibliotheken im DACH-Raum in dem 1910er Jahren ganz vorsichtig über die Freihand zu diskutieren. Aber es dauerte wirklich lange, bevor sich dann – eher plötzlich – die Freihand wirklich durchsetzte. Die Vorstellung davon, was die Bibliothek sei und wie sie zu arbeiten hätte, veränderte sich nicht schnell. Interessant sind vor allem Beiträge am Ende dieser Entwicklung. In den 1950ern liest man öfters3 davon, dass an sich akzeptiert wird, dass die Freihand „die Bibliotheksform der Zukunft wäre‟, aber das sie dann auch massiv viel mehr Personal bedürfe, weil die Lenkung der Leser*innen dann direkt am Regal erfolgen müsse. An der Theke können man die Gespräche gut organisieren – wie gesagt, wie das stattfinden sollte, war auch Teil der Bibliothekstechnik –, aber am Regal müsse man neue Formen finden.

Auch wurden lange diskutiert, ob man nur bestimmte Teile der Bestände als Freihand aufstellen solle und welche. Und wem man dann Zugang gewähren könne und wem nicht. Dazwischen kamen viele Teilschritte, beispielsweise der immer wieder neue Entwurf von Katalogsystemen für die Leser*innen oder die Mechanisierung der Ausleihe. Das ist seine eigene Geschichte.

Aber sichtbar ist, dass sich der Übergang zur Freihand nicht einfach räumlich gestaltete – auch wenn das einen nicht zu unterschätzenden Aufwand bedeutete –, sondern inhaltlicher Art war. Die Bibliotheken mussten erst die Vorstellung ändern, was für Einrichtungen sie wären und was ihre Aufgabe wäre, um dann in der Freihand wieder eigene bibliothekarische Arbeitsformen zu finden. Das veränderte viel mehr, als nur die Aufstellung der Bestände. Beispielsweise wurde den Interessen der Leser*innen substantiell mehr Beachtung geschenkt – deshalb heissen sie heute ja auch nicht mehr Leser*innen, sondern je nach Weltanschauung Nutzer*innen oder Kund*innen (oder anders).

Thekenbibliothek versus „Pandemie-gerechte Bibliothek‟

Die eingeschränkte Ausleihe in Bibliotheken, wie sie jetzt eingeführt und wohl für den Zeitraum der Pandemie beibehalten wird (und, machen wir uns nichts vor, die Welt ist kaputt, es wird mit hoher Wahrscheinlichkeeit in unserer Lebenszeit weitere Pandemien geben, in denen das wieder ähnlich sein wird) ist also offensichtlich keine Thekenbibliothek. Im Hintergrund der jetzigen Bibliotheken steht eine andere Idee davon, was für eine Aufgabe (beziehungsweise Aufgaben) die Bibliotheken haben. Der Zugang zum Bestand ist jetzt physisch eingeschränkt, aber sonst offen. Nutzer*innen und Bibliothekar*innen nutzen die gleichen Kataloge, weil man alle zutraut, sich in diesen zurecht zu finden. Bibliotheken erziehen die Nutzer*innen nicht zum richtigen Lesen und erheben auch nicht den Anspruch, Literatur inhaltlich daraufhin zu bewerten, ob sie zum „hinauflesen‟ geeignet wäre. Es gibt weit mehr Medienformen als Bücher und das ist keiner Diskussion mehr wert.

Was dieser Ausflug in die Bibliotheksgeschichte zeigt, ist, dass es immer eine Sicht der Bibliotheken auf sich selber, auf ihre Aufgaben und so weiter gibt, die sich mit der Zeit ändert. Sie ist offensichtlich nicht festgeschrieben, sondern verhandelbar (dafür muss sie dann benannt, diskutiert, vielleicht auch kritisiert werden – aber das ist hier nicht das Thema). Diese Vorstellung strukturiert dann die Arbeit, die tatsächlich in den Bibliotheken geleistet wird, sie strukturiert den Raum Bibliotheken und auch das, was als wichtig genug angesehen wird, um es zu diskutieren (oder was als dafür nicht wichtig genug angesehen wird). Die jetzige Situation wird vorübergehen – vielleicht in Monaten, vielleicht in Jahren. Aber die Vorstellung von Bibliotheken, was ihre Aufgabe ist, wird sich auch nach dieser Pandemie immer weiterentwickeln.

 

Fussnoten

1 Für die DDR habe ich, glaube ich, schon einmal geschrieben, wie erstaunlich ich das fand, dass die Broschüre „Über die Arbeit in Freihandbibliotheken‟ (Günter de Bruyn, Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen ; 1957) auf Erfahrungen aus „den bürgerlichen Bibliotheken‟ (also BRD und vielleicht Österreich) und USA, Grossbritannien und Skandinavien sowie aus der DDR selber zurückgriff, aber gerade nicht auf – eigentlich damals schon existierende – Erfahrungen in der Sowjetunion mit Freihandbibliotheken.

2 Zu Arbeiterbibliotheken siehe meinen Artikel„Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts‟ (Schuldt, Karsten, in: Libreas 35 (2019), https://libreas.eu/ausgabe35/schuldt/), zu katholischen Bibliotheken (in Frankreich, aber das lässt sich prinzipiell übertragen) siehe „La mise au pas des écrivains. L’impossible mission de l’abbé Bethléem au XXe siècle.‟ (Mollier, Jean-Yves, Paris: Librairie Arthème Fayard, 2014).

3 [Ich weiss, hier wären Literaturnachweise angebracht. Aber die liegen leider nicht hier, wo ich gerade bin, sondern in einem Ort, den in wegen geschlossener Grenzen während der Pandemie nicht einfach erreichen kann.]

Vocational Awe: Vom Glauben der Bibliotheken an die eigene Bedeutung

Aktuell, in der COVID-Pandemie, präsentieren sich Bibliotheken als wichtige Einrichtungen, welche die Wissenschaft am Laufen halten und den Zusammenhalt der Gesellschaft rstützen. Unter anderem unter den Hashtags #BibliothekSindDa und #BibAtHome sowie auf diesem Etherpad und noch an anderen Stellen werden aktuell kostenlose Anmeldungsmöglichkeiten per Internet, Zugang zu Online-Medien, Lieferdienste von Bibliotheken und so weiter verbreitet. In den bibliothekarischen Mailinglisten und an anderen Stellen werden weitere Einzellösungen von Bibliotheken verbreiten. Listen über Listen von Lernressourcen wurden zusammengestellt. Aktivitäten allenthalben, offenbar mit dem Verständnis, das in der jetzigen Situation Richtige zu tun. Und ein wenig klingt es schon so, als würden sie sich dabei selber auf die Schulter klopfen.

Emotionale und andere Belastungen?

Die Situation sieht aber auch so aus:

  • Menschen machen sich Sorgen, auch Kolleg*innen. Jeder Gang nach draussen ist bekanntlich ein Risiko. Eine ganze Anzahl von Kolleg*innen muss jetzt in die Bibliotheken, ins Back-Office oder auch den Bestand, um all diese Angebote von Bibliotheken aufrecht zu erhalten oder Projekte vorwärts zu treiben. Oft ist es nicht so, dass diese Kolleg*innen eine Wahl hätten – das sie zum Beispiel gefragt worden wären, ob sie dieses Risiko übernehmen wollten. Und ein wenig ist der Eindruck auch (das wird vielleicht nach der Krise einmal empirisch zu erheben sein), dass vor allem Kolleg*innen aus den niedrigeren Gehaltsstufen für solche Arbeiten eingesetzt werden, nicht unbedingt das Personal aus den „Chefetagen‟. (Aber das kann täuschen.)
  • Kolleg*innen, egal ob im Einsatz oder Daheim, kommen mit der jetzigen Situation auch schlecht zurecht. Nicht alle, aber genauso wie bei anderen Menschen auch, gibt es beim Bibliothekspersonal solche und solche: Einige sind jetzt entspannter und produktiver (wobei produktiver nicht immer gut ist, sondern bekanntlich auch gerade eine Verdrängungsstrategie sein kann), aber andere sind emotional, körperlich und geistig stark belastet, vielleicht auch schon kurz vor dem Zusammenbruch. Das kann wieder sehr unterschiedliches heissen: Die, die mit den unstrukturierten Tagen weniger gut klarkommen oder den offeneren Arbeitsstrukturen; die, die mit dem Leben in nur einer Wohnung – mit Kindern oder Partner*innen oder vielleicht Mitbewohner*innen oder alleine – nicht gut klar kommen; die, die mit der Unsicherheit, wie die Situation sich entwickeln wird, nicht gut umgehen können oder unter den Regelungen, wie jetzt die Supermärkte und Parks und Promenaden zu nutzen sind; die, die sich Sorgen um Eltern oder Bekannte oder Freund*innen machen, die von Corona betroffen sind oder sein könnten. All die und noch mehr.
  • Kolleg*innen sind nicht unbedingt davon überzeugt, dass die Bibliotheken so wichtige Einrichtungen wären wie zum Beispiel Supermärkte und Apotheken, sondern in dieser Situation auch für einigen Wochen geschlossen haben könnten. (Nicht zuletzt, da sie teilweise extra in Schliessungsanordnungen von Gemeinden oder Kantonen / Bundesländern erwähnt wurden.)

Aber darüber wird praktisch nicht geredet. Im wahrnehmbaren Diskurs von Bibliotheken sind vor allem die zuerst genannten, positiv gemeinten Beispiele präsent. Dabei wäre es bestimmt gut, auch die tatsächlichen jetzigen Arbeitsbedingungen in den Bibliotheken zu thematisieren. Oder sich gegenseitig, als Kolleg*innen durch diese Krise zu helfen. Oder einmal zu diskutieren, ob Bibliotheken wirklich versuchen müssen, jede Lücke der Verordnungen auszunutzen, um doch noch Medien verleihen oder gescannt zur Verfügung stellen zu können.

Einige, wenige Widersprüche

Nur ganz selten scheint diese Kritik öffentlich auf:

  • Eine Kollegin äusserte sich am 26.03. auf ForumOeb mit einem klaren „habt ihr grade alles nichts Besseres zu tun?‟ und kritisierte die Diskussionen darum, wie Bibliotheken doch noch irgendwie ihre Dienste aufrecht erhalten könnten. Sie erntete einige Zustimmung, aber dann war es mit der Diskussion dazu auch vorbei.
  • Einige Kolleg*innen, die sich mit Open Access beschäftigten, kritisierten hier und da – vollkommen zu Recht – dass Bibliotheken jetzt immer wieder auf Angebote grosser Verlage, die vorübergehend während der Krise „freigeschaltet‟ wurden, hinwiesen, anstatt auf die schon immer offenen (und mit Open Access-gerechter Lizenz publizierten) Angebote ausserhalb der Verlage. Das ist keine unwichtige Anmerkungen, da Bibliotheken so nur wieder daran mittun, die Quasi-Monopole der grossen Verlage auf dem wissenschaftlichen Publikationsmarkt zu stärken.
  • Für den englisch-sprachigen Raum existiert als Ventil für solche Beschwerden der anonyme Twitter-Bot LIS Grievances ([1], [2]). Hier findet sich einiges an Bemerkungen, insbesondere (wohl) von Kolleg*innen, die von ihren Bibliotheksleitungen entweder gegen ihre eigenen Überzeugungen dazu gezwungen werden, ihre jeweilige Bibliothek offen zu halten oder aber neben Ihrer eigentlichen Arbeit, die sie in der jetzigen Situation eh schon kaum schaffen, auch noch Sonderaufgaben übernehmen sollen. ([1], [2], [3])

Kritik ist vorhanden; Kolleg*innen sind unzufrieden damit, wie die Situation gehandhabt wird. Aber warum wird das kaum artikuliert?

Ein gelöschter Tweet

Ich selber habe zum Beispiel einen Tweet über die absonderliche Situation geschrieben, dass Bibliotheken (hier in der Schweiz) jetzt damit Werbung machen, dass sie weiterhin Medien per Post verschicken, während gleichzeitig die Schweizer Post (aber nicht nur die, alle Lieferdienste von Paketen) darauf hinweisen, dass sie nicht mehr hinterherkommen mit all den Lieferungen, dass die Systeme und das Personal vollkommen überlastet sind und sie schon Angebote reduzieren und strecken mussten. Aber ich habe den Tweet gelöscht und eben nicht geschickt. Warum? Ich konnte mir gut vorstellen, wie Kolleg*innen den uminterpretierten würden als Angriff auf ihre Arbeit („und das, Herr Schuldt, obwohl man doch sehen würde, wie wichtig sie wären — all die Pakete, die geschickt werden müssen, all die Dokumente, die gescannt werden müssen – – -‟), nicht als Aufforderung, einmal über die Konsequenzen dieser hektischen Aktivitäten nachzudenken. Ich hatte das Gefühl, dass das vielleicht jetzt (in der Krise) auch nicht sein muss.

Offenbar liegt hier ein Problem vor: Die Situation, die Bibliotheken nach aussen darstellen, ist nicht die Situation, wie sie wohl wirklich ist, zumindest nicht die vollständige Situation. Und es gibt keinen Ort, wo das Bibliothekswesen (im DACH-Raum) wirklich über die Situation, wie sie ist, reden kann, ohne das man zumindest das Gefühl hätte, Gefahr zu laufen, dass den Diskutierenden unterstellt wird, die Mission der Bibliotheken zu unterlaufen. Wie kann das sein? Ich würde hier gerne ein Konzept vorstellen, dass das meiner Meinung nach recht gut erklärt (und damit auch eine Möglichkeit bietet, die Situation zu verändern – siehe weiter unten).

Voactional Awe: Die Mission der Bibliothek als Über-Bibliothekarisch

In der Angloamerikanischen Bibliothekswelt gibt es das Konzept des „Vocational Awe‟ als Begriff seit vielleicht zwei Jahren. Eingeführt wurde es durch einen Artikel von Fobazi Ettarh (Ettarh 2018), welcher seitdem zahlreich kommentiert, zitiert und anderweitig aufgegriffen wurde. (Beispielsweise ohne weitere Erklärung, so, als würden ihn alle kennen, bezogen auf die aktuelle Pandemie beim schon genannten LIS Grievances-Bot [1], [2]) Das Konzept hat also offenbar einen Nerv getroffen, nicht nur in der Forschung, sondern auch Kolleg*innen aus der Praxis – ansonsten hätte es sich nicht so schnell verbreitet.

Wie kann die Bibliothek einfach nur eine Einrichtung unter vielen sein?

Ettarh beginnt – wie auch dieser Blogpost – mit Beispielen von Arbeiten, bei denen Bibliotheken eine wichtig Rolle einzunehmen scheinen: Davon, wie Bibliotheken in den USA auf die „Opioid crisis‟ reagierten – mit dem Bereitstellen von Erste Hilfe Sets in Bibliotheken und mit tatsächlich geleisteter Erster Hilfe für Opfer der Krise. Und damit, wie sich Bibliotheken gegenseitig davon berichteten und sich versicherten, das sie lebenswichtig seien. Wie könnte man, so Ettarh, dem nicht zustimmen?

Indem man sich fragt, was hier eigentlich passiert und wie es auf die tatsächliche Arbeit von und in Bibliotheken Auswirkungen hat. Erzählungen davon, wie wichtig Bibliotheken wären, würden dazu führen, dass diese die eigene Bedeutung und den eigenen Einfluss massiv überschätzten. Gleichzeitig würden so Bibliotheken quasi zu „heiligen Einrichtungen‟, die von sich aus immer gut und richtig wären und an denen deshalb keine Kritik möglich wäre. (Ettarh schrieb in den USA, dort sind die Vergleiche mit religiösen Institutionen und ihren übergreifenden Ansprüchen vielleicht noch etwas näher liegend als hier im mehr säkularisierten Mitteleuropa, wo auch die religiösen Einrichtungen zumeist solche Ansprüche nicht mehr ernsthaft formulieren. Aber auch hierzulande ist die Analogie sinnvoll.)

„Awe‟ ist ein Begriff, der stark mit religiöser Erfahrung konnotiert ist: Gläubige stehen in awe vor Gott und seiner/ihrer Schöpfung. Im Gottesdienst / Ritual sind sie durch diesen awe in eine andere Sphäre transportiert – so ungefähr (ausgedrückt als Atheist). Die Übersetzung von awe als „Ehrfurcht‟, „Schauer‟ treffen es also vielleicht nicht ganz.

Ettarh benutzt diesen Begriff, bezogen auf die Profession Bibliothek, um die Haltung vieler Kolleg*innen zu beschreiben: Die awe über die Bedeutung der eigene Arbeit, genauer der eigenen „Berufung‟ (im DACH-Raum würde man hierzu Max Weber zitieren), welche die Aufgabe der Bibliotheken als wichtiger begreift, als die sichtbaren Tätigkeiten: Nicht nur werden Medien verliehen und zugänglich gemacht, Lesen und andere Kompetenzen gefördert, sondern der Zusammenhalt der Gesellschaft wird hergestellt, die Ungleichheiten überwunden, das Gute an sich wird verbreitet.

Das ist vielleicht eine überzogene Darstellung, aber… so einfach ist sie nicht von der Hand zu weisen. (Bibliotheken als „Tempel des Wissens‟ zu beschreiben oder gar zu bauen, ist ja dann auch nicht ungehört.) Die Selbstdarstellungen von Bibliotheken sind voll von solchen Anspielungen auf grössere Aufgaben und Behauptungen von Wirkungen, die praktisch nie nachgewiesen werden – bei denen auch selten versucht wird, sie nachzuweisen, sondern die geglaubt werden (müssen). Wie halt in Religionen, die zwar auch durchdacht, untersucht, diskutiert, verglichen und so weiter werden können (in Theologie, Religionswissenschaften oder Religionssoziologie), aber bei den alle Gläubigen darauf beharren werden, dass dabei immer ein wichtiger Teil unerklärbar, ununtersuchbar, unverstehbar bleiben wird – ein Teil, der über dem reinen Verständnis der Menschen existiert und der geglaubt und gefühlt werden muss. Der awe, der ein*en überfällt.

Glaubenssätze des Bibliothekswesens

Die Analogie hält, auch wenn sie überspitzt erscheint: Das (Öffentliche) Bibliothekswesen ist geprägt von gewissen Grundüberzeugungen, die auch als Glaubenssätze beschrieben werden können (und die weit über die Arbeit mit Medien hinausgehen). Diese werden regelmässig – in Reden, Texten, Vorträgen, Diskussionen, Jahresberichten und so weiter – wiederholt. Zum Beispiel, wenn sich in der aktuellen Situation wieder einmal gegenseitig die Bedeutung der Bibliotheken bestätigt wird, als eine Einrichtung, die selbstverständlich irgendwie ihre Angebote auch in der Krise aufrechterhalten muss. Oder wenn, wieder einmal, in einer grösseren Tageszeitung oder Radiosendung ein (positiver) Beitrag über Bibliotheken erschienen ist und dieser zur Bestätigung innerhalb des Bibliothekswesens herumgeschickt wird. Diese Grundüberzeugungen sind schwer zu kritisieren. Wer es versucht, wird meist ignoriert oder aber die Wortmeldungen werden tendenziell als Polemik wahrgenommen. (Sicherlich, wie auch die meisten Religionen, ist das Bibliothekswesen heute liberal. Solange Personen zu „unserem Kreis‟ gezählt werden, weil sie sich bewiesen haben, lässt man sie sagen, was sie zu sagen haben. Aber halt oft, ohne dann selber viel zu ändern.1)

Was sind die Funktionen solcher Grundüberzeugungen, eines solchen vocational awe? Ettarh stellt in ihrem Text dar, wie hinter diesen gegenseitigen Erzählungen von Bibliotheken über Bibliotheken die tatsächliche Arbeit, die in Bibliotheken geleistet wird, verschwindet. Was ist der Bestandsaufbau, die Organisation von Lesungen und Veranstaltungen, die Zusammenstellung von Medienkisten schon, wenn die eigentliche Aufgabe offenbar das Leben retten (Opiod-Krise) oder das Zusammenhalten der Gesellschaft (COVID-Pandemie) ist? Ist das dann überhaupt relevant? Ist das wirklich Arbeit, die als Arbeit zählt? (Oder ist es, wie beim Gottesdienst, Dienst, der einfach dazugehört, aber nicht das eigentlich Wichtige, awe-Auslösende ist?)

Gleichzeitig verschwindet, wie Ettarh auch zeigt, hinter diesem vocatinal awe die tatsächliche Arbeitssituation. Wenn die Bedeutung der Arbeit so gross ist, dann gehört es sich nicht, sich über die Arbeitsbedingungen (Lohn, Arbeitszeit, aktuell Risiken, Überlastung, ungewollte Teilzeitarbeit, temporäre Arbeitsverhältnisse und so weiter) zu unterhalten. So was kann man in „richtigen‟ Jobs tun, aber nicht, wenn es sich um „Berufungen‟ handelt. Berufene handeln aus eigenem Interesse und Wunsch, andere arbeiten „einfach‟ für Geld. Das führt dann aber zu einem Arbeitsalltag, dessen Strukturen kaum zu thematisieren (und zu verändern) sind und der gleichzeitig überlastet ist: Neben der „normalen‟ bibliothekarischen Arbeit auch noch Leben retten, Urban Gardens anlegen und damit Food-Crises überwinden, soziale Ungleichheiten ausgleichen, die Gesellschaft zusammenhalten und so weiter. (Das ist nicht nur in Bibliotheken so, auch andere soziale Berufe werden gesellschaftlich solchen „Berufungen‟ zugeordnet und haben dann schlechte Arbeitsbedingungen bei viel zu grossen Aufgaben, die sie sich selber zuschreiben. Soziale Arbeit wäre da ein gutes Beispiel. Nicht zufällig ist das Risiko von Burn-Out in solchen Berufen – und auch in Öffentlichen Bibliotheken – höher als in anderen.)

Zusammengefasst: Die Überschätzung der eigenen Bedeutung – das awe vor dieser Bedeutung – führt zu einem Verschwinden der tatsächlichen Arbeit von Bibliotheken und auch dazu, dass Strukturen nicht thematisiert werden können. Wenn alles heroisches, heldenhaftes Handeln sein muss (und das ist es, wenn das Ziel so gross ist, dass man nicht einfach für Lohn für dieses arbeitet, sondern sich dafür „aufopfert‟), dann ist kein Platz für alltägliche Arbeit und alltägliches Leben.

Professionelle und individuelle Identität

Was bringt das? Auch hier hilft die Analogie zur Religion: Es gibt Identität. Den einzelnen Personen, den Institutionen, der gemeinsamen Gruppe (also hier dem Personal, den Bibliotheken, dem Bibliothekswesen). Dabei ist zu vermuten, dass tendenziell die, die emotional mehr in diese Glaubensgrundsätze „investieren‟ und die, welche länger in sie sozialisiert wurden, diese eher für die Aufrechterhaltung der eigenen Identität „benötigen‟. (Aber auch hier: Das gilt bei Religionen auch nicht für alle und jede*n.) Wie überall haben Identitäten nicht nur den Effekt, dass sie den Menschen, die Institutionen und so weiter bestimmen, ihnen Aufgaben im Leben geben und so weiter, sondern dass sie auch zur Abgrenzung und zur Aufrechterhaltung des Status Quo führen. Nicht absichtlich, aber doch praktisch. Wenn es ein grosses, gemeinsames Ziel gibt und wenn man vor allem „heroisch‟ handelt, nicht einfach arbeitet, dann ist auch nie die richtige Zeit oder eine gute Situation, darüber nachzudenken, ob die Strukturen, in denen man so handelt, sinnhaft sind.

Vocational awe: Ein Konzept, um die jetzige Situation zu verstehen?

Ist das so? Kann man mit dem Konzept vocational awe etwas im Bibliothekswesen im DACH-Raum erklären? Mir scheint, ja. Gerade jetzt zeigt sich, wie am Anfang des Blogpost geschildert, wohin das führen kann. Bibliotheken, die sich in Aktivitäten überschlagen und Schlupflöcher in – eigentlich ganz klar formulierten und einsichtigen – Verordnungen suchen, ohne das auch nur diskutiert wird, ob das sinnvoll ist – weil die Überzeugung von der eigenen Bedeutung (als Institution) so gross ist, dass sich offenbar diese Frage erst gar nicht stellt. Kolleg*innen, die zum Teil ungefragt dazu genötigt werden, sich Risiken auszusetzen – also „heroisch‟ zu handeln, obwohl sie vielleicht doch eigentlich dafür nicht in der Bibliothek arbeiten, sondern „nur‟ Lohnarbeit leisten wollen (also keiner „Berufung‟ folgen, sondern dem Zwang, irgendwie am Ende des Monats die Rechnungen zu zahlen) – und für die es offenbar keinen Ort gibt, das zu thematisieren. An sich das auffällige Fehlen der Frage, wie es eigentlich uns, als Personen im Bibliothekswesen, geht – so als wären halt alle okay, weil sie immer heldenhaft handeln könnten.

Wenn wir einmal annehmen, dass vocational awe etwas beschreibt, dass existiert, dann wird diese Situation verständlich. Eine ganze Anzahl von Personen benötigt vielleicht gerade jetzt eine solche Grundüberzeugung, vielleicht weil daran ihre Identität hängt. Würde sie sich eingestehen, dass Arbeit in Bibliotheken weiterhin vor allem Arbeit ist (und oft ganz unheroische, aber notwendige Lohnarbeit, wie die Arbeit am Bestand und bei Veranstaltungen, nicht die Rettung der Welt), die halt auch mal für eine Weile ruhen könnte, wenn es die Situation – eine Pandemie, bei der die Hauptaufgabe darin besteht, jeden unnötigen sozialen Kontakt zu meiden – erfordert, würde vielleicht ihr Selbstbild und das von der Institution, in der sie arbeiten oder die sie leiten, brüchig. Nur, dass das halt dazu führt, dass andere Kolleg*innen leiden, sich Risiken aussetzen müssen und „die Kurve‟ vielleicht nicht so flach wird, wie sie sein könnte.

Vom Nutzen solcher Konzepte

Was ein solches Konzept möglich macht, ist, die Situation zu benennen, zu thematisieren und damit dann auch zu diskutieren und zu verändern. Deshalb wollte ich es hier einführen. Ich sehe einige Parallelen zu dem, was Ettarh für die USA beschreibt, im DACH-Raum und gerade in der aktuellen Situation. Ich schaue mir das aktuelle Handeln von Bibliotheken an und frage mich oft, wie die oben zitierte Kollegin, ob es nicht aktuell anderes gibt, dass zu tun wäre. Warum diese Hyperaktivität? Warum dieses nicht-diskutieren der aktuellen Situation? (Warum zum Beispiel auch auf einmal diese Begeisterung für die Onleihe, wenn sie einmal für mehr Nutzer*innen freigeschaltet wird, die aber zuvor oft kritisiert wurde? Warum diese ganzen Sammlungen von Lernangeboten, die zusammengestellt und verbreitet werden – wenn die Leute doch garantiert auch anders benötigen und begrüssen würden? Muss es „Bildung‟ sein, weil das ein grosses Ziel ist, und darf nicht einfach Unterhaltung und Ablenkung sein?) Selbstverständlich weiss ich die Antworten auf diese Fragen nicht. Auch ich sitze, wie viele andere, vor allem in der gleichen Wohnung und kommuniziere vor allem Online. Aber das Konzept vocational awe scheint mir sehr viel von diesen Fragen besser zu erklären.

Persönlich würde ich immer dafür plädieren, wenn Diskussionen, Grundüberzeugungen, Handlungen möglichst nahe an der Realität sind; wenn sie auch immer wieder einmal abgeglichen werden. Nicht einfach Überzeugungen folgen und vor allem erst einmal handeln. Nicht, sich heldenhaft fühlen, sondern „postheroisch‟ (Metz & Seeßlen 2014). Alles andere hilft vielleicht kurzzeitig über aktuelle Zweifel, Verunsicherungen und so weiter hinweg, führt aber langfristig immer dazu, dass schlechte Strukturen weiterbestehen und zum Beispiel emotionale Belastungen gar nicht thematisiert werden können. (Aber, zugegeben, man könnte jetzt zynisch argumentieren, dass ich gerade deshalb für die Wissenschaft berufen wäre. Was ich nicht bin – das ist auch nur Lohnarbeit.) Wenn vocational awe eine Erklärung für das jetzige Handeln von Bibliotheken ist, dann hat dieses Handeln wohl auch eine Funktion, für die Kolleg*innen, die so handeln. Diese Funktion könnten wegfallen, wenn man die Grundüberzeugungen thematisiert. Wäre das gut? Aber auch: Ist es etwa gut, wie es jetzt ist? Ich weiss es nicht. Aber das ist wohl der Grund, warum ich meinen Tweet gelöscht habe. (Gleichwohl: Bibliotheken sollten wirklich überlegen, ob sie aktuell Buchpakete mit der Post durch die Gegend schicken müssen.)

Literatur

Ettarh, Fobazi (2018). ‚Vocational Awe and Librarianship. The Lies we Tell Ourselves‛. In: In the Library with the Lead Pipe, 10. Januar 2018, http://www.inthelibrarywiththeleadpipe.org/2018/vocational-awe/

Metz, Markus & Seeßlen, Georg (2014). ‚Wenn Helden nicht mehr nötig sind. Heldendämmerung: Anmerkungen zur postheroischen Gesellschaft‛. In: Deutschlandfunk Kultur, https://www.deutschlandfunkkultur.de/postheroismus-wenn-helden-nicht-mehr-noetig-sind.976.de.html?dram:article_id=299526

Velasquez-Potts, Michelle (2019). ‚Imagine Otherwise: Fobazi Ettarh on the Limits of Vocational Awe‛. In: Ideas of Fire-Podcast, 23. Oktober 2019, https://ideasonfire.net/98-fobazi-ettarh/

 

Fussnote

1 Ich kenne Personen, die durch ihre Familien Angehörigen unterschiedlicher Religionen waren, und die sich in ihren Heimatgemeinden irgendwann in ihrer Jugend kritisch zu Homophobie in der jeweiligen Religion äussern durften (weil sie doch als Teil der jeweiligen Gemeinden angesehen wurden), dann irgendwann in wegzogen – und heute berichten können, dass sich in dieser Frage in ihrer jeweiligen alten Gemeinde wenig geändert hätte. So ungefähr scheint das im Bibliothekswesen auch manchmal zu funktionieren.