Über Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum

In diesem Post möchte ich einmal über die Bibliotheksstatistiken aus dem DACH-Raum schreiben. Fast alle Bibliotheken in diesem Raum füllen Jahr für Jahr – mal mehr, mal weniger, auch mit Lücken, aber doch kontinuierlich – die jeweiligen Statistiken aus, aber damit scheint das Thema oft schon wieder vorbei zu sein. Sie kommen sonst kaum in der bibliothekarischen Literatur, Ausbildung oder Diskussion vor. Manchmal, aber auch nicht mehr regelmässig, gibt es auf den bibliothekarischen Konferenzen Sessions zur Bibliotheksstatistik und in vielen Verbänden gibt es auch Arbeitsgruppen zum Thema. Aber deren Arbeit scheint oft kaum wahrgenommen zu werden.

Und das ist schade. Die Statistiken, die wir haben, hätten eigentlich ein grosses Potential sowohl für die einzelnen Bibliotheken als auch die Bibliothekswesen der einzelnen Ländern und im gesamten DACH-Raum. Zumal sie, wie ich gleich darstellen werde, etwas Besonderes sind – die meisten Bibliotheken und Bibliothekswesen können offenbar nicht auf solche Statistiken zurückgreifen.

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Kurz warum ich auf das Thema gekommen bin: Ich habe mich letztens mit diesen Bibliotheksstatistiken befasst. Ausgangspunkt war ein Text über britische Public Libraries und deren Entwicklungen im Jahr 2020 (oder genauer im Fiscial Year 2020/21 im Vergleich zu 2018/19 und 2019/20 – aber das ist hier nicht so wichtig), also in der Covid-19 Pandemie. (McMenemy et al. 2022) In dem Text werden statistische Daten analysiert. Die wurden nicht aus der nationalen Bibliotheksstatistik genommen, sondern per Freedom of Information Requests von den einzelnen Kommunen angefragt – was ich beim ersten Lesen sehr komisch fand, aber ich dachte, vielleicht konnten die Autor*innen einfach nicht warten, um an die Daten zu gelangen. Wichtiger: Als ich den Text las, dachte ich: Wie ist das eigentlich im DACH-Raum? Kann man nicht einfach die Zahlen aus den Bibliotheksstatistiken mit denen aus diesem britischen Text vergleichen? How hard could that be? Wozu gibt es denn sonst die Bibliotheksstatistiken, wenn nicht dafür?

(Hinzu kommt, dass ich weiter üben wollte, mit der Statistiksprache R zu arbeiten und die Situation eigentlich sehr gut dafür schien: Schon klare Fragen im britischen Text – die waren am Ende nicht ganz so klar formuliert, aber es ging –, vorhandene Daten und am Ende als Ziel, die Ergebnisse dieser Auswertung zu berichten. Und dann, wenn man das schon mit R-Skripten macht, könnte man es einfach auf noch mehr Länder erweitern, also die Daten aus Bibliotheksstatistiken weiterer Länder hinzunehmen, um zu sehen, ob es allgemeine Entwicklungen in der Nutzung von Bibliotheken gibt oder zum Beispiel welche, die für den DACH-Raum spezifisch sind.)

Das war der Ausgangspunkt, um mich wieder einmal mit den Bibliotheksstatistiken zu beschäftigen. Die Auswertung für den DACH-Raum ist jetzt fertig, eine Publikation dazu eingereicht. Darum soll es hier also nicht gehen. Ich will lieber kurz darüber reden, was ich so währenddessen über die Statistiken selber gelernt habe.

Kontinuierliche Bibliotheksstatistiken: Eine Besonderheit des DACH-Raumes

Eine erste Sache, die ich vorher nicht wusste: Das wir im DACH-Raum im Allgemeinen umfassende, jährlich aktualisierte Bibliotheksstatistiken haben, ist eine Besonderheit. Viele Länder haben das offenbar nicht. Im DACH-Raum hingegen gibt es schon lange etabliert die deutsche Bibliotheksstatistik, in der die Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken (inklusive, seit 2008, denen aus Österreich) teilnehmen. (https://www.bibliotheksstatistik.de, https://www.bibliotheksstatistik.at) Die Büchereien / öffentlichen Bibliotheken in Österreich haben eine eigene Bibliotheksstatistik, welche vom Büchereiverband gepflegt wird. (https://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdaten) Zuletzt hat die Schweiz nachgezogen: Seit 2011 gibt es eine kontinuierlich mit Daten ausgestattet Bibliotheksstatistik, an der zuerst die Wissenschaftlichen Bibliotheken und die grossen Öffentlichen Bibliotheken (die in Gemeinden über 10.000 Einwohner*innen) teilnahmen. Dann wurde sie Schritt für Schritt ausgebaut und seit 2021 (also mit den Daten ab 2020) ist sie eine «Vollerhebung». Einzig für das Fürstentum Liechtenstein scheint es keine solche Statistik zu geben. (Das dortige «Amt für Statistik» hat leider noch nicht geantwortet, vielleicht wissen die mehr.) Es wäre als nicht falsch zu denken, dass das normal ist, das solche Statistiken gesammelt werden. Zumal es eine eigene ISO-Norm (International Organization for Standardization 2013) für Bibliotheksstatistiken gibt (auch wenn die in der Überarbeitung hinterherhinkt).

Aber – das stimmt offenbar nicht. Es ist nicht einfach, einen Überblick zu gewinnen. Bislang scheint es keine Sammlung der nationalen Bibliotheksstatistiken zu geben. Es gibt bei der IFLA eine «Statistics and Evaluation Section» (https://www.ifla.org/units/statistics-and-evaluation/), die Projekte hat und Verlautbarungen dazu erlässt, wie wichtig Open Library Data wäre – aber auch keine solche Sammlung betreibt.

  • Man hat meiner Erfahrung nach beim Recherchieren auch immer das Gefühl, dass man in den verschiedenen Ländern nur nicht an den richtigen Orten oder bei den falschen Organisationen schaut. Und / oder das man mal wieder zu wenig von der jeweiligen Sprache versteht, die im jeweiligen Land gesprochen wird. Aber ich habe, bevor ich es aufgegeben habe, erst in Liechtenstein gesucht und nichts gefunden (die Daten sind auch nicht, wie man vermuten könnte, in der schweizerisches Statistik enthalten).
  • Dann in Irland (weil die Daten gut mit denen aus Grossbritannien hätten verglichen werden können – als Land mit einer ähnlichen bibliothekarischen Tradition, der gleichen Hauptsprache, ähnlicher Gesellschaft und so weiter) – aber da scheint es nur von Zeit zu Zeit Erhebungen zu geben, nicht jährlich und nicht immer mit den gleichen Variablen. Die letzten Daten scheinen zu Jahr 2017 veröffentlicht, annual reports gab es von 2002 bis 2011 (https://www.askaboutireland.ie/libraries/public-libraries/publications/public-library-statistics/).
  • In Frankreich scheinen die Bibliotheksstatistiken zumindest nicht regelmässig berichtet, sondern von Zeit zu Zeit vom Minstère de la Culture in Zusammenfassung publiziert zu werden. (Ich weigere mich ein wenig zu glauben, dass gerade im zentralisierten Frankreich nicht regelmässig solche Zahlen erhoben werden, in einer möglichst komplizierten Weise – das würde meinem Bild von Frankreich vollkommen widersprechen.) Wenn, dann passieren solche Publikationen offenbar oft im Zusammenhang mit Themen wie Literatur, Lesen, Kampf gegen Analphabetismus im Allgemeinen. (Z.B. Ministère de la Culture 2021) Die Einrichtung, welche die Daten dann zu liefern scheint, ist auch das Observatoire de la Lecture Publique, das auch zum Beispiel Daten zu Buchhandlungen oder Verlagen publiziert.
  • In Luxemburg bin ich gar nicht fündig geworden (ich spreche kein Luxemburgisch, dachte aber, dass ich in Deutsch oder Französisch etwas finden würde).
  • Dann habe ich aufgeben, aber ich glaube nicht, dass ich zufällig die paar Länder ausgesucht habe, die keine Bibliotheksstatistik haben, sondern das das symptomatisch ist.
  • In Fundfamentals of Planning and Assessment for Libraries schreiben Rachel A. Fleming-May und Regina Mays dann auch zum Beispiel explizit – das ist mir gerade untergekommen –, dass es auch in den USA keine solche Statistik für alle Bibliotheken gibt, sondern nur solche, die von einigen Verbänden über die jeweils eigenen Mitgliedsbibliotheken erhoben werden.
  • Und es gibt eine «Library Map of the World», die einmal von der IFLA erstellt wurde – als es dafür Mittel der Gates Foundation gab, die Bibliotheken unterstützen wollte – und die offenbar weiter betrieben wird (https://librarymap.ifla.org/map). Wenn man aber die in, offen vorliegenden, Daten schaut, merkt man auch schnell, dass (a) für viele Länder des globalen Südens gar keine Daten vorliegen und (b) die Daten, die vorliegen, oft Jahre alt sind (Peru zum Beispiel von 2008 und Italien von 2010). Andere Daten sind erst dieses Jahr aktualisiert worden. Insoweit – es gibt offenbar auch anderswo kontinuierlich geführte Bibliotheksstatistiken (irgendwo müssen die Daten für diese Map ja herkommen), aber nicht viele.

Das erklärt wohl aber, warum im britischen Text nicht mit Daten aus der nationalen Bibliotheksstatistik gearbeitet wurde – weil sie nicht so einfach verfügbar ist, falls es sie überhaupt gibt.

Inhalt und Governance Bibliotheksstatistiken DACH-Raum

Ob es nationale Bibliotheksstatistiken gibt und wie ihre Daten berichtet werden, ist also offenbar das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die dazu führen, ob und wenn ja welche Infrastrukturen für diese Statistiken aufgebaut werden. Wie gesagt: Beim Beispiel Frankreich kann ich mir gut vorstellen, dass es sehr wohl in Paris eine Stelle gibt, an die alle Bibliotheken nach einem vorgegeben Plan jährlich Daten abzuliefern haben (aber – Frankreich – bestimmt nicht direkt und unkompliziert, sondern in mehreren Runden, die durch verschiedene Bürokratien gehen und zwar nur zu vorgeschriebenen Tagen oder so; und nur nicht in der Mittagspause), aber das es die politische Entscheidung gibt, diese nicht jährlich oder gar offen zu publizieren. Das gleiche gilt auch für die Variablen, die überhaupt abgefragt werden, und die Definitionen derselben. Die sind bei Weitem nicht gleich, trotz der ISO-Norm. Und auch, ob Bibliotheken diese Daten liefern und wenn ja, wie genau und wie sehr an den Definitionen orientiert, scheint das Ergebnis von politischen Entscheidungen in den Bibliotheken zu sein. (Und vielleicht, zum Teil, auch der Kapazitäten – die aber ja auch Ergebnis von Entscheidungen sind, wofür Ressourcen genutzt werden.)

Schauen wir uns aber einmal an, was nach all diesen politischen Entscheidungen, die irgendwann einmal getroffen wurden, in den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum steht und wie die Governance hinter diesen ist.

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Zuerst zur Governance. Es fällt schnell auf, dass jede der drei Statistiken eine andere Struktur – also wer sammelt die Daten, wie werden sie aufbereitet, wie werden sie angeboten – hinter sich hat. Das sieht man in der folgenden Tabelle.


Deutsche BibliotheksstatistikBibliotheksstatistik ÖsterreichSchweizerische Bibliotheksstatistik
Betreibende EinrichtungDBS-Redaktion c/o Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen (HBZ) (plus ÖBS-Redaktion für die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken)Büchereiverband ÖsterreichBundesamt für Statistik (in Zusammenarbeit mit der Kommission Statistik von bibliosuisse)
Erhebung der DatenEingabe durch Bibliotheken, https://service-wiki.hbz-nrw.de/display/DBS/Online-EingabeEingabe durch Bibliotheken, https://jahresmeldung.bvoe.atEingabe durch Bibliotheken, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/erhebungen/chbs.html
Publikationshäufigkeitjährlichjährlichjährlich
Aufbereitung der DatenFrei zugängliche Datenbank, inklusive Variabler Auswahl.Keine Veröffentlichung aller Daten, sondern jährlich erscheinende Artikel (in der Zeitschrift Büchereiperspektiven) sowie Zusammenfassungen (auf der Homepage).Daten als Excel-Tabellen, frei zugänglich. Einzelne Auswertung der Daten als weitere Tabellen.
Zugang zu den DatenDaten stehen frei zur Verfügung. (Man kann aber, so meine Erfahrung, den Server überlasten, wenn man zu viele Daten auf einmal abfragt.)Daten werden auf Anfrage zur Verfügung gestellt. (Nach meiner Erfahrung problemlos.)Daten stehen frei zur Verfügung, die Daten vor 2020 müssen aber (aktuell) gesondert gesucht werden.
LizenzKeine AngabeKeine AngabeKeine Angabe (aber vom Staat erhobene Daten)
Homepagehttps://www.bibliotheksstatistik.de, http://www.bibliotheksstatistik.athttps://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdatenhttps://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/kultur/bibliotheken.html, https://bibliosuisse.ch/%C3%9Cber-uns/Kommissionen/Statistik

Man sieht schnell Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Zuerst sind es sehr unterschiedliche Einrichtungen, die die Daten sammeln. Das HBZ handelt im Auftrag der Kultusministerkonferenz – also der Bildungsministerien der deutschen Bundesländer –, aber als bibliothekarische Infrastruktur. Der Büchereiverband Österreich hat, so scheint es zumindest, den Auftrag vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (zumindest ist dieses immer mit wieder auf den Publikationen mit genannt). Das Amt für Statistik in Bern handelt offenbar als Teil des eigenen Auftrags zur Pflege von nationalen Statistiken. Insoweit ist irgendwie immer der Staat als Akteur im Hintergrund dabei – aber immer auch in einer anderen, jeweils den nationalen Strukturen entsprechenden Weise (siehe zum Beispiel die nicht klar definierte, aber irgendwie funktionierende Einbeziehung einer Kommission des Bibliotheksverbandes in der Schweiz in die staatliche Aufgabe der Datensammlung).

Gemeinsam ist allen drei Statistiken, dass sie jährlich erhoben werden, indem Bibliotheken selber die jeweils eigenen Daten elektronisch erfassen und dass sie auch wieder jährlich publiziert werden. Wie sie publiziert werden, ist unterschiedlich (und wird auch immer wieder einmal verändert – aber bleiben wir beim heutigen Stand): Die Daten für die deutschen und schweizerischen Bibliotheken sowie die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken stehen frei zur Verfügung, die für die österreichischen Büchereien muss man anfragen (was aber funktioniert). Die schweizerischen Daten kriegt man in einer Excel-Datei mit Datenblättern pro Jahr, bei den deutschen kann man mehr wählen. (Die österreichischen kommen auch als Excel-Datei, aber vielleicht kann man auch andere Formate erbitten.) Dafür werden die Büchereien in Österreich regelmässig in der betreffenden Zeitschrift über die Daten informiert, was in Deutschland und der Schweiz so nicht passiert. Auffällig ist auch, dass alle diese Daten ohne Lizenzangabe veröffentlicht werden. Man kann mehr oder minder hoffen, dass man sie frei für weitere Auswertungen nutzen kann – in Österreich werden Bibliotheken sogar direkt auf der Homepage aufgefordert, dies für Leistungsvergleiche zu tun. Denn immerhin werden die Daten zur Verfügung gestellt und entweder direkt von einer staatlichen Stelle oder aber im Auftrag des Staates gesammelt – sollten also eigentlich «öffentliche Daten» sein. Aber in Zeiten, in denen Wissenschaftliche Bibliotheken auf Forschungsdatenmanagement als Thema setzen und dann immer wieder betonen, wie wichtig offene Lizenzen sind, ist es auffällig, dass gerade bei diesen Statistiken keine Lizenzen genannt werden.

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Was steht nun in den Daten? Wie vertrauenswürdig sind sie?

Für alle Statistiken existieren Definitionen, die alle spätestens bei der Eingabe angezeigt werden (aber es gibt immer auch Dokumente, in denen sie niedergelegt sind). Diese folgen nicht immer dem ISO-Standard – die für die deutschen und österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken erheben diesen Anspruch schon, aber die anderen nicht. Die schweizerischen Definitionen wurden zum Beispiel für die Daten 2020 – als dann auch die erste «Vollerhebung» durchgeführt wurde – verändert. Und wenn man die Variablen, die für die drei Statistiken abgefragt werden, nebeneinander legt, merkt man auch, dass sie sich schon im Umfang unterscheiden – in Deutschland wird viel mehr abgefragt, als in den beiden anderen Ländern. In der Schweiz werden zum Beispiel Lizenzkosten gesondert abgefragt, in Österreich nicht. Zu 100% lassen sich die Daten also nicht vergleichen, zumindest nicht für alle Werte.

Folgen die Bibliotheken alle diesen Definitionen? Geben sie alle jährlich Daten ab?

Das ist nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Schaut man in die Daten selber, fällt immer wieder auf, dass nicht alle Bibliotheken alle Werte ausfüllen und das eine Anzahl der Werte nicht immer überzeugend sind. Das hat bestimmt unterschiedliche Gründe, aber es gibt Tendenzen. Je kleiner eine Bibliothek ist, umso eher scheinen Daten zu fehlen – manchmal alle Daten, manchmal einige. Bei letzteren kann es immer gut sein, dass eine Bibliothek einfach gar keine Angaben machen kann. Wenn Sie zum Beispiel keine Lizenzen hat, sollte sie das Feld zu Lizenzkosten leer lassen – oder, je nach Definition, wenn sie anteilig von einer Lizenz profitiert, die zum Beispiel der Kanton oder eine andere Einrichtung übernimmt (hier kann man an die Onleihe) denken, dann sollte hier zumindest in der schweizerischen Statistik der Wert für diesen Anteil eingetragen sein. Wissen von dieser Regelung alle Bibliotheken? Es scheint nicht so. Es finden sich doch auch eine ganze Anzahl, die «0» eintragen (was heissen würde, dass die Lizenzen haben oder von solche profitieren, aber diese nichts kosten).

Es gibt aber auch das Phänomen, dass in grösseren Bibliotheken die Daten für einige Jahre fehlen oder weniger werden. Warum das so ist, müssten man tiefergehend untersuchen. Aber mir ist aufgefallen, dass man in einer ganzen Anzahl von Fällen einen Zusammenhang mit mehr oder minder bekannten internen Krisen herstellen kann – grössere Bibliotheken, die einige Jahre lang keine (vollständigen) Daten an die Bibliotheksstatistik lieferten, sind auch offenbar oft die Bibliotheken, die zu dieser Zeit Probleme damit hatten, Leitungspositionen zu besetzen.

Und dann fällt auf, dass eine ganzen Anzahl von Bibliotheken keine genauen Angaben macht, sondern eher Schätzwerte zu liefern scheint. Das wird wohl vor allem daran liegen, dass die genauen Daten gar nicht vorliegen. Aber man findet nicht selten Angaben mit «runden Zahlen» (also Mehrfache von 10 oder 100), die sich dann auch oft über Jahre nicht verändern: Bibliotheken, die immer wieder genau 500 Veranstaltungen pro Jahr haben oder 7000 Medieneinheiten. Sicherlich kann das auch das Ergebnis guter Planungen sein – oder wahrscheinlich ist eher, dass es ungefähre Angaben sind.

Gleichzeitig aber sind alle Statistiken jetzt darauf ausgerichtet, auch wirklich alle Bibliotheken in den jeweiligen Ländern zu umfassen. Wie gesagt – in der Schweiz war man da etwas langsamer. Erst hat man die Wissenschaftlichen Bibliotheken integriert (was auch nicht so einfach ist, weil die Bibliothekssysteme einiger, historisch gewachsener Universitäten… barock sind, im Gegensatz zu den recht neuen Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen), dann die Öffentlichen Bibliotheken der grossen Gemeinden. Und dann, nach und nach, die anderen Bibliotheken einzelner Kantone, bis es dann 2021 theoretisch alle Bibliotheken sind, die erfasst werden. Aber stimmt das? Sind es wirklich alle Bibliotheken? Gibt es nicht vielleicht in ganz kleinen Gemeinden ganz weit auf dem Land, Bibliotheken, die nicht dabei sind? Oder in grossen Schulen Bibliotheken, die auch für das Quartier / den Kiez da sind, aber nicht in der Statistik auftauchen? Oder neue Bibliotheken in staatlichen Einrichtungen, die eine Filiale in «abgelegenen Regionen» gerade ausbauten, die bislang nicht für die Statistik gemeldet wurden? Vielleicht – das kann immer sein. Eine hundertprozentige Abdeckung ist wohl nie zu erreichen (zumal Bibliotheken, die von privater Hand finanziert werden, weil sie beispielsweise in Firmen oder Klöstern angesiedelt sind, nicht in diesen Statistiken enthalten sind – mit Ausnahmen, immer und immer wieder mit neuen Ausnahmen). Aber grundsätzlich möglichst viele und vor allem die grossen Bibliotheken, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind – die finden sich schon in diesen Statistiken.

Weiter oben hatte ich gesagt, dass die Kontinuität, mit der im DACH-Raum Daten für Bibliotheksstatistiken erhoben werden, eine ihre Besonderheiten darstellen. Man muss dies aber eingrenzen: Für die gesamten Statistiken gilt das, für alle Bibliotheken gilt das nicht. Aber auch hier für die meisten die meiste Zeit.

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Insoweit muss man die Daten jeweils vorsichtig interpretieren: Sie sind Annäherungen an die Realität. Aber wenn man zum Beispiel aus einer der Statistiken die Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken in einem Jahr errechnet und diese dann mit der Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken eines anderen Jahres vergleicht, muss man bedenken, dass das immer eine leicht unterschiedliche Anzahl von Bibliotheken sind, die da Daten gemeldet haben. (Wie man das in die jeweilige Auswertung integriert hängt dann wohl davon ab, was man wissen will. In dem Vergleich von Daten 2018 bis 2020, den ich gemacht habe, habe ich jeweils nur Bibliotheken betrachtet, die auch vollständig für diese drei Jahre Daten geliefert haben – R hat dafür die Funktion complete.cases –, aber das wird keine Lösung sein, wenn man zum Beispiel Daten über zehn Jahre hinweg betrachten will. Dann wird man besser mit Durchschnittswerten pro Jahr rechnen.) Wie gesagt: Das ist alles eine viel bessere Datenlage als in anderen Ländern, aber doch niemals eine perfekte.

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Schauen wir nochmal die Variablen an, dann fällt, wie schon gesagt, auf, dass in Deutschland (und Österreich für die Wissenschaftlichen Bibliotheken) die meisten Variablen erhoben werden, in Österreich (für die Büchereien) weniger und in der Schweiz noch weniger. Einige dieser Variablen deuten auf ältere Diskussionen hin. Wenn in der deutschen Statistik explizit gefragt wird, ob eine Öffentliche Bibliothek «Soziale Bibliotheksarbeit» anbietet, dann ist das ein Thema, dass zuletzt Anfang der 1980er Jahre gross diskutiert wurde. Ebenso gibt es in der deutschen Statistik Variablen zu unterschiedlichen Formen von Krankenhausbibliotheken, was vielleicht Anfang der 1990er Jahre das letzte Mal breiter diskutiert wurde. Zudem finden sich zum Beispiel Fragen nach der Anzahl von Vinyl-Platten im Bestand.

Eine andere Anzahl von Variablen findet sich aber in allen drei oder zumindest zwei der Statistiken. Beispiele dafür sind die Zahl der aktiven Nutzer*innen (immer gleich definiert als solche, die mindestens einmal in den letzten zwölf Monaten ein Medium entliehen haben, inklusive elektronischen Medien), die Zahl der Medien, die Zahl der Ausleihen und Angaben zu Etat und Personal (aber beim Personal in unterschiedlichen Ausprägungen und beim Etat selbstverständlich mal in Euro und mal in Franken).

Will mal also Daten über die drei Ländern hinweg vergleichen, geht das für einige Variablen einfach nicht und für andere wieder muss man sie erst «normalisieren», also in ein einheitliches Format bringen. (Letzteres ist aber nicht so schwer, da die Daten jeweils pro Land strukturiert geliefert werden und man solche Transformationen der Daten gut automatisieren kann.)

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Beachtet man das aber, kann man relativ gut und relativ schnell einfache Vergleiche anstellen und Plots zeichnen, wie die drei hier. (Alle mit jeweils allen Daten aller Öffentlichen Bibliotheken, die im jeweiligen Jahr Daten gemeldet haben – die Daten lagen schon bearbeitet aus meinem oben erwähnten Artikel vor, aber die Plots zeichnen dauerte keine drei Stunden und das auch vor allem, weil ich Anfänger mit R bin und die Chance nutzen wollte, mal mit den erweiterten graphischen Möglichkeiten zu spielen. Einfache Plots hätten vielleicht eine viertel Stunde gedauert.) Und selbstverständlich – wer sich darin vertiefen will, kann dann noch mehr, noch genauer, noch theoriegeleiteter vorgehen und beispielsweise Hypothesen über die Entwicklung der Nutzung von Bibliotheken im DACH-Raum testen.

Zur Nutzung

Was mich an Bibliotheksstatistiken immer wieder erstaunt hat und weiter erstaunt, ist, wie wenig sie tatsächlich genutzt zu werden scheinen. Sie kommen in der Lehre, soweit ich das sehe, nicht vor. (Ich bin da selber mit verantwortlich, ich weiss – aber auch zum Beispiel nicht in meiner eigenen Ausbildung.) Auch werden sie fast nie an Orten, an denen man sie erwarten würde, angeführt: Fast nie in Studien, Abschlussarbeiten, Präsentationen oder auch Artikeln. Die einzige wirklich Ausnahme davon scheint der Büchereiverband Österreich zu sein, der – wie schon gesagt –, kontinuierlich Zusammenfassungen für «seine» Bibliotheken publiziert. Ansonsten scheint das immer nur ansatzweise zu passieren, vielleicht gebunden an die Interessen einzelner Personen.

Jetzt, nachdem ich gelernt habe, wie besonders und – im Vergleich mit anderen Ländern – gut die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sind, erstaunt mich das nur noch mehr.

Man könnte vermuten, dass die Statistiken einfach an anderen Stellen benutzt werden, beispielsweise bei internen strategischen Planungen von Bibliotheken. Maybe. Wie gesagt fordert der Büchereiverband Österreich die öffentlichen Bibliotheken im Land immer wieder dazu auf, die Statistik für Kennzahlenvergleiche zu nutzen. Ähnliches hört man, aber nicht so oft, von Fachstellen und vergleichbaren Einrichtungen. Aber auch dann würde man erwarten, das darüber lauter und öfter berichtet wird. Es wäre doch sinnvoll, wenn Bibliotheken sich darüber austauschen würden, wie diese Daten im Alltag und bei der längerfristigen Planung genutzt werden.

Meine Erfahrung ist aber, dass man bei Nachfragen eher ausweichende Antworten erhält. Oft wird von Kolleg*innen erst behauptet, dass man selbstverständlich auch mit den Daten den Bibliotheksstatistik etwas macht, aber dann auf Nachfrage hin nicht gesagt, was genau.

Es ist ein erstaunliches Thema, immer wieder: Wir haben im DACH-Raum eigentlich so eine gute Datenlage. Nicht perfekt, aber soviel besser als in vielen anderen Regionen. Und wir – sowohl die Bibliothekswissenschaft als auch die Bibliotheken und zum Bibliothekswesen gehörigen Einrichtungen als auch die Ausbildung – wissen nicht so richtig, was damit anfangen.

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Nur ein schnelles Beispiel, wofür man die Daten benutzen kann, ist der nächste Plot, welcher die Kosten pro Ausleihe in den Öffentlichen Bibliotheken 2018-2020 in den drei Ländern vergleicht – also eine recht beliebte Kennzahl für die Effizienz des Bestandsmanagements. Sicherlich: Man könnte hier noch einen Wert für die Preisunterschiede einführen – aber auch so sieht man die Entwicklung: In der Schweiz waren die Bibliotheken 2020 offenbar effizienter als in den Vorjahren, in Österreich nicht ganz so, und in Deutschland noch etwas weniger. Man kann jetzt diskutieren, warum und was man daraus lernen kann und so weiter. Aber: Es ist recht einfach, diese Angaben aus den Daten zu ziehen. Ich habe das mit einem Rechner und etwas Arbeitszeit gemacht. Wir, als «die Bibliotheken, das Bibliothekswesen», sollten das öfter machen.

Wünsche

Wie gesagt habe ich gelernt, dass die Situation bei den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sehr gut ist, wenn man sie mit anderen Ländern vergleicht. Während meiner Recherche hatte ich auch Kontakt mit Verantwortlichen für alle drei Statistiken und auch da gute Erfahrungen mit schnellen Rückmeldungen gemacht. Und dennoch haben sich ein paar Wünsche ergeben – Dinge, die das Ganze noch einen Ticken besser machen würden.

  • Erstens wäre es gut, wenn die Daten zu den Bibliotheksstatistiken nicht einfach nur verfügbar wären, sondern, wenn sie als Offene Daten mit einer Offenen Lizenz (wegen meiner gerne mit CC BY-NC) ausgestattet wären. Oder, wenn schon nicht offen, dann so, dass klar ist, was man mit denen machen darf und was nicht. Die jetzige «graue» Situation ist nicht mehr wirklich zeitgemäss.
  • Jetzt muss beziehungsweise kann man die Daten relativ einfach herunterladen oder auf Nachfrage erhalten – wie gesagt ist das schon weit besser als anderswo. Aber das Non-plus-Ultra wäre selbstverständlich, wenn es per API direkt aus einer Datenbank abgefragt werden könnte (und, für die Schweiz, wenn in der Datenbank dann auch die «alten» Daten von 2011 bis 2019 enthalten wären). Dann liessen sich Skripte bauen, mit denen man jeweils automatisiert jährlich die Daten abfragen und analysieren könnte. Das wäre eine kleine, aber sichtbare Verbesserung.
  • Für weitere Analysen hilfreich wäre, wenn in allen Bibliotheksstatistiken nicht nur die Namen der Gemeinden / Kommunen verzeichnet wären, in denen die jeweiligen Bibliotheken angesiedelt sind, sondern (a) auch, für welche Gemeinden / Kommunen sie zuständig sind (das ist in der Schweiz zum Beispiel nicht selten, dass eine Bibliothek mehrere Gemeinden versorgt) und (b) diese Gemeinden / Kommunen nicht nur mit Namen, sondern auch mit Postleitzahlen ausgezeichnet würden. Bislang mache ich mir noch einen Kopf, wie man beispielsweise Daten über sozio-ökonomische Zusammenhänge mit denen der Bibliotheksstatistiken verbinden könnte. Die meisten anderen Daten, die auf Gemeinde-/Kommunenebene vorliegen – beispielsweise Grösse der Gemeinden, Steueraufkommen, Ergebnisse von Wahlen und Abstimmung –, sind mit Postleitzahlen ausgezeichnet. Wären es die der Bibliotheksstatistik auch, könnte man sie einfacher verbinden. (Auch hier gibt es in R einen Standardbefehl.) Und wer will nicht wissen, ob die Bibliotheken in sozio-ökonomisch herausfordernderen Kommunen mehr Nutzer*innen erreichen als in anderen (nur als Beispiel was dann einfach möglich wäre)?
  • Grundsätzlich sollten – das habe ich jetzt auch schon angedeutet – die Daten, die wir schon haben, mehr und offener (also sichtbarer) genutzt werden. Es ist einfach erstaunlich, wie viel Arbeit Jahr für Jahr in die Daten hineingesteckt wird, im Vergleich dazu, wie wenig damit später offenbar gemacht wird.
  • Über die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum hinaus fände ich es interessant, mehr darüber zu erfahren, wie es in anderen Ländern gehandhabt wird – und jeweils wieso. Die Karte der IFLA vermittelt kein richtig befriedigendes Bild, auch die Section zu Bibliotheksstatistiken in der IFLA ist bestimmt so engagiert, wie es geht – aber auch nicht wirklich hilfreich, wenn es um solche Fragen geht. Aber mich würde schon interessieren, warum der DACH-Raum so gut aufgestellt ist und andere nicht.

Literatur

Fleming-May, Rachel A. ; Mays, Regina (2021). Fundamentals of Planning and Assessment for Libraries. (ALA Fundamentals Series) Chicago : Neal-Schuman, 2021

International Organization for Standardization (2013). ISO 2789:2013 Information and documentation — International library statistics. Vernier: ISO, 2013

McMenemy, David ; Robinson, Elaine ; Ruthven, Ian (2022). The Impact of COVID-19 Lockdowns on Public Libraries in the UK: Findings from a National Study. In: Public Library Quarterly (Latest Articles), https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2058860

Ministère de la Culture (2021). Bibliothèques municipals et intercommunales: Données dʹactivités 2017. Paris cedex: Ministère de la Culture, 2021, https://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Livre-et-lecture/Les-bibliotheques-publiques/Observatoire-de-la-lecture-publique/Syntheses-annuelles/Synthese-des-donnees-d-activite-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales/Synthese-nationale-des-donnees-d-activite-2017-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales-editee-en-2021-par-le-Ministere-de-la-Culture

Mein Problem mit der Onleihe: Die Monopolstellung

Die Onleihe hat letztens einen Verkaufsbutton eingeführt, zumindest als Versuch (so zumindest die Darstellung). Dörte Böhner, UltraBiblioteca und andere haben ihre Unmut dazu geäussert; in den sozialen Medien, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare benutzen, hat sich dazu eine – für das Bibliothekswesen erstaunlich lebendige – Diskussion ergeben, mit teilweise allerdings auch recht erstaunlichen Argumentationen. Das muss ich hier nicht rekapitulieren.

Ich würde vielmehr gerne ein anderes Problem mit der Onleihe in die Diskussion werfen, auch weil es gerade ein gut nachzuvollziehendes Beispiel gibt. Kurz gesagt: Die Onleihe, inklusive ihrer Anpassungen in der Schweiz und Österreich, hat eine Monopolstellung. Das ist nicht gut. Wenn eine deutschsprachige Öffentliche Bibliothek oder Bibliothek mit öffentlichen Auftrag E-Books anbieten will, greift sie heute auf das Angebot der Onleihe zurück. Oft ist dies organisiert über einen Verbund, beispielsweise die Digitale Bibliothek Ostschweiz, insoweit nicht immer direkt mit der divibib als Verhandlungspartner. Aber anders geht es praktisch nicht.

Es gibt Gründe dafür. Nur einige:

  • Niemand anders macht es, gleichzeitig vertrauen Öffentliche Bibliotheken in Deutschland stark auf die ekz, die heute hinter der divibib steht, die Bibliotheken in der Schweiz auf den Schweizer Bibliotheksdienst, der den Vertrieb der Onleihe in diesem Land übernommen hat. Wie soll sich da jemand anders mit einem anderen Angebot etablieren?
  • Öffentliche Bibliotheken haben aber offenbar auch gar keine Strukturen, um ein eigenes Modell zu entwickeln; gleichzeitig sind zum Beispiel die Fachhochschulen, die sich zumindest Gedanken machen könnten, nicht so konstruiert, dass sie es einfach machen könnten. Meine Hochschule dürfte dies zum Beispiel erst, wenn es jemand finanziert – aber wer sollte es finanzieren? Zumal, wie im nächsten Anstrich klar wird, dies keine rein technische Angelegenheit ist.
  • Die Arbeit, die Onleihe aufrecht zu erhalten, ist nicht trivial. Bibliotheken klagen oft und zu Recht über die bibliothekarische Seite, insbesondere, dass die Onleihe nicht ordentlich und einfach in die OPACs eingebunden werden kann. Es gibt aber ebenso die Seite in Richtung Verlage. Die ist auch schwierig. Ein grosser Teil der Arbeit an dem Modell Onleihe besteht daran, diese Verlage, die gerne überzogene Profiterwartungen haben, und die Verlage, die kaum etwas über E-Books wissen, glücklich zu stellen. Die Onleihe wird zum Beispiel oft dafür kritisiert, dass sie das Exemplarmodell auf E-Books übertragen hat (wenn ein Medium „ausgeborgt ist“, kann es nicht ein zweites Mal zur gleichen Zeit verliehen werden), welches technisch keine Sinn macht. Zum Teil ist die Onleihe beziehungsweise die divibib daran Schuld, immerhin ist sie auf diese Idee gekommen. Aber teilweise war es auch notwendig, um einige Verlage dazu zu bringen, mitzumachen. (Gleichzeitig sollte man das auch nicht überschätzen. Auch Verlage sind nicht immer mit der Onleihe zufrieden. Ich bin ja gar nicht gross mit vielen Menschen aus der Verlagsszene bekannt, aber selbst ich habe einige Klagen gehört: Einspeissung der E-Books zu teuer und schwierig, Abrechnung nicht immer klar, Gewinn wie weniger als erwartet.)

Es ist nicht einfach nur Schuld der divibib.

Und trotzdem: Diese Situation ist nicht gut. Vor allem aus zwei Gründen. Zum einen verhindert eine Monopolstellung mögliche Entwicklungen. Zum anderen macht jedes Monopol andere abhängig.

Problem 1: Abhängigkeit

Das zweite Problem kann man gerade sehen, oder zumindest vermuten, wenn man den Gerüchten und nicht-öffentlich geführten Debatten in Wissenschaftlichen Bibliotheken zuhört. Swets ist pleite (oder, genauer, hat Insolvenz angemeldet). Zwar betont die Firma, dass die Tochterfirmen wie die in Deutschland bislang nicht betroffen sind, aber das scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Swets war zwar nicht der einzige, aber doch am weitesten verbreitete Anbieter, über den Wissenschaftliche Bibliotheken in Deutschland und der Schweiz ihre Verträge für elektronische Zeitschriften mit quasi allen grossen Verlagen abschlossen und den Zugang zu diesen Zeitschriften organisierten. Jetzt fällt das weg, einfach so, und die Wissenschaftlichen Bibliotheken müssen sich möglichst schnell etwas organisieren oder aufbauen, um weiter diese elektronischen Zeitschriften anbieten zu können. Ansonsten gibt es diese Zugänge einfach nicht mehr. (Das mag vielleicht für Open Access Zeitschriften ganz positive Auswirkungen haben, aber das war ja nicht die Idee.) Es ist eine akute Krise.

Ich habe keine Ahnung, was genau zur Insolvenz von Swets geführt hat, aber das ist hier nicht wichtig: Alle Firmen können untergehen, auch die divibib, auch die ekz. Das ist das Schöne und gleichzeitig das Erschreckende am Kapitalismus (okay, es gibt noch mehr Schönes und Schreckliches): ständig tendieren Firmen dazu, Monopole zu bilden; ständig scheitern Firmen. Wenn man marxistisch geprägt ist, mag man darüber die Schultern zucken, weil man dies als dem Wirtschaftssystem inhärent versteht. Ist man wirtschaftsliberal geprägt, kann man das auch ganz gut finden, immerhin ermöglichen solche Pleiten das Fortschreiten von Innovation und Entwicklung. Konservativ geprägt kann man das auch schlecht, aber typisch für die Moderne finden. Egal, wie man es versteht; nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Tendenz zum Untergang von einst erfolgreichen und grossen Firmen, egal mit welchem Anspruch sie angetreten waren, welche Waren und Dienstleistungen sie anboten und wie nett ihre Vertreterinnen und Vertreter sind oder waren, besteht. Für die betroffenen Menschen ist das immer eine Katastrophe, für die Einrichtungen, die von den scheiternden Firmen betroffen waren, ebenso.

Darauf lässt sich reagieren: Politisch kann man zum Beispiel den Wettbewerb zwischen Firmen fördern und Monopole verbieten. Es gibt Ansätze dazu in der europäischen Politik, auch in bestimmten historischen Perioden der US-amerikanischen. Aber möglich ist das nur, wenn diese Bestimmungen wirklich durchgesetzt werden und verstanden wird, wozu. Wettbewerb lässt sich zudem erzeugen, indem man mehrere Firmen fördert – beispielsweise indem Öffentliche Bibliotheken sich darauf einigen würden, mehrere Anbieter von E-Books zu nutzen, damit keine von diesen Firmen zu gross werden und von sich abhängig machen kann. Das klappt natürlich nur, wenn es überhaupt mehrere Firmen gibt. (Die divibib würde darauf verweisen, wie gross die Anstrengung ist, Verlage für diese Angebote einzuwerben und konstatieren, dass dies für weitere Anbieter nicht möglich wäre – was vielleicht stimmt oder auch nicht oder nicht mehr, aber, wenn man Angebote schon auslagert, dass Problem der jeweiligen Anbieter wäre, nicht der Bibliotheken.) Ein anderer Ansatz wäre, selber Strukturen aufzubauen, die man immerhin selbst kontrolliert. Dann wüsste man zumindest, wenn sich eine Krise ankündigt und kann versuchen, zu reagieren. Aber auch das klappt nur, wenn diese Strukturen nicht irgendwann, wie es bei der ekz der Fall war, zu eigenständigen GmbHs umstrukturiert werden oder aber, wie beim Schweizer Bibliotheksdienst, selber Aufgaben an selbstständige Firmen wie die divibib auslagern.

Solange das aber nicht passiert, sind Bibliothek abhängig von den Entscheidungen und Geschicken der divibib. Wenn die aus irgendwelchen Gründen scheitert, können Öffentliche Bibliotheken schnell vor dem Problem stehen, dass es keine E-Books mehr gibt und auch niemand, zu dem man als Alternative gehen könnte. (Und, wie Swets zeigt, kann das recht abrupt geschehen. Wenn man will, könnte man den Verkaufsbutton bei der Onleihe auch als Anzeichen einer bevorstehenden Krise der divibib ansehen. Immerhin scheint der bisherige Profit nicht auszureichen. Vielleicht sind die laufenden Kosten einfach zu hoch?)

Problem 2: Fehlender Wettbewerb

Das andere Problem ist immer, dass Monopole dazu führen, dass die Monopolisten Angebot und Preis zugleich bestimmen können. Gibt es mehrere Anbieter, sollte es – zumindest der wirtschaftsliberalen Theorie nach – auch einen Wettbewerb geben, der sich auf die Preise und das Angebot auswirkt. Hätte die divibib eine ernstzunehmende Konkurrenz wäre es zum Beispiel gut möglich, dass das Problem mit der einfachen Einbindung in die OPACs schon gelöst. Immerhin könnte es sonst ein anderer Anbieter lösen und damit einen Wettbewerbsvorteil erringen. So aber ist die technische Abteilung der divibib über Jahre immer kleiner geworden und Öffentliche Bibliotheken können wenig mehr tun, als zu bitten, zu hoffen und zu erzählen, die ekz wäre ein wichtiger Partner der Bibliotheken – was zum Teil bestimmt stimmt, aber nicht sagt, ob sie nicht ein viel besser Partner wäre, wenn es eine ernstzunehmende Konkurrenz gäbe. Bislang können die Bibliotheken ja zum Beispiel nicht einfach damit drohen, einen anderen Anbieter zu wählen, wenn die divibib nicht ausreichend auf deren Wünsche eingeht, insbesondere, wenn die Bibliotheken selber ihren Nutzerinnen und Nutzern das Angebot Onleihe mit grösseren Kampagnen nahe gebracht haben.

Was tun?

Insoweit: Ist die Monopolstellung der divibib ein wirkliches Problem? Ja. Ich bin der Überzeugung, dass sie es ist; wie jede Monopolstellung. Das ist nicht gegen die divibib beziehungsweise gegen die ekz direkt gerichtet. Das diese ein Monopol anstreben, ist verständlich. (Obwohl es selbstverständlich widersprüchlich ist, weil es gesamtgesellschaftlich schlecht ist. Aber auf die Gesamtgesellschaft schaut eine Firma notwendigerweise nicht – was Marxistin und Wirtschaftsliberalen gleichwohl nicht überrascht; aber Menschen, die zum Beispiel die Wirtschaft irgendwie moralischer machen wollen, bestimmt ärgert.) Die Situation ist viel gefährlicher für Öffentliche Bibliotheken im deutschsprachigen Raum und vor allem auch schlecht im Sinne der Fortentwicklung von Angeboten im Bereich elektronische Medien, als für die ekz. Wenn man nun schon mal über die Onleihe diskutiert, sollte man auch darüber nachdenken, wie man aus dieser Situation wieder herauskommen kann. (Und wenn die Kolleginnen und Kollegen der divibib udn ekz ordentliche Wirtschaftsliberale sind, was ich nach ihrem Handeln und ihren Verlautbarungen schon vermute, sollten sie das auch unterstützen, weil nichts Innovation und Weiterentwicklung so vorantreibt, wie der Wettbewerb – so zumindest die Theorie. Und was gibt es Interessanteres für eine Firma, als ein Angebot weiterzuentwickeln, an das man glaubt?)

Neues Buch: Bibliotheken erforschen ihren Alltag.

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Wie zu erkennen: Das Cover.

Ein bisschen Eigenwerbung: Dieser Tage erschien – wieder einmal im Simon Verlag – mein neues Buch Bibliotheken erforschen ihren Alltag. Ein Plädoyer.

Was ich mit diesem Buch tun wollte, war sehr einfach: Die Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den deutschspachigen Ländern dazu anzuregen, selber dort zu forschen, wo sie arbeiten; vor allem in den Öffentlichen Bibliotheken. Ich bin der Überzeugung, dass das möglich ist. Forschen ist eine sinnvolle Tätigkeit, die uns mehr über das Funktionieren der Gesellschaft informieren kann. Forschen ist auch eine Tätigkeit, die intellektuell anregt und den Blick schärft. Und vor allem ist Forschung nichts, was nur Menschen an Hochschulen überlassen werden muss.

Zudem gibt es eine gute Anzahl von Beispielen, in denen ausserhalb der etablierten Forschungsinstitutionen geforscht wird und das mit Erfolg, Elan und relevanten Erkenntnisfortschritten, unter anderem in Schulen im deutschsprachigen Raum oder in Bibliotheken des Auslandes, vor allem Kanadas. Alles was ich mit dem Buch tun wollte, war, dass zu zeigen und gleichzeitig denen, die in Bibliotheken arbeiten und sich über bestimmte Dinge wundern (z.B. Warum nutzen gerade diese Menschen unser Bibliothekscafe? Wie funktioniert die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Jugendgruppen bei uns? Welchen Einfluss hat das Wetter wirklich auf die Nutzung unserer Bibliothek?), zu sagen: Untersuch es doch mal. An einem etwas abwegigen Beispiel wird das im Buch mit unterschiedlichen Methoden und Fragestellungen durchgespielt, aber das ist nicht das Wichtige. Wichtig ist, dass ich einmal sagen wollte, dass niemand einen Dr. oder MA vor dem Namen (oder M.A. hinter dem Namen braucht), um sich in die methodische Beantwortung von Fragen im Bezug auf die eigene Bibliotheken zu stürzen. Wozu das führen kann? Zu mehr Wissen über das Funktionieren von Bibliotheken, zu mehr und abgesicherteren Diskussionen im Bibliothekswesen, zu mehr Spass beim Arbeiten in Bibliotheken. So zumindest meine Hoffnung (aber manchmal bin ich auch etwas naiv, ich weiss).

Ich bin dem Verlag tatsächlich dankbar, dass ich dies auch einmal in Buchform tun konnte.

Ein Beispiel der NutzerInnenforschung aus der DDR (1975)

Es gibt die Vorstellung, dass die Hinwendung zu den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer in Bibliotheken ‒ die sich beispielsweise durch die zahllosen unterschiedlichen Umfragen unter ihnen oder auch des Heranziehens ihres (tatsächlichen oder vorgeblichen) Willens bei der Planung von bibliothekarischen Dienstleistungen zeigt ‒ etwas relativ Neues wäre. Bislang hätten die Bibliotheken eher aus sich heraus gelebt, in den letzten Jahren hätten sie sich den Nutzerinnen und Nutzern zugewandt. Zuvor hätte man kaum gewusst, was diese Nutzerinnen und Nutzer eigentlich tun. Deshalb auch gelten Umfragen als modernes Managementinstrument und das Einbeziehen von Jugendlichen bei dem Umgestaltung von Bibliotheken als Innovativ. Nur: Das stimmt so nicht.

Vielleicht kann man heute ‒ aber auch das sollte zuvorderst untersucht werden ‒ von einer neuen Qualität dieser Hinwendung zu den Nutzerinnen und Nutzern gesprochen werden; eventuell ist auch der Diskurs um Transparenz und Partizipation in Bibliotheken relevanter geworden, als er es zuvor war. Aber die Idee, man müsse, um eine Bibliothek sinnvoll zu steuern, wissen, wer die Nutzerinnen und Nutzer sind beziehungsweise was diese wollen, ist schon einige Jahrzehnte immer wieder gedacht und geäussert, zum Teil auch in konkreten Projekten umgesetzt worden.

Die Untersuchung 1970

Ein erstaunliches, weil doch schon älteres und quasi vergessenes Beispiel dafür liefert die Publikation Benutzungsanforderungen an Staatliche Allgemeinbibliotheken.1 Erstaunlich ist diese Untersuchung, weil sie in einem anderen gesellschaftlichen System durchgeführt wurde und dabei selbstverständlich eine andere Terminologie nutzte, auch Rekurs auf einige heute nicht mehr vertretende Ideologeme nimmt, aber so anders als heutige Untersuchungen dann doch nicht ist. Vielmehr: Die Untersuchung wäre, würde sie heute durchführt, immer noch eine erstaunlich umfassende.
Das die Untersuchung durchführende Zentralinstitut für Bibliothekswesen hatte die Aufgabe, in der DDR die Planung des Bibliothekswesens zu ermöglichen, Forschungen im Bereich Bibliotheken durchzuführen und in gewisser Weise das, was heute wohl als Marketing- und Beratungsdienstleistung beschrieben wird, durchzuführen.2 Die in der hier besprochenen Publikation dargestellte Untersuchung war eine dieser Forschungsleistungen.
Aufgabe war, die Anforderungen an die Staatlichen Allgemeinbibliotheken ‒ welche die Aufgaben von Öffentlichen Bibliotheken im Rahmen des staatlich geplanten Bibliothekswesens übernahmen3 ‒ durch die Nutzerinnen und Nutzer zu erfassen und daraus Schritte zur Gestaltung der Bibliotheksarbeit abzuleiten. Diese Schritte waren, ebenso wie die Bibliotheken, immer eingelassen in die Aufgaben, welche den Bibliotheken zugeschrieben wurde. Gleichzeitig ‒ aber dies ist nicht DDR-spezifisch ‒ wurden die Bibliotheken eine grössere Fähigkeit und Aufgabe bei der Lenkung der Leseinteressen von Nutzerinnen und Nutzern als heute zugeschrieben.4 Nicht zuletzt agierten Bibliotheken in der DDR innerhalb einer Zensur- und Verknappungspraxis im Bezug auf Literatur.5 Von einem freien Zugang zu allen Medien konnte gar nicht erst ausgegangen werden.

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Titel

Trotzdem: Grundsätzlich wurde davon ausgegangen, dass die Anforderungen der Nutzenden und die der Gesellschaft sich überschneiden:

“Die gesellschaftlichen Anforderungen drücken sich als Benutzungsanforderungen, als Bedarf an Bibliotheksbenutzung aus, der von konkreten Personen an die Bibliotheken herangetragen wird.

Die Benutzungsanforderungen an StAB [Staatliche Allgemeinbibliotheken, KS] stellen also eine Konkretisierung und in der Mehrzahl der Fälle auch eine Individualisierung der objektiven gesellschaftlichen Anforderungen dar.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Die Definition der “Benutzungsanforderungen” ist relativ umfassend.

”In diesen Ausführungen wird von ‘Benutzungsanforderungen’ gesprochen. Wir verstehen darunter von Benutzern geäußerte Anforderungen, die sich auf die Literatur und ihre Inhalte (Bestand und dessen Zugriffsmöglichkeiten) richten, desgleichen auf Breite und Vielfalt des Angebotes an Dienstleistungen (einschl. der Beschaffung von Literatur aus anderen Bibliothekseinrichtungen); auf gute Erreichbarkeit (ausgebautes Netz und ausreichende Öffnungszeiten); auf Aufenthaltsmöglichkeiten (gut ausgestattete Räume einschl. der Möglichkeiten von Gruppenarbeit und Teilnahme an Veranstaltungen).

Benutzung muß daher in doppeltem Sinne verstanden werden:

– als Aktivität der Bibliotheken, die Benutzung ermöglichen und anbieten;

– als Aktivität der Benutzer, die die Bibliotheken und deren Leistungen benötigen. Die Benutzung von Bibliotheken setzt auf der Grundlage der dargelegten objektiven Anforderungen jeweils die freie Entscheidung der Persönlichkeit voraus.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Eine Grundidee der Arbeit war, dass es “objektive” Gründe für die Nutzung von Literatur beziehungsweise das Interesse an ihr gebe. Diese objektiven Gründe ergaben sich aus der gesellschaftlichen Stellung der jeweiligen Personen. Sicherlich ist der Begriff “objektiv” heute schwierig, wurde damals aber in Übereinstimmung mit dem historischen Materialismus gebildet, der ja von einer direkten Verbindung von gesellschaftlicher Stellung und (notwendiger) Ideologie ausging.

“Ausdrücklich muß betont werden, daß die Untersuchung n i c h t einen Leistungsnachweis anstrebte. Das Angebot der Bibliotheken und die Anforderungen seitens der Bevölkerung werden sich in Wechselwirkung miteinander verändern, und somit werden sich auch einige Proportionen in den Benutzungsergebnissen verändern. Mit wachsendem Angebot werden die Leistungen steigen.

Es geht in dieser Untersuchung um die Beziehungen zwischen Literatur/Benutzung und Literatur/Benutzer sowie Bibliothek/Benutzer. Es handelt sich um eine komplizierte Frage, die nicht durch eine einzige empirische Untersuchung beantwortet werden kann. Er kommt darauf an, jedes Literaturwerk im Lichte seiner spezifischen Benutzung zu sehen und darauf auch effektivere Vermittlungs- und Erschließungsmethoden zu gründen. Mit dieser Forschungsrichtung befinden wir uns in Übereinstimmung mit sowjetischen Fachkollegen, die an einer sozial-psychologisch bestimmten Klassifizierung der Leser arbeiten.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Im Rahmen der Untersuchung wurden nun angestrebt, alle ‒ wirklich alle ‒ Benutzungsfälle in einer Anzahl von Staatlichen Allgemeinbibliotheken zu erfassen. Dies war kein kleines Forschungsprogramm, dass letztlich 1970 ‒ nach einem Testdurchgang in Rathenow 1969 ‒ innerhalb einer April-Woche in Altenburg, Bautzen, Güstrow, Köthen, Malchin, Mühlhausen, Staßfurt, Zittau und Zossen durchgeführt wurde:

“Um Art und gesellschaftliche Herkunft der Anforderungen an Literatur zu ermitteln, wurde bei jedem Entleihungsfall nach dem ‘Benutzungszweck’ gefragt. […]

Der Ordnung der entliehenen Literatur wurde die in den StAB verbindliche Gliederung der Literatur, die Gruppenbildung der ‘Systematik für allgemeinbildende Bibliotheken’ (SAB) zugrundegelegt. Auch für die Erfassung a l l e r Tätigkeiten, die die Benutzer bei ihrem Besuch in der Bibliothek ausübten, wurden entspechende Vorgaben erarbeitet. […]

Um die Verhaltensweise der Benutzergruppen besser kennenzulernen, fragten wir nach einigen Benutzungsgewohnheiten und -bedingungen. (Entfernung von der Bibliothek, Häufigkeit des Bibliotheksbesuches; Benutzung weiterer Bibliotheken; Benutzung des Fernleihverkehrs).” (Waligora & Proll 1975, 11)

Titelseite.
Titelseite.

Ergebnisse der Untersuchung

Die empirische Darstellung der Ergebnisse der einen Untersuchungswoche erfolgt ohne Vergleich (die Bibliotheken wurden zusammengezählt, eine Differenzierung fand nicht statt; ebenso wurde nicht mit der Gesmtbevölkerung der DDR verglichen). Insoweit ist gerade heute deren Aussagekraft gering.6 Tendenziell nutzten auch in der DDR Schülerinnen und Schüler die Bibliotheken mehr als andere Gruppen. So gibt eine Übersicht an, dass von den Nutzerinnen und Nutzern 32,1% “Beruftätige” waren (“Arbeiter und Angestellte” 25,6%, “Genossenschaftsbauern” 0,4%, “Angehörige der Intelligenz” 4,3%, “Handwerker oder Gewerbetreibende” 0,5%, “Sonstige” 1,3%), “In Ausbildung Stehende: 49,3%” (“Studenten” 9,5%, “Lehrlinge” 7,9%, “Schüler 31,9%) und “Nicht Berufstätige: 18,6% (“Hausfrauen” 2,6%, “Rentner, 16,0% (Waligora & Proll 1975, 20f.) Ebenso ist ein “Leseknick” (also ein rabiater Einbruch der Nutzungszahlen in einem bestimmten Alter) festzustellen, allerdings erst nach 25 Jahren (15-18 Jahre: 25,3%, 18-25 Jahre: 20,5%, 25-35 Jahre: 12,0%)
Grundsätzlich spricht die Untersuchung den Bibliotheken eine hohe Leistungsfähigkeit zu:

“- Die StAB erfüllen ihre Aufgabe, sich an alle Bevölkerungsschichten zu wenden. Wenn die jugendlichen Jahrgänge (s. Altersstruktur) zahlenmäßig einen so großen Raum einnehmen, so wird damit eine wichtige Aufgabe unterstrichen. Es handelt sich um die Arbeiterklasse von morgen. Gegenwärtig wird die Arbeit der Bibliotheken durch diese Benutzer sehr geprägt. Neueste repräsentative Zählungen bestätigen die in dieser Untersuchung in Erscheinung getretenen Ergebnisse.

– Die Altersstruktur der Benutzerschaft zeigt bei dem 25. Lebensjahr noch immer die bekannte Zäsur, hier tritt das Absinken auf. Erst bei zunehmendem Alter beginnen die Anteile wieder zu steigen. […]

– Die Zahlenergebnisse nach den Gesichtspunkten der Schulbildung, Fachausbildung und der nebenberuflichen Qualifizierung zeigen, daß die StAB es mit steigenden Ansprüchen zu tun haben, die an alle Mitarbeiter im Bibliothekswesen höhere Ansprüche stellt.” (Waligora & Proll 1975, 26)

Auch die weiteren Zahlen bestätigen grundlegend bekanntes Wissen, beispielsweise, dass mit der Entfernung zur Bibliothek die Nutzung der gleichen sinkt (Höchststand bei 5-15 Minuten Entfernung) oder das die Mehrzahl der Nutzerinnen und Nutzer die Bibliothek normalerweise einmal im Monat nutzt. Interessant ist vielleicht noch, dass nach der Sachgruppe “Philosophie, Religion” (mit 1,9% der Ausleihen) die Sachgruppe “Marxismus-Leninsmus” mit 2,0% der Ausleihe die am zweitseltesten ausgeliehene Nutzungsgruppe bei der Sachliteratur bildete (gefolgt von “Mathematik, Kybernetik” und “Hauswirtschaft” mit jeweils 2,1%). Dies wird berichtet, aber – obgleich dies vielleicht zu erwarten gewesen wäre – nicht weiter kommentiert. “Gewonnen” hatten “Naturwissenschaften” mit 10,4%, “Erd-, Länder- und Völkerkunde, Reisebeschreibungen” mit 12,4% und “Technik” mit 20,5%. Auch in der DDR wurde hauptsächlich Belletristik entliehen (mit 61,8%).
Hervor sticht in der Untersuchung, dass zur Auswertung der Daten eine Methode eingesetzt wurde, die denen der heute gerne empfohlenen “Personas” ähnelt (auch wenn den Personen keine Namen gegebenen wurden). Es wurden insgesamt dreizehn Nutzungsprofile erstellt, denen unterschiedliche Literaturinteressen zugeschrieben und deren Profile dann in der Gesamtnutzerinnenschaft der Bibliotheken verortet wurden (Waligora & Proll 1975, 48-58):

  • “Einfach lesen” (32,1%)

  • “Interesse am Thema” (18,9%)

  • “Interesse am Autor” (11,6%)

  • “Sachinteresse” (9,0%)

  • “Hobby” (7,4%)

  • “Schule” (5,1%)

  • “Interesse an der Literatur des Landes” (3,7%)

  • “Fachschule” (2,7%)

  • “Hochschule” (2,7%)

  • “Berufsausbildung” (2,6%)

  • “Berufsausübung” (1,4%)

  • “laufende berufliche Information” (1,4%)

  • “Gesellschaftliche Tätigkeit” (1,4%)

Des Weiteren wurde zusammengetragen, was die Nutzerinnen und Nutzer eigentlich in der Bibliothek tun. Dabei stellte die Auswahl aus der Freihandausstellung mit 86,7% (der Nutzerinnen und Nutzer bei einem beobachteten Besuch) die Hauptaktivität dar, gefolgt von der Beratung durch Bibliothekarin und Bibliothekar (27,1%) sowie Auskunftserteilung (11,8%). Die Katalogbenutzung lag bei 9,9%. Die Zeitschriftennutzung lag bei insgesamt 12,8% und damit wenig hoch.
Die Zusammenfassung dieser Auswertung liest sich – lässt man die Terminologie fort – wieder recht modern:

“Die Untersuchung hat ergeben, daß die Benutzung in den Räumen der Bibliothek eine zunehmende und bedeutende Rolle spielt. Die Ergebnisse zeigen Tendenzen, aus denen zu ersehen ist, daß die ideologische und wissenschaftliche Wirksamkeit noch zu erhöhen ist. Die Verhaltensweise der einzelnen Benutzergruppen geben dafür aufschlußreiche Anhaltspunkte.

Zurückkommend auf das eingangs zur Rolle und Bedeutung der Bibliotheksbenutzung und der Rolle der Dienstleistungen Gesagte läßt sich unter Stützung auf die Untersuchungsergebnisse feststellen, daß die Wirksamkeit der Dienstleistungen einerseits durch die Aktivitäten der Benutzer bestimmt wird, diese jedoch andererseits durch Vorhandensein und Angebot der Bibliotheken hervorgerufen werden. Das Angebot der Bibliotheken ist die Voraussetzung die Vorgabe. Somit besteht eine Wechselwirkung zwischen beiden Aktivitäten. Die Benutzer bedienen sich dabei in unterschiedlicher Weise der Einrichtung Bibliothek.

Die Inanspruchnahme der Dienstleistungen der Bibliotheken ist an die funktionstüchtige stationäre Bibliothek gebunden. Literaturbeschaffung und Literaturbenutzung kann auch auf anderen Wegen zustandekommen als dem durch die StAB. Je besser aber die StAB mit über die Literaturbeschaffung hinausgehenden Dienstleistungen ausgestattet sind, umso wirkungsvoller wird Bibliotheksbenutzung über die bloße Beschaffung hianus. Die Ergebnisse haben bestätigt, daß sich die Benutzer vielfältig in der Bibliothek betätigen.

Die Benutzergruppe verhalten sich dabei unterschiedlich, sie orientieren sich schwerpunktmäßig auf verschiedene Aktivitäten, vom umfangreichen Entleihen, der Benutzung vieler Dienstleistungen bis zur gezielten Literatur- und Informationssuche. Keine Aktivität ist gegen die andere abzuwerten.” (Waligora & Proll 1975, 119)

“Die Bibliotheken entwickeln sich immer mehr vom bloßen Ausleihzentrum zum geistig kulturellen Zentrum. Das zunehmende Bedürfnis, sich in den Räumen der Bibliothek länger aufzuhalten, muß als ein wichtiger Hinweis betrachtet werden. Ausreichende und ansprechende Bibliotheksräume sind dazu notwendig. Der Raumbedarf der Bibliotheken darf nicht nur bemessen werden nach der Stellfläche für Bücher, sondern nach den Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten für Benutzer.” (Waligora & Proll 1975, 127)

Heute

Die Untersuchung des Zentralinstituts hat heute in den Zahlen gewiss nur noch historischen Wert. Sie wurde für Bibliotheken in einem anderen gesellschaftlichen System, in einem nicht mehr existierenden Staat und zudem vor Jahrzehnten durchgeführt. Erstaunlich ist vielleicht, wie wenig das, was man heute über die DDR weiss (vor allem die Zensur und politische Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Systemen) in der Studie selber vorkommt.
Interessant scheint mir, wie viel von dem, was man heute als moderne Nutzerinnen- und Nutzerforschung beschreiben könnte, selbst das, was heute den Bibliotheken immer wieder als neues Paradigmen vorgeschlagen wird, in der Studie ‒ wenn auch teilweise in anderer Terminologie ‒ vorkommt. Grundsätzlich liesse sich die Studie, wieder mit anderer Terminologie und leicht verschobenen Fragestellungen ‒ beispielsweise anderen Gruppen, die Unterteilung in Intelligenz oder Genossenschaftsbauern interessiert zum Beispiel aktuell weniger ‒ heute ähnlich wiederholen. (Dabei muss man bedenken, dass die Studie gewiss keine Einzelerscheinung war, sondern aus einer weiteren Forschungspraxis entstanden sein wird.)
Ist das erstaunlich? Nicht wirklich, die Fragen haben sich so gross nicht geändert. Zu erwähnen ist selbstverständlich, dass es offenbar immer wieder eine Abgrenzung zu einem “Früher” gibt. Nur: Wann und wo war dieses Früher eigentlich genau? Wenn in den 70er Jahren gesagt wird, die Bibliotheken würden heute zum Arbeitsraum und wären nicht mehr nur Ausleihzentrum und in den 2010er Jahren ebenso, ist irgendetwas komisch. Hier scheint es weniger um eine wirkliche Bibliotheksgeschichte zu gehen, sondern mehr um ein Selbstbild der Bibliothek.
Mir ist die Publikation eher zufällig in die Hand gefallen und ich wollte hier nur mein Erstaunen mitteilen.

 

Fussnoten

1 Waligora, Johanna ; Proll, Rotraud (1975) / Benutzungsanforderungen an Staatliche Allgemeinbibliotheken : Untersuchungsergebnisse aus ausgewählten Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik (Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit ; 19). Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen,1975.

2 Eine weit kritischere, gleichwohl polemische Darstellung des Zentralinstituts findet sich im letzten Kapitel bei Rothbart, Otto-Rudolf (2002) / Deutsche Büchereizentralen als bibliothekarische Dienstleistungsinstanz : Gestaltung und Entwicklung von Zentraleinrichtungen im gesamtstaatlichen Gefüge (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München ; 69). Wiesbaden : Harrassowitz, 2002.

3 Oder im Jargon der DDR: “Bedeutende Veränderungen vollzogen sich am Ende der 60er Jahre in der Arbeit der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken. Um die Versorgung der am Ort tätigen wissenschaftlichen Kader mitzuübernehmen, mußten sie in breitem Maße wissenschaftliche und Spezialliteratur in ihre Bestände aufnehmen. Zur Unterstützung der sozialistischen Bewußtseinsbildung, der sozialistischen Allgemeinbildung und der Aus- und Weiterbildung war es erforderlich, Informationsbestände aufzubauen und eine große Palette von Fachzeitschriften bereitzuhalten. Neue Medien (auditive, visuelle und audiovisuelle Mittel) fanden als Bestandseinheiten Eingang in die Bibliotheken. War mit den vorhanden Literaturfonds einerseits die niveauvoll Unterhaltung und schöpferische Freizeitgestaltung der Bevölkerung zu fördern, so mußte andererseits die auf das Territorium bezogene regionalkundliche Literatur ‒ unter Einschluß von Veröffentlichungen der örtlichen Organe und Einrichtungen ‒ gesammelt, erschlossen und archiviert werden. (…)

[Somit, KS] stellen die staatlichen Allgemeinbibliotheken den territorial wirksam werdenden Teilbereich des Bibliothekssystems der DDR dar. […] Der mit der 5. DB [Durchführungsbestimmung, KS] der BVO [Bibliotheksverordnung, KS] konstituierte Typ der staatlichen Allgemeinbibliothek erwuchs aus den allgemeinen öffentlichen Bibliotheken der 60er Jahre und knüpfte an die progressiven Traditionen dieser Einrichtungen an. Denn die wesenseigenen Merkmal dieses Bibliothekstyps, die umfassende Verbreitung belletristischer und künstlerischer Literatur, die Propagierung gesellschaftswissenschaftlicher und Fachliteratur sowie die Literaturbetreuung von Kindern und Jugendlichen, blieben erhalten.” Marks, Erwin (1987) / Die Entwicklung des Bibliothekswesens der DDR (Zentralblatt für Bibliothekswesen ; Beiheft 94). Leipzig : VEB Bibliographisches Institut, 1987, S.177f.

4 Nicht umsonst veröffentlichte das Zentralinstitut zahlreiche Materialien zur Einführung unterschiedlicher Nutzerinnen- und Nutzergruppen in die Bibliothek. Es wurde einfach davon ausgegangen, dass eine gute Bibliothek die Nutzerinnen und Nutzer lenkt. Vgl. als einer der letzten dieser Publikationen Rossoll, Erika (1989) / Zum Verhalten der Benutzer bei der Literaturauswahl : Untersuchungsergebnisse aus staatlichen Allgemeinbibliotheken (Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit ; 47). Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1989

5 Emmerich, Wolfgang (2007). Kleine Literaturgeschichte der DDR. Neuauflage. Berlin : Aufbau Verlag, 2007.

6 Das Statistische Jahrbuch der DDR ist zwar bei DigiZeitschriften vollständig digitalisiert, gibt aber nur zu einigen der erhobenen Kriterien Auskunft.

Noch ein bibliothekshistorisches Schmankerl: Übergelassene Elemente eines alten Bestandsmanagementsystems. (In vielen Medien aus den Magazinen der ETH Zürich zu finden.)
Noch ein bibliothekshistorisches Schmankerl: Übergelassene Elemente eines alten Bestandsmanagementsystems. (In vielen Medien aus den Magazinen der ETH Zürich zu finden.)