Wie nehmen Kinder Museen wahr – aber vor allem: Kann daraus etwas für Bibliotheken abgeleitet werden?

«Working with Young Children in Museums» (Hackett, Holmes & MacRae 2020) ist, offensichtlich, kein Buch über Bibliotheken. Aber ich denke, dass auch diese etwas aus ihm lernen können, deswegen möchte ich dazu ein paar kurze Anmerkungen machen. So unterschiedlich sind Museen und Bibliotheken nicht, als das nicht auch gegenseitig gelernt werden könnte.

Grundsätzlich ist die Frage im Buch, was Kinder – hier zwischen 0 und 4, 5 Jahren – in Museen machen. Dabei stellen die meisten Beiträge einzelne Aktionen und Untersuchungen in Museen (hauptsächlich in Grossbritannien, aber auch Australien und anderen Ländern) vor. Gerahmt ist es von Beiträgen, die eine theoretische Perspektive liefern wollen. Aus diesen rahmenden Beiträgen lässt sich wohl mehr für Bibliotheken lernen, als aus den Beispielen selber.

Dabei ist die Theorie einigermassen offen, eher suchend. Es werden sehr verschiedene theoretische Ansätze herangezogen, die zur Erklärung von Beobachtungen in Museen herangezogen werden, aber es werden daraus kaum Konsequenzen gezogen. Teilweise liest sich das, als würden hier möglichst viele theoretische Versatzstücke ausprobiert, ohne sich festlegen zu wollen. (Beispielsweise ist am Ende nicht klar, welche Theorie möglichst viel erklärt und damit dann zur weiteren Arbeit genutzt werden sollte.) Oder positiver ausgedrückt: Die Autor*innen legen sich nicht auf eine Theorie fest, sondern bieten – ungeplant – einen Überblick möglicher theoretischer Ansätze. Was sich damit zeigt ist, dass sich Praxis mit Theorie tatsächlich besser verstehen lässt als ohne.

Dinge, Räume, Zeit

Der interessante Ansatz des Buches ist, sich explizit dagegen zu stellen, die Besuche von Kindern als Lernen verstehen zu wollen. Zu oft würden Museen ihre Aktivitäten unter dem Fokus untersuchen, was die Besucher*innen lernen würden und nach Evidenzen für eine direkten Einfluss der Museumsbesuche auf diese fragen. Dieser Blickwinkel würde andere Formen von Interaktion, Verstehen von Objekten und Sammlungen sowie anderen Gründen für den Besuch von Museen ausschliessen. Kinder (und deren Begleitpersonen) gehen nicht immer – oder nie – in Museen, um dabei etwas zu lernen. Ihr Leben besteht aus weit mehr.

Dabei kommt dieser Blick auf Aktivitäten in Museen als «Lernen» selbstverständlich nicht von ungefähr: Museen fragen sich ständig, was ihre Aufgabe/n wäre/n. Inhalte vermitteln – wenn auch nicht immer direkt wie im Schulunterricht, sondern oft indirekt und durch die Besucher*innen selbst gesteuert – ist dabei eine der Sachen, auf die dabei immer wieder verwiesen wird. Aber: Gerade wenn man verstehen will, was Kinder im so jungen Alter – also noch vor dem Schulbesuch – machen, sei dies unbefriedigend. Stattdessen schlagen die Herausgeberinnen vor, deren Musemsbesuche aus drei Blickwinkeln zu untersuchen: Dinge (also die Interaktion von Kindern mit Dingen wie Ausstellungsgegenständen oder für Kinder bereitgestellte Objekte zum Spielen und Erkunden), Räume (also die Räume von Museen als spezielle Orte, die erkundet, interpretiert, genutzt und deren «Spielregeln» kennengelernt, aber auch verändert werden können) und Zeit (also sowohl den Aufbau von Vertrautheit mit Museen als Orte und Institutionen über die Zeit als auch temporär wichtige Momente wie die ersten Besuche). Diese Dreiheit – Dingen, Räume, Zeit – würde besser verständlich machen, was Kinder in Museen machen, als die Versuche zu bestimmen, was diese dabei gelernt hätten oder welche Einfluss diese Besuche für sie über einen längeren Zeitraum haben.

Ergebnisse

Die Beispiele, welche sich im Buch in den «praktischen» Beiträgen finden zeigen unter anderem Folgendes:

  • Kinder, auch im jungen Alter, geben den Objekten, die sie vorfinden, immer wieder eigene Bedeutungen. Es findet nicht unbedingt – wie dies in der Museumspädagogik vorgesehen wäre – die «richtige» Einordnung in den jeweiligen Kontext statt. Aber es ist unvermeidbar, dass Kinder ihre eigenen Interpretationen vornehmen, die zum Teil gegen die Vorannahmen der Museen stehen. (Gleichzeitig ist es unterschiedlich, wie die Begleitpersonen der Kinder darauf reagieren. Viele in den Beiträgen erwähnten unterstützen diese Selbsterkundungsprozesse der Kinder, aber andere versuchen, den «vorgegebenen» Pfaden des Museums zu folgen und den Sinn der jeweils vorhandenen Objekte «richtig» zu vermitteln.)
  • Kinder erleben den Raum und die Objekte nicht nur intellektuell im Sinne von «Begreifen durch Sehen und Erklärt kriegen», sondern auch körperlich, indem sie anfassen, verändern, selber etwas herstellen, durch Räume gehen oder rennen. Das mag auf den ersten Blick nicht überraschend sein, weil es sich um sehr junge Kinder handelt. Aber es deutet darauf hin, dass auch Personen, wenn sie älter sind als die in diesem Buch untersuchten Kinder, sich Museen nicht einfach nur intellektuell erschliessen.
  • Auffällig ist bei den Beiträgen auch, dass Lernen als Aktivität praktisch bei niemand im Mittelpunkt stand, ausser bei einigen Museen selber. Dies kann teilweise mit der Auswahl der Beiträge – die alle mehr oder minder in die theoretischen Vorannahmen der Herausgeberinnen passten – erklärt werden. Mit einer anderen Auswahl hätte man vielleicht mehr Personen gefunden, die das Lernen betonen. Aber trotzdem ist auffällig, wie viele Personen das Thema irrelevant zu finden scheinen. Das ganze Buch ist getragen von einem Gestus, dass jeder Grund für einen Museumsbesuch okay wäre und nicht explizit danach gefragt werden müsse, warum Kinder und ihre Begleitpersonen sich für einen solchen entscheiden, insoweit scheint ein Offenheit für ganz unterschiedliche Gründe zu existieren – aber sichtbar ist bei den Beschreibungen dessen, was dann getan wurde, dass es ihnen oft mehr um Unterhaltung, Entdecken oder Zeit verbringen, als um anderes.
  • Repetition ermöglicht das Entstehen von Communities, nicht einzelne Veranstaltungen oder Räume. Regelmässige Veranstaltungen / Veranstaltungsreihen, die für Kinder und ihre Begleitpersonen immer wieder Gründe dafür schufen, ein Museum zu besuchen, führten dazu, dass sich Gruppen bildeten.
  • Als Nebenthema zu bemerken ist, dass ein Grossteil der Beiträge Berichte zu Studien darstellen, welche in Museen selber vom dortigen Personal durchgeführt wurden, oft mit ethnologischen Methoden (zum Beispiel wurden offenbar unzählig viele Feldnotizen erstellt und anschliessend ausgewertet). Dies wird auch nicht weiter begründet, sondern scheint zur professionellen Museumsarbeit dazuzugehören.

Für Bibliotheken

Diese kurzen Notizen sollen selbstverständlich nicht das Lesen des – an sich auch sehr kurzen – Buches ersetzen. Mir ging nur darum das kurz zu schildern, um jetzt darauf eingehen zu können, was Bibliotheken aus diesem Lernen können.

  • Zuerst vor allem, dass ein Blickwinkel auf Einrichtungen wie Museen und – übertragen – dann auch Bibliotheken nicht ausreichend ist. Die ständige Suche nach «Evidenzen für Wirkungen» zeichnet nicht nur Museen aus, sondern auch Bibliotheken. Ebenso kommen – bei allen Versuchen, die eigene Bedeutung auszuweiten und neue Themen oder Aufgaben zu finden – auch Bibliotheken immer wieder auf das Lernen oder die «Bildungsfunktion» zurück. «Lernen» ist aber wohl nicht der einzige Grund, warum Menschen Bibliotheken benutzen; andere Rahmungen sind möglich und versprechen, mehr zu erklären. (Und: Wenn sie mehr erklären, dann auch besser zur Planung von bibliothekarischer Arbeit benutzt werden zu können.) Es muss nicht unbedingt die Dreiheit Dinge – Räume – Zeit sein, wie in diesem Buch (wie gesagt erscheint die Theorie eher suchend und offen zu sein) und es muss nicht nur über ganz junge Kinder nachgedacht werden (obwohl dieses Nachdenken in diesem Buch produktiv war). Sinnvoll ist es offenbar, nicht (nur) nach Effekten zu suchen, sondern auch danach zu fragen, was Kinder (oder andere Menschen) in der Bibliothek überhaupt tun – nicht, was sie der Meinung der Bibliotheken nach dort tun sollten, sondern was sie tatsächlich machen und warum.
  • Wenn Kinder Objekten und Räumen von Museen immer eigene Bedeutungen zuschreiben (und auch der jeweiligen Einrichtung), dann wird dies auch für Bibliotheken und den Objekten in ihnen gelten, also vor allem den Medien. [Mir fällt dazu eine Bachelorarbeit ein, die ich an der HTW Chur betreute, in der sich zeigte, dass Kindern egal war, welche Bilderbücher in einer Bibliothek standen, solange es nur welche gab. Nicht der Inhalt der Bücher interessierte sie, sondern der gemeinsame Besuch mit ihren Betreuungspersonen, zu der die Bücher als Objekte gehörten.] Bibliotheken denken gerne über den Inhalt der Medien und aktuell über solche kaum fassbaren Dinge wie «Aufenthaltsqualität» nach, so wie Museen auch ständig über ihre Objekte und Räume nachdenken – aber das mag nicht das sein, wie Menschen Bibliotheken sehen und verstehen. Es lohnt sich, sich auf die Blickwinkel der Nutzer*innen einzulassen.
  • Was auffällt, wenn man darüber nachdenkt, ist, dass nicht so einfach zu bestimmen ist, was Bibliotheken eigentlich als «Effekte» von neuen Angeboten – nehmen wir einfach die «3. Orte» und Makerspaces – annehmen? Was denken sie, was Menschen damit / darin machen werden und warum? Vielleicht ist auch diese Offenheit ein Grund, warum nie ganz klar wird, was diese Bemühungen genau bringen sollen.
  • Gleichzeitig zeigen die Museen in diesem Buch, dass es zur normalen professionellen Arbeit gehören kann, in den Institutionen eigene Forschungsprojekte dazu durchzuführen, wie die Einrichtung genutzt wird. In Bibliotheken passiert dies nur in einigen sehr grossen, aber es könnte offenbar weiter verbreitet sein.

Literatur

Hackett, Abigail ; Holmes, Rachel ; MacRae Christina (edit.) (2020). Working with Young Children in Museums: Weaving Theory and Practice. (Global Perspectives on Children in Museums). London ; New York: Routledge, 2020

Zur Museumspädagogik als Vorbild (oder nicht) für Bibliotheken

Auf dem Deutschen Bibliothekstag in Hamburg stellte Bernd Schmid-Ruhe, Leiter der Stadtbibliothek Mannheim, unter anderem die These auf, dass Bibliothekspädagogik nicht wie Museumspädagogik (im Sinne der Lehre von der Vermittlung des Sammlungsgutes) funktionieren könnte. Ich habe dem auf der Veranstaltung widersprochen. Für mich ist die moderne Museumspädagogik ein gutes Vorbild für Bibliotheken. Aber ich vermute, dass die Differenz auch darin besteht, dass wir unterschiedliche Sachen meinten.

In Villach – der kärntnerischen Stadt, in welcher gerade der Österreichische Bibliothekskongress stattfand (so schliesst sich der Kreis gleich wieder) – findet sich das Museum der Stadt Villach, welches diese Differenz geradezu verkörpert. Es gibt dort eine Dauerausstellung, die sehr traditionell gehalten ist und so aussieht, als sei sie spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr geändert worden und eine Wechselausstellung – zur Zeit zur Geschichte des Adriaurlaubs – welche den Grundzügen der modernen Museumspädagogik folgt. An diesem Beispiele würde ich gerne kurz den Unterschied darstellen.

Grundsätzlich ist die „alte“ Museumspädagogik tatsächlich wenig als Vorbild geeignet, während die „neue“ sich einer Aufgabe annimmt, der sich auch Bibliotheken stellen müssen, nämlich Informationen an Personen zu bringen, die sich dafür selber interessieren müssen und sich lieber nicht reinreden lassen wollen.

Der Paracelsusraum: Alte Museumspädagogik

Beginnt man zum Beispiel im Erdgeschoss den Rundgang durch die ständige Ausstellung, steht man direkt im Paracelsus-Raum. Warum gibt es einen Paracelsus-Raum in Villach? Wer oder was war Paracelsus? Das verrät einem niemand. Es wird in gewissem Masse einfach vorausgesetzt, als würde es zum allgemeinen Wissen gehören. Das ist in Museum mit älteren Ausstellungen öfter zu sehen: Es wird einfach ein sehr hoher Wissensstand, der zudem auch noch bei allen, die ein Museum besuchen, ähnlich sein soll, vorausgesetzt. Das Museum gilt als Illustration von Geschichte, aber die Geschichte selber wird kaum erzählt.

Die Auflösung übrigens: Paracelsus – das mag vielleicht noch bekannt sein – war einer der einflussreichsten Ärzte am Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Er ist mit seinem Wirken dafür mit verantwortlich, dass die Medizin sich den wissenschaftlichen Methoden zu wandte. Selbstverständlich war er das nicht alleine, aber späterhin wurde er zu einem der „grossen Männer“ erklärt, um den sich dann Legenden rankten. Grosse Teile seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in Villach. Insoweit ist der Raum zu erklären. Aber man muss das erst indirekt herausfinden, an einer Wand, wo die wichtigen Städte Paracelsus‘ Leben abgebildet sind.

Der Raum selber ist eher vollgestellt mit Zeugnissen, die irgendetwas mit Paracelsus oder den Legenden um ihn zu tun haben, als das es eine wirklich Konzeption zu geben scheint. Bilder, Bücher, die zerbrochene Platte eines Steintisches, der angeblich einstmals Paracelsus gehört haben soll – obgleich man weiss, das er das nicht tat. Gerade aus dieser Platte hätte man ein interessantes, mehrschichtiges Museumsobjekt machen können: ein Tisch, der nicht Paracelsus gehörte, aber lange als seiner galt und also als sichtbarer Beweis für eine Geschichte herhalten musste, gleichzeitig ein Symbol, wie sich der historische Paracelsus und der mythische zu einer Erzählung verbanden – zumal Paracelsus in Villach nie Arzt war, also auch der Tisch keiner hätte sein können, an er irgendwelche seiner Schriften verfasst hätte – und zum Teil auch ein Objekt österreichischer (und deutscher) Geschichte, ist doch die Platte zerborsten, als die Alliierten Villach bombadierten, um die dortigen Nazis zu besiegen. Die Platte zerbirst also in einer Zeit, wo Heldenmythen, auch die um Paracelsus, völkisch aufgeladen wurden (wobei Paracelsus by the way von Geburt Eidgenosse war, was seine damalige Bezeichung als Deutscher Arzt noch interessanter macht). Eine letzte Ebene wäre dann die Verwendung der Platte im Museum selber, wo sie irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg hingebracht wurde, praktisch unkommentiert. Eine moderne Museumspädagogik würde versuchen, solche Ebenen sichtbar zu machen. Die alte Museumspädagogik geht hingegen davon aus, dass es reicht, den Zusammenhang einfach räumlich herzustellen und darauf zu vertrauen, dass schon alle gebildeten Leute wissen, wer Paracelsus war und was er mit Villach zu tun hatte. Es geht in gewisser Weise nicht um das Lernen, sondern „nur“ um das Erkennen.i

Der Rest der Ausstellung ist ähnlich. Es werden vor allem Objekte präsentiert, die thematisch in einem Raum zusammengehören, aber es wird nicht mehr viel erklärt. Warum sind die Objekte hier? Wie ist ihr Zusammenhang? Das muss man raten. Zur Geschichte der Stadt Villach – die schon ihre interessanten Seiten hätte, so an der Grenze zwischen deutschem / kroatischem / slowenischem und italienischem Sprachraum und beispielsweise als Hauptstadt von Französisch-Kärnten zu Napoleons Zeiten – lernt man so gut wie nichts. Man weiss nachher, dass die Römer da waren, was aber auf der Südseite der Alpen nicht überraschend ist. Zudem weiss man vielleicht noch, dass Villach einst dem Bischof von Bamberg gehörte; aber viel mehr auch nicht. Es geht nicht um den Erkenntnisgewinn oder um die Frage, wie die Besucherinnen und Besucher irgendetwas „mitnehmen“. Es geht, wenn überhaupt, darum, zu bestimmen, welche Teile des Bestandes ausgestellt werden sollen und in welchen Räumen.

(Irritierend ist auch, dass alle Beschriftungen per Hand vorgenommen sind, aber in unterschiedlichen Schriften, was den Eindruck verstärkt, dass sie zu unterschiedlichen, gleichwohl allesamt vergangenen Zeiten angebracht wurden.)

Geschichte des Adriaurlaubs

Auf der gleichen Etage wie der Paracelsusraum, einfach kurz über den Hof, findet aktuell die Ausstellung zum Adriaurlaub statt. Diese ist erstaunlich modern.ii

Wenn man von Villach in Richtung Süden fährt, ist man in einigen Kilometern in Italien und kurz danach auch schon an der Adria. Oder aber man biegt etwas ab, dann ist man nach einigen Kilometern in Kroatien (und früher halt Jugoslawien) und auch dort bald am Meer. Gleichzeitig war früher, vor dem ersten Weltkrieg, Villach der Durchgang zur „österreichischen Adria“. Insoweit ist die Ausstellung vollkommen passend. Geht man in den ersten Raum, merkt man sofort einen Unterschied zur ständigen Ausstellung. Nicht nur, dass alles viel neuer ist, es ist auch gänzlich anders konzipiert.

Geprägt wird der Raum durch helle Säulen, vielleicht zwei Meter hoch, an einer Seite rund 70 Zentimeter breit, an der anderen vielleicht 20. Die Säulen sind thematisch angelegt. Ein Symbolbild auf der Rückseite, vorne, auf der breiten Seite (zumeist) eine Geschichte zum Thema, oft über eine spezifische Familie, die dann und dann an der Adria Urlaub machte oder über ein Hotel, dass dann und dann an der Adria existierte. Hier wird viel mit persönlichen Dokumenten (Photos, Briefe, Journale) gearbeitet. Auf der schmalen Seite dann jeweils ein längerer Text, der das Thema als historischen Überblick darstellt. Hier gibt es keine individuellen Erlebnisse zu berichten, sondern Fakten, Daten und so weiter. An den Wänden finden sich noch mehr Texte, die dann oft Individuelles und Geschichte verbinden; zudem viele Objekte, die ein Thema illustrieren, beispielsweise in der Sektion über das Italienbild der Österreicherinnen und Österreicher in den 1950er und 1960er Jahre, viele unglaublich peinliche Filmprogramme und Romanheftchen mit feschen italienischen Liebhabern und hübschen österreichischen Frauen.

Zwischendrin finden sich Videoobjekte. Sowohl die Dokumentation einer Hochzeitsfahrt in den 1920ern zur Adria als auch künstlerischen Annäherungen an das Italien- und Österreichbild und zum Thema Grenze.

Die Ausstellung selber ist chronologisch aufgestellt, beginnt also mit der touristischen Erschliessung der Adria und endet in der Jetztzeit.iii Aber es gibt keine Zwang, den ganzen Weg abzugehen. Niemand muss alles lesen, niemand muss mit viel Vorwissen in die Ausstellung gehen. Die Texte in der Ausstellung sind jeweils in sich abgeschlossen, sie liefern praktische alle Informationen, die man zu ihrem Verständnis benötigt, gleich mit. Man kann zwischen ihnen springen, man kann auch den jeweils für sich passenden Zugang wählen: Erst die Geschichte eines Reisenden Ende des 19. Jahrhunderts anschauen, dann den dazugehörigen Text? Nur die dazugehörigen Texte, weil der biographische Zugang nicht so richtig funktioniert? Nur die Geschichten? Alles möglich. Man kann sich vor die Videos platzieren und die Kopfhörer aufsetzen – oder auch nicht.

Die Ausstellung ist ein Angebot, oder vielmehr eine Sammlung von aufeinander bezogenen Angeboten, die den Besucherinnen und Besucher ermöglicht, den eigenen Lern- und Erkenntnisprozess zu wählen – wenn sie denn wollen. Sie werden ernst genommen und es wird etwas Neues erzählt, nicht einfach nur vorgeblich Bekanntes illustriert. Auffällig ist auch, dass die Ausstellung mehrfach versucht, Denkanregungen zu geben. Sie bewertet beispielsweise den Grenzverkehr zu den billigeren italienischen Märkten seit den 1950er Jahren nicht, stellt aber alle wichtigen Argumente und Entwicklungen dar. Gleichzeitig setzt sie wenig voraus, hat also zumindest die Möglichkeit, auch Menschen anzusprechen, die nicht mit dem „nötigen Vorwissen“ in das Museum kommen.

Bibliotheken

Ich sagte am Anfang, dass sich die moderne Museumspädagogik als Vorbild für Bibliotheken eignet, während die „alte“ dies nicht tut. An dieser Stelle hier sei das noch einmal kurz ausgeführt:

  • Die alte Museumspädagogik setzt unheimlich viel voraus, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein. Das Gegenbild in Bibliotheken sind solche Einrichtungen, die per se voraussetzen, dass die Nutzerinnen und Nutzer verstehen, wie Bibliotheken funktionieren, wie die Aufstellung organisiert ist, dass es ein Fernleihsystem gibt et cetera, einfach weil genügend gebildete Menschen das einfach wissen. (Beziehungsweise auch oft, weil sie nicht mehr darüber nachdenken, was ihnen selbstverständlich erscheint, aber anderen nicht.) Das funktioniert bei denen, welche dieses Wissen tatsächlich haben; aber nicht weiter.
  • Die moderne Museumspädagogik versucht, die Nutzerinnen und Nutzer möglichst zu ermächtigen: Sie werden zu eigenen Entscheidungen motiviert, ihnen werden verschiedenste Wege durch die Ausstellung (und damit auch Lernwege) zugestanden. Sie werden ernst genommen. Das Gegenbild für Bibliotheken wäre ähnlich: Die Nutzerinnen und Nutzer zu unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten der Bibliothek und des Bestandes ermächtigen, ihnen zugestehen, dass sie das selber wählen, aber sie dabei auch immer wieder unterstützen ihre Entscheidungen umzusetzen. Zudem: Immer wieder unterschiedliche Angebote machen. Die moderne Museumspädagogik zeigt, dass die auch durch eine intelligente Nutzung des Raumes geschieht, auch davon könnten Bibliotheken lernen.
  • Die alte Museumspädagogik stellt die Sammlung in den Mittelpunkt und tendenziell eine Interpretation, die moderne eher die möglichen Sichtweisen auf Sammlungen und die Nutzung durch die Besuchenden. Auch das ist für Bibliotheken eine Lernmöglichkeit. Es gab – und vielleicht gibt es sie auch noch – Bibliothek, für welche die Sammlung selber wichtiger war, als anderes. Eine moderne Bibliothek aber – die dann, wenn wir eine Parallele zum Museum ziehen, zumeist mehr besucht wird und interessanter ist – fragt sich eher danach, wie Nutzerinnen und Nutzer bestimmte Medien nutzen können (nicht unbedingt sollen) und versucht, sich daran zu orientieren.

Das ist alles etwas oberflächlich. Aber ich wollte hier nur einmal (noch einmal) dafür argumentieren, dass sich Bibliotheken, die sich damit beschäftigen wollen, wie sie Bildungsangebote entwerfen und durchführen können, die Literatur und Debatten zur aktuellen Museumspädagogik wahrnehmen sollten. Die Museen sind, wenn sie modern sind, nicht mehr die verstaubten Kammern des Wissens. In Villach kann man (noch?) direkt nebeneinander gestellt sehen, wie unterschiedlich die traditionellen und modernen Ansätze von Museumspädagogik sind, wenn sie umgesetzt werden.

 

Fussnoten

i Eine Sache noch, die viele Vorurteile über Österreich zu bestätigen scheint: Gleich das erste Objekt im Raum ist eine Relief von Paracelsus, welches von einem Bildhauer gefertigt wurde, der – zu die Beschreibung – „auch in der NS-Zeit viel beschäftigt war“. Das steht da einfach so, ohne das klar wird, ob das jetzt eine kritische Distanzierung sein soll – warum dann überhaupt das Relief aufhängen? – oder zu einer kritischen Analyse des – ehrlich gesagt eher langweiligen – Reliefs anregen? Oder ist das etwas, was man in Kärnten einfach so sagt, ohne dass daraus irgendetwas folgt?

ii Sie ist auch weit kritischer, als die kurze Erwähnung, dass jemand „auch in der NS-Zeit viel beschäftigt war“. Vielmehr wird die Einbindung des Urlaubs in das NS-System, insbesondere durch die Organisation „Kraft durch Freude“ und deren italienischem Vorbild, umfassend und in seinen Widersprüchen thematisiert – nicht vollständig, aber doch weit klarer. Die Entscheidung über die moralische Deutung müssen die Nutzerinnen und Nutzer treffen. Aber genau darum geht es ja: Nicht Meinungen vorgeben, sondern Strukturen, Fakten und Widersprüche in einer Form darstellen, die zum Weiterdenken anregt. (Nicht irgendwie voraussetzen, dass die Leute schon richtig mit dem Hinweis auf die Tätigkeit im NS umgehen werden.)

iii Dabei gäbe es auch etwas für den Teil des schweizerischen Einzelhandels zu lernen, der sich Sorgen um die Tendenz zum Kaufen auf der anderen Seite der Grenze macht: Es geht nicht zu verhindern. Aus der österreichische Einzelhandel hatte damit zu kämpfen, dass das Einkaufen in Italien und späterhin Jugoslawien billiger war. Die Kampagnen und Argumente, die damals aufgefahren wurden, sind quasi die gleichen, wie heute in der Schweiz. Die gleichen absurden Tüten, mit denen Kundinnen und Kunden verkünden sollen, dass sie lieber daheim einkaufen, gab es damals schon – nur halt in rot-weiss-rot, nicht in rot mit weissem Kreuz. Und „verschwunden“ ist das „Problem“ erst mit der Anpassung der Lebensverhältnisse und Preise.