Forschung und Öffentliche Bibliotheken: (aktuell) halt eine strukturelle Unmöglichkeit

Diese Woche, am 04.12.2018, fand in Berlin eine Podiumsdiskussion zu Forschung und Öffentliche Bibliotheken statt (und gleich daran eine zu Ausbildung und Öffentliche Bibliotheken, mich interessiert aber erste). Die Diskussion ist aufgezeichnet und gleichzeitig publiziert worden, für die, die es interessiert: https://www.youtube.com/watch?v=0u3Q_dM5WTc&feature=youtu.be

Ich bin recht dankbar, bei dieser Diskussion als Teilnehmer auf dem Podium gesessen zu haben, den das gab mir im Vorfeld die Möglichkeit, mir einmal genauer über einige Sachen, die mir einfach mehr und mehr komisch vorkommen, Gedanken zu machen. [Ich bin halt im deutschsprachigen Raum einer der wenigen auf der „Forschungs-Seite‟ – und das auch schon viel länger, als mir gut tut. Wichtig ist mir schon zu betonen: Das, was ich da auf dem Podium gesagt habe, und das, was ich jetzt hier im Beitrag sagen werde, ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern basiert schon auf meinen Erfahrungen mit Forschung und Bibliothekspraxis.]

Meine Hauptaussage, nach dem Nachdenken, war und ist folgende: Öffentliche Bibliotheken sind strukturell nicht darauf eingestellt, Wissen aus der Forschung wahrzunehmen und zu nutzen. Das klingt vielleicht (offenbar) wie ein Vorwurf, aber es ist eine Situationsbeschreibung. Die Personen aus der Forschung, die bei der Diskussion anwesend waren, konnten dem Einiges abgewinnen. Wir wissen alle von zahlreichen Abschlussarbeiten zu Öffentlichen Bibliotheken, die nicht wahrgenommen werden; von Rückmeldungen „zu viel Theorie, zu wenig Praxis‟ in Weiterbildung bei gleichzeitigen Vorstellungen aus der Praxis, was die Forschung alles liefern sollte. Vieles von dem, was ich dazu Erstmal sagen wollte, habe ich an diesem Nachmittag gesagt.

Aber es gab im Nachhinein eine Kritik und auf der Bühne eine… well, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, Diffamierung, auf die ich antworten möchte – weil sie mich ehrlich gesagt nerven. Mir ist schon klar: Eine Podiumsdiskussion ist eine kurze Sache, insbesondere wenn man sich (als Vertreter der Praxis) angegriffen fühlt – auch wenn es, wie gesagt, darum gar nicht ging. Man sagt Dinge eher im Affekt. Trotzdem. Wenn es darum geht, dass die Situation zwischen Forschung auf der einen und Praxis auf der anderen Seite verstanden werden soll (damit sie veränderbar wird – weil wie soll sie sich sonst verändern, wenn sie [wie ich auf dem Podium auch sagte, aber vielleicht ist das untergegangen] praktisch schon Anfang der 1970er in ähnlicher Form gesagt wurde), sollte man solche Kritik klären.

1. „Das ist doch praxisfern‟

Die Kritik war (wieder einmal), dass das, was auf dem Podium gesagt wurde, praxisfern sei. Dabei war das, was auf dem Podium vor mir gesagt wurde, dass Dinge, die gerade jetzt in Berlin in der Bibliothekspraxis gemacht werden, schon so oft gemacht und schon so oft untersucht wurden, dass schon klar ist, was rauskommen wird. Wie praxisnah soll es denn sonst noch sein?

Meine Aussage auf dem Podium war, dass Bibliotheken (aktuell) nicht darauf ausgerichtet sind, wissenschaftlichen Wissen zu integrieren. Makerspaces und alle anhängigen Projekte sind einfach ein Paradebeispiel dafür. Wir haben jetzt seit 3-4 Jahren die Diskussion um Makerspaces in Bibliotheken im deutschsprachigen Raum und den USA, vorher hatten wir sie in Australien und Kanada. Seit dieser Zeit sind unzählige Texte und Studien (sehr unterschiedlicher Form) dazu erschienen, wurden Erfahrungen gesammelt und Handbücher geschrieben. (2016, also auch schon vor zwei Jahren, habe ich eine Anzahl davon zusammengefasst vorgestellt: http://www.ressi.ch/num17/article_133, ein Update dazu wird hoffentlich bald folgen.) Das ist alles nicht schwer zu recherchieren. Und dennoch treten – jetzt gerade in Berlin – Bibliotheken mit immer wieder den gleichen Vorstellungen, Hoffnungen und Versprechen an, noch mal neue Makerspaces zu machen. So, als wäre nicht klar, was rauskommt, wenn man praktisch das gleiche nochmal macht – auch wenn man es „neu‟ nennt. Das ist einfach ein Fakt – einer, der aus der oben genannten Struktur entsteht. Soll man diesen Fakt nicht nennen?

Aber diese Aussage kam offenbar nicht an. (Obwohl ich es auch anders, netter formuliert hatte. Jetzt bin ich genervt, jetzt formuliere ich das vielleicht härter. Aber nicht auf dem Podium.)

Warum nervt mich diese Kritik? Weil sie direkt vorbeigeht an dem, was ich vermitteln wollte. Es ist offensichtlich, dass es sich bei Forschung für Bibliotheken auf der einen und Bibliothekspraxis auf der anderen Seite um zwei Formen von Wissensproduktion handelt:

  1. Forschung geht halt wissenschaftlich vor. Einmal ganz runtergebrochen: Es werden Fragen gestellt (auf der Basis vorhanden Wissens), es wird methodisch vorgegangen, um diese Fragen zu beantworten, die Antworten werden in den Zusammenhang mit dem schon vorhandenen Wissen gestellt. Obwohl wir keinen Fortschrittsmythen mehr folgen, geht es doch darum, das Wissen, das schon da ist, als eine Basis zu nutzen. Immer in Verbindung mit der Realität, mit Fragen, die der Praxis etwas bringen können (weil wir eh nur von Drittmitteln leben und nicht einfach was Interessantes oder gesellschaftlich Sinnvolles erforschen können, sondern immer nur „praktische Themen‟, weil: nur dafür gibt es Geld). Aber dennoch: Immer mehr Antworten. Und aus diesem Prozess kommt Erstmal immer mehr Wissen heraus. Was auch sonst? Es ist Wissenschaft, die produziert vorrangig Wissen.
  2. Bibliothekspraxis geht so allgemein nicht vor. Gerade in Öffentlichen Bibliotheken (und gerade beim Thema Makerspaces schön zu sehen) geht es wohl eher darum, selber etwas zu machen, auszuprobieren. Es wird sich eine Überzeugung gebildet, das XYZ ein Trend wäre, dem man folgen sollte; dann versucht man dies in Angebote umzusetzen. Praktisch. Die Basis dafür ist nicht unbedingt schon vorhandenes Wissen, sondern etwas, was intern überzeugt. Dann macht man Projekte, probiert aus, schaut, was funktioniert und was nicht funktioniert. Manchmal evaluiert man dies, aber wohl lange nicht so oft, wie angekündigt. Einige Bibliotheken gehen dabei sehr planhaft vor, andere experimentieren. So oder so: Am Ende kommen Angebote heraus, angepasst an die lokalen Möglichkeiten; es kommt vor allem lokales Wissen heraus; oder aber auch ein Scheitern.

Das sind zwei unterschiedliche Formen von Wissensproduktion. Das ist eine Struktur. Dass das Wissen in der Forschung dann immer wieder einmal mehr ist, ist verständlich: Aus der Forschung überblickt man oft mehr an gleichen Projekten, sieht Zusammenhänge (weil das einer der Foki von Wissenschaft ist), vor allem experimentiert man nicht immer wieder nochmal mit den gleichen Vorstellungen, sondern ist daraufhin orientiert, noch nicht vorhandenes Wissen zu generieren. Deshalb wundert man sich zum Beispiel auch immer wieder einmal, was in Bibliotheken als „neu‟ oder „innovativ‟ beschrieben wird – weil es halt oft nicht wirklich neu im Sinne von „noch nicht schon mal gedacht und ausprobiert‟ ist. Sondern oft („nur‟) neu im Rahmen der jeweiligen Bibliothek. So oder so: es sind unterschiedliche Weise, wie Wissen produziert und genutzt wird. Darauf sollte man sich doch einigen können. Die Frage, welche Form richtig oder besser oder praxisrelevanter oder was auch immer ist: Das war nicht das Thema des Podiums.

[Gleichwohl kann man anmerken: Würde die Praxis das Wissen, das in der Forschung produziert wird, nutzen, könnten damit wohl Ressourcen besser eingesetzt werden; könnten diese ständigen Enttäuschungen, wenn die Versprechen doch nicht eintreffen, nachdem man sie viel von ihnen erhofft hat, vermindert; könnte man auch mal längerfristige Fragen geklärt werden. Aber es wird auch Gründe geben, warum das in der Praxis nicht so gemacht wird; sonst würde es anders gemacht werden. Einige werden gut sein – wir hatten auf dem Podium zum Beispiel den Hinweis, dass es schwer sei, in einer kleinen Öffentlichen Bibliothek im ländlichen Raum an die Ressourcen zu kommen, was nachvollziehbar ist (obgleich Teile der Bibliothekswissenschaft sehr auf Open Access achten), aber nicht erklärt, warum zum Beispiel Bibliotheken in Berlin das nicht tun. Und gleichwohl sollte man anmerken, dass die Bibliothekswissenschaft, das bisschen, was im deutschsprachigen Raum betrieben wird, schon ständig danach schaut, dass das was getan wird praktische Relevanz hat. Es ist wirklich schwierig, der aktuellen Bibliothekswissenschaft eine Bringschuld zuzuschreiben, dass sie noch praxisnäher sein und noch mehr über Formen der Verbreitung ihres Wissens nachdenken müsste. Sicher: Einige Zeitschriften müssten jetzt endlich auch Open Access werden, noch mehr Abschlussarbeiten müssten auf Repositorien gestellt werden. Aber sonst? Daraus muss nicht folgen, das man eine Holschuld der Praxis postuliert. Vielleicht, das meint die Feststellung von der unterschiedlichen Struktur, funktioniert sie aus guten Gründen anders. Aber die…. müsste man dann mal untersuchen. Zumindest ist der Vorwurf an die Forschung, nicht praxisnah genug zu sein, unfair. Sie ist es oft viel zu sehr, um wirklich Wissenschaft zu sein.]

Selbstverständlich wäre es anders möglich. Alles ist anders möglich. (Und, wie immer, ist das keine neue Idee, sondern wird zum Beispiel als „Evidence based librarianship‟ oder „Evidence based library practice‟ vor allem in Kanada und Grossbritannien angestrebt – eine Bewegung, auf die ich auch persönlich an unterschiedlicher Stelle schon mehrfach hingewiesen habe, die der Praxis also bekannt sein könnte… Anyway.) Praxis könnte sich auf Forschung abstützen und andere (meiner Meinung nach bessere) Entscheidungen treffen. Selbstverständlich: Das würde dazu führen, dass eine ganze Anzahl ihrer Vorstellungen als zu kurz erscheinen würden. Oder aber, dass man hier und da nicht einfach mal was ausprobieren kann und dass dann „neu‟ und „innovativ‟ nennen – weil man einfach weiss, dass bestimmte Dinge nicht eintreten werden. Man könnte dann halt weiter denken, als bisher, weil man das, was man sich jetzt immer und immer und immer und immer wieder nochmal ausdenkt, einfach übernehmen könnte.

Die Praxis greift halt nicht auf die Ergebnisse von Forschung zurück. Es wird Gründe dafür geben. Fühlen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich zum Beispiel gerade damit beschäftigen, wie sie mit Robotern das Coden beibringen können, verärgert, wenn jemand ankommt und sagt, dass das nicht funktionieren wird, wie sie sich das vorstellen? Vielleicht. Aber die Aussage wird nicht aus Defätismus getroffen, sondern, well, weil sie auf dem Wissen, dass in der Forschung produziert wurde, aufbaut. Wenn man aber Forderungen an die Forschung stellt, sie solle neue Trends benennen (eine Forderung, die auf dem Podium erhoben wurde), kann man nicht logisch gleichzeitig fordern, dass sie schweigen soll, wenn sie weiss, dass etwas kein Trend ist oder nicht funktioniert. Das geht einfach nicht auf. Und mir ist wichtig: Es geht dabei nicht um persönliche Gründe. Ginge es um persönliche Gründe, könnte ich mich auch beleidigt zurückziehen, finden, alle Bibliotheken sind doof und beginnen, Romane zu schreiben. Aber das mache ich nicht und das habe ich auch auf dem Podium nicht gemacht. Ich habe es als Struktur beschrieben: Als Struktur wird sichtbar, dass es nicht um persönliche Befindlichkeiten geht, sondern halt um Strukturen. (Und bevor man sie ändern kann, sollte man Strukturen beschreiben können.)

Aber einen solchen Hinweis als Angriff nehmen: Bitteschön, dann ändert sich die Praxis halt nicht so, dass Forschung wahrnehmen würde. Aber dann muss sie das nicht der Forschung zum Vorwurf machen oder die Forschung – die ja nicht wahrgenommen wird – als „unpraktisch‟ erklären. Das ist nicht hilfreich. Oder auch nur fair. Nur, weil man selber den Status Quo nicht ändern will, kann man daraus nicht ableiten, dass die, die darauf hinweisen, wie der Status Quo ist, Unrecht haben oder keine Ahnung.

2. „Lesestunden einführen‟

Eine Sache, die mich sehr verärgert hat, war die Behauptung, ich hätte gefordert, Bibliotheken sollten „Lesestunden‟ einführen. Das ist eine unzulässige Reduzierung dessen, was ich sagte. (Mir ist auch klar, dass das im Affekt auf dem Podium passiert, aber verärgert hat es mich trotzdem.) Es ist schon richtig, dass ich sagte, das in der Praxis, wenn diese das Wissen aus Forschung nutzen will, auch mehr gelesen werden muss. Aber ist das nicht logisch? Wissenschaftliches Wissen wird vor allem in schriftlicher Form dargestellt und geteilt. Wie, ausser lesend, sollte es den sonst wahrgenommen werden. (Auf dem Podium wurden mehr Weiterbildungen mit wissenschaftlichen Themen, Übersichten zur Forschung im Ausland [also anderen Sprachen, die Schweiz wäre sonst ja auch Ausland, von Berlin aus gesehen], mehr Nachweise und weniger Best Practice-Präsentationen gefordert – was gut klingen mag, aber schon öfter probiert wurde und dann vergessen oder aber [darauf hat Herr Hobohm hingewiesen] sehr schlecht bewertet wurde. Mag sein, dass sich das irgendwann ändert. Aber selbst wenn, ist nicht Forschung für die Themen zuständig, die in der Weiterbildung präsentiert werden, sondern die, diejenigen, die Weiterbildungen organisieren.)

Aber es auf „Lesestunden‟, zu reduzieren, und das auch noch ein wenig so, als wäre das lächerlich, geht an den Hinweisen, die ich auf dem Podium äusserte, vorbei. Wenn Bibliothekspraxis die Ergebnisse aus der Forschung nutzen wöllte, müsste sie ändern, wie sie Entscheidungen trifft, Projekte plant und Angebote einführt beziehungsweise verändert.

  1. Wahrnehmen, was es schon gibt, ist gut. Fachliteratur rezipieren gehört dazu. Dann aber auch alle in der Bibliothek und nicht nur die Chefetage, die das dann runtergibt. Das würde nichts ändern für die Kolleginnen und Kollegen, das wäre nur weiter so, dass Wissen irgendwo „oben‟ generiert und dann herabgereicht würde. Vielleicht besseres Wissen, als das, was aus Best Practice-Berichten und Marketingfloskeln entsteht; aber trotzdem Wissen von irgendwo anders. Wichtig wäre dabei auch, nicht gleich nach direkt Umsetzbaren Dinge zu schauen, sondern auch die systematischeren Analysen, die theoretischeren Beiträge wahrzunehmen. (Denn Theorie ist ein Tool, um die Praxis zu verstehen und dann zu verändern; Systematik eröffnet Denkräume.)
  2. Wichtiger ist aber, forschendes Handeln bei der Entscheidungsfindung und vielleicht auch Evaluation zu etablieren. Hiermit gemeint ist (a) Fragen und Vorstellungen nicht aus einer geringen Basis (→ mal gesehen auf dem Bibliothekstag, in der BuB, mal gehört, dass es jetzt Trend sei) generieren, sondern eine solche Basis (ein solches Interesse) als Ausgangspunkt nehmen, um (b) eine umfangreichere Recherche durchzuführen, über die gleich greifbare deutschsprachige Literatur und über reine Praxisberichte hinaus, (c) diese Texte auch wahrzunehmen und schauen, was da als gesichertes Wissen, als ständig wiederholte Behauptung, als fluffiges Marketing und als offene Fragen dargestellt wird, (d) aus diesem Wissen heraus erst Fragen formulieren (nicht einfach fragen, ob etwas möglich wäre – das ist oft längst geklärt – sondern wozu und mit welchen Ergebnissen) und dabei Wissen auch werten – Marketingfloskel und hübsche Bebilderungen zum Beispiel als das nehmen, was sie sind, aber auch die Aussagen von Forschungsprojekten nicht gleich als Beweis, sondern als Evidenzen, (e) beim Klären dieser Fragen systematisch vorgehen (Methodik wählen, die erlaubt, wirklich diese Fragen zu klären; nicht nur Untersuchen, ob die gewünschte Antwort herauskommen könnte, sondern auch, ob sie widerlegt werden könnte; diese Methodik durchziehen; Auswertung fair, also nicht nur positiv oder negativ, durchführen → Interesse muss sein, das besseres Wissen entsteht, nicht dass die eigene Hoffnung / Meinung bestätigt wird), (d) erst auf der Basis dieses Vorgehens Entscheidungen treffen. Halt so, wie man zum Beispiel in Abschlussarbeiten (die mehr und mehr des Personals, welches in Bibliotheken arbeitet, j aselber mindestens einmal geschrieben haben) vorgehen. Und das als etabliertes Vorgehen, so das es normal wird, nicht als einmalige Sache.
  3. Dazu gehört auch, überhaupt auf so genriertes Wissen zu reagieren. Also zum Beispiel Dinge nicht machen; Angebote nicht so entwerfen, wie man sie sich gedacht hat, wenn man findet, dass sie so nicht funktionieren werden, dass sie nicht die Ergebnisse erreichen werden, die behauptet werden. Wie oben gesagt: Das heisst nicht unbedingt immer, sie nicht zu machen, sondern kann auch heissen, sie einfach anders zu machen. Aber zumindest sollte Wissen aus Forschung ernstgenommen werden, auch wenn es Dinge komplizierter macht oder aber die eigenen Vorstellungen (oder die hübschen Marketing-Floskeln, die halt praktisch immer nicht stimmen oder zumindest zu sehr verkürzen – was halt ihre Aufgabe ist, so als Marketing-Floskel) nicht unterstützt.
  4. Dazu braucht es auch eine Arbeitskultur, die das Rezipieren von Fachliteratur und das Durchführen eigener kleiner Forschungsprojekte in der Bibliothek – Frau Wimmer hat auf dem Podium darauf hingewiesen, dass das auch möglich ist und ich habe dazu ein Buch geschrieben – unterstützt. Mit Unterstützen meine ich nicht nur, dafür Arbeitsstunden und Ressourcen bereitzustellen. (Die sich meiner Meinung nach immer auszahlen, weil Angebote und Entscheidungen besser und das Personal motivierter wird.) Es wäre in vielen Bibliotheken schon ein Fortschritt, wenn das Lesen von Forschungsliteratur oder das Entwickeln eigener Fragen über die Abläufe in der Bibliothek oder den Verlauf von Projekten positiv angesehen würde, wenn diese Fragen aufgegriffen und Kolleginnen und Kollegen dazu motiviert werden (auch motiviert, indem diese Fragen und Lektüren, also das dann angesammelte Wissen, einen Einfluss erhält, zum Beispiel indem Dinge geändert werden), dies zu tun. Die Realität ist nämlich oft (nicht immer, nicht überall und bestimmt nicht bei denen auf dem Podium, die sich ja auf das Podium gesetzt haben, weil sie der Forschung doch nicht so fern stehen) anders: Schon das Rezipieren von Fachliteratur wird im Bibliotheksalltag oft negativ angesehen, als nicht relevant für die Arbeit. Das Haben von eigenen Gedanken oder Wünschen, etwas anders zu machen – das wird oft ganz untersagt. Und erst das Publizieren eigener Gedanken oder auch nur Beschreibungen von Projekten (sogar solche, die vollständig positiv darzustellen sind, nicht nur die, die hier und da Scheitern) durch das Personal, gilt oft als praktisch verboten beziehungsweise so oft zu kontrollieren – dass es praktisch verboten ist.

Es ginge halt um die Veränderung von Arbeits- und Entscheidungskulturen. Nicht um einige „Lesestunden‟. Das so abzuqualifizieren reduziert halt die Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen.

Dabei geht es gar nicht darum, dass Bibliotheken es so machen müssten. Vielleicht kommt das immer wieder falsch rüber: Ich bin niemand, der sagt, dass muss so und so gemacht werden, weil: ich weiss das besser. Jetzt müssen alle meiner Vorstellung folgen. (Sicherlich: Ich weiss bestimmte Dinge irgendwann wirklich besser, weil das meine Aufgabe ist: Wissen zu produzieren. Und wenn ich länger über etwas nachdenke, es kritisch betrachte, well… dann ist dann irgendwann mehr Wissen dazu da. Aber das ist keine Magie, dass passiert immer, wenn Menschen mehr und länger über etwas nachdenken können. Alles andere wäre doch abstrus – deswegen lässt man ja Wissenschaft machen und Personal von Forschenden ausbilden.) Ich finde es eher spannend zu sehen, wie Menschen und Institutionen handeln, wenn sie auch ganz anders handeln könnten. Mich interessiert dann eher, wieso sie das tun. Das hat dann immer Gründe (weil, wie schon gesagt, alles, was ist und funktioniert in der Gesellschaft aus Gründen so funktioniert, wie es das tut – sonst würde es anders funktionieren) – die vor allem dann sichtbar werden, wenn man sieht, was anders sein könnte. Aber so ist das mit diesem Thema Forschung und Öffentliche Bibliotheken. Wäre ich Bibliotheksdirektor, ich würde forschend vorgehen und meine Kolleginnen und Kollegen auch anhalten, forschend vorzugehen – weil es zu besseren, eher an der Realität orientierten Angeboten führen würde. Das ist schon richtig. Aber Bibliotheken machen das nicht – warum, das war nicht das Thema des Podiums (ich hätte einige Vermutungen, aber es ging ja nicht darum, diese auszubreiten; schon, weil sich die Praxis noch mehr hätte angegriffen fühlen können, obwohl es nicht darum gegangen wäre zu sagen, dass sie etwas falsch macht, sondern nur, das es anders möglich wäre). Das Bibliotheken es anders machen: Dafür wird es Gründe geben und es wäre interessant zu untersuchen, welche das sind, welche davon real, welche Vorstellungen. Aber wenn die Praxis die jetzige Struktur beibehalten will, soll sie das. Ich bin kein Berater, der die Bibliothek nach seinem Bilde formen muss. [Dann würde sie auch viel mehr zeitgenössische Lyrik enthalten und wieder würden Leute sagen, wie praxisfern das dann wäre.]

Wichtig ist mir aber: Wenn die Praxis die Struktur ändern will, dass sie das, was an Forschung da ist (und was an lokaler Forschung in Bibliotheken möglich wäre) integrieren würde, dann wäre es nicht mit mehr Lesezeit (also oft überhaupt Lesezeit) für alle Kolleginnen und Kollegen getan. Diese Abqualifizierung kann ich einfach nicht gelten lassen.

 

PS.: Ja, persönlich bin ich schon manchmal genervt und irritiert. Aber nicht vom Panel, sondern von immer wieder gleichen Fragen. Da hilft es mir immer, das als Struktur zu verstehen und zu sehen, dass die KollegInnen, die diese Fragen stellen, ihr Bestes versuchen. Manchmal zwischendurch bin ich auch mal zynisch – aber mal ehrlich, warum mal nicht? Nach den zehnten Frage, wie man einen Makerspace einrichten soll, wenn es schon mehrere Handbücher dafür gibt, darf man auch mal persönlich aufseufzen. Machen das Kolleginnen und Kollegen am Infopult nicht auch, wenn zehnmal hintereinander die gleiche Frage kommt? Man kann nicht immer lächeln.

 

PS. PS.: Herr Hobohm hat seine Nachbetrachtung zur Diskussion (eher der zweiten zu Ausbildung und Öffentliche Bibliothek) bei sich im Blog publiziert.

Wie kommt Neues in die (konkrete) Bibliothek? Ein Modell

Eine Frage, die mich immer wieder interessiert – und die, wenn beantwortet, meiner Meinung nach einen Einfluss auf die Entwicklung z.B. von Fortbildungsangeboten und Ausbildungen im Bibliotheksbereich, aber auch auf den Zusammenhang von Bibliothekswissenschaft und Bibliothekswesen haben müsste – ist die, wie eigentlich neue Diskussionen, Vorstellungen, Angebote in die konkreten Bibliotheken kommen. Oder anders: Wie sich die Angebote von Bibliotheken entwickeln und zwar so, dass sie immer wieder in den unterschiedlichen Bibliothek doch sehr ähnlich sind.

Es gibt wohl eine sehr einfache Vorstellung dazu, die hinter vielen Texten im Bibliothekswesen – insbesondere den Werken, die heute „Handbücher“ genannt werden, aber auch vielen Richtlinien, Toolkits und solchen Texten sowie Forschungen an Fachhochschulen, die sich als „praxisorientiert“ verstehen – zu stehen scheint. Es gibt in dieser Vorstellung ein paar Quellen, aus denen sich Bibliotheken informieren. Die konkreten Bibliotheken nehmen dieser Dokumente, schauen, was in ihnen lokal angepasst werden muss und wenden sie dann an, z.B. indem sie Richtlinien umsetzen oder auf das Basis eines Beispiels aus einer anderen Bibliothek ein ähnliches Angebot einrichten. Im Idealfall publizieren sie über ihre Erfahrungen, so dass andere Bibliotheken es wieder als Basis für eigene Angebote nutzen können. (Die Frage wäre dann, wie Neues in dieses System kommt, aber nehmen wir einfach mal an, einzelne Bibliotheken experimentieren und finden was Neues oder aber Personen in den Fachhochschulen denken sich das Neue aus.)

Dieses Modell 1 lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

Modell 1: Einfaches, direktes Verarbeiten, vorrangig von Texten aus autoritativer Quelle.

Pro Modell 1

Wenn dieses Modell stimmt, dass würde es erklären, warum im Bibliothekswesen ständig Toolkits, Beiträge mit To Do-Listen oder Sammlungen von Beispielen publiziert werden. Es würde bei der immer wieder einmal vorgebrachten Klage, dass die Forschung an Fachhochschulen den Bibliotheken nichts bringen würde, die Schuld eindeutig bei den Forschenden verorten, die offenbar keine ordentlichen Ideen haben oder sie nicht richtig kommunizieren. Sonst aber ist sie sehr hoffnungsvoll was die mögliche Wirkung bibliothekarischer Literatur auf konkrete Bibliotheken angeht.

Kontra Modell 1

Ich denken aber, dass mehr gegen dieses Modell spricht und je länger ich an einer Fachhochschule (als Bibliothekswissenschaftler) tätig bin, um so mehr Argumente scheinen sich zu sammeln. Es sind am Ende eher subjektive Beobachtungen, die ich kurz schildere, um danach zu versuchen, sie in einem besseren Modell (Modell 2) zu erklären. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nur ich sie mache.

  • Handreichungen etc., die unter anderem an Fachhochschulen ständig produziert werden (aber nicht nur, die kantonal Fachstelle für Bibliothek Zürich und die Bildungsdirektion Kanton Zürich haben vor einigen Jahren das seitdem immer wieder einmal verlinkte bischu – Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule publiziert), scheinen in den Bibliotheken so gut wie nicht wahrgenommen oder gar genutzt zu werden. Zumindest sind solche konkreten Benutzungen, wie man sie sich wohl beim Erstellen (und oft auch dem beispielhaften Testen) dieser Handreichungen macht, eigentlich nie zu finden. (Mein persönliches Beispiel ist eine Handreichung zur „Wissenschaftskommunikation in Öffentlichen Bibliotheken“, die wir an der HTW Chur vor drei Jahren publiziert haben, damals mit Artikel in der schweizerischen Zeitschrift für Öffentliche Bibliotheken und auf der Homepage der betreffenden Vereinigung; die Handreichung in einfachen To Do-Listen verfasst und mit Bibliotheken abgestimmt – und bis heute habe ich nicht eine Bibliothek gefunden, die sie genutzt hätte. Aber die Erfahrung spiegelt sich auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen an Fachhochschulen nieder: Nur weil sie Handreichungen machen, die sie mit Bibliotheken testen und möglichst so verfassen, dass sie quasi direkt umgesetzt werden können, heisst das noch lange nicht, dass Bibliotheken das anschliessend auch tun.)

  • Ein anderes Beispiel aus meiner Arbeit an der HTW Chur: Wir haben letztes Jahr ein Projekt gehabt, bei dem wir Testen wollten, ob es möglich wäre, den ganzen Makerspace-Hype so einzufangen und klein zu machen, dass er auch für kleinere und kleinste Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz nutzbar wäre. Das ist ein gutes Beispiel, weil es so viel und so viele unterschiedliche Literatur (Erfahrungsberichte, Pläne, Versprechen, Untersuchungen über die Realität von Makerspaces in Bibliotheken und Schulen) gibt, die einfach wahrgenommen werden könnte – aber kaum wird. Im Rahmen des Projektes testen wir das mit zwei mobilen Makerspace-Boxen, fassten unsere Ergebnisse – neben einem Projektbericht – in einer Handreichung zusammen, in der wir beschrieben wie z.B. kantonale Fachstellen solche Boxen selber einrichten und betreuen können (inklusive Kriterien zur Auswahl neuer Technologie). (Und nebenbei beantworteten wir die Frage, ob wirklich jede Neuheit in Bibliotheken mit einer Person kommen muss, die erklärt, wie sie funktioniert – oder ob das Bibliotheken auch selber können. Letzteres.) Noch nicht einmal sind wir nach dieser Handreichung gefragt worden. Stattdessen haben wir mehrere Anfragen dazu bekommen, ob wir die Boxen schicken oder besser selber zeigen können. Wozu? Warum? Es steht alles in der Handreichung und die Technologie kann man sich selber in jedem Elektronikfachmarkt und mehr und mehr grossen Buchläden anschauen. Es gibt offenbar – und nicht nur bei diesem Beispiel – im Bibliothekswesen den erstaunlichen Drang danach, Dinge anzufassen, anzuschauen, sich zeigen zu lassen – selbst dann, wenn man es einfach nachlesen (oder in diesem Fall auch in jeweils Dutzenden Videos anschauen) könnte.

  • Dazu passt auch, dass von all den Weiterbildungen, die für Bibliotheken angeboten werden, Reisen und Exkursionen in anderen Bibliotheken oft die sind, die sehr gut funktionieren. Auch die Vorträge, bei denen konkrete Beispiele gezeigt werden, scheinen sehr beliebt zu sein. Sich „Anregungen holen“ scheint dafür sehr oft eine Motivation zu sein. Was weniger interessiert, sind genaue Beschreibungen, Konzeptionen etc. Es scheint oft, als sei das den Kolleginnen und Kollegen zu speziell.

  • Passt man bei Konferenzen oder Besuchen in Bibliotheken genauer auf, hört man immer wieder den Wunsch nach „interessanten Beispielen“ oder „spannenden Anregungen“; aber vor allem eine erstaunlich häufige Verwendung von solchen Worten wie „interessant“ und „spannend“, wenn eigentlich auch genau beschrieben werden könnte, was gemeint ist, was genau „interessant“, „anregend“ etc. ist oder nicht ist. Vielleicht bin ich da zu sehr von meinem Studium der Gender Studies geschädigt: In diesem Studium war es normal, sich am Anfang eines Kurses darüber zu unterhalten – also die Dozierenden und die Studierenden zusammen – was sich vom jeweiligen Kurs erwartet wurde, so dass dieser eher an den vorhandenen Interessen anschliessen konnte. Eigentlich eine gute Idee, aber nur wenige Studierende wussten am Anfang, was sie von einem Kurs erwarteten. Deshalb fielen viele darauf zurück, genau solche Worte zu benutzen: „Spannend“, „Interessant“, das war engaged genug, aber auch ungenau genug, um zu überspielen, wenn man nichts zu sagen hatte. (Später wurden Leute ehrlicher und sagten auch, wenn sie Kurse besuchten, weil sie in dem und dem Thema einen besuchen mussten, um das Studium fertig zu machen. Der Lerneffekt, dass das auch geht, brauchte aber einige Semester. — Good Times.) Mir scheint aber, dass die häufige Verwendung solcher Begriffe im Bibliothekswesen genauso verdecken, dass bestimmte Dinge nicht thematisiert werden können oder sollen oder das man sich halt nicht direkt vorstellen kann, wie bestimmte Vorschläge (die z.B. auf Konferenzen oder in Handreichungen gegeben werden), in einer konkreten Bibliothek umgesetzt werden können.

  • Es ist ein bisschen zurückgegangen, aber noch vor wenigen Jahren schien es im Bibliothekswesen zudem ein sehr grosses Interesse an „Best Practice“-Sammlungen – also, wenn man ehrlich ist, Beispiel-Sammlungen zu irgendeinem Thema; warum gerade die Best Practice sein sollten, wurde eigentlich nie klar – zu geben. Das hat mich immer wieder irritiert, weil die Beispiele in diesem Sammlungen oft sehr oberflächlich dargestellt wurden, eher wie in längeren Presseerklärungen, in denen man sich selber feiert und weniger in Darstellungen, die zeigten, was wieso gemacht wurde, wie Konzepte genau aussehen, welche konkreten Erfahrungen es mit den vorgestellten Angeboten / Projekten etc. gab. Was soll – so oft meine Frage, wenn ich diese Sammlung durchschaute – eine Bibliothek damit konkret anfangen? Die könnte das doch gar nicht direkt umsetzen, sondern doch nur raten, was genau gemacht wurde. Aber: Die Sammlungen wurden immer wieder neu erstellt.

  • Was mir bei Besuchen in Bibliotheken, gerade Öffentlichen Bibliotheken, in den letzten Jahren (Besuch als Bibliothekswissenschaftler und Dozent, der also oft rumgeführt wurde; nicht als „normaler“ Nutzer) immer wieder auffiel, waren Formulierungen wie „Das haben wir dann erarbeitet“, „Wir haben dann die Veranstaltungen [z.B. für Leseförderung] so und so gestaltet“, „Das wurde dann von Kollegin XYZ ausgearbeitet“. Diese Formulierungen wurden oft für Angebote genutzt, die sich grundsätzlich nicht gross voneinander unterschieden. Die Kolleginnen hatten dann z.B. Arbeitsblätter und Ablaufpläne erarbeitet, die sie in Leseförder-Veranstaltungen mit Kindern nutzten, was immer sinnvoll ist. Nur, dass andere Bibliotheken ähnliche Ablaufpläne und Arbeitsblätter hatten. (In Wissenschaftlichen Bibliotheken war das mit Angeboten für „Informationskompetenz“ ähnlich. Die waren auch oft ähnlich, aber vor Ort erstellt.) Irritierend daran war nicht, dass es solche Angebote gibt, sondern, dass sie nicht einfach nachgenutzt wurden. Es schien in den Bibliotheken logisch, sie neu zu erstellen. Ein wenig so, als würde es die Handreichungen und To Do-Listen (die ja auch solche Arbeitsblätter und Ablaufpläne enthalten) gar nicht geben.

  • Nicht zuletzt gibt es das Phänomen, dass bei Besuchen in Bibliotheken immer klar wird, dass diese viel mehr machen, als nach aussen sichtbar ist. Bibliotheken sammeln Erfahrungen, zu unterschiedlichen Themen, aber sie publizieren kaum dazu. Auch nicht, wenn sie darum gebeten werden (dies eine Erfahrung als Redakteur). Das ist schon komisch: auf der einen Seite der Wunsch, dass jemand Vorschläge macht, was in der Bibliothek gemacht werden könnte; auf der anderen Seite eine gewisse Verweigerung, die eigenen Erfahrungen sichtbar zu machen.

  • Evidence Based Librarianship wird, wie bekannt sein dürfte, in anderen Staaten als Versuch betrieben, die Nutzung von wissenschaftlichem Wissen in der Praxis und in gewisser Weise auch die Zusammenarbeit von Bibliothekswissenschaft und -praxis zu motivieren. Gillespie et al. (2017) untersuchten, wie die in australischen Bibliotheken tatsächlich umgesetzt wird, auch Koufogiannakis & Brettle (2016) führten in ihrem neuen Handbuch zum Thema ähnliche Untersuchungen an. Sichtbar wurde dabei, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare in der englischsprachigen Welt dazu tendieren, bei Aufgaben, die in Bibliotheken auftauchen, Arbeitsgruppen zu bilden, die versuchen, die jeweilige Aufgabe – und das kann gut die Einführung eines neuen Angebots sein – anzugehen. Dabei werden nicht etwa – wie oben im Modell 1 – einfach die sinnvoll passenden Texte, Handbücher, Studien etc. herangezogen, angepasst und angewendet, sondern vielmehr viele Quellen als Evidence genutzt (bei Gillespie et al. (2017) Beobachtungen im Bibliotheksalltag, Feedback z.B. von Nutzerinnen und Nutzern, Hinweise von Kolleginnen und Kollegen, wissenschaftliche Literatur, Statistiken und Intuition; bei Koufogiannakis & Brettle (2016) wird vor allem lokales Wissen besprochen). Dabei werden nicht nur unterschiedliche Quellen genutzt, sondern auch als gleichwertig nebeneinander genutzt: die wissenschaftliche Studie also als ähnlich wichtig wie die Rückmeldungen von Kolleginnen oder wie die eigene Intuition.

All das spricht dagegen, dass das – so schön einfache – Modell 1 tatsächlich in der Realität funktionieren würde.

Modell 2

Ein komplexeres Modell, dass die genannten Beobachtungen eingliedern würde, ist in der folgenden Graphik dargestellt:

Modell 2: Verarbeitung unterschiedlicher Quelle als Anregung zur Erarbeitung eigener Angebote.

Zum einen scheint es sinnvoll, von weit mehr Quellen – die auch schwieriger zu erfassen sind als die Texten, die man selber recherchieren kann – auszugehen, welche ans Anstoss für „Neues“ in einer Bibliothek genutzt werden. Vielleicht sind wissenschaftliche Texte oder Handreichungen dabei gar nicht so wichtig, sondern viel eher Beispiele, die etwas anstossen – nicht direkt etwas vorgeben, sondern die Möglichkeit von Diskussionen eröffnen und die Phantasie anregen – und Anregungen, beispielsweise Narrative, die auf Konferenzen, in Weiterbildungen und der Fachliteratur verbreitet werden – nicht so sehr der konkrete Vortrag, der konkrete Texte, sondern die irgendwie überzeugende Erzählung davon, was kommen wird, was neu ist oder bald neu sein wird.

Zum anderen muss sich die Umsetzung in der Bibliothek offenbar anders vorgestellt werden: Es ist wohl sinnvoll, nicht davon auszugehen, dass einfach gute Handreichungen gesucht, lokal angepasst und dann umgesetzt werden, sondern eher, dass – egal ob in Arbeitsgruppen oder in Projekten – die Quellen in der Bibliothek genutzt werden, um Diskussionen anzuregen, Vorstellungen neu zu erarbeiten, auszuwählen – d.h. auch, bestimmte Quellen nicht wahrzunehmen, vielleicht sogar die, die es schwieriger machen könnten, ein Angebot zu erarbeiten, weil es ja darum geht, dass am Ende „was rauskommt“ – und dann erst neu ein Angebot zu erarbeiten. Da die Quellen (auch die Erfahrungen, die man im Bibliotheksalltag machen kann) nicht so unterschiedlich sind, kommen am Ende wohl auch oft immer wieder ähnliche Angebote heraus. Aber der Arbeitsprozess sollte nicht verachtet werden: Dadurch, dass erst Arbeit hineingesteckt wird, scheint das Ergebnis besonders zu sein.

Am Ende steht dann vielleicht oft die Überzeugung, dass es gerade deshalb wenig nach aussen zu Berichten gäbe. Wie kann etwas so spezielles, dass „nur“ für die eigene Bibliothek erarbeitet wurde, andere interessieren? Ist es nicht speziell? Und selbst wenn: Müsste dann nicht sehr viel – angesichts der Arbeit, die hineingesteckt wurde – geschildert werden? Es wäre zumindest ein Ansatz, um zu verstehen, warum – im Gegensatz dazu, was tatsächlich alles gemacht wird – so wenig publiziert wird.

Erklärungen aus Modell 2

Wenn man annimmt, dass das „Entstehen von Neuem“ in Bibliotheken eher mit dem Modell 2 (das man bestimmt noch weiter ausdifferenzieren oder für Forschungen – z.B. solchen ähnlich zu denen von Gillespie et al. (2017) – benutzen könnte) zu erklären ist, könnte man damit einige der Beobachtungen besser erklären.

  • Der Wunsch, lieber etwas gezeigt als beschrieben zu bekommen (oder gar selber zu lesen?), könnte damit zusammenhängen, dass man eh alles nochmal verarbeitet und interpretiert. Was nützen da genaue Beschreibungen? Sind dann nicht ungenauere Beschreibungen und offene Narrative, die das Denken anregen, besser?

  • Es würde auch erklären, warum es eine gewisse Geringschätzung wissenschaftlicher Texte und Reflexionen, eine gewisse Abneigung gegenüber der Forschungen aus Fachhochschulen oder Versuche, kritische Diskussionen in Gang zu bringen, gibt. Die sind nicht wirklich in das Erarbeiten von Angeboten einzubauen, sondern würden vielleicht sogar von der Agency, die man als Bibliothekarin / Bibliothekar selber hat, wenn man Projekte lokal neu entwirft, einiges fort.

  • Es würde auch erklären, warum es so wenig richtige Community im Bibliothekswesen gibt, warum z.B. so wenig inhaltlich diskutiert oder sich über die eigene Bibliothek hinaus engagiert wird. (Z.B. in Verbänden, Redaktionen.) Wenn man vor allem alles selbst tut, ist es nicht so wichtig, was „wir alle tun“ und auch nicht so wichtig, das mitzubestimmen. Es wird ja eh nochmal uminterpretiert.

  • Wenn es in den Bibliotheken wirklich darum geht, bestimmte Begriffe, Texte, Anregungen neu zu interpretieren und umzusetzen, würde das auch das Entstehen und die Verbreitung schwammiger Begriffe und Konzepte erklären, die keine richtig Definition haben, auch in den konkreten Bibliotheken immer wieder etwas leicht anderes bedeuten können, aber trotzdem für einige Zeit als „Fachbegriffe“ durch die Fachliteratur geistern. Wenn sie eh vor allem als Anregungen verwendet werden, ist es vielleicht ganz gut, wenn man nicht genau nachfragt, sondern eher den Eindruck bestehen lässt, als wenn „alle“ schon verstehen würde, was sie heissen. Aktuell sind „Dritter Ort“ und „Makerspace“ solche Begriffe, die eigentlich, wenn man genau schaut, nichts Konkretes mehr bedeuten und oft mit den originären Herkunftskontexten nichts mehr zu tun haben, aber trotzdem ohne grosse Erklärungen im Bibliothekswesen – und z.T. praktisch nur im Bibliothekswesen – verwendet werden. Wären sie genauer, würde sie nicht diese Wirkung haben können; wäre man sich im Klaren, dass sie wenig bedeuten, würde man sie vielleicht nicht so verwenden können.

  • Genauso wäre gut zu erklären, warum Beispiele mehr Interesse hervorrufen, als To Do-Listen, Konzepte oder genaue Beschreibungen. Es geht vielleicht eher darum, Material zu finden, dass intern weiter verarbeitet werden könnte und nicht um einfach umzusetzende Anleitungen.

  • Dieses „Verarbeiten“ wäre dann auch ein Grund dafür, dass das Entwickeln von Angeboten in Bibliotheken teilweise erstaunlich lange, jahrelang dauern kann. Würde Modell 1 gelten, wäre das nicht immer nachvollziehbar. Aber Modell 2 macht klarer, welche Arbeit eigentlich geleistet werden muss, bevor ein Angebot neu entwickelt ist. Es kann offenbar nicht einfach übernommen werden.

  • Ebenso besser zu erklären wäre die oft in konkreten Bibliotheken anzutreffenden Vorstellungen, dass das, was es an Angeboten in der Bibliothek gibt, sehr speziell wäre und nur im Kontext zu verstehen sei.

Mögliche Konsequenzen aus Modell 2

Falls Modell 2 gilt, müsste man fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, weiter Handreichungen, gute Beschreibungen, Konzepte zu erarbeiten (z.B. in Fachhochschulen). Wenn die Bibliotheken eh alles uminterpretieren – und nicht einfach nur anpassen – wäre das vielleicht ganz vertane Mühe. (Man könnte sich also auf andere Fragen konzentrieren.)

Gleichzeitig könnte man – wieder einmal – überlegen, was in bibliothekarischen Ausbildungen eigentlich vermittelt werden sollte. Wenn in den Bibliotheken – warum auch immer – dazu tendiert wird, in der Bibliothek Angebote auf der Basis der Interpretation verschiedener Quellen neu entwerfen — sollte man dann nicht auch das (selber Angebote lokal konzeptionell entwerfen, umsetzen; Methoden zum Erstellen von Evidenzen üben; verschiedene Quellen identifizieren und interpretieren) vermitteln?

Man könnte auch über die Klagen, die es z.B. aus Verbänden und Redaktionen gibt – kaum jemand will schreiben, kaum jemand sich engagieren – anders nachdenken, wenn man davon ausgeht, dass Bibliotheksarbeit offenbar vor allem heisst, auf die lokale Einrichtung (und den lokalen Kontext) bezogen zu arbeiten und zu denken.

Literatur

Gillespie, Ann ; Miller, Faye ; Partridge, Helen ; Bruce, Christine ; Howlett, Alisa (2017). What Do Australian Library and Information Professionals Experience as Evidence?. In: Evidence Based Library and Information Practice 12 (2017) 1, https://journals.library.ualberta.ca/eblip/index.php/EBLIP/article/view/28126

Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being Evidence Based in Library and Information Practice. London: facet publishing, 2016