Begründungen für die Bibliotheksentwicklung: Wie stark sind sie mit der tatsächlichen Bibliotheksarbeit verbunden?

Eine Sache, die mich umtreibt, ist der Zusammenhang zwischen den Gründen, die dafür genannt werden, warum sich Bibliotheken ändern müssten (zum Beispiel in der bibliothekarischen Literatur, Konferenzbeiträgen oder Bibliotheksstrategien) auf der einen Seite und der Bibliotheksarbeit, die dann tatsächlich geleistet wird auf der anderen Seite. Mir scheint sehr einfach zu zeigen zu sein, dass es da ein Missverhältnis gibt: Das, was in den Bibliotheken tatsächlich gemacht, geändert, gearbeitet wird, scheint immer wieder nicht wirklich mit dem zusammenzubringen zu sein, wieso dafür argumentiert wurde, etwas zu ändern (oder, viel seltener, etwas zu lassen wie es ist).

Behauptungen über die PISA-Studien und die Digitalisierung

Aufgefallen ist mir das wieder einmal, als letztens (03.12.2019) die neue PISA-Studie erschien und im Bibliothekswesen darauf schnell reagiert wurde. Zum Beispiel wurde behauptet: „Schulbibliotheken spielen eine große Rolle in Sachen #Bildung und #Lesekompetenz, das zeigte die aktuelle #PISA-Studie.”1 Der Deutsche Bibliotheksverband postulierte in einer direkt einen Tag nach der Veröffentlichung der Ergebnisse publizierten Erklärung, die Studie hätte gezeigt, dass man Lesen früh fördern müsse und schliesst daraus, dass deshalb die Zusammenarbeit von Schulen und Bibliotheken gefördert werden müsse.2

Das steht alles in der Studie nicht drin. (Das lässt die Methodik gar nicht zu.) Es ist auch nur ein Reflex, der jedesmal nach dem Erscheinen der PISA-Studie, also alle drei Jahre, einmal angeregt wird. In früheren Runden war das alles viel massiver, die Behauptungen und Forderungen grösser, die Nachwirkung länger. Seit einigen Runde werden die PISA-Studien in der bibliothekarischen Diskussion (und nicht nur da) nach ein paar Wochen praktisch wieder vergessen.

Aber es erinnerte mich daran, wie es bei den ersten PISA-Studien war: Die Behauptungen waren die gleichen, aber Bibliotheken machten sich länger Gedanken dazu, was es den heisst, das Lesen langfristig zu fördern etc. Was dann aber in den Bibliotheken tatsächlich gemacht wurde, hatte wenig mit den Erkenntnissen aus den Studien selber zu tun. Mich hat damals schon irritiert, wie man eine Studie zitieren kann, die eindeutig zeigt, dass der Lernerfolg in der Schule (um den es in den PISA-Studien geht) sozialen Strukturen folgt, also mit der sozialen Herkunft der Kinder und Jugendlichen verbunden ist, und daraus dann zu schlussfolgern, dass man mehr Leseförderung für alle anbieten müsse. Und dann vor allem solche machte, die gerade nicht darauf abzielt, soziale Ungleichheiten zumindest auszugleichen, sondern stattdessen nicht mehr über diese Strukturen redet.3

Jetzt bin ich älter und habe mehr Erfahrungen mit dem Bibliothekswesen. Und während ich es immer noch falsch finde, sich auf die PISA-Studien zu berufen, ohne sie offenbar gelesen zu haben,4 erkenne ich eine Struktur: Das, was zur Begründung für Bibliotheken und Veränderungen von / in Bibliotheken angeführt wird und das, was dann passiert, ist nicht einfach aufeinander zu beziehen.

Ein anderes Beispiel ist das Phänomen, dass heute in vielen, vielen, vielen Bibliotheksstrategien steht, dass diese auf die Digitalisierung reagieren wollen. Und zwar mit dem, was Bibliotheken als „3. Ort” beschreiben: Veranstaltungen, „erhöhte Aufenthaltsqualität”, Bibliothekscafé usw. Manchmal Makerspaces. Das ist kein richtiger Zusammenhang. Was hat Digitalisierung mit Cafés und Aufenthaltsqualität zu tun? Gewiss, man kann Zusammenhänge konstruieren (Digitalisierung heisst das mehr Menschen mehr Einsam sind, deshalb müssen Bibliotheken Veranstaltungen machen, damit Menschen sich treffen können. So in etwa.), aber das wird in den Bibliotheksstrategien im Allgemeinen nicht gemacht.5

Bibliotheksgeschichte: Begründungen für Bibliotheksentwicklung in der DDR

Im Rahmen meines Quest, anhand zeitgenössischer Quellen in die moderne Geschichte der Bibliotheken im DACH-Raum einzutauchen, lese ich gerade die Reihe „Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit” (still ongoing) des Zentralinstitut für Bibliothekswesen, welches in der DDR für Forschung und „Anleitung” der allgemeinbildenden Bibliotheken (also der Öffentlichen Bibliotheken) zuständig war. Die Reihe erschien von Anfang der 1970er bis 1989.

In vielen Nummern dieser Reihe scheint mir eine ähnliche Struktur zu finden zu sein: Es wird erst ein Begründung für eine Veränderung angegeben, dann aber etwas gemacht, dass sich nicht ganz aus der Begründung selber ergibt. Zumindest nicht direkt. An diesen Beispielen kann man ganz gut sehen, wie diese Struktur aussieht. Das ist auch ungefährlicher, als über den 3. Ort oder die PISA-Studien zu diskutieren, weil die DDR und ihr Bibliothekswesen Geschichte ist und niemand (kaum jemand) mehr einen Einsatz in diesem Spiel hat.

Wer sich also die Struktur einmal ohne grosse Emotionen anschauen will, dem würde ich empfehlen, das in den im folgenden besprochenen Publikationen zu tun.

Strategie 1: Dialektik

1974 publizierte das Zentralinstitut den Vorschlag für die Gründung „Wissenschaftlicher Allgemeinbibliotheken in den Bezirken” [WAB(B)], die als – so die Behauptung – neuer, sozialistischer Bibliothekstyp das Bibliothekswesen verändern sollten. (WAB(B) 1974) Es ging also direkt um Veränderung des Bestehenden.

Die WAB(B) sollten an der Spitze des Öffentlichen Bibliothekswesens des jeweiligen Bezirkes (also der mittleren staatlichen Ebene) stehen, den sogenannten „Spitzenbedarf” an Bestand abdecken (beispielsweise die spezielle wissenschaftliche Literatur, die zur Verfügung stehen, aber nicht in den anderen Bibliotheken angeschafft werden sollte, weil sie so speziell sei) und fachliche Anleitung für die anderen Bibliotheken im Bezirk bieten. Ob das sinnvoll war, warum es angestrebt wurde, wie die Bibliotheken (die dann wirklich eingerichtet wurden) tatsächlich wirkten: Das ist hier erstmal egal. Was interessiert, ist, wie es begründet wurde.

Die WAB(B) würden „dialektisch die besten Traditionen […] der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken und der wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken [aufnehmen]” (WAB(B) 1974:10). Das ist eigentlich auch die Argumentation, die man in einer marxistisch orientierten Gesellschaft erwarten würde6: Die Dialektik ermöglicht den Fortschritt. Das ist bekanntlich das Denkmodell, welches von Marx und Engels von Hegel übernommen und auf die Gesellschaft übertragen wurde. Es entstehen durch ökonomischen und anderen Fortschritt gesellschaftliche Widersprüche, die werden dialektisch mit einer neuen Lösung in einer nächsten Ebene überwunden. (Und da entstehen neue Widersprüche, die wieder dialektisch gelöst werden müssen.) So ungefähr.

Ganz nachvollziehbar ist diese Argumentation am Ende nicht. Was ist das Problem beziehungsweise der Widerspruch, welcher durch die WAB(B) dialektisch gelöst wird? Das wird nicht klar. Was ist die nächste Ebene, die WAB(B) anzeigen? Auch das wird nicht diskutiert. Es wird behauptet, dass sie ein neuer Bibliothekstyp seien – und weil dieser in einer sozialistischen Gesellschaft eingerichtet würde, seien sie auch ein sozialistischer Bibliothekstyp. Haben die WAB(B) diesen Anspruch später eingelöst? Das lässt sich auch nicht so richtig sagen, weil dieser Anspruch nicht so richtig zu bestimmen ist. Sie fungierten als neue Zentren im Netz der Bibliotheken, dass immerhin.

Aber: Wir sehen hier eine der akzeptierten Begründungen für gesellschaftliche Veränderung, welche in der DDR akzeptiert war. Dialektik ist Teil des „wissenschaftlichen Sozialismus”, insoweit kann man mit ihm Veränderung begründen.

Strategie 2: Hinweise

In der zuerst 1970 zum 100. Geburtstag Lenins erschienen Arbeit zu „Sowjetischen Massenbibliotheken” zeigt Hanna Spiegel (Spiegel 1974) eine andere Argumentationsstrategie: Sie behauptet, dass sich das Sowjetische Bibliothekswesen aus „Hinweisen” und Anweisungen Lenins ergeben hätte.

Ganz explizit bespricht sie, wann Lenin was über Bibliotheken gesagt hätte und wie das dann später interpretiert wurde, damit daraus das Öffentliche Bibliothekswesen der Sowjetunion entstand. Es kommen die bekannten (?) positiven Äusserungen Lenins zur New York Public Library, zum britischen und schweizerischen Bibliothekswesen ebenso vor, wie seine Anweisungen bezüglich Bibliotheken gleich nach der Oktoberrevolution. Laut Spiegel hätte sich aus diesen, eher kurzen, Bemerkungen das System der Bibliotheken ergeben, wie sie 1970 in der Sowjetunion bestanden. (Das ist selbstverständlich absurd, weil sie unterstellt, Lenin hätte ein System bei diesen Äusserungen gehabt, obwohl es oft viel eher Gelegenheitsarbeiten waren oder kurze Äusserungen.7)

Sie beschreibt das als Schritte: Lenin hätte quasi schon in seinen Äusserungen in den 1910er und 1920er Jahren beschrieben, dass die Bibliotheken verbreitet, für die Bevölkerung offen, im System organisiert und so weiter sein müssten, die r;alen Bibliotheken hätten sich dem dann immer mehr angenähert. Das Buch liest sich als Beschreibung der Schritte. Immer wieder gehen die Bibliotheken daran, besser zu werden. Immer wieder entdeckt man, dass sie noch nicht genügend als gemeinsames Netz arbeiten. Immer wieder wird deshalb neu, besser, systematischer zentralisiert. Aber immer auf der Basis, dass Lenin einst erwähnte, dass es sinnvoll wäre, wenn sie als Netz organisiert werden.

Man könnte vermuten, dass diese Argumentation mit dem 100. Geburtstag zusammenhängt, aber sie ist in dieser Arbeit nur expliziter als sonst ausgebreitet. Sie war etabliert. Sühnhold und Schurzig (1971) zum Beispiel begründen die Notwendigkeit ihrer Arbeit zur „Rationalisierung der Arbeitsorganisation in zentralen Einarbeitungsstellen” damit, dass es im Rahmen des VIII. SED-Parteitages „Hinweise” gegeben und die Aufgabe „hervorgehoben wurde” (Sühnhold & Schurzig 1971:5) die Rationalisierung der gesellschaftlicher Produktion voranzutreiben. Auch hier wird der Verweis auf ein Proxy benutzt, um nicht selber dialektisch zu argumentieren, sondern praktisch Äusserungen derer, deren Aufgabe es sei, dialektisch voranzudenken (Lenin, SED) diese Arbeit machen zu lassen und dann diese Äusserungen „auszuwerten”, zu interpretieren und als Arbeitsanweisung zu verstehen.

Dies war eine zweite akzeptierte Möglichkeit, Veränderungen zu begründen: Das Berufen auf die richtigen Quellen (Personen, Institutionen) und die Interpretation ihrer Aussagen. Selbstverständlich ist das auch keine einfache Strategie – man muss trotzdem wählen, was eine akzeptierte Quelle ist und interpretieren, was deren Aussagen meinen. [Ist das überhaupt ein dialektisches Vorgehen? Selbstverständlich nicht. Aber es hat ja auch niemand gesagt, dass die DDR und das Argumentieren in ihr widerspruchsfrei war. Das ist nicht das Thema. Das Thema ist, dass diese Form von Begründung akzeptiert war.]8

Hat Lenin wirklich 1918 das Bibliothekssystem, wie es 1970 in der Sowjetunion bestand, vorhergesehen und in seinen Schriften Hinweise darauf versteckt? Bestimmt nicht. Aber die Arbeit von Spiegel (1974) zeigt, dass es möglich war, mit dieser Begründung bestimmte Entwicklungen durchzuführen.

Strategie 3: Erst begründen, dann ignorieren.

Eine dritte Strategie wählte Hans Boden in der Studie dazu, wie sich Nutzer*innen („Benutzer”) in der Freihandbibliothek verhalten. (Boden 1976. „Seine” Studie wäre falsch gesagt. Er leitet Studierende zu Forschungen an und fasste die Ergebnisse dann zusammen.) Die Publikation hat ihre 200 Seiten. In den ersten („Einleitung” und „Theoretische Grundlagen der Benutzerforschung”) leitet Boden den Zusammenhang von Nutzung und Bibliothek als Institution marxistisch – wieder so, wie das in der DDR verstanden wurde – her: Dialektisch, Beachtung der Wechselwirkung von gesellschaftlicher Entwicklung und Benutzung, Verhältnis von Selbstständigkeit und Lenkung, all das.

Und dann, nach diesen Abschnitten, setzt er nochmal an und stellt die „Kommunikationstheorie” vor, die sich bei ihm sehr wie die theoretischen Arbeiten der „bürgerlichen” Informationswissenschaft lesen. Nur mit anderen Grundlagenwerken, auf die verwiesen wird, und der Behauptung, dass die Theorie Teil der theoretischen Entwicklung im Marxismus sei, weil sie helfen würde, die Benutzung der Bibliothek zu erfassen, zu beschreiben und dann im grösseren theoretischen Modell – welches er gerade beschrieben hätte – einzuordnen. Anschliessend, im längsten Teil der Publikation, folgen empirische Ergebnisse, die am Ende mit Hilfe der „Kommunikationstheorie” interpretiert werden.

Müsste dann nicht noch ein Schritt folgen, also die Verortung der interpretieren Ergebnisse in die marxistische Analyse der Bibliotheksbenutzung? Die findet sich nirgends. Die Studie ignoriert diesen ganzen ersten Abschnitt einfach. Nicht nur am Ende, sondern in der gesamten Publikation findet sich keine Rückgriff mehr auf diese lange Darstellung. Wozu war sie dann da? (Sie war da, damit die Studie erscheinen konnte. Man darf nie die Umstände verkennen, unter denen solche Texte publiziert wurden. Heute wäre das aber eine richtige Frage an einen Text: Warum so ein lange Begründung schreiben, wenn am Ende eine zweite Theorie eingeführt und benutzt wird?)

Wo ist der Zusammenhang?

In einer logisch organisierten Welt wäre es so, dass aus den Begründungen für bestimmte Entwicklungen von Institutionen sich auch etwas ergibt, was sich auf diese Begründungen bezieht. Die Begründung sollte nachvollziehbar, begründet und logisch sein – und so überzeugen; aus ihnen sollten sich dann logisch nachvollziehbare Veränderungen ergeben. Das ist nicht der Fall. Die drei Strategien aus der DDR, Veränderungen zu begründen, zeigen dies. Solange man bei ihnen am Text bleibt, gilt: Es ist nicht nachvollziehbar, warum gerade WAB(B) sich dialektisch als Lösung anbieten. Es ist nicht klar, warum sich aus Lenins „Hinweisen” gerade das Bibliothekssystem ergab, das es dann gab (oder aus den „Hinweisen” vom SED-Parteitag gerade die eine Untersuchung von Rationalisierung bei der Buchbearbeitung). Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine theoretische Herleitung zur Benutzung von Bibliotheken geliefert wird, wenn sich später nicht mehr darauf zurück bezogen wird.

Zu vermuten ist, dass die Struktur ähnlich auch für heute genutzt Begründungen gilt. Sicherlich: Einiges an den Widersprüchen in den genannten Texten lässt sich aus den Zwängen in der DDR erklären – keine akzeptable Begründung hiess damals keine Publikation. Aber es ist Zufall, dass ich gerade diese drei Begründungsstrategien so schnell hintereinander gelesen habe. Das ist nur Ergebnis meines zumindest etwas strukturierten Vorgehens, Reihen nacheinander zu lesen. Es gibt ähnliche Phänomene die ganzen Jahre des modernen Bibliothekswesens hindurch.

Die Welt (des Bibliothekswesens) ist offenbar nicht logisch strukturiert. Die Begründungen und die dann tatsächlich durchgeführte Bibliotheksarbeit haben keinen direkten Zusammenhang, sondern entweder einen indirekten oder manchmal auch gar keinen. Was der Blick zurück in die Geschichte zu klären hilft, ist, darauf hinzuweisen, worauf man achten kann oder sollte, wenn man sich mit diesem Zusammenhang beschäftigt. (Was kein rein intellektuelles Spiel ist, sondern sich zum Beispiel immer wieder auch als Problem stellt, wenn Bibliotheken versuchen, aus den Begründungen, die in anderen bibliothekarischen Texten geliefert werden, konkrete Arbeitsschritte herzuleiten.)

  • Sollte man die Begründungen vor allem als Rhetorik begreifen? Wenn ja: Wozu werden sie dann eingesetzt? Wer will mit ihnen was erreichen? Und was wird erreicht? Nehmen auch alle anderen die nur als Rhetorik wahr? (Das würde zum Beispiel nicht erklären, warum sie sich zum Teil weitflächig durchsetzen.)

  • Oder sollte man an sie die Forderung stellen, dass Begründungen für Veränderungen nachvollziehbar, begründet und logisch sind – und wenn nicht, sie dann ablehnen? Sollten sie also „wahr” sein müssen? Sollte man zum Beispiel vom Bibliotheksverband fordern, Studien erst zu lesen, bevor sich zu ihnen inhaltlich geäussert wird? Oder von begeisterten Redner*innen auf Konferenzen und von Berater*innen fordern, dass sie zeigen, dass die behaupteten Entwicklungen überhaupt stattfinden? Wenn nicht, was sagt das dann über solche Begründungen?

  • Ist das eine Struktur, die man vielleicht hinnehmen – aber dann reflektiert – muss oder macht hier wer Fehler? Wer? Welche? Ist es zum Beispiel ein Fehler, dass die Begründungen nicht wahr sind – oder ist es ein Fehler, das zu fordern? Wissen die Personen, welche Begründungen für Bibliotheksentwicklung liefern, dass diese oft nicht mit der dann später geleisteten Arbeit, die sich diese Begründungen bezogen wird, übereinstimmen? Streben sie das an und scheitern daran?

  • Sollte man vielleicht aufgeben, diesen Begründungen zu glauben und sie als reines (vielleicht mal durch die Umstände erzwungen, mal zynisch eingesetztes) Spiel verstehen? Als wirkungslos? Was würde das dann heissen?

Für das Nachdenken über Bibliotheksentwicklung heisst das aber erstmal, dass man die Begründungen nicht direkt als Aussagen interpretieren kann, die direkt in der Bibliotheksarbeit umgesetzt werden. Man kann aus ihnen wohl eher ableiten, was Bibliotheken über sich selber und ihre Umwelt denken. (Eher als Diskurs, der eine Wirkung hat – wie jeder Diskurs – aber eben keine eins zu eins-Beziehung.)

Das macht es selbstverständlich schwieriger – nicht nur historisch, sondern auch in der „praxisorientierten Forschung”, die gerne gefordert wird – über Bibliotheksentwicklung nachzudenken. Es zeigt zum Beispiel, dass man nicht einfach Einfluss in der Bibliothek haben kann, nur weil man den Diskurs ändert / kritisiert. (Was dann zumindest Hoffnung macht, dass bestimmte, eher absonderliche Behauptungen, die als Begründung für Veränderungen genutzt werden, wenig oder keinen Einfluss auf die Bibliotheken hat, bevor er dann wieder durch neue Begründungen abgelöst wird.)

Literatur

Boden, Hans (1976). „Kommunikation in der Freihandausleihe. Eine theoretisch-empirische Studie zur Ausleihmethodik”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 21] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1976

Deutscher Bibliotheksverband (2019). „PISA-Studie 2018. Leseförderung muss höchste Priorität bekommen: Pressemitteilung des dbv”. https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2019/december/article/pisa-studie-2018-lesefoerderung-muss-hoechste-prioritaet-bekommen.html?tx_ttnews[day]=04&cHash=2f5c1a17a638c25aaa1477384e17c343

Krupskaja, Nadežda (1956). „Was Lenin über die Bibliotheken schrieb und sagte”. Leipzig : VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen, 1956

Spiegel, Hanna (1974). „Die Entwicklung der sowjetischen Massenbibliotheken unter besonderer Berücksichtigung der Neuordnung und Zentralisierung ihres Netzes”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 15] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1974

Sühnhold, Karl Heinz; Schurzig, Edith (1971). „Rationalisierung der Arbeitsorganisation in zentralen Einarbeitungsstellen: Ergebnisse einer Untersuchung in Stadt- und Kreisbibliotheken”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 8] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1971

[WAB(B) 1974] „Zur Entwicklung Wissenschaftlicher Allgemeinbibliotheken in den Bezirken – Empfehlungen”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 14] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1974

 

Fussnoten

2 „Das Potential der Partnerschaft zwischen Bibliotheken und den formalen Bildungsinstitutionen muss erkannt und systematisch gefördert werden. Für den Ausbau und die Intensivierung dieser Partnerschaft bedarf es bildungspolitischer Unterstützung über die Verankerung der Kooperation in den jeweiligen Bildungsplänen der Bundesländer.” (dbv 2019)

3 Was kommt dann wohl raus, wenn man eine soziale Ungleichheit hat, ein Angebot macht, dass das verändern soll, aber gleichzeitig nicht mehr über diese soziale Ungleichheit nachdenkt? Man reproduziert die soziale Ungleichheit. Mindestens. Vielleicht verstärkt man sie auch noch.

4 Mir kann niemand erzählen, im dbv hätte jemand innert eines Tages die Studie gelesen und dann auch gleich eine fundierte Meinung dazu formuliert. Und wie in einer Studie, in deren Ergebnisband (https://doi.org/10.1787/1da50379-de) noch nicht mal das Wort „Bibliothek” vorkommt, gezeigt werden sein soll, dass Schulbibliotheken notwendig wären, muss auch erstmal erklärt werden.

5 Aber sagen Sie sowas nicht in einem Bewerbungsgespräch. Man würde vermuten, Bibliotheken fänden es gut, wenn sie auf so einen Widerspruch aufmerksam macht, weil man damit zeigt, das man tatsächlich über die Begründungen nachdenkt; aber eigentlich schauen dann alle nur betroffen. Für Sie ausprobiert.

6 Zumindest in einer, die Marxismus als „historisch-dialektisch” begreift, was man in der DDR tat. Andere marxistische Traditionen, welche die Geschichtsphilosophie überdachten oder gar gestrichen haben, würden die Dialektik nicht unbedingt so hoch ansetzen. Aber wir sind nicht hier, um über die verschiedenen marxistischen Strömungen zu diskutieren.

7 Es ist wirklich nicht so viel, „was Lenin über die Bibliotheken schrieb und sagte”. Nadežda Krupskaja – die es wissen musste – hat unter diesem Titel eine Sammlung publiziert und die ist wirklich nicht umfangreich. (Krupskaja 1956) Vor allem enthält wenige längere Arbeiten.

8 Nebenbemerkung: Während meines Studiums las ich für ein Seminar zu Literatur in der DDR eine Reihe von in der DDR geschriebenen Promotionen zu Sagen. Sagen standen offenbar unter dem Verdacht, rückständige Literatur zu sein. Aber Engels hatte einmal drei-vier Sätze dazu geschrieben, wie sehr Sagen in Südamerika das Denken der dortigen Bevölkerung spiegel würde und wie wichtig es wäre, dieses Denken zu kennen. Deshalb wurden am Anfang jeder dieser Arbeiten diese Sätze zitiert und dann aus diesen abgeleitet, dass es sich lohnen würde, sich mit Sagen auseinanderzusetzen. Die Argumentationsstrategie war nicht nur in der bibliothekarischen Literatur zu finden.

„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.”

„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.” Die Präsidentin des Stiftungsrats der Liechtensteinischen Landesbibliothek, Christina Hilti, schrieb diesen Satz in ihre Geleitwort zur „Bibliotheksstrategie 2025”.1 Dabei war und ist sie nicht die Einzige. Vielmehr findet sich diese Aussage aktuell immer und immer wieder in Bibliotheksstrategien, in Texten, in denen sich Bibliotheken der Öffentlichkeit gegenüber vorstellen oder in denen über die Zukunft von Bibliotheken nachgedacht wird. Auch Journalistinnen und Journalisten schreiben ihn seit einig Jahren sehr gerne. Es ist klar, was dieser Satz heissen soll: Bibliotheken sind modern, entwickeln sich und so weiter.

Aber: Dieser Satz enthält eine (a) falsche und (b) auch ein wenig gefährlich Behauptung. Ich fände es gut, wenn im Bibliothekswesen etwas mehr nachgedacht wird, bevor solche Sprachbilder verbreitet werden. (Auf den Journalismus habe ich keinen Einfluss, aber auch da kommt diese Aussage ja nicht von ungefähr. Irgendwer muss die Leute ja darauf bringen, immer wieder diesen Satz zu schreiben.) Das werde in diesem Blogpost besprechen: Zuerst etwas dazu, wie Sprachbilder allgemein wirken (1), dann etwas zur Geschichte von Bibliotheken, die von diesem Sprachbild überzeichnet wird (2), anschliessend einige Überlegungen dazu, was der Effekt dieses spezifischen Sprachbildes ist (3) und im Fazit noch ein paar Vorschläge, was man anders machen könnte (4).

1.Sprachbilder

Bibliothekarische Texte verwenden, wie alle anderen Texte auch, Sprachbilder, um Zusammenhänge darzustellen, Überlegungen zu verdeutlichen, Argumente zu verstärken, Bedenken zu zerstreuen und so weiter. Aber Sprachbilder sind mehr als „nur Gerede”. Sie sind nicht unschuldig in dem Sinne, dass es egal ist, ob sie verwendet werden oder nicht.

Vielmehr produzieren erfolgreich angewendete Sprachbilder bestimmte Vorstellungen von Realität – und führen auch dazu, dass andere Vorstellungen von Realität mehr oder minder unmöglich zu denken sind. Nicht, weil es verboten wäre, sie zu denken, sondern weil sie von den wirkmächtigen Sprachbildern überdeckt werden. Meist wird durch solche Sprachbilder die komplexe Realität so weit reduziert, dass sie falsch wird. Wir kennen das: Wenn sich zum Beispiel das Bild durchsetzt, Lyrik sei vor allem unzugänglich und schwierig zu verstehen, prägt das, wie Lyrik wahrgenommen wird – auch wenn man einfach durch das Lesen von etwas Lyrik merken würde, dass das so überhaupt nicht stimmt. Aber es ist ein wirkmächtiges Sprachbild, das leider viele davon abhält, Spass mit Sprache zu haben.

Kurz: Sprachbilder verkürzen das Denken und die Wahrnehmung von der Realität. Das kann manchmal sinnvoll und notwendig sein, dass kann – in der Lyrik – auch interessante Effekte hervorbringen. Aber wenn es falsch läuft, bringen sie falsche Vorstellungen hervor und produzieren auch falsche (irrealistische) Überzeugungen. Deshalb sollten sie immer wieder einmal überprüft werden. [Ganz abgesehen davon, dass sie auch sprachlich langweilig sind. Wenn sie neu gefunden werden, im Gedicht, dann mag das interessant sein; aber wenn sie zum hundertsten Male wiederholt werden, dann vermitteln sie nur noch Überzeugung, nicht mehr sprachliche Innovativität.]

2.Bibliotheken als Bücherspeicher

Was mit dem Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” behauptet wird, ist, dass früher [Wann?] Bibliotheken einmal „Bücherspeicher” [Warum?] gewesen wären und sich jetzt [Seit wann?] verändert hätten [Wie?], also nicht mehr „Bücherspeicher” wären, sondern modern.

Das ist schlicht und ergreifend historisch falsch.

In der ganzen Geschichte moderner Bibliotheken (lassen wir sie mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts beginnen, ein guter Startpunkt ist „Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform” von Constantin Nörrenberg2) waren Bibliotheken nie „Bücherspeicher” – das gilt für alle Bibliothekstypen, dafür steht die Landesbibliothek in Vaduz als Nationalbibliothek und Öffentliche Bibliothek in einem ganz gut. Immer gab es Versuche – sowohl in der Literatur als auch in der Bibliothekspraxis selber – Bibliotheken als moderne Einrichtungen zu definieren und zu gestalten.

  • Niemals gab es die Idee, die Bibliothek als reine „Ausleihstation” oder „Bücherspeicher” zu betreiben. Vielmehr wurden Bibliotheken immer wieder Aufgaben zugeschrieben, die sie erfüllen sollten (oft aus den Bibliotheken selber, manchmal aber auch von aussen): Bildung, Kampf gegen die Sozialdemokratie oder für das Klassenbewusstsein, gegen den Alkoholismus oder für den Patriotismus, gegen schlechte Literatur oder zum modernen Staatsbürger, zur modernen Staatsbürgerin, die Aufbewahrung und Erschliessung des nationalen Kulturerbes. Aber niemals galten sie als „reiner Bücherspeicher”.

  • Was genau modern hiess und was Bibliotheken deswegen tun sollten, veränderte sich mit der Zeit. Es war oft umstritten, gab immer wieder auch andere Meinungen (so wie es lange nicht nur eine Form von Bibliothek gab). Aber das ist ja mit einem Blick in die Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts auch zu erwarten.

  • Diese Entwicklung wurde im DACH-Raum zum Teil durch Kriege und gesellschaftliche Katastrophen unterbrochen; es war auch keine gradlinig verlaufene Entwicklung. (Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bekanntlich in Deutschland und Österreich erstmal versucht, an die Vorstellungen und Debatten der 1920er wieder anzuschliessen. Aber man darf sich zum Beispiel deswegen nicht vorstellen, dass Bibliotheken während des Nationalsozialismus nicht „entwickelt” worden wären. Vielmehr gab es bis in die Jahre des Weltkrieges hinein massive Entwicklungen, Neubauten, Aufbau von Infrastrukturen – ganz abgesehen davon, dass in der Zeit selbstverständlich auch in der Schweiz und Liechtenstein Bibliotheken weiterentwickelt wurden.) Aber immer gab es eine Entwicklung. Und niemals eine dahin, dass die Bibliothek nur Bücher „speichern” sollten.

  • Das gilt gerade auch für Bibliotheken und Bibliothekstypen, die wir heute als unmodern und veraltet ansehen. Aber auch die „Thekenbibliotheken” der 1910er – egal ob mit oder ohne Lesesaal – hatten nicht einfach die Aufgabe, Bücher zu speichern. Sie sollten als moderne Einrichtungen wirken. Der Bestand, das ganze Sammeln, Auswählen, Managen, Vermitteln von Beständen war diesen Aufgaben untergeordnet. Es gab zu anderen Zeiten mehr Bücher in Bibliotheken als heute, aber das hatte auch mit den jeweils vorhandenen Medien zu tun – und es gab auch immer wieder Diskussionen über andere Medienformen. Das ist nicht neu.

  • Was es auch gab, waren immer Bibliotheken, die den gerade aktuellen Ansprüchen an moderne Bibliotheken nicht genügten, die schlecht ausgestattet waren, sich langsamer entwickelten und so weiter. (Und es gab lange auch solche, die aus anderen Bibliotheken heraus abgelehnt wurden, weil sie die falschen Ziele verfolgten.) „Veraltete” Bibliotheken gab es immer, aber daneben – das ist für die folgende Argumention wichtig – immer, immer Diskussionen darüber, wie moderne Bibliotheken auszusehen hätten, wie sie einzurichten wären und was für Leistung von ihnen erwartet werden könnten.

Der Unterschied ist nochmal wichtig: Einen Diskurs um moderne Bibliotheken gab es immer. Mal mehr heftig, mal weniger; mal besser untermauert, mal weniger; mal mit mehr Beteiligung, mal mit weniger – aber irgendwie gab es ihn immer. Und daneben gab es immer eine bibliothekarische Realität, die diesen Diskussionen nicht perfekt entsprach – aber das ist ja auch logisch, sonst wären die Diskussionen nicht notwendig gewesen.

3.Was dieses Sprachbild verdeckt

Was passiert nun, wenn der Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” benutzt wird? Es wird eine Entwicklung des Bibliothekswesens behauptet, die nicht stimmt. Es wird damit auch die Realität über die heutigen Diskussionen und Darstellungen davon, was eine moderne Bibliothek sei, verzerrt.

  1. Der Versuch, Bibliotheken modern zu gestalten, ist auch historisch der Normalfall. Das heute darüber diskutiert wird, dass sich Bibliotheken zur Gesellschaft öffnen sollten, dass sie einen bunten Medienmix anbieten sollten, aber auch Lern- und Arbeitsplätze, dass sie Veranstaltungen anbieten sollten – all das ist Teil einer Tradition. Es passt in die Geschichte des bisherigen Diskussionen und ist gerade nicht neu (und, so wie es aussieht, werden auch diese Diskussionen wieder von neuen Diskussionen abgelöst werden; sie brechen eigentlich mit nichts und fangen auch so richtig nichts Neues an).

  2. Die tatsächlichen Veränderungen sind nicht die, über die geredet wird. Das Sprachbild vermitteln den Eindruck, als hätte sich bislang niemand Gedanken darüber gemacht, was die Bibliotheken sein sollten, sondern als seien bislang vor allem Bücher „gespeichert” worden – ohne grosses Nachdenken, wozu. Mit dieser Behauptung im Hinterkopf kann dann auch das Einrichten eine Bibliothekscafés als radikal neue Entwicklung angesehen werden (oder, dass man die Nutzerinnen und Nutzer auch mal fragt, wie sie die Bibliothek sehen). Aber was sich wirklich verändert (hat) sieht man so nicht. Insoweit wird man auch immer wieder die realen Entwicklungen falsch einschätzen: Als Bruch mit einer Tradition, als radikal neu, als ganz anders, als modern – aber man kann gar nicht fragen, ob sie das wirklich sind, weil man so zum Beispiel nicht sehen kann, dass die Orientierung an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer schon lange Thema war.

  3. Die Vorstellung davon, wie die „alten Bibliotheken” waren, die jetzt verändert werden, basieren so also auf einer falsche „Rückprojektion”. Was nicht selten zu passieren scheint, ist, dass einzelne Personen ihre privaten Erfahrungen davon, wie Bibliothek „früher waren” (vielleicht zu ihrer Kindheit oder Jugend) als Basis dieser „Projektion” nutzen. Aber das ist falsch: Wie gesagt gab es immer „schlechte”, „veraltete” Bibliotheken; auch haben immer Menschen Bibliotheken etwas anders interpretiert, als die Bibliotheken selber. Es mag also sein, dass einer oder einem Jugendlichen die lokale Bibliothek damals…. 1983 (?)… als „Bücherspeicher” erschien (weil sie keine heissen Scheiben hatte?). Aber das ist nicht gleichzusetzen mit der tatsächlichen Diskussion im Bibliothekswesen, sondern vielleicht eher mit der Wahrnehmung Jugendlicher der unterfinanzierten Bibliotheken 1983 in XYZ-Stadt.

  4. Das ist auch relevant für Folgendes: Die Vorstellung, jetzt würden durch neue Diskurse die Bibliothek verändert, ist so nicht stimmig: Es ist erstmal nur eine Veränderung der Diskurse. Es scheint oft, als würde angenommen, der Diskurs sei schon eine Veränderung der Realität. Menschen stellen sich vor, zu wissen, was die Bibliothek 1983 (?) war („ein Bücherspeicher, da sind wir nie reingegangen”) und würden jetzt den Diskurs ändern („auf die Stadtgesellschaft zugehen, sie in die Bibliothek hineinholen”). Aber das sind zwei unterschiedliche Ebenen (die auf einander bezogen sind). Den Diskurs, nicht nur Bücher anbieten und nicht nur im Literaturbereich unterwegs zu sein, gab es auch schon 1983; Jugendliche, die das nicht wahrnehmen und nicht in die Bibliothek gehen, gibt es auch 2019 (vielleicht gibt es jetzt weniger davon, aber das mag eher mit den heutigen Jugendlichen zu tun haben).

  5. Man vergibt sich also, die Erfahrungen, welche schon in der Vergangenheit bei der Entwicklung von bibliothekarischen Diskursen und darauf basierenden Veränderungen der Bibliothekspraxis gemacht wurden, in die heutige Entwicklung zu integrieren. Zu vermuten ist, dass man deshalb auch bestimmt viele, viele Erfahrungen, die schon längst gesammelt wurden, noch einmal macht. Vor allem, weil nicht nachschaut wird, was schon gelernt wurde – weil man denkt, die Bibliothek früher sei „ein Bücherspeicher” gewesen, von dem man nichts zu lernen hätte.

  6. Daneben ist diese Vorstellung auch etwas beleidigend gegenüber den früheren Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die sich immer auch schon Gedanken um die Entwicklung von Bibliotheken – auf der Ebene einer Bibliothek oder aber des Bibliothekswesens – gemacht haben. Selbstverständlich waren die auch nicht dumm und selbstverständlich haben die auch nach sinnvollen Möglichkeiten gesucht, moderne Bibliotheken zu entwickeln. Das diskreditiert man, wenn man behauptet, erst jetzt würde man sich solche Gedanken machen. (Als ob Menschen heute, 2019, klüger wären als 1890.)

  7. Falsche Vorstellungen über die vergangene Bibliotheken scheinen ein Grund für falsche Vorstellungen über langfristige Entwicklung hin zu den heutigen Bibliotheken, den Diskussionen um die Entwicklung von Bibliotheken und der Realität in Bibliotheken zu sein. Solche falschen Vorstellungen können zu falschen Entscheidungen führen (wenn man zum Beispiel gar nicht fragt, warum bestimmte Dinge so geregelt wurden, wie sie geregelt sind, sondern sich einfach vorstellt, dass das immer eine mindestens veraltete Entscheidungen gewesen wären).

Sicherlich: Solche Sprachbilder können immer schnell in die Tasten gehauen werden – vor allem, wenn sie schon so oft zuvor gebraucht wurden. Mein Tipp wäre hier aber, einfach mal von Zeit zu Zeit in ältere bibliothekarische Zeitschriften zu schauen, ganz zufällig über die Jahrzehnte verteilt oder aber gezielt aus der Zeit, von der man denkt, dass Bibliotheken damals „Bücherspeicher” gewesen seien, und dort nachzuschauen, über was damals eigentlich wirklich diskutiert wurde. Nicht selten wurde sogar tatsächlich über „Bücherspeicher”, also Magazine, diskutiert, aber nie als Leitbild von Bibliotheken.

4.Fazit

Am Ende würde ich dafür plädieren, gerade dieses Sprachbild nicht mehr zu benutzen. Es ist einfach falsch und überdeckt zu viel. [Und es ist auch langweilig geworden. Wenn schon Sprachbilder, warum dann nicht ein paar neue? Die Lyrik schafft das ja auch.] Wirklich gut wäre, sich öfter mal Gedanken darüber zu machen, was man da eigentlich sowohl in die Bibliotheken hinein als auch aus ihnen heraus für Vorstellungen transportiert, wenn man bestimmte Sprachbilder nutzt und sich dann zu fragen, ob man das wirklich will. [Ich hätte da noch einige andere Beispiele: Was soll das beispielsweise mit dem „Sofa” oder „Wohnzimmer der Stadt”, das Bibliotheken sein sollen?]

Was man unbedingt tun sollte, ist, nicht so zu reden oder zu denken, als sei man, nur weil man gerade in 2019 aktiv ist, klüger als die Kolleginnen und Kollegen vorher. Selbstverständlich hatten die in vielem nicht Recht, selbstverständlich waren viel ihrer Annahmen falsch – aber die kann man nicht sinnvoll kritisieren, indem sie abqualifiziert als quasi dumm („nur Bücherspeicher”). Wenn wir hingegen deren Überlegungen und deren Bibliothekspraktiken ernst nehmen, können wir in der Auseinandersetzung mit diesen viel besser und viel genauer darüber nachdenken, was eigentlich unsere Vorstellungen sind, wo diese herkommen und wo die tatsächlich hingehen. Wenn wir hingegen behaupten, bisher sei einfach alles unmodern und falsch gewesen, aber jetzt, weil wir gerade in unserer Zeit leben und weil wir unsere Methoden anwenden, wüssten wir es einfach besser, halten wir uns (selber) vom Nachdenken darüber ab, was sich wirklich verändert und / oder verändern sollte. Es macht uns ehrlich gesagt dümmer und überheblicher, als wir sein müssten. Veränderung gab es immer – das macht unser Zeitalter nicht aus.3

Zu lernen ist auch, dass der Zusammenhang zwischen Diskurs und Realität wohl komplexer ist, als das man erwarten könnte, einfach mit einer Veränderung des Diskurses schon die Realität massiv zu verändern. Wie gesagt: Diskussionen darum, wie eine moderne Bibliothek sein sollte, gab es praktisch immer, seit die Gesellschaft über breitenwirksame Einrichtungen diskutiert. Aber offenbar, sonst wäre das Sprachbild von den „Bücherspeichern”, die Bibliotheken angeblich früher gewesen seien, nicht so überzeugend: Die Realität, zumindest die, die wahrgenommen wurde, war offenbar nicht immer so. Es gibt keinen Hinweis, das einfach durch eine Weiterentwicklung der Diskussionen die Wahrnehmung der Bibliotheken verändert wird.

 

Fussnoten

1 Liechtensteinische Landesbibliothek: Bibliotheksstrategie 2025. Vaduz 2018, S. 2, https://www.landesbibliothek.li/wp-content/uploads/2019/01/LiLB_Bibliotheksstrategie-2025_20190130.pdf.

2 Constantin Nörrenberg: Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform. Berlin 1895, https://archive.org/details/dievolksbibliot00nrgoog. Ich verlinke die hier auch, damit man gleich einmal mit dem im Fazit angesprochenen Nachlesen in älterer bibliothekarischer Literatur beginnen kann.

3 Auch die Behauptung, heute gäbe es mehr Veränderung als früher, stimmt nicht – einfach nochmal über die Veränderung 1880-1900 nachdenken und dann mit der Veränderung 1999-2019 vergleichen. Erstere war, was leicht zu sehen ist, massiver.

Welche Vorbilder wählt sich das Bibliothekswesen und wieso? Einige Überlegungen

Letztes Wochenende fand in Genf die Fête de la Musique statt. Anders als anderswo ist das in Genf nicht der Tag des Sommeranfangs (21. Juni), sondern das ganze Wochenende nach diesem Tag (Freitag bis Sonntag, diesmal 22-24. Juni). Aber ebenso wie anderswo: Musik, vornehmlich draussen, umsonst, mit verschiedensten Musikrichtungen, sehr lokal geprägt (also Bands und so weiter aus Genf, was bei der doch internationalen Stadt Genf halt auch heisst, sehr international geprägte Musik). Da sich der Grossteil der Bühnen in Genf in der Altstadt und neben der Altstadt im Parc des Bastions befindet, gab es hier auch recht zentral all die Essens- und Getränkestände, symphatischerweise nicht von grossen Caterern, sondern vor allem von Vereinen betrieben, die so Geld für ihre jeweiligen Vereinszwecke sammeln. Auch die Infrastruktur: Sehr nett. Kostenfreie und saubere WCs (im Vergleich), überall Brunnen mit Trinkwasser.

Und mittendrin hat die Öffentliche Bibliothek eine Bühne, genauer: Von den Öffentlichen Bibliotheken der Stadt hat einer der 13 Standorte (Bibliothèque de la Cité) eine Abteilung für Musik (Espace musique) und diese Abteilung wiederum hat einen eigenen Bibliotheksbus (Mobithèque) (neben dem Bibliotheksbus – Bibli-o-bus – für die kleinen Orte im Kanton, aber ausserhalb der Stadt Genf selber, den es auch gibt), welcher die ganzen drei Tage bei der Fête de la Musique auch Programm bietet: Filme, Quiz, Chanson, DJs.

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Der DJ beginnt mit seinem Set und geht dabei gleich symphatisch mit ab. Später wurde getanzt (inklusive vieler Kinder, deshalb hier keine Bilder davon).

Auch das war ganz nett. Aber wie wir so bei der Mobithèque sassen, dem DJ (Abraham Licorne, wenn ich das vergangene Programm richtig lese) zuhörten, wie er so einen sehr aufbauenden Mix von Funk, Swing, Rap und Elektro auflegte und wir den Leuten zuschauten, wie sie am warmen, sommerlichen Abend tanzten und auch sonst alles im Rahmen ganz symphatisch fanden, begann ich mich eines zu fragen: Warum ist eigentlich nicht das – die Bibliothèques Municipales de la Ville Genève und ihre Angebote, die direkt zu den Menschen gehen – ein Vorbild für Bibliotheken im deutsch-sprachigen Raum?

Was ist Vorbild – und was nicht?

Je länger der Abend dauerte, umso mehr stellte sich mir diese Frage: Wie wird eigentlich im Bibliothekswesen ausgewählt, welche Bibliotheken als Vorbild gelten und was von ihnen als vorbildhaft gilt? Damit einher geht selbstverständlich immer die Frage, was gerade nicht ausgewählt wird. Der Diskurs (der mal wieder) über bestimmte Vorbilder ist selbstverständlich eine Verständigung darüber, was als denk- und machbar gilt. Gleichzeitig errichtet er ein „Aussen” von Lösungen (in diesem Fall: Bibliotheken), die als nicht vorbildhaft gelten, als nicht denkbar, nicht umsetzbar, als bestenfalls utopisch. Und das vor allem als Diskurs, als System von Worten, Aussagen und Denkweisen. Denn: Ich sass dort im Park und hörte dem DJ, der in der Mobithèque auflegte, zu. Das gibt es real. In einer sehr internationalen Grossstadt mit allen ihren netten und nicht-netten, verrückten und langweiligen Menschen, mit all ihrer Infrastruktur, ihrer Wirtschaftsorientierung, dem „Weggucken” bei all den Quasi-Diktatoren, die dort wohnen, bei ihrem spezifischen Verständnis von Wohlfahrt. Es ist also gar nicht so utopisch; es ist schon gebaut. Aber es ist nicht als Vorbild im deutschsprachigen Diskurs drin.

So erscheint es im deutschsprachigen bibliothekarischen Diskurs praktisch als unmöglich: Ein Bibliotheksverständnis, das eher auf viele kleine Filialen, die dafür dort sind, wo Menschen wohnen, setzt; auf Programme, mit denen zur Bevölkerung gegangen wird, mit Bücherbussen und persönlichen Angeboten. Mit einer Agenda, die so viele Veranstaltungen beinhaltet (ein Teil in Kooperation mit anderen Einrichtungen, aber der Grossteil von der Bibliothek selber organisiert), dass sie mehrfach im Jahr, zum Teil nur für bestimmte Themen (zum Beispiel Musik) gedruckt werden muss? Warum erscheint so ein Verständnis von Bibliothek nicht als vorbildhaft, warum werden Bibliotheken im deutschsprachigen Raum, die auch eher auf solche Strukturen setzen, eher als unzeitgemäss angesehen? Das zum Beispiel Zürich oder Wien so viele Filialen haben, wie sie haben, erstaunt ja heute schon eher. Thematisiert wird es kaum.

Dabei, so wurde eigentlich klar, während der Abend weiterging, haben die Nutzerinnen und Nutzer da gar nichts dagegen.

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Nur mal zwei der aktuellen Programme der Bibliothèques Municipales de Genève. (Das Motto „une fenétre sur le monde“ heisst übrigens „ein Fenster zur Welt“. Auch das symphatisch.)

Was macht „unsere Vorbilder” aus?

Bislang habe ich schon mehrfach (hier im Blog und anderswo) darauf hingewiesen, dass es eine Tradition in den deutschsprachigen Bibliothekswesen gibt, die eigentlich einer Erklärung bedarf: der ständige Blick in die USA, nach Grossbritannien und „Skandinavien” (ohne Island, selten nach Finnland, dafür manchmal in die Niederlande) und die dortigen Bibliotheken. Die Tradition gibt es seit Langem, auch durch verschiedene politische Systeme hindurch. Sie war nicht immer so stark (man findet in älteren bibliothekarischen Zeitschriften zwar auch diesen Blick, aber doch mehr Artikel, die andere Bibliothekswesen vorstellen; es war also eher „bunter”), sie scheint heute auch viel fokussierter auf Teilaspekte der dortigen Bibliothekswesen als früher. Aber sie erklärt zum Teil, warum das Bibliothekswesen in Genf nicht als Vorbild gilt.1

Aber neben dieser Tradition fiel mir an diesem Abend zusätzlich auf, dass die „Vorbild-Bibliotheken”, welche in den bibliothekarischen Texten vorgestellt, in organisierten Informationsreisen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren besucht und auf Konferenzen als Beispiel angeführt werden, nicht nur in diese Tradition passen, sondern einige andere Gemeinsamkeiten haben.

In meiner „aktiven Zeit” im Bibliothekswesen (etwas mehr als zehn Jahre) hat es drei dieser grossen Vorbilder gegeben:

  1. Die Idea Stores in London
  2. Die Openbare Bibliotheek Amsterdam, Centrale Bibliotheek
  3. Dokk1 in Århus2

Ich gehe mal davon aus, diese bekannt sind. (Und wenn die Idea Stores unbekannt sind und schon lange nichts mehr von ihnen vermeldet wurde, ist das auch nur bezeichnend, siehe weiter unten.)

Es gibt eine Anzahl von Gemeinsamkeit bei diesen drei Vorbildern:

  1. Es ging bei allen drei um einen aktiven Stadtumbau, in welchen die Bibliotheken einbezogen wurden. Die Idea Stores waren Teil der aktiven Aufwertung von Wohnquartieren. Es wurden Bibliotheken geschlossen, die – so die Argumentation – veraltet waren und neue Stores gebaut, die unter anderem durch ihr Design und ihre Architektur Moderne ausstrahlen und dazu beitragen sollten, dass sich die Quartiere erneuerten. Die Centrale Bibliotheek und das Dokk1 sind noch expliziter Institutionen, die zur Aufwertung von ehemals industriell genutzten Häfen beitragen sollen. Beide Male war die Aufgabe, welche sich die Stadtverwaltungen stellten die, Häfen, die lange die Stadt vom jeweiligen Wasser trennten, neu in die Stadt einzubinden. Es trafen sie ja auch die gleichen Entwicklungen (und nicht nur sie) in der Logistik, die in den letzten 10-15 Jahren weltweit „Häfen freimachen”. In diesen beiden Fällen wurden – nicht nur – Bibliotheken als Mittel gewählt, diese Öffnung zur Stadt zu erreichen.
  2. In allen drei Fällen ging es um Architektur. Alle Gebäude wurden explizit als zeitgenössisch, überwältigend und eindrücklich konzipiert. Sie sollen – so würde ich es interpretieren – alle eine gewisse Offenheit, Helle und Moderne repräsentieren. Ob sie das erreichen ist eine andere Frage. (Mir persönlich scheinen vor allem die Idea Stores und das Dokk1 erstaunlich abweisend.) Aber es war und ist auffällig, wie oft die Architektur im Mittelpunkt von Darstellungen dieser Bibliotheken stand und wie oft Texte vor allem mit grossen Architekturbildern dieser Bibliotheken bebildert wurden.
  3. Um was es viel weniger ging, bei den Texten zu diesen drei Beispielen, war die Funktionalität der Gebäude selber. Sicherlich wurden sich bei den Bauprojekten darüber Gedanken gemacht. Aber in den Darstellungen überwog eher, wie die Gebäudeals Gebäude und stadtplanerische Statements wirken sollen (also ein architektonischer und vielleicht auch stadtplanerischer Blick) und weniger, wie sie tatsächlich im Alltag für bibliothekarische und andere Aufgaben wirken (also ein bibliothekarischer Blick). Ein wenig so, als würde sich auch in der bibliothekarischen Literatur eher für die Gestalt als für den Inhalt interessiert.
  4. Bei allen drei Beispielen wurde postuliert, dass eine Lösung vorgeblicher bibliothekarischer Probleme (dass das Bild der Bibliotheken schlecht wäre, dass sie veraltet seien, dass sie immer weniger Nutzerinnen und Nutzer hätten) darin bestehen würde, die Bibliotheken mit anderen Einrichtungen zusammenzulegen und als gemeinsame Einrichtungen zu betreiben. Bei den Idea Stores mit der Erwachsenenweiterbildung, in Amsterdam mit Theater, Radio und anderen Einrichtungen, im Dokk1 gleich als Kulturzentrum. Dies wurde auch in der deutschsprachigen Literatur immer wieder als vorbildhaft herausgestellt. (Es ist eigentlich keine sonderlich neue Idee und auch anderswo schon mehrfach umgesetzt. Dennoch wurde es immer wieder als neu herausgestellt.)
  5. Damit einher ging, dass bei den drei Vorbildern moderne bibliothekarische Arbeit vor allem als Arbeit entworfen wurde, die über einen gewissen „traditionellen Kern” hinausgehen würde. Mehr Veranstaltungen, Makerspaces (Amsterdam, Århus), Bildungsberatung (London) und so weiter. Auch das war eigentlich nichts Neues, aber es wurde immer wieder als vorbildhaft dargestellt. Was weniger diskutiert wurde, war die eigentliche bibliothekarische Aufgabe dieser Einrichtungen. Stattdessen diskutiert wurden (vorgeblich) hinzukommende Aufgaben und Angeboten.
  6. Vielleicht ist es nur mein Eindruck, aber mir scheint, dass die potentiellen Nutzerinnen und Nutzer, die in den „Vorbild-Bibliotheken” angestrebt werden (und die auf den Bildern in den Artikeln zu sehen waren), trotz aller Betonung von Offenheit und Urbanität doch sehr eingeschränkt sind: sehr kleinbürgerlich, selbstmotiviert, bildungs- und aufstiegsorientiert, kreativ in dieser sehr aufgeräumten Weise, „vernünftig” im Sinne von Leuten, denen man weder Ekstase noch durchgetanzte Nächte zutraut [im Gegensatz zu DJs auf der Fête de la Musique, die zumindest an solche „unsinnig” kreativ verbrachten Nächte erinnern] und „vernünftig” im Sinne von auf Harmonie und Ausgleich ausgerichtet [und eben nicht auf die Thematisierung von Widersprüchen und gesellschaftlichen Strukturen]. Halt „ordentliche, vernünftige Leute”. Welcher Herkunft, sexueller Identität, religiöser Haltung et cetera scheint egal, solange sie „vernünftig” sind. Halt doch nur ein Teil der Gesellschaft.
  7. Bei der Darstellung der Vorbilder fällt im Nachhinein auch auf, dass sie praktisch nur als solitäre Einrichtungen dargestellt wurden; nicht als Teil des jeweiligen lokalen Bibliothekswesens. (Das hat sich ja auch in vielen „Bibliotheksreisen” gezeigt, die immer vor allem zu der einen Bibliothek gingen; als würde man aus den anderen Bibliotheken drumherum nicht viel lernen können.) Ob die jeweiligen Einrichtungen überhaupt eine Besonderheit darstellen oder eine Tradition fortsetzen; wie sie sich in das jeweilige Bibliothekssystem einliessen, wurde kaum gefragt. [Gerade beim Beispiel in Amsterdam wurde das am genutzten Namen für die Bibliothek manchmal auffällig: Openbare Bibliotheek Amsterdam heisst einfach Öffentliche Bibliothek Amsterdam – und von denen gibt es mehrere. Die Centrale Bibliotheek (Zentralbibliothek) über die gesprochen wurde, wurde aber oft so besprochen, als wäre es die eine und einzige Öffentliche Bibliothek in Amsterdam, deswegen wurde sie auch oft einfach „Openbare Bibliotheek” genannt.]
  8. Ebenso im Nachhinein (also zumindest für die Idea Stores und die Bibliothek in Amsterdam, aber jetzt eigentlich auch für die in Århus) fällt auf, dass sie nach den Phasen, in denen sie als Vorbild dargestellt und besucht wurden, eigentlich nicht mehr in der deutschsprachig bibliothekarischen Literatur auftauchen. Oder anders: Dargestellt wird der Anfang, aber nachher scheint kaum jemand nachzuschauen, wie sich diese Vorbilder entwickeln. Wie soll man das interpretieren? Geht es vor allem um den Eindruck des Neuen, nicht um das tatsächliche Funktionieren?

Ist das naturgegeben, dass gerade solche Bibliotheken ausgewählt werden, um in ihnen etwas neues oder vorbildhaftes zu finden? Ist es naturgegeben, dass sie so angeschaut und dargestellt werden, wie sie es werden? (Also Fokus auf die Architektur, wenig Fokus auf die Aufgaben, die der jeweiligen Einrichtung zum Beispiel bei der Stadtplanung zugeschrieben werden.) Selbstverständlich nicht. Man könnte andere Bibliotheken wählen, man könnte Bibliothekssysteme (und nicht einzelne Einrichtungen) anschauen, man könnte anderes thematisieren (zum Beispiel die Funktionalität von Gebäuden oder die Verdrängungsprozesse, an denen Bibliotheken (ungewollt) beteiligt sind, wenn sie als Teil der Aufwertung von städtischen Räumen angesehen werden). Man könnte auch Bibliotheken ausserhalb grosser Städte als Vorbild nehmen. Das ist alles möglich und in den letzten 100-125 Jahren ist das auch getan worden. Es ist also eigentlich erklärungsbedürftig, warum es heute so getan wird, wie es getan wird.

Was sagen unsere Vorbilder über uns aus?

Als ich nun in Genf neben der Mobithèque sass und über all dies ein wenig nachdachte, fiel mir ein Satz ein, der diese ganzen Überlegungen ganz gut zusammenfasst:

Es ist politisch, was man als Vorbild nimmt, was man nicht als Vorbild nimmt sowie was man an Vorbildern als vorbildhaft thematisiert und was nicht.

Eigentlich ziemlich einfach. Bei Menschen ist das auch nicht anders. Ob ich es als sinnvoll ansehe, Vorbilder zu haben oder nicht ist eine Entscheidung, die auf meinem Bild über die Welt und die Menschen aufbaut. Wen ich als vorbildhaft ansehe ebenso. Und was ich an diesen Personen als vorbildhaft ansehe auch (Beispielsweise jemand sehr oft gewähltes: Che Guevara. Finde ich die konkrete Politik Ches vorbildhaft oder nur, das er sich für seine Ideen einsetzte? Finde ich das Hasta la victoria siempre gut oder den konkreten militärischen Einsatz in Kuba, Kongo und Bolivien? Und: Wie tiefgehend meine ich das? Geht es mir um ein ungefähres Bild [„Man muss so radikal für die Armen sein, wie Che”] oder um konkrete Einzelheiten [„Man muss das kubanische Tagebuch und die wichtigsten Reden kennen und denen nachleben.”]?) Das scheint am Ende bei Bibliotheken nicht anders. Es ist halt nicht zufällig, was als Vorbild angesehen wird und was nicht. Und deshalb kann man auch versuchen von den Vorbildern, die in den deutschsprachigen Bibliothekswesen gewählt werden, abzuleiten, wie sich Bibliotheken politisch verorten.

Das aber wiederum hat mich ganz schön nachdenklich gemacht. Alles Vermutungen, aber:

  1. Auffällig ist schon, dass die Einbindung der drei Vorbilder in konkrete Gentrifizierungstendenzen gar nicht thematisiert wird. Wird das etwa gut gefunden? Wird das nicht gesehen? Ist es nicht eine gewisse Komplizenschaft, das praktisch bei den Darstellungen auszulassen und einfach so hinzufahren?
  2. Auffällig ist aber auch die relativ unkonkrete Darstellung dieser Vorbilder: Die konkrete Funktion im Alltag, die bibliothekarischen Fragen (zu denen dann offenbar auch solche der Veranstaltungsorganisiation und Kooperation zählen) stehen ja ganz oft im Hintergrund, dafür werden vielmehr Bilder präsentiert. Das bleibt alles immer sehr, sehr schwammig. Und nachher wird auch wenig geschaut, ob es überhaupt wirkt. Worum geht es dann? Eher so um den Vibe des Neuen, um das Gefühl, modern zu sein? [Wie beim Che-Beispiel: Eher um den Vibe der Veränderung als um die konkrete Auseinandersetzung mit der Praxis?]
  3. Auffällig auch, dass vor allem Einzelgebäude angeschaut werden, nicht Bibliothekssysteme. Im neoliberalen Stadtumbau ist das normal: Nachdem die Kommunen fast alle Steuerungselemente aus der Hand gegeben haben, um den Markt möglichst viel regulieren zu lassen, ist das Mittel der Wahl heute, irgendetwas hinzustellen (Gebäude, Projekte), das dann die über den Markt regulierte Gesellschaft oder Stadt in eine Richtung stossen soll. Weniger Infrastruktur, mehr beispielhafte Interventionen. In gewisser Weise scheint sich das bei den bibliothekarischen Vorbildern wiederzufinden: Einzelne Bauten, nicht Systeme werden angeschaut, es scheint eher in Interventionen (Innovationen) gedacht zu werden und weniger an Infrastruktur oder konkreter Arbeit.
  4. Und auffällig ist einfach auch, wie wenig eigentlich die Gesellschaft thematisiert wird. Es gibt so ein grundsätzliches Diversitäts-Versprechen, aber eigentlich scheint es, als würde nicht gefragt, was diese Vorbild-Bibliotheken eigentlich für Menschenbilder vermitteln (bei den Idea-Stores und ihrer Fixierung auf Bildung wären dies sehr einfach zu thematisieren). Es scheint halt schon manchmal, als würde umstandslos die kleinbürgerliche (ist das das richtige Wort?) Orientierung einfach übernommen. Vorsichtig interpretiert scheinen sich Bibliotheken mit den kleinbürgerlichen Werten (die ja heute auch offener sind als früher, halt diverser, solange alle „vernünftig” sind) zu identifizieren. Vielleicht weil das genau das Weltbild ist, dass von vielen in der Bibliothek vertreten und gelebt wird?

Bessere Vorbilder?

Wohin führen solche Überlegungen? Ich bin mir nicht sicher. Es wäre sehr einfach, andere Vorbilder zu fordern und auch einen anderen Blick auf diese Vorbilder. Ich könnte gleich einige nennen: Genf, Wien, Toronto; jeweils die ganzen System der Öffentlichen Bibliotheken, nicht Einzelbauten; und der Blick weg von „alles muss neu sein” hin zu „wie fördern die das Gemeinwohl”. Aber diese Auswahl sagt vielleicht auch einfach mehr über mich und mein Weltbild aus.

Wichtig ist für mich eher der Satz von dem politischen Verhaftet-Sein der Vorbilder im bibliothekarischen Diskurs. Gerade verbunden mit dem Wissen, dass es auch schon anders war (beispielsweise das Mitte der 1960er Jahre nicht auf skandinavische Bibliotheken geschaut wurde, um da die Zukunft der Bibliothek, sondern um Vorbilder für eine rationale Gestaltung der Bibliotheksarbeit zu finden), zeigt er, dass der mögliche Wissensraum viel grösser wäre, als der, der aktuell genutzt wird. Es gäbe viel mehr Fragen, Erfahrungen und mögliche Fokusse. Und zu verstehen, dass es politische Entscheidungen (im Sinne von „wie stelle ich mir vor, dass die Welt funktioniert; was betrachte ich als relevante Themen und was nicht?”) sind, mach auch klar, dass über die impliziten Annahmen, die mit den Vorbildern vermittelt werden, diskutiert und das diese auch verändert werden können.

Dieses Nachdenken hinterlässt einen gewissen schallen Beigeschmack. Was genau ist das, diese gewissen Einschränkungen bei den Bibliotheken, die als Vorbild gelten? Ist das die Neoliberalisierung des bibliothekarischen Denkens (wie halt bei vielen linken Parteien in den letzten Jahrzehnten, wo auch bestimmte Themen und Fragen einfach „verschwunden” sind)? Ist das „Denkfaulheit”, die vielleicht durch zu viel Arbeit oder zu viel Zumutungen im Alltag hervorgerufen wurde? Ist es ein Ausdruck der Überzeugungen über die Gesellschaft, denen im Bibliothekswesen gefolgt wird oder prägen die Vorbilder und ihre Darstellung diese Überzeugungen? Nochmal: Warum sind nicht die so nahe bei den Nutzerinnen und Nutzern verorteten Öffentlichen Bibliotheken in Genf ein Vorbild, dafür aber das Ungetüm in Århus? Ist es vielleicht einfach ein Zeichen von zu wenig Utopie und zu wenig Mut zum Denken über das Bekannte hinaus? Zum Glück war der DJ gut und der Sommerabend warm, aber nicht zu warm; sonst wäre aus dem Nachdenken vielleicht eine sehr rabiate Polemik geworden.

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Vor dem DJ-Set gab es eine Musikquiz.

 

Fussnoten

1 Für die Schweiz kommt die Tradition hinzu, die Teile auf „der anderen Seite der Sprachgrenze” als irgendwie ganz anders zu verstehen, zwar als schweizerisch, aber als doch nicht gleich. Die Bibliotheken in Genf können sehr schnell als „in der Romandie sind sie (?) eher so staats-orientiert, aber in der Deutschschweiz eher so förderalistisch” als mögliches Vorbild abqualifiziert werden.

Zwischendurch wurde auch die Seattle Public Libray, Central Library etwas öfter thematisiert, aber nicht so oft wie die anderen drei Bibliotheken. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass es teurer ist und länger dauert, Seattle zu besuchen, als Århus. Aber auch für Seattle gilt, dass viel mehr über eine spezifische Bibliothek berichtet wurde, als – wie Olaf Eigebrodt einmal erwähnte, ich weiss aber leider nicht mehr wo – über die gesamte Ausrichtung des gesamten Bibliotheksnetzes in Seattle. Die Bibliothek New Library in Birmingham wurde fast nur wegen der Architektur und dann der Absurdität, dass nach dem Bau zu wenig Geld zum kontinuierlichen Betrieb der Bibliotheken der Stadt übrig war, erwähnt.

Bewegen sich Bibliotheken vielleicht einfach mit der Gesellschaft mit?

Silvester 2014/2015 und die Tage drumherum verbrachte ich in Amsterdam. Für Bibliothekarinnen und Bibliothekare ist diese Stadt bestimmt auch wegen der Openbare Bibliotheek Amsterdam bekannt, beziehungsweise dem 2007 bezogenen neuen Gebäude der Zentralbibliothek dieser Stadtbibliotheken auf dem Oosterdok gleich um die Ecke von der Centraal Station. Dieser Neubau erhielt nach der Eröffnung reichlich Beachtung, beispielsweise ‒ allein auf deutsch ‒ mit Beiträgen von Gernot U. Gabel in der B.I.T. online, von Sarah Dudek in der BuB oder Hermann Romer in der SAB-Info/Info-CLP (S. 6). In fast jeder Publikation zu Bibliotheksbauten in Europa, die in den letzten Jahren erschienen ist, kommt die Bibliothek ebenso vor. Der Ruf ist gut: Jung ist die Bibliothek, attraktiv, innovativ, mit einem grossen Angebot von Veranstaltungen.

Da meine Begleitung zum Glück ebenso bibliotheksaffin ist wie ich, war es überhaupt kein Problem, dass Gebäude gleich am ersten Abend zu besuchen. Und ja: es ist eine schöne, passende und attraktive Bibliothek; die in der offenen und liberalen Grossstadt Amsterdam offenbar gut funktioniert. Gross, hell, mit vielen flexibel zu nutzenden Arbeitsplätzen, mit vielen Veranstaltungen.

Ausgeschilderter Weg zu Bibliothek.
Ausgeschilderter Weg zu Bibliothek.
Ordentliche Öffnungszeiten.
Ordentliche Öffnungszeiten.

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Obwohl wir am 30.12. vorbeigingen, war die Bibliothek in voller Nutzung. Und es gibt in ihr wirklich vieles, was heute in Öffentlichen Bibliotheken zur Innovation gezählt wird: flexibel zu nutzende Flächen, Ausstellungen (sowohl im Untergeschoss, als auch zwischen den Beständen, teilweise passend zu den jeweiligen Teilbereichen), ein Veranstaltungsprogramm, das mit Workshops, Konzerten und vielem mehr über die einfache Lesung hinausgeht, freundliches Personal, dass auf der gleichen Höhe wie die Nutzerinnen und Nutzer sitzt, Plätze mit viel Licht und Ruhe zum Arbeiten und Plätze mit gemütlichen Sitzgelegenheiten und Blick über die Stadt; Medienstationen für Musik, ein kleines Kino mitten im Bestand, Kunst in der Kunstabteilung, eine lockere und liberale Atmosphäre. Es gibt nichts auszusetzen.

Und dennoch: als wir am Ende unseres Rundgangs im Restaurant im Stockwerk über der Bibliothek (mit gesundem, nachhaltigen und im Vergleich zu den Preisen in der Altstadt durchschnittlichen Preisen; obwohl es von einer Kette betrieben wird) sassen, hatte ich das Gefühl, dass alles schon zu kennen. Dieses übermässige Weiss überall; diese Einbindung unterschiedlicher Medien; diese lockere Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. Ich denke es ist Folgendes: Nichts an dem, was zu sehen ist, war besonders grossartig, innovativ oder neu. Alles war okay, aber bei allem Respekt hatte ich überhaupt kein Neuigkeitsgefühl in dieser Bibliothek.

Wie gesagt: Ich finde sie gut. Soweit ich das mit einem Besuch (an einem etwas untypischen Tag) bewerten kann, ist es eine gut integrierte und gut funktionierende Bibliothek, die sich aktuell hält.

Musikabspielstation.
Musikabspielstation.
Kleines Kino für Bibliotheks-DVDs
Kleines Kino für Bibliotheks-DVDs
Radio direkt in der Bibliothek gemacht.
Radio direkt in der Bibliothek gemacht.
Das Restaurant auf dem Dach, mit direktem Zugang aus der Bibliothek.
Das Restaurant auf dem Dach, mit direktem Zugang aus der Bibliothek.

Weiterentwicklung

Genau das war, glaube ich, mein Problem mit dieser Bibliothek, beziehungsweise mit dem Bild von der Bibliothek im Vergleich mit ihrer Realität: Die Zentralbibliothek der Openbaren Biblioteek Amsterdam ist eine moderne Bibliothek, die sich an die aktuellen Möglichkeiten anpasst. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich, als ich letztens in Köln den Makerspace in der dortigen Stadtbibliothek besuchte. Ich kannte ihn vorher aus Texten (s. 295-297) und Vorträgen, in denen er als etwas erstaunlich Innovatives und Neues dargestellt (und mit der Q-thek im unteren Stock der Bibliothek verbunden) wurde. In der Realität ist der Raum erstaunlich klein, der 3D-Drucker ist vor allem am Samstag in Betrieb, die Workshops sind zahlreich, bewegen sich aber meist auf der Ebene “Einstieg in…” beziehungsweise “Einführung in…”. Gleichwohl funktioniert der Raum, die vorhandenen Geräte sind sinnvoll und beschriftet. Das Angebot passt in die Bibliothek. Vielleicht ist es das, was genau in diese Stadt passt.

Sowohl in Amsterdam als auch in Köln hatte ich den Eindruck (allerdings jeweils nur von kurzen Besuchen während Kurzurlauben), dass es sich um sinnvolle Weiterentwicklungen handelte. Wenn zum Beispiel Musik vor allem elektronisch vorhanden ist, ist es für einen Bibliothek nur sinnvoll, wenn es Abspielstationen wie in Amsterdam (oder der Q-thek in Köln) gibt. Das ist in den Medienformen angelegt. Wenn die Aufgaben der Bibliotheken breiter werden, ist es nur sinnvoll, dass es auch mehr und andere Workshops gibt, wie das in Amsterdam und Köln der Fall ist. Man kann sich wohl bei all diesen Angeboten streiten, welche Entwicklung genau sinnvoll ist, ob zum Beispiel (so würde ich das behaupten) bestimmte Angebote in bestimmten Städten oder Gemeinden funktionieren und in anderen nicht. Aber so oder so sind all diese Weiterentwicklungen genau das: Weiterentwicklungen von schon vorhandenen Angeboten. Manche Dinge kommen uns in Deutschland und der Schweiz vielleicht unerhört neu vor, zum Beispiel Radio in der Bibliothek, wie das in Amsterdam gemacht wird. Aber auch da scheint mir oft, dass unser Blick einfach zu sehr auf spezifisch deutsche oder schweizerische Traditionen eingeengt ist. Ich hatte kurz vorher “L’action culturelle en bibliothèque” von Bernard Huchet und Emmanuèle Payen (edit.) gelesen, das ein Standardwerk für kulturelle Veranstaltungen in französischen Bibliotheken ist und fand, dass das Radiostudio in Amsterdam gut als weiteres Beispiel in dieses Buch gepasst hätte.

Nicht Innovation

Warum das alles hier erzählen? Weil es (wieder einmal) zu dem Punkt führt, dass ich ein grosses Unbehagen mit dem Begriff “Innovation” und seiner Verwendung im Bibliothekswesen habe. Die Bibliothek in Amsterdam und der Makerspace in Köln wurden in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur beide als neu und innovativ vorgestellt. In der Realität scheinen sie aber vor allem sinnvoll auf neue Anforderungen und Möglichkeiten zu reagieren, immer im Rahmen ihrer lokalen Gegebenheiten. Mir ist nicht klar, warum man das nicht auch einfach so darstellen und begreifen kann. Ist es etwa etwas Schlechtes, sich “einfach” weiterzuentwickeln?

Der Begriff Innovation impliziert eine bis dato nicht bekannte Veränderung, hin in Richtung Zukunftsfähigkeit und ‒ in der Wirtschaft ‒ auch einem grösseren Gewinn. Er impliziert, dass Einrichtungen in einer Konkurrenz stehen und das eine Einrichtung mit Innovationen einen Vorteil gegenüber den anderen Einrichtungen erlangen kann. Aber: Darum geht es im Bibliothekswesen doch überhaupt nicht. Die Openbare Biblioteek Amsterdam hat mit ihrem neuen Gebäude keinen Vorteil gegenüber der Biblioteek Rotterdam. Sie hat auch keinen Vorteil gegenüber den Buchläden oder Restaurants in Amsterdam. Ebenso hat die Stadtbibliothek Köln mit dem Makerspace keinen Vorteil gegenüber den Stadtbüchereien Düsseldorf oder der Stadtbibliothek Bonn. Niemand nimmt sich etwas weg oder gewinnt etwas an Vorsprung gegenüber den anderen Bibliotheken.

Versteht man die Weiterentwicklung als Normalität, dann würden solche Beispiele wie Amsterdam oder Köln auch die Möglichkeit bieten, gemeinsam als Bibliothekssystem über die normalen Weiterentwicklungen zu diskutieren. Solche Weiterentwicklungen sind notwendig, aber selten so aufregend neu und unvorhergesehen, wie gerne behauptet wird. Beispielsweise die hellen, weissen Bibliotheksräume, die in fast allen neugebauten Bibliotheken der letzten Jahre zu sehen sind: die sind weder überraschend neu, noch anders als zum Beispiel Buchhandlungen und Einkaufzentren, noch sind sie falsch. Sie sind auch nicht aufregend. Aber sie sind passend für den Habitus einen modernen, offenen Bibliothek. Passend, sinnvoll ‒ nicht weniger, nicht mehr.

Wenn man davon ausgeht, dass Bibliotheken immer dann, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, neu zu bauen oder grundsätzlich etwas zu verändern beziehungsweise zu erneuern, auch versuchen, jeweils zeitgenössisch gute und sinnvolle Lösungen zu finden, dann wird der Diskurs auch anders. Ohne die Konkurrenzsituation, die über den Begriff “Innovation” hergestellt wird, lässt sich viel besser gemeinsam diskutieren, was notwendige Weiterentwicklungen sind. Ein Beispiel: Jetzt hat die Stadtbibliothek Köln einen Makerspace und ist damit innovativ. Wenn jetzt eine andere Bibliothek einen Makerspace baut, ist das dann altbacken, falsch, unmodern? Selbstverständlich nicht. Ein Makerspace kann auch in anderen Städten angebracht sein, aber es lässt sich nicht so einfach verbreiten. Innovation kann per Definition nur einmal vorkommen. Sicherlich kann man tricksen, denn Innovation ist immer innovativ im Bezug auf ein System. Demnächst wird einen schweizerische Bibliothek einen Makerspace eröffnen, damit ist sie dann die erste in der Schweiz und für das schweizerische Bibliothekssystem innovativ. Aber danach? Darf das dann niemand mehr in der Schweiz? Oder schlimmer: Wenn einen weitere Bibliothek einen Makerspace einrichtet, verlieren dann Köln und “die erste schweizerische Bibliothek mit Makerspace” irgendetwas? Sicherlich nicht.

Das ist der Punkt, der mir in Amsterdam, am Ende, auf dem Dach der Bibliothek, wieder einmal aufstiess: Wenn in den deutschsprachigen Bibliotheken nicht der Diskurs von Innovation (und Krise, die durch Innovation zu lösen sei) vorherschen würde, könnten sich (a) die Diskussionen um die Entwicklungen von Bibliotheken beruhigen und weniger aufgeregt, dafür mehr gemeinsam geführt werden, (b) würde es weniger grosser Versprechen benötigen, um Neuerungen und Weiterentwicklungen vorzustellen und durchzusetzen (weniger Bling-Bling und mehr Realness, um die Metapher aus dem Hip-Hop aufzugreifen). Gleichzeitig würden sich (c) Debatten um Veränderungen in den einzelnen Bibliotheken wohl einfacher führen lassen. Genügend oft führen Veränderungsprozesse in Bibliotheken zu internen Konflikten, die auch damit zu tun haben, dass die Veränderungen als alles verändernde und umwerfende Innovation verkauft werden, teilweise um der Innovation willen. Das ist nicht notwendig, wenn man gemeinsam über normale Weiterentwicklungen diskutieren und andere Bibliotheken als Beispiele, die man nicht unbedingt übertreffen muss, sondern von denen man lernen darf, nutzen kann. Zudem: (d) Wenn man akzeptiert, dass Bibliotheken sich per se entwickeln, wird auch der Dikursort für tatsächlich radikale Änderungen, also Innovationen, wieder frei, weil die dann sinnvoll von anderen Veränderungen abgegrenzt werden können.

Gleichzeitig hatte ich da auf dem Dach in Amsterdam, aber auch beim Rundgang durch die Bibliothek, nicht das Gefühl, dass die Nutzerinnen und Nutzer irgendein Interesse daran hatte, ob ihre Bibliothek jetzt innovativ war oder nicht. Sie schienen einen Bibliothek zu wollen, die für sie funktioniert, in ihrem Alltag und in ihrer Stadt. Wie die sein soll, wissen die wohl auch nicht. (Sichtbar war aber, dass Bereiche, die als “überraschend” konzipiert waren, zum Beispiel mit von der Decke hängenden Sitzgelegenheiten, kaum genutzt wurden, während die “klassischen” Arbeitsplätze gut belegt waren.) Jetzt, nicht in Zukunft. Nicht mehr, nicht weniger.

Hypes in Bibliotheken folgen immer wieder den gleichen Diskursfiguren. Oder?

Makerspaces sind gerade eines der heissen Themen in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. (Nötzelmann 2013) So, als wären sie vorgestern erst erfunden und gestern erst wirklich hier angekommen, sind sie Thema in unterschiedlichen Zeitschriften und auf dem Bibliothekstag. (Zukunftswerkstatt 2014) Well, maybe so. Oder anders: Gegen Makerspaces in Bibliotheken ist an sich nicht viel zu sagen. Es gibt einiges, was vielleicht nochmal besprochen werden sollte, insbesondere – wie aber auch bei jedem bibliothekarischen Angebot – wer vielleicht damit ausgeschlossen wird. Doch lassen wir das einmal beiseite.

Jeder Hype verdeckt auch etwas

Jeder Hype im Bibliothekswesen – und vorläufig sind das Makerspaces im DACh-Raum noch, die Stadtbibliothek Köln mit ihrem Space und die Planungen in anderen Städten alleine macht noch keinen Paradigmenwechsel für die Bibliothekswesen aus – zeigt in den Texten dazu auch, welche Diskurse im Bibliothekswesen eigentlich bedient werden und welche nicht. Schaut man genauer, sieht man, was in diesen Diskussionen übergangen wird – nicht unbedingt übergangen aus Bösartigkeit oder weil etwas verschwiegen werden sollte, sondern eher aus strukturellen Gründen. Auch das Bibliothekswesen ist getrieben vom Drang, immer wieder etwas Neues, Innovatives, vielleicht sogar die Bibliotheken Rettendes zu finden. Das führt oft dazu, dass Sinnhaftigkeit eher hintenangestellt und Innovativität als Wert für sich alleine gilt. Es führt auch dazu, dass offensiv vorgetragenen Visionen und Behauptungen eher geglaubt wird, insbesondere wenn es um „die Zukunft der Bibliothek“ geht.

Diese Diskurse sind nicht einfach so zu überwinden, sie haben ihre Begründungen unter anderem in den ständigen Krisendiskussionen über Bibliotheken und der Projektorientierung der Finanzierung von Zusatzangeboten. Aber ein wenig einhalten, sich die Debattenbeiträge auch als Diskurspositionen anschauen, weiterrecherchieren und etwas kritische Fragen stellen, führt doch oft dazu, die übertriebenen Behauptungen zu identifizieren, anstatt sie einfach zu wiederholen und damit vielleicht an der Realität vorbeizureden. Ein solches Vorgehen kann blinde Flecken in bibliothekarischen Debatten – die es sehr wohl gibt – zumindest aufzuzeigen, wenn auch nicht sofort füllen. Und es kann dazu führen, die tatsächlichen Potentiale – die sich sonst oft erst ergeben, wenn man solche Zukunftsvisionen umsetzt und merkt, dass sich die Realität nicht so einstellt, wie gedacht – früher zu identifizieren. Das gilt nicht nur für Makerspaces, das gilt auch für Diskurse über Forschungsdatenmanagement oder solchen vergangenen Hypes wie Virtuellen Fachbibliotheken oder Virtuellen Forschungsumgebungen. Makerspaces sind nur ein Beispiel, dass ich in diesem Beitrag herausgreife – ein Beispiel, dass ich als Idee tatsächlich nicht so falsch finde.

Ich will kurz anhand eines aktuellen Textes zu Makerspaces (Meinhardt 2014) aufzeigen, was ich mit den obigen Aussagen meine. Dabei geht es mir gar nicht darum, den Text schlecht zu machen oder gar der Autorin Fehler nachzuweisen. Mitnichten, es ist ein für die deutschsprachigen Bibliothekswesen überdurchschnittlich umfangreicher und recherchierter Text. Das, was ich an ihm aufzeigen möchte, scheint mir eher ein strukturelles Problem zu sein.

Ist das neu? Kommt es aus den USA?

Das Zeitalter des kreativen Endnutzers (Meinhardt 2014) ist einer der Texte, die Makerspaces als Innovation in den deutschsprachigen Bibliothekswesen einführen möchte. Der Anleser des Textes behauptet, dass es eine „Makerspace-Bewegung [gäbe, KS.], die nun auch die deutschen Bibliotheken erreicht hat“ (Meinhard 2014, 479) sowie, dass „[i]n den letzten zwei bis drei Jahren […] es vor allem die US-amerikanischen Bibliotheken [waren], […] die das Potenzial dieser Bewegung für Bibliotheken konzeptionell und experimentell in den Blick genommen haben.“ (Meinhard 2014, 479). Klingt gut, ist aber so nicht richtig. Oder sagen wir einmal: die Fakten sind nicht so eindeutig.

Ob es wirklich eine Makerspace-Bewegung gibt, ist bestimmt eine Frage der Definition. Ja, es gibt eine Anzahl von Akteurinnen und Akteuren, die in den letzten Jahren die Idee von Makerspaces pushen, es gibt eine Anzahl von Berichten – nicht nur aus Bibliotheken, das eher weniger – zu Makerspaces, seit 2005 erscheint mit „Make“ eine Zeitschrift und eine Anzahl von Büchern zum Thema gibt es auch. (Anonym 2012) Ist das schon eine Bewegung? Oder sind es nicht am Ende doch vor allem ein paar Begeisterte? Wie das messen und vor allem, welche Bedeutung hat es? Dies ist nicht irrelevant. Bibliotheken haben offenbar – seit wann, scheint mir nicht so richtig klar – ständig die Vermutung, ins technologische und gesellschaftliche Hintertreffen zu geraten und berichten sich deshalb ständig gegenseitig von Bewegungen und Entwicklungen, die jetzt aufgegriffen werden müssten – ansonsten würde die Bibliothek untergehen.

Das ist keine neue Diskursfigur. Als ich am Call for Papers für die LIBREAS-Ausgabe #24 mit dem Schwerpunktthema Zukunft mitgearbeitet habe, lass ich eine ganze Reihe alter Texte, die in den 1960er, 1920er und so weiter die Zukunft der Bibliothek besprachen und ähnlich argumentierten. Irgendetwas prägt die Gesellschaft gerade und muss aufgegriffen werden, ansonsten würde die Bibliothek irrelevant. So sehr ich Makerspaces als Ort mag, so sehr habe ich doch meine Zweifel, wenn wieder einmal ein Thema vor allem als angeblich vorhandene gesellschaftliche Bewegung vorgestellt wird. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens frage ich mich sehr schnell, ob das überhaupt stimmt, ob es wirklich ein Trend ist, der anhält oder nicht doch ein Traum, der vor allem vom O’Reilly-Verlag getragen wird. Zweitens aber ist mir selten klar, was nun daraus folgt, dass es eine solche Bewegung gäbe. Heisst das, es wäre notwendig, die ganz Bewegung aufzusaugen und in die Bibliothek zu integrieren? Heisst das, zu verstehen, warum es die Bewegung gibt und auf die Gründe dafür zu reagieren? Heisst es, sich kritisch mit den Zielen der Bewegung auseinandersetzen? Meist wird über diese Frage hinweg gegangen, auch in dem Text von Meinhardt. Es wird nicht gefragt, warum es Makerspaces gibt, auf was da eigentlich gesellschaftlich wie reagiert wird, sondern es gibt sie einfach: Sie haben sich entwickelt, genauso wie sich die Technolgie entwickelt hat, also sei auf sie zu reagieren. Haben sich die Ansprüche der Menschen an die Welt verändert? Gibt es immer mehr Menschen, die etwas basteln und verstehen wollen? Wird die Freizeit mehr mit „selber-machen“ verbracht als früher und wenn ja, warum? Ist es ein Einfluss der Arbeitswelt, die ja auch immer mehr projektorientiert und an verschiedenen Orten stattfindet? Das interessiert die Texte zu Makerspaces offenbar nicht, obgleich die Fragen für die zukünftige Bibliotheksarbeit interessanter sein könnte, als die Frage, wie lange es noch braucht, bis 3D-Drucker so billig sind, dass sie in den Haushalten stehen.

Die zweite Diskursfigur, die im Anleser und dann im Text beständig wiederholt wird, ist die Behauptung, Makerspaces (vor allem in Bibliotheken) seien etwas US-amerikanisches. Das stimmt nicht, aber es ist eine Diskursfigur, die ebenso schon lange in den deutschsprachigen Bibliothekswesen – meiner Meinung nach vor allem dem deutschen, etwas wenig dem schweizerisch-liechtensteinischen und österreichischen – zu finden ist: es kommt aus den USA, also wird es sinnvoll sein. Nicht, dass aus den USA nicht auch immer wieder sinnvolle Anstösse kommen. Mein Problem ist gar nicht die USA, mein Problem ist, dass so sehr verengt wird. Es mir auch nicht klar, was Meinhardt (2014) bei ihrem Thema überhaupt mit dieser Verengung erreichen will. An der vorhandenen Literatur kann es nicht liegen. Sucht man in LISA und LISTRA, merkt man sehr schnell, dass Makerspaces in Libraries zuerst australische und kanadische Themen waren, bevor sie in den USA (zumindest in den Literatur) relevant wurden. Das von mir schon einmal besprochene Beispiel von Bilandzic (2013) in Brisbane, Queensland ist weit älter und meiner Wahrnehmung inhaltlich auch durchdachter, als das, was sich in der US-amerikanischen Literatur findet.

Während die australische und kanadische Literatur zumeist auf gesellschaftliche und pädagogische Aspekte der Makerspaces eingeht, scheinen mir die US-amerikanischen Texte fast durchgängige durch die absonderlich fatalistische Silicon-Valley-Technology-wird-uns-alle-retten-Vorstellung geprägt zu sein. Das ist ein bestimmt ein Teil der Faszination, die Makerspaces gerade in der bibliothekarischen Literatur auslösen, aber doch nicht alles. Von Bilandzic (2013) können wir zum Beispiel viel mehr über die sozialen Funktionsweisen des Lernens oder Nicht-Lernens in Makerspaces lernen.

Meinhardt (2014) entschied sich in Ihrem Text aber dazu, diese Quellen – die, wie gesagt, nicht irgendwelche obskuren Quellen darstellen, die ich heranziehe, um als Hipster das alte „I knew it before it was cool“-Spiel zu spielen, sondern durch einfache Datenbankrecherchen in „unseren“ Fachdatenbanken zu finden – gerade nicht zu nutzen, sondern den gesamten Text über zu behaupten, Makerspaces seien etwas typisch US-amerikanisches. President Obama wird zitiert (Meinhardt 2014, 481), am Ende des Textes wird gefragt, ob Makerspaces „mit dem typisch amerikanischen Pragmatismus oder gar Opportunismus zu erklären [seien]“ (Meinhardt 2014, 484. was auch immer mit dem „Opportunismus“ gemeint ist), was eine unsinnige Frage ist, wenn man bedenkt, dass es solche Makerspaces in Bibliotheken in Kanada (wohl oft etwas sozialdemokratischer als die USA) und Australien (wohl oft etwas distinguierter und relaxter) zu finden sind. Meinhardt (2014) scheint weniger wirklich dahinter kommen zu wollen, was aus den Makerspaces für Bibliotheken oder die Gesellschaft zu lernen ist, und viel mehr es als Thema aus den USA darzustellen und damit schmackhaft machen zu wollen.

Ich denke nicht, dass das eine falsche Absicht der Autorin darstellt. Vielmehr ist es typisch für die Diskurse in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. Erstens wird sich auf einige wenige Länder konzentriert, aus der fast alle „internationalen“ Beispiele zitiert werden (das sind wohl die USA, die skandinavischen Länder, Grossbritannien und in der Schweiz auch Deutschland – während die Schweiz in deutschen Diskussionen kaum vorkommt) und zweitens wird oft der Nachweis, dass es eine Anzahl von Beispielen in Bibliotheken aus dem USA oder Dänemark und Schweden gibt, schon zur Bewegung erklärt, obgleich nicht klar ist, ob nicht ein grosser Teil der Beispiele zum Beispiel einfach nur in Grossstädten funktioniert – oder, wie bei Staffless Libraries, nur in kleinen, sozial gesicherten, ländlichen Gemeinden.

Es ist beim Beispiel Makerspaces nur offensichtlicher, da die Kolleginnen und Kollegen aus den beiden anderen genannten Staaten, auf die man bei der Recherche immer wieder stösst, ebenso hauptsächlich in Englisch publizieren. An der Sprache kann es also nicht liegen. Ebenso gehören sie dem Globalen Norden an, insoweit kann das Argument auch nicht gelten, dass die gesellschaftlichen Umstände so anders wären, dass sich aus ihnen nichts lernen lässt. Australien unterscheidet sich vom DACh-Raum nicht mehr oder weniger als die USA. Wieso also werden sie nicht einbezogen? Sind sie zu unhip? (Ich hoffe nicht. Noch immer finde ich Melbourne eine der interessantesten Städte.)

Mir erscheint das als erstaunliche Struktur: Wir können als Bibliothekswesen auf die Erfahrungen aus Dutzenden Ländern zurückgreifen, aber der Blick scheint verengt, auch wenn das von der Literatur her gar nicht notwendig wäre. Selbstverständlich gibt es darüber hinaus noch das Phänomen, dass Staaten, in denen zum Beispiel in Spanisch oder Französisch publiziert wird, kaum in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur vorkommen, so als könnte man nicht nur aus kanadischen Bibliotheken nichts lernen, sondern auch aus nicht spanischen, französischen oder chilenischen.

Technologische Entwicklung, sonst nichts?

Ein weiterer Diskurs, dem Meinhardt (2014) in ihrer Darstellung folgt und der mir bezeichnend für die Literatur in den deutschsprachigen Bibliothekswesen erscheint, ist der der technologischen Entwicklung. Der Text selber geht weniger darauf ein, wieso es überhaupt Makerspaces gibt oder geben sollte, sondern erzählt eine fast stringente Geschichte, die so aus den Texten über Makerspaces entnommen ist. Makerspaces seinen bessere Hackerspaces. Diese seine in Deutschland erfunden worden, insbesondere in der C-Base (Meinhardt 2014, 479). Was das mit den heutigen Makerspaces zu tun hat, ob also die europäische Hakerkultur, die in den 1990er Jahren in Deutschland zu Vereinen mit eigenen Räumen geführt hat ihre Spuren hinterlassen hat, ob das überhaupt gut ist, ob die ganzes Spaces etwas deutsches haben oder etwas vereinsmeierisches – es wird einfach nicht gefragt. Auch das scheint mir bedeutsam. Viele bibliothekarische Texte machen solche Verweise auf angebliche oder tatsächliche Vorläufer ihres jeweiligen Themas, ohne daraus etwas zu schliessen oder zu lernen. Wozu? Warum erwähnt zum Beispiel Meinhardt (2014, 479) die C-Base als angeblichen Vorläufer von Makerspaces – obwohl die C-Base heute weit mehr ist als nur Hakerspace – kommt aber noch nicht einmal im Fazit auf diese vorgebliche Tradition zurück? Mir scheint das immer wieder eine diskursive Strategie zu sein, mit der man sich der Relevanz des eigenen Themas durch Historisierung versichern will, so als wäre man sich nicht sicher, ob das eigene Thema wichtig wäre (Ungefähr so: Bibliothek gab es schon in der Antike, schon 17xx wurden medizinisch Bibliotheken erwähnt, schon 18xx nannte irgendein Autor die Bibliotheken wichtig für das literarische Schreiben…deshalb…). Ich frage mich bei diesem Text, aber auch bei anderen Texten, die eine solche Strategie verfolgen, was ein Thema wert sein kann, wenn es nicht von alleine trägt.

Aber zurück zu der Erzählung im speziellen Text. Folgt man Meinhardt (2014), gab es erst Hakerspaces, dann wurden 3D-Drucker entwickelt (ohne das klar wird, warum sie entwickelt wurden), dann wurde das zusammengeführt, dann wurde es von Bibliotheken aufgegriffen. Warum gerade von Bibliotheken? Hat sich nicht auch viel mehr anderes verändert (nur als Hinweise: Die Virtualisierung bestimmter Segmente des Arbeitsmarktes)?

Meinhardt (2014, 480) behauptet: „Bibliotheken sind ganz ohne Frage seit geraumer Zeit auf der Suche nach ihrer Rolle und Funktion in der Welt, […]“ (Meinhardt 2014, 480), aber das ist keine wirkliche Argumentation, da sich diese Aussage von den sich-selbst-suchenden Bibliotheken seit Jahrzehnten findet und gleichzeitig nicht nur für Bibliotheken, sondern fast alle kulturellen und pädagogischen Einrichtungen sich ähnliches zuschreiben: Museen, Soziale Arbeit, Jugendclubs, Verbände, freiwillige Feuerwehren und so weiter. Meinhardt (2014) baut das Argument noch aus und behauptet einen Zusammenhang von Open Access beziehungsweise dem Zur-Verfügung-Stellen-von-Informationen und dem Versuch von Bibliotheken, sich als Bildungseinrichtungen zu positionieren. Aber auch das trägt nicht: Fast alle Einrichtungen – ausser vielleicht die Soziale Arbeit und Teile der freien Kunstszene –, die nicht schon Bildungseinrichtungen sind, wollten in den letzten Jahren Bildungseinrichtung sein. Das ist kein spezifisches Bibliotheksthema. Dass Bibliotheken Informationen zu Verfügung stellen, ist richtig. Aber hat das einen direkten Bezug zu Makerspaces? Das scheint doch etwas konstruiert. Wenn, dann würde zum Beispiel Jugendclubs doch auch gute Anwärter für Makerspaces sein: die stellen nicht unbedingt Informationen bereit, aber dafür Räume, offene Jugendarbeit und eine Tradition von Arbeiten in kleinen Projekten, die Jugendliche ermächtigen sollen. Und trotzdem erscheint es bei Meinhardt (2014), als würden Makerspaces direkt darauf hin konstruiert sein, in Bibliotheken angesiedelt zu werden, während Jugednclubs gar nicht erwähnt werden. Das ist doch erstaunlich, beziehungsweise wieder eine Diskursfigur, die sich zu wiederholen scheint.

Die Hypes in Bibliotheken werden gerne als quais-natürliche Entwicklungen dargestellt, die genau auf Bibliotheken ausgerichtet sind – fast wie ein Wunder. Dabei stimmt das natürlich nicht. Zum Beispiel wird die Hinwendung der Wissenschaft zu Open Access oft als eine gesellschaftliche Entwicklung dargestellt, die halt stattfindet, weil es technisch möglich ist. Aber das stimmt nicht: Technikentwicklung ist genauso wie Wissenschaftsentwicklung immer das (komplexe) Ergebnisse von unterschiedlichen Entscheidungen und Handlungen. Und Open Access hat nur etwas mit Bibliotheken zu tun, weil Bibliotheken sich zum Teil darauf stürzen. Genauso ist dies mit Makerspaces. Makerspaces sind meiner Meinung nach auch ein Antwort auf Anforderungen der Gesellschaft nach Orten ausserhalb vom Lern- und Verwertungsdruck, sind auch ein Ergebnis der Entscheidung, Technik in bestimmter Weise zu nutzen – nämlich weniger rationell, als es Ingenieurinnen und Ingenieure gerne hätten, sondern viel mehr für Spass und Unterhaltung –, sind auch ein Ergebnis des ständigen Denkens in Projekten, egal ob auf Arbeit oder bei der Lebensplanung und sie sind auch ein Ergebnis des Scheiterns anderer Versuche, Technik zugänglich zu machen. (Auch hier wäre ein Blick in Bilandzic (2013) angebracht, der beschreibt, wie sich der sehr wohl vorhandene Hakerspace in Brisbane zu dem Makerspace in der State Library verhält.)

Meinhardt (2013, 483) führt immerhin, wenn auch eher nebenher ein weiteres Thema an: Die Vernetzung zwischen Bibliotheken und Community, die mit dem Makerspace etabliert werden kann. Sie übergeht die Relevanz dieser Aussage, weil sie sich viel mehr mit technischen und organisatorischen Fragen aufhält, aber immerhin zeigt sie, dass der Makerspace auch ein soziale Komponente hat. Einbindung in eine Community verändert auch die Position der Bibliothek. Oder? Was macht sie denn bislang? Reagiert sie damit auf ein veraltetes Modell von Bibliothek; einer Bibliothek, die mit der Community nichts zu tun hat? Oder nicht? Mit welcher Community eigentlich? Es wäre eine interessante Frage, die sich eigentlich bei jedem Hype stellen lässt (Z.B.: war die Wissenschaftliche Bibliothek „vor“ dem Open Access nicht auf die Forschenden und deren Interessen ausgerichtet?). Das wird immer wieder gerne übergangen, wenn Bibliotheken bei dem jeweiligen Hype prophezeien, dass er direkt die jeweilige Zielgruppe ansprechen würde, es anschliessend aber, wenn aus dem Hype Projekte und Strukturen entstehen, nur zum Teil oder gar nicht tut.

Diskursstrategien

Wie gesagt: Der Text von Meinhardt (2014) scheint mir kein schlechter Text zu sein. Ich wollte ihn nicht als falsch vorführen, sondern nur als Beispiel, wie in den deutschsprachigen Bibliothekswesen sich immer wieder Diskursstrategien wiederfinden, die mich einerseits jedes Mal irritieren (schon im Sinne von: Ich reisse die Arme in die Luft und sage laut: „Wat? Wieso? Wat?“), die andererseits aber auch die Aussagekraft dieser Texte einschränken. Wer zum Beispiel einen Hype vor allem auf eine angeblich ohne grossen gesellschaftlichen Einfluss auskommende Technologieentwicklung zurückführt, kann gar nicht danach fragen, wie die Gesellschaft sich verändert, dass eine solche Technologie gerade zum jeweiligen Zeitpunkt aufkommt. Wer ständig Dinge erst wahrnimmt, wenn sie in den USA oder Skandinavien „angekommen sind“, kann Erfahrungen aus anderen Staaten kaum nutzen.

Nur zur Zusammenfassung noch einmal die Diskursstrategien, von denen ich sprach in einer Liste. Ich glaube, würde man über diese hinausgehen, könnten die Debatten in den deutschsprachigen Bibliothekswesen inhaltlicher werden und von der Suche nach dem nächsten Hype als alleinigen Grund für Texte über die zukünftige Entwicklung von Bibliotheken zumindest ein wenig Abstand genommen werden.

  • Innovation gilt oft als eigenständiger Wert, der nicht per se mit Sinnhaftigkeit zusammenfallen muss. Dabei ist das, was innovativ ist, noch nicht schlecht oder gut, genauso wie das, was nicht mehr innovativ ist, gleich schlecht oder gut ist. Manchmal ist es das sinnvollste, was zu machen ist.
  • Dinge, die man gut findet, werden schnell zu einer Bewegung oder einem anhaltenden Trend erklärt, ohne zu zeigen, ob das überhaupt stimmt. Dabei ist das unnötig. Wenn zum Beispiel eine Idee gut ist, bliebt sie auch gut, wenn bislang nur eine Bibliothek im hintersten Utah sie umgesetzt hat und nicht dreiundzwanzig in New York und St. Louis. Dann muss man aber der Idee mehr vertrauen und mehr für sie argumentieren – und setzt sich damit auch Gegenargumenten aus, was aber eigentlich zu einer abgesicherteren Meinung führen sollte – als wenn man sie vor allem als das präsentiert, was eh kommen wird.
  • Die USA, zum Teil Skandinavien und Grossbritannien, werden als der Ort dargestellt, an dem jede neue Entwicklung stattfindet. Dabei werden andere Länder „übersehen“ oder gar nicht erst wahrgenommen, gleichzeitig wird gar nicht so sehr auf die Frage eingegangen, worauf bestimmte Bibliotheken in den USA mit bestimmten Angeboten reagieren. Gerade die USA wird alleinstehend als Qualitätsmerkmal genutzt. Aber genauso wie nicht alle Musik aus den USA gut ist, sondern nur viel mehr der Musik aus den USA besser ist als die aus Deutschland oder der Schweiz, und genauso wie aus Jamaika oder Australien auch gute Musik kommt, ist das Land, aus dem etwas stammt, noch lange kein Qualitätssiegel. Zudem gibt es keine Garantie, dass das, was in den USA oder Skandinavien klappt, in den deutschsprachigen Bibliothekswesen sinnvoll wäre. Sinnvoll ist, was im lokalen Rahmen sinnvoll ist. Um das bestimmen zu können, muss man aber auch über den lokalen Rahmen diskutieren.
  • Trends werden gerne mit vorgeblichen oder tatsächlichen historischen Vorläufern in Verbindung gebracht, ohne das diese Verbindung irgendeine Bedeutung für die jeweilige Aussage / Idee hat. Das ist inhaltlich oft unnötig.
  • Trends werden oft als Folge unabänderlicher Entwicklungen ausserhalb der Bibliothek dargestellt (die Technologie hat sich halt so entwickelt, die Wissenschaft entwickelt sich halt so, die Lesevorlieben der Jugendlichen entwickeln sich halt so), was davon enthebt, die oft gesellschaftlichen und politischen Hintergründe dieser Entwicklungen zu ignorieren und auch die Möglichkeiten der Bibliothek als reine Reaktionen auf Vorgaben von aussen erscheinen zu lassen. So, als ob die Bibliotheken nur getrieben werden, während sie in Wirklichkeit Entscheidungen treffen, über die man diskutieren könnte.

Literatur

Anonym (2012). Makerspace Playbook. http://makerspace.com/wp-content/uploads/2012/04/makerspaceplaybook-201204.pdf

Bilandzic, Mark (2013). Connected learning in the library as a product of hacking, making, social diversity and messiness. In: Interactive Learning Environments (In Press), http://eprints.qut.edu.au/61355/

Meinhardt, Haike (2014). Das Zeitalter des kreativen Endnutzers : Die LernLab-, Creatorspace- und Makerspace-Bewegung und die Bibliotheken. In: BuB 66 (2014) 6, 479-485

Nötzelmann, Cordula (2013). Makerspaces – eine Bewegung erreicht Bibliotheken. In: Bibliotheksdienst 47 (2013) 11, 873-876