Bruno Latour und die Bibliothekswissenschaft? Bericht vom (halbwegs) gescheiterten Versuch einer Re-Lektüre

Eine ganze Anzahl meiner privaten Forschungsprojekte und dann auch der Texte, die daraus entstehen, entstehen ehrlich gesagt aus persönlichen Herausforderungen, die ich mir selber stelle. Das fällt oft in die gleiche Kategorie wie «ab jetzt drei Monate lang jeden Tag zwei Stunden Laufen» oder «mindestens ein Gedicht pro Tag lesen». Solche Dinge, wo man sagt, «how hard can it be?» (Plus, Laufen ist auch gesund. Das ist ein ist ein positiver Nebeneffekt. So wie das Klären von Forschungsfragen ein positiver Nebeneffekt ist, wenn ich solche private Forschungsprojekte unternehme.) Aber, wie das so ist mit Herausforderungen: Manchmal klappt es, manchmal nicht.

Der folgende Bericht ist das Ergebnis einer solchen Herausforderung, bei der ich gescheitert bin. Zumindest zum Teil. Ich habe aufgeben, bevor ich fertig war. Aber dennoch habe ich einige gelernt und, well, denke, es ist zumindest einen Bericht wert. Den liefere ich hier, aber es sollte bedacht werden: Mit mehr Energie, Zeit und so weiter, könnte und hätte er vollständiger und vor allem systematischer werden können. Es ist vielleicht eher ein Zwischenbericht, nur das es nie einen Abschlussbericht geben wird.

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Hintergrund 1: Schwerpunkt der nächsten LIBREAS ist die «Soziologie der Bibliothek». Es gibt keine Regel, dass ich für jede Ausgabe der LIBREAS einen Text liefere – aber das Thema habe ich vorgeschlagen und irgendwie drängt es mich diesmal dazu, etwas zu liefern.

Hintergrund 2: Im letzten Oktober verstarb Bruno Latour. Latour war Soziologe, zumindest wurde er oft als solcher bezeichnet – er selber hätte das bestimmt erstmal bestritten und sich erst einmal von anderen Soziolog*innen abgrenzt. (Er macht das sogar explizit im Mittelteil von Reassembling the Scoial: An Introduction to Actor-Network-Theory (Latour 2005), in einen fiktiven Dialog zwischen sich als Professor und einem Studenten.) Nichtsdestotrotz hat er vor allem daran gearbeitet, die Gesellschaft und ihr Funktionieren zu untersuchen und zu erklären. Das ist es, was Soziolog*innen tun.

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Diese beiden Fakten im Hintergrund, plus das ich gerade mit einem anderen privaten Projekt fertig war, ergab die Idee, einer Relektüre von Latour durchzuführen; mit dem Fokus darauf, was von seinen Arbeiten in der Bibliothekswissenschaft und den Bibliotheken genutzt werden könnte. How hard could it be?

Angestossen wurde das Projekt auch durch eine, vielleicht gar so sehr ernst gemeinte, Bemerkung des Redaktionskollegen Ben Kaden, der im internen Chat nach der Nachricht von Latours Tod fragte, «wer einen Nachruf schreibt». Das war gerade die Zeit, als in verschiedenen Medien solche Nachbetrachtungen publiziert wurden. In gewisser Weise dachte ich tatsächlich, dass ich da vielleicht etwas beitragen kann. Nicht so übersichtlich, wie einige der Nachrufe (Chaillan 2022, Truong 2022) und schon gar nicht so persönlich, wie andere (zum Beispiel Kofman 2022). Aber doch zumindest etwas. Ich habe Latour nicht selten gelesen und in seinen Arbeiten auch viele Anregungen gefunden. Warum also nicht?

Dabei – ich stelle das weiter unten nochmal da – war mir klar, dass es nicht «um den ganzen Latour» gehen kann. Latour ist einerseits dafür bekannt, die Actor-Network-Theory (ANT, wird weiter unten erklärt) und die Science Studies (also die Untersuchung, wie Forschenden tatsächlich arbeiten und wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert) mit begründet zu haben, sich aber gleichzeitig auch sich dann anderen Themen zugewandt zu haben. Seine letzten Bücher drehen sich – jetzt in meinen Worten, er würde das komplexer beschreiben – darum, wie die Welt, die Natur und die Menschen im Anthropozän agieren und wie sie in Zukunft agieren werden. Hauptthese scheint dabei zu sein, dass die Welt «reagiert» (nicht wissentlich, aber praktisch) und dabei gänzlich andere Kategorien einführt, als die, in denen Menschen seit der Moderne gewohnt sind zu denken. Es geht, kurz, um die Klimakatastrophe, aber viel aus dem Fokus der Welt und der Natur, nicht dem der Menschen. Das klingt teilweise esoterisch, auch weil der Begriff Gaia eingeführt wird, um die Welt als «non human actor» (wird auch noch weiter unten erklärt) zu beschreiben – aber es ist nicht esoterisch, sondern am Ende sehr realistisch. Eher im Sinne von Philosophie und weniger im Sinne von empirischer Sozialwissenschaft, aber doch realistisch. Es geht nicht darum, irgendwelche «geheimen, kosmischen Kräfte» zu entdecken und sie irgendwie anzurufen, sondern darum, well, wie die Klimakatastrophe abläuft und weiterhin ablaufen wird.

Kurzum: Das alles zu integrieren scheint mir nicht sinnvoll. Deshalb habe ich mich darauf beschränken wollen, bei meiner Relektüre den möglichen Zusammenhang von Actor-Network-Theory und Bibliothekswissenschaft herauszuarbeiten. Kein Gaia, kein Anthropozän – einfach nur «den einfachen Teil». Mir erschien (und erscheint das auch weiter) sinnvoll, weil die ANT sich mit der Untersuchung und Beschreibung davon, wie Fakten und Wissen innerhalb der Gesellschaft «entstehen», beschäftigt. Das passt eher zum Schwerpunktthema «Soziologie der Bibliothek» und wäre damit für einen Artikel geeignet.

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Die Idee zu meiner «Herausforderung» einer solchen Relektüre entstand also, weil Latour gerade gestorben war. Aber das war eher ein – trauriger – Zufall. Es wäre auch so keine schlechte Idee gewesen. Es ist zum Beispiel nicht so, als hätte ich Latour nicht früher schon gelesen. Er ist keiner der Autor*innen, die bei mir «im Hauptregal» stehen (also dort, wo ich die Bücher habe, die ich immer wieder mal anfasse und die ich vielleicht als «meine intellektuelle Grundlage» beschreiben würde), aber doch liegen einige seiner Bücher in anderen meiner Buchregale (was auch heisst, dass sie mich mehr als nur «nebenher» interessieren, weil ich wenig Platz habe und in den Regalen eigentlich nur noch Bücher, die ich vielleicht nochmal lesen möchte, aufbewahre – die anderen sind in die Offenen Bücherschränke gewandert).

  1. Die ANT erschien mir schon lange ein relevanter und guter Ansatz, um zu verstehen, wie die «Produktion von Wissen» tatsächlich funktioniert. Insbesondere der Einbezug von «non human actors» erscheint mir sinnvoll – vielleicht anders, als es Latour selber versteht. Aber… dass kommt gleich. (Auch nach diesem Projekt hier denke ich das immer noch.)
  2. Zweitens «verfolgt» mich Latour in einer besonderen, fast würde ich sagen «französischen», Weise. 2020 gab es in der NGBK in Berlin-Kreuzberg mal eine Ausstellung von Photos aus dem «Innenleben» des Merve-Verlag. (https://archiv.ngbk.de/projekte/instant-theory/) Der Merve-Verlag ist bekannt für seine kleinen, immer irgendwie komischen, aber interessanten Bücher, die so aussehen, wie direkt aus den 1970ern importiert. Und in der Ausstellung gab es irgendwo ein Zitat eines der Gründers des Verlages, in dem dieser sinngemäss sagte, dass jedes Buch, das er verlegt, mindestens eine Stelle haben muss, die er nicht sofort versteht, aber wo er den Eindruck hat, dass sie etwas Relevantes sagt. Sie muss zum Denken anregen. (Das vor dem Hintergrund, dass sich Merve explizit als links versteht, nicht als esoterisch – da sind wir wieder.) Und… irgendwie beschreibt das meine Leseerfahrung von vielen von Latours Texten. (Der, selbstverständlich, auch bei Merve verlegt wurde.) Nicht alles ist einfach verständlich, aber man hat immer wieder den Eindruck, dass es relevante Aussagen sind. Wenn man zuerst von Gaia liest, legt man das Buch schnell weg, weil es halt wie Esoterik klingt. Aber dann kommt man doch wieder zurück – also zumindest ich. Und gleichzeitig ist Latour mit seinen Themen auch sehr «französisch» in dem Sinne, dass das, was er beschreibt und welche Aussagen er macht, mich immer an die Radikalität und Aufgeklärtheit erinnern, die mir viele französische Bücher zu kennzeichnen scheinen – was auch schwer zu beschreiben ist. Aber einfach der Unterschied zwischen den Büchern in «französische Buchhandlungen» (auch wenn die praktisch in Berlin oder Lausanne stehen) zu «deutschen» und «englischen». Mehr Intellektualität; mehr grundsätzliche Bereitschaft zu radikalen Fragestellungen und Antworten; mehr Überzeugung, dass die Gesellschaft verändert werden kann. Deshalb komme ich auch immer und immer wieder zu Latour zurück. (Aber gleichzeitig sagt er mir auch nie so viel wie Bourdieu oder Foucault – die beide «im Hauptregal» stehen. Und doch habe ich immer wieder den Eindruck, dass es vielleicht daran liegt, dass ich etwas bei Latour doch nicht ganz verstehe.)
  3. Die Fragestellung, ob und wie ANT für die Bibliothekswissenschaft und Bibliotheken genutzt werden kann, erscheint aber auch deshalb sinnvoll, weil sie in so vielen anderen Wissenschaften schon gestellt wurde. Nur im Rahmen der versuchten Relektüre habe ich Bücher zu «Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft» (Füssel & Neu 2021), «Latour and the Humanities» (Felski & Muecke 2020), Politikwissenschaft und ANT (Schötzel 2019), Stadtsoziologie und ANT (Wilde 2021) sowie zu Architekturforschung und ANT (Hansmann 2021) gelesen. Und wenn ich das Lesen nicht abgebrochen hätte, wären es wohl noch mehr geworden. Viele unterschiedliche Forschende denken darüber nach, ob und wie man ANT in ihren jeweiligen Forschungsgebieten einsetzen kann. Oder aber – hier zum Beispiel Hansmann 2021 – sie nutzen ANT ganz konkret für ihre Forschung. Insoweit ist es nur sinnvoll, die Frage auch für die Bibliothekswissenschaft zu stellen – vielleicht sogar noch sinnvoller, weil Bibliotheken als Orte der Wissensproduktion sehr nah an den Laboren (als Orte der Wissensproduktion) sind, die Latour zuerst untersucht hat.

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Aber wie gesagt: Ich habe das Projekt abgebrochen und berichte hier vor allem, wie weit ich gekommen bin.1 Vielleicht war die Aufgabe einfach zu gross (Latour hat weit mehr geschrieben, als ich gedacht hatte und gleichzeitig gibt es so, so , so viel andere Literatur, die schon «Lektüren» zu Latour und ANT lieferten, die man für so ein Projekt auch noch sichten müsste). Aber ich bin auch ein wenig an Latour und seinen Texten verzweifelt. Mir scheint einfach (auch das schildere ich weiter unten eingehender), dass er viel, well, überflüssige Abgrenzung und Polemik betrieben hat, aber das in Texte, wo zwischen der ganzen Polemik immer auch interessante Aussagen gemacht werden – und irgendwann kann ich das nicht mehr lesen. Maybe thatʹs me. Aber zu oft schien mir beim Lesen, als wäre er auch ein französischer Intellektueller, der im Café sitzt und sich seit dem Morgen bei Kaffee und Rotwein in Rage geredet hat (was passt, weil alle Biographien zu Latour betonen, dass er aus einer Weinbaufamilie und aus einer Weinbauregion stammt, aber dann zum Pariser Intellektuellen wurde), während ich als Leser dann jemand bin, der erst zum Nachmittag dazukommt, nüchtern, und jetzt versucht, aus dem Redeschwall das Relevante zu extrahieren.

ANT, non-human-actors, Gaia – zu den Themen Latours

Okay. Es scheint, als würden alle Einführungen und Darstellung in die Arbeit von Latour damit anfangen, dass diese komplex und vielfältig sei. Man könne nur die wichtigsten Punkte darstellen. Das war auch ein Grund, warum ich mich auf einen Teil von Latours Arbeiten konzentrieren wollte. Mir scheint das aber, ehrlich gesagt, nicht so komplex, wenn man es auf die Grundideen und Begriffe reduziert. Es wird einfach komplex, weil Latour viel in seine Arbeiten hineinpackte, seine Gedanken und Ansichten auch ständig im Fluss waren (was an sich einen Forschenden auszeichnen sollte, also etwas Positives ist; aber es halt schwer macht, einen klaren Überblick zu schreiben – zumal, wie schon angedeutet, die Texte auch immer mal in ganz verschiedene Richtung abdriften, wie Gespräche im Café). Ich will es also hier auch nochmal versuchen, eine kurze Einführung in die ANT zu liefern (aber mir ist schon klar – das ist jetzt meine Darstellung und Auswahl).

Also, zu den Grundideen der ANT. Wichtig für das Verständnis ist, dass Latour diese zuerst anhand von Wissenschaften ausgearbeitet hat. Sie wurde dann recht schnell auf andere Bereiche ausgeweitet (angedeutet schon im ersten Buch (Latour & Woolgar 1979), aber später expliziter, sowohl von Latour selber (Latour 1996a, 1996b) als auch von zahllosen anderen Forschenden). Aber mir scheint, als Untersuchung von Wissenschaft ist sie am einfachsten verständlich (und wohl auch für die Bibliothekswissenschaft am einfachsten produktiv zu machen).

Was Latour interessierte, als er Ende der 1970er anfing mit seinen dann einflussreichen Forschungen, war, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert. Also nicht als grosses System, sondern, wie man vielleicht besser sagt, im Klein-Klein, im Labor, in der täglichen Arbeit von Forschenden. Aber auch, wie aus den Tätigkeiten, die da im Labor und anderen Orten der Wissenschaft stattfinden, Fakten werden. Und recht bald auch, wie aus diesen wissenschaftlichen Fakten gesellschaftliche Fakten werden.

Zwei seiner Bücher sind da wichtig: In Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts (zusammen mit Steve Woolgar, 1979) beschreibt er die Arbeit in einem Labor, in dem biochemische Forschungen durchgeführt werden (es geht um die Funktion menschlicher Gehirne, aber das ist für das Buch eher zweitrangig). Dafür hatte er in einem eher ethnologischen Ansatz in einem solchen Labor geforscht (wir wissen heute (Schmidgen 2011) welches Labor dies war, aber im Buch selber ist es anonym gehalten). In The Pasterization of France (Latour 1988) untersucht er auf der Basis von wissenschaftlichen Artikeln und anderen Quellen eine zuvor schon mehrfach geschriebene Geschichte nochmal neu; nämlich die, wie sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich eine neue Gesellschaft entwickelte, in der Impfungen und Sterilisation von medizinischen und anderen Instrumenten zum Normalfall wurden. Diese Veränderungen werden normalerweise mit Louis Pasteur in Verbindung gebracht, der auch bei Latour im Mittelpunkt steht. Aber bei Latour ist es keine «Heldengeschichte», in der ein Forscher die wichtigen Fakten des Lebens erkennt und sich diese Wahrheit dann einfach in der Gesellschaft umsetzt, sondern eine Untersuchung von Netzwerken, Politik, Produktion von Wahrheit und von Objekten. Im Mittelpunkt steht auch hier die Wissenschaft, aber die Frage ist eher, wie aus den Ergebnissen, die im Labor erarbeitet wurden, dann schnell in der Gesellschaft verbreitete Handlungen wurden.

Von den Büchern, die direkt zur ANT geschrieben wurden (auch wenn sie dann in den Büchern gar nicht so genannt wird), scheinen mir diese beiden am zugänglichsten zu sein. (Vielleicht noch Der Berliner Schlüssel : Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften (Latour 1996b).)

Wichtig scheint mir noch: Es geht Latour nicht um die konkreten Forschenden geht, sondern am das, was man mit Barthes als «Autorenfunktion» beschreiben könnte. Man könnte bei der Untersuchung der Arbeit im Labor zum Beispiel fragen, wie sich soziale Kategorien (Geschlecht, soziale Herkunft, Migrationsgeschichte, Alter, Gesundheitszustand und so weiter) der Forschenden und anderen Mitarbeitenden auswirken – was heute auch gemacht wird. Aber das ist nicht der Fokus von Latour. Ihn interessiert eher, wie die Forschenden agieren, damit Ergebnisse entstehen und diese verbreitet werden – so wie bei Roland Barthes «Tod des Autors» nicht wirklich die Autor*innen sterben, sondern ihre «Funktion» als alleinige Quelle eines Textes aufgelöst wird in eine Verständnis von Netzwerken, in denen ein konkreter Text ein Objekt ist, das nur durch ständige Interpretationen «lebt». (Das scheint jetzt hier vielleicht ein weit hergeholtes Bild zu sein – so, als wäre ich langsam in das Gespräch im Café eingestiegen und beim vierten Kaffee – aber ist ein Vorgriff auf einen Punkt, den ich später nochmal machen möchte: Vieles, was man bei Latour finden kann, scheint sich auch bei anderen Forschenden, insbesondere männlichen aus Frankreich, ähnlich finden zu lassen.)

Was ist es nun, was Latour in diesen Büchern herausarbeitet – und was zumindest zum Zeitpunkt der Veröffentlichungen als relevant neu erschien?

  1. Zuerst erarbeitet Latour einen Ansatz, den er manchmal mit «follow the scientist» (Latour & Woolgar 1979, Latour 1999) und später «follow the actors» (Latour 2005) umschreibt. Er fordert, dass man grundlegende Vorannahmen, mit denen die Soziologie und vergleichbare Wissenschaften sonst agieren (Schicht, Gesellschaft, Macht – so was)m «vergisst» und sich darauf konzentriert, tatsächlich zu schauen, was die Untersuchten tun – also, wie sie sich und ihre Arbeit organisieren, wie sie argumentieren, was sie zum Beispiel bedenken, wenn sie an Artikeln arbeiten (er schildert lange Diskussionen im Labor) oder «Beweise» so konstruieren, dass sie überzeugend wirken (dazu geht er beispielsweise auf einen «Feldversuch» Pasteurs und seine Publikationsstrategien ein). Latour postuliert, dass mit einer solchen «Rücknahme» von Vorannahmen ein besseres, genaueres Bild gezeichnet werden kann; nicht nur davon, wie ein Labor und wie Wissenschaft funktioniert, sondern auch wie «Gesellschaft» funktioniert.
  2. Latour beschreibt Wissenschaft als Arbeit, die daraufhin organisiert ist, Fakten herzustellen, nicht darauf, Wahrheit zu finden. (Latour 1987) Diese Beschreibung ist relevant für die ANT, aber auch ein Punkt, der sehr schnell falsch verstanden werden kann. Latour – und er wird dann mit seinen «späten» Büchern, in dem er über die Auswirkungen der Klimakatastrophe nachdenkt, klar2 – geht es nicht darum zu behaupten, Forschung würde Fakten «erfinden», politischen Interessen folgen oder gar Lügen verbreiten. Aber er zeigt, (a) dass Forschung nicht einfach etwas findet, was in der Natur oder so vorhanden ist, sondern das es von Entwicklungen, Netzwerken, Objekten wie existierenden Instrumenten, Theorien, andere Forschungen, auf die Forschende dann wieder reagieren, abhängt, was überhaupt in Forschungsprojekten gefragt wird, wie es interpretiert und präsentiert wird. Und (b) dass es keinen direkten Weg von den Ergebnissen, die im Labor entstehen, hin zu ihren «Anwendung» in der weiteren Gesellschaft (oder schon in anderen Laboren) gibt, sondern das Ergebnisse, um erfolgreich zu sein, erst in einem Netzwerk von Interpretationen, Deutungen, Ressourcen, Objekten und anderen Diskursen integriert werden müssen. Das war – man merkt es an dem Vorwort der Leiters des Labors, dass untersucht wurde, Jonas Salk in Latour & Woolgar (1979: 11-14) und in dem er betont, dass er Forschung sehr wohl als Suche nach Wahrheit versteht – eine damals, in den 1970ern, 1980ern offenbar neue Einsicht (Schmidgen 2011). Heute ist das wohl weniger umstritten, was vielleicht auch ein Erfolg der «Wissenschaftssoziologie» oder «Science and Technology Studies» ist, als dessen einen Vorreiter Latour gilt. Aber Latour (und Woolgar) beschreiben sehr eindrücklich, wie sehr die Artikel, die im Labor geschrieben werden, auch davon abhängig sind, gegen welche Forschung anderer Labore (oder deren Behauptungen über Ergebnisse) sich das Labor positioniert, welche «Angriffe» in den Peer Reviews erwartet werden, auf die man beim Schreiben schon reagiert oder auch davon, was an Instrumenten vorhanden ist. Für den zweiten Punkt zeigt Latour, dass sich die Praxis der Sterilisation in der französischen Industrie und Gesellschaft nicht so durchgreifend durchgesetzt hätte, hätte es nicht schon vor Pasteurs Forschungen eine «Hygiene-Bewegung» gegeben, die auf eine Veränderung der Gesellschaft, beispielsweise der Kanalisation oder des Städtebaus gedrängt hätte.
  3. Eine Einsicht, die Latour also bei der Untersuchung von Wissenschaft als Tätigkeit hat, ist also, dass die Produktion von Wissen, aber auch die Verbreitung von Wissen, immer das Ergebnis von Netzwerken ist – von Netzwerken von Diskursen, Personen, Möglichkeiten, Ressourcen, Objekten und anderem mehr. Latour weigert sich, diese irgendwie zu systematisieren oder zu werten.3 Das wäre wohl – wenn ich es richtig verstehe – eine Rückkehr zu den Vorannahmen der Soziologie, die er fallen lassen will. Ob also Diskurse wichtiger sind als das Handeln einzelner Personen – ob also die Diskurse um Hygiene wichtiger oder weniger wichtig waren als Pasteur selber, um bei diesem Beispiel zu bleiben – lässt sich so nicht klären. Was diese Perspektive aber ermöglicht, ist, möglichst viele Punkte der Netzwerke zu erkennen. Der forschende Blick schweift so mit der ANT immer weiter umher und kommt dann zum Beispiel auch darauf zu fragen, ob die Anordnung von Objekten im Raum relevant ist. (Oder, um ein Beispiel von Latour (Latour 1999: 24-79) selber zu nehmen: Ob es für die Produktion von Fakten relevant ist, ob der Boden eines Waldes direkt vor Ort untersucht oder aber in klar systematisierte Bodenproben verpackt, in eine Labor gebracht und dann dort analysiert wird.)
  4. Eine zweite Einsicht, neben dem Netzwerk, ist die Bedeutung von «non human actors». Das ist der zweite Punkt, der falsch verstanden, die ganze ANT als esoterische Konstruktion erscheinen lassen kann. Aber: Non human actors sind, wenn wir im Bild von Netzwerken bleiben, die Punkte in diesen Netzwerken und ermöglichen erst, dass diese Netzwerke «halten». Sie werden als solche aber auch erst durch die Netzwerke «hergestellt». (Hier muss man wieder aufpassen: Hergestellt heisst nicht immer, dass sie vorher nicht materiell «da sind», sondern das sie erst als Teil des Netzwerks mit Bedeutung aufgeladen werden und dann innerhalb des Netzwerks existieren. Ein Beispiel sind die gerade genannten Bodenproben aus einer Feldforschung, die Latour untersuchte (Latour 1999: 24-79): Der Boden war selbstverständlich schon da, bevor die Forschenden für ihre konkrete Forschung kamen. Aber dadurch, dass nach einem bestimmten Schema, dass gewissen Theorien und Praxen dieser spezifischen Forschung folgt, in einen einem extra angefertigten Koffer Bodenproben abgelegt wurden, wurden sie zu einem Objekt – ein Objekt, dass dann ein Netzwerk von Fragen, Analysen und Antworten ermöglichte. Erst als Bodenproben erhielt der Boden in diesem Netzwerk Relevanz – und gleichzeitig «gruppierte» sich um ihn das Netzwerk, ganz praktisch verschiedene Forschende, die interdisziplinär zusammenarbeiteten.) Non human actors können alle möglichen Sachen sein. Sie «agieren», aber ohne Bewusstsein (also anders als Menschen). Vielmehr agieren sie in dem Sinne, dass sie notwendig sind, damit das Netzwerk an sich funktionieren kann – wobei funktionieren auch nicht immer heisst, dass am Ende Ergebnisse oder Antworten entstehen. In einem anderen Buch (Latour 1996a) zeigt das Latour anhand eines «neuartigen Transportsystems», welches in Frankreich zwischen den späten 1960ern und frühen 1980ern entwickelt, (inklusive Teststrecken und Prototypen), dann aber eingestellt wurde. Das System selber – Aramis – agierte als Punkt in dem Netzwerk in dem Sinne, dass «um Aramis» herum, Millionen von Franc, von Personal, von Vorstellungen und Hoffnungen in Bewegung gesetzt wurden. Eine andere Möglichkeit, sich so einen non human actor vorzustellen, ohne in esoterische Ideen zu verfallen, sind Forschungsinstrumente in Labore, die für eine Fragestellung entwickelt werden und dann, durch ihr Vorhandensein, auch andere Fragen (in anderen Laboren) ermöglichen.
  5. Latour scheint mir in gewisser Weise sehr «französisch», weil er Begriffe anders definiert, als sie normalerweise gemeint sind. (Das passiert bei Foucault, Barthes oder so auch oft.) Wichtig ist das beim Begriff «non human actor» und der Vorstellung, dass diese agieren: Agieren heisst hier nicht, dass sie absichtlich etwas tun, so als würden die Forschungsinstrumente selber denken. Es heisst vielmehr, dass andere Akteur*innen im Netzwerk auf diese non human actors einwirken – sie werden von anderen «in Bewegung gesetzt», aber dadurch werden sie dann zu Punkten im Netzwerk. Also: Die Bodenproben sind non human actors in der oben genannten Forschung, die Forschenden «setzen sie in Bewegung» (in dem Beispiel buchstäblich, weil sie in ein Labor in ein anderes Land transportiert wurden). Aber sie sind dann Punkte in dem Netzwerk, die zum Beispiel die (sich teilweise widersprechenden) Theorien der verschiedenen beteiligten Forschenden «in Bewegung setzen» und dann eine Theorie «produzieren». (Könnte man das anders ausdrücken? Bestimmt. Aber das ist der Weg, wie offenbar gerne in Frankreich Wissenschaft betrieben wird – irgendwie habe ich das akzeptiert, auch wenn ich manchmal wünschte, dass es anders wäre. Man muss einfach darauf achten, zumal es – weil es Wissenschaft ist – definiert wird, bei Latour oft mehrfach.)
  6. Netzwerk, Wissenschaft (und später Wissenschaft und Gesellschaft) als Produktion von Fakten (Latour 2001), non human actors, «follow the actors» als Grundprinzip sowie ein «Vergessen» von Vorannahmen sowie eine Weigerung, zu kategorisieren – dass sind eigentlich «schon» die Grundprinzipien der ANT. Mir scheint das in der Anwendung immer wieder interessante Ergebnisse zu produzieren, auch wenn ich mich beim Lesen selber dabei erwischt habe, oft auch andere Fragen untersucht sehen zu wollen, beispielsweise solche nach Macht und sozialer Herkunft. Latour würde dann vielleicht sagen, dass ich Vorannahmen mit in Analysen hineinbringen will – was nicht unbedingt falsch ist. Aber mir scheint die ANT ist interessant in der Anwendung, wenn auch begrenzt. Sie ersetzt nicht andere Ansätze, sondern ersetzt sie.

Eine Sache, die Latour im Laufe seines Forschungslebens gemacht hat, war, die ANT, also diese Grundprinzipien und Erkenntnisse, immer mehr auszuweiten. Heraus aus dem Labor (Latour & Woolgar 1979) und den Zusammenhängen von Labor und Gesellschaft (Latour 1987, 1988), hin zur Gesellschaft selber (Latour 1996b) und dann, well, die ganze Welt und Klimakatastrophe (Latour 2018). Gaia ist ein weiterer Begriff, der mit Latour in Verbindung gebracht wird – dass ist, in gewisser Weise, die Welt, die als non human actor auf den Menschen reagiert. Das Netzwerk, um das es dann ist, ist, well, praktisch «alles» und Gaia ist deshalb relevant, weil sie vom Handeln der Menschen «in Bewegung» gesetzt wird. Gaia ist schon ein Begriff, der auf Gottesvorstellungen verweist, aber das heisst nicht, dass angenommen wird, dass die Welt denken würde – sie reagiert und dadurch verändert sich wieder alles: Das Klimakatastrophe als Teil eines Netzwerks. Das hat, grundsätzlich, eine Folgerichtigkeit, aber es führt halt in sehr andere Fragen, als die, die ich in meiner Relektüre angehene wollte – nämlich in solche, die sich weniger mit der Wissenschaft und viel mehr mit, well, dem Leben und Überleben der Menschheit zu tun haben.

Mir war klar, dass ich das in meiner «Relektüre» nicht mit einbeziehen wollte. Aber, was mir beim Lesen immer schwerer fiel, war, die Grenze zu ziehen. ANT und Gaia – der Zusammenhang ist eigentlich direkt. Nur scheint mir, durch die grossen, grossen Fragen, gehen interessanten Beobachtungen über die Produktion von Wissen unter, die halt auch in den Werken Latours drin stecken.

Bücher als Kneipengespräch

Warum erscheinen die Arbeit von Latour dann so komplex, dass praktisch immer wieder geschrieben wird, dass es schwer sei, sie vollständig darzustellen? Nach meinen Lektüren scheint mir das weniger an der ANT selber zu liegen, als an zwei Punkten:

  1. Wie schon gesagt scheint mir Latour sehr «französisch» in dem Sinne, dass Begriffe ständig neu definiert, dann wieder umdefiniert, dann wieder neu angeeignet werden. Man muss immer wieder neu schauen, was «gerade» in einem Text, einem Buch mit «Soziologie» oder ANT oder auch actor gemeint ist. Das ist teilweise umständlich.
  2. Gleichzeitig sind viele Bücher Latours, vor allem aus den 1990ern und frühen 2000ern, davon geprägt, dass er sich abgrenzt. Er sagt viel, viel öfter und mit viel, viel mehr Worten, was die ANT nicht ist, als das er konkrete Aussagen darüber macht, was sie überhaupt darstellt. (Hier, symptomatisch scheint mir, Reassembling the Scoial: An Introduction to Actor-Network-Theory (Latour 2005), in Deutsch erschienen als «Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft». Bei dem Titel würde man erwarten, dass es ein Einführung ist und das klargestellt wird, was neu an der «neuen Soziologie» wäre – aber eigentlich geht es die ganze Zeit darum, was die ANT alles nicht kann und soll. Es war für mich ein schwer zu lesendes Buch.) Hinzu kommt, dass die Bücher von Latour – nicht unbedingt die Artikel, die er auch publiziert hat – sich dadurch auszeichnen, dass er auf der einen Seite auf Zitationen und andere Nachweise verzichtet und auf der anderen Seite fast alle irgendwie als «experimentell» bezeichnet werden können. Dabei verweist Latour ständig auf irgendwelche Diskurse, Arbeiten, Theorien, von denen er sich abgrenzt – aber es ist nicht immer einfach, nachzuvollziehen, welcher er meint. Man muss eigentlich mitten drin stecken in den soziologischen und philosophischen französischen Debatten, um mitzukommen. Ansonsten muss man lernen, über diese Stellen hinwegzulegen – was mit der Zeit schwer wird. Man hat immer Angst, noch andere Dinge zu überlesen. Experimentell heisst, dass man auch immer Zeit braucht, um in ein Buch «hineinzukommen». Latour schreibt mal Romane, mal Philosophie, mal Studien. Zum Beispiel ist Aramis: or the love of technology (Latour 1996a) nicht einfach eine Studie darüber, wieso das im Titel genannte Transportsystem über Jahrzehnte entwickelt, aber dann nie umgesetzt wurde. Sondern es ist eher ein Bericht eines – fiktiven – Studenten der Ingenieurswissenschaften, der ein einjähriges Praktikum bei einem «Professor der Soziologie» absolviert. Der Professor ist eindeutig das Stand-In von Latour selber, aber das Buch ist aus Sicht der Studenten geschrieben, der gezwungen wird, Soziologie «zu betreiben» (und auch versucht, sein Praktikum zu wechseln). Zudem besteht das Buch grösstenteils aus Versatzstücken von Interviews, Zitaten aus Dokumenten sowie erfundenen Dialogen (Aramis «spricht» selber) sowie Photos aus der «Geschichte» von Aramis. The Pasterization of France (Latour 1988) besteht zur Hälfte aus einer Studie, zur anderen Hälfte aus einem philosophischen Traktat, gegliedert in durchnummerierten Sätzen. Oder, Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen (Latour 2018), ist eine mehrere hundert Seiten lange Abhandlung, die halt «alles» beschreiben soll – eine Art Welttheorie – aber ohne jede Zitation auskommt. Und das erst letztens erschienen Zur Entstehung einer ökologischen Klasse (Latour & Schultz 2022) erinnert in Aufbau, Gestus und Inhalt an leninistische Thesenpapieren (halt tatsächlich an Lenins Broschüren wie «Was tun?», «Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus»). Ist das hilfreich für das Verständnis? Nicht immer. Aber mir scheint, der – manchmal interessante, manchmal ablenkende – Gestus des experimentellen Textes ist auch ein Grund, warum die Arbeiten von Latour komplex erscheinen; vielleicht komplexer, als sie inhaltlich sind. Es ist aber auch ein Grund, ihn immer wieder zu lesen.

«Interessante Erkenntnisse»

Gut. Das alles ist in gewisser Weise eine Erklärung – hoffe ich –, warum ich es schwierig finde, zu sagen «aus Latour lässt sich das und das lernen». Wie gesagt haben das viele Forschende für viele andere Wissenschaftsfelder versucht, teilweise sogar in ihren Dissertationen (also nicht einfach als One-Off-Artikel, sondern als jahrelange Arbeit, auf der sie dann vielleicht ihre weitere Karriere aufbauen). Teilweise, meiner Meinung nach, erfolgreich, teilweise mit eher offenen Ergebnissen (bei denen ich mich vor allem am Ende oft fragte, ob man dafür unbedingt die ANT braucht, und nicht andere, etablierte, Theorien passender gewesen wären) und teilweise auch nicht überzeugend. (In Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft (Füssel & Neu 2021) stehen Artikel aller dieser drei Kategorien nebeneinander.)

Aber, gleichzeitig – sowohl früher als auch jetzt, bei meiner versuchten «Relektüre» – tauchten immer wieder interessante Fakten, Ergebnisse, Überlegungen auf, die mir entweder für die Bibliothekswissenschaft relevant erscheinen oder die ich einfach so bedenkenswert finde – also, in dem Sinne wie die interessanten Stellen in Merve-Büchern. Mal nur an einer Stelle im Buch, mal verteilt in verschiedenen Publikationen. Und, ich bin mir sicher, hätte ich die Lektüre fortgesetzt, dann in anderen Büchern noch mehr. Hier, in diesem Abschnitt, eine unsystematische Liste dieser Erkenntnisse. Halt so weit, wie ich dabei gekommen bin.

Wissenschaft als Kampf

Wie gesagt begann Latour mit der Analyse von Wissenschaft, insbesondere dem «Entstehen» von Wissen. Gleich in dem 1979 veröffentlichtenLaboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts ging es darum, was Forschende eigentlich machen, wenn sie Forschen. Er beschreibt das über die Jahre hin dann immer wieder anders, in Laboratory Life aber zuerst als Kampf – und zwar nicht als Kampf mit der Natur, der man Fakten abringt, sondern als Kampf zwischen Forschenden und Laboren. Ständig würde abgewogen, was andere Labore tun, planen, veröffentlichen. Ständig würde überlegt, wie man früher als andere Labore zu einem Ergebnis kommen kann, wie man besser Interpretationen bieten kann und so weiter. Auch, wie man die Ergebnisse anderer übertrumpfen kann. Dabei – für die Wissenschaft an sich oder die Gesellschaft ist das eigentlich irrelevant. Und trotzdem ist es etwas, was die Forschenden in den Laboren ständig tun.

Latour bleibt auch nicht dabei. Im gleichen Buch beschreibt er die Arbeit im Labor als ständige Schreibarbeit und als ständige Arbeit an Artikeln – obwohl es sich bei dem Labor, dass er untersucht, um ein naturwissenschaftliches Labor handelt, nicht um ein geisteswissenschaftliches. Und, wie gesagt, in anderen Büchern und Artikeln, vervielfältigen sich die Beschreibungen der Tätigkeiten von Forschenden nur noch mehr.

Was die unterschiedlichen Beschreibungen aber verbindet, ist, das Latour sich weigert, einfach den Worten und Beschreibungen der Forschenden selber zu vertrauen und, dass er sich auch weiter, Beschreibungen anderer (zum Beispiel in (Latour 1988) den sonstigen Darstellungen der Arbeiten Pasteurs) zu folgen. Nur weil Forschende immer wieder davon reden, dass sie die Wahrheit suchen, nach den Fakten der Natur und so weiter, heisst das für ihn nicht, dass man das einfach so übernehmen kann. Man muss, dass betont er auch immer wieder, «den actors folgen», also wirklich schauen, was sie tun. Das, was sie sagen, wenn sie es beschreiben, muss man aber als Teil des «Kampfes» ansehen – als Argumente und Interpretation der actors selber. Ebenso muss man die Fakten, die sich «durchsetzen» nicht nur daraufhin anschauen, ob sie mehr oder weniger wahr sind, als Fakten, die sich nicht durchsetzen, sondern auch auf die «Konstruktion» dieser Fakten achten – Konstruktion nicht als Vorwurf, das etwas falsch oder gar verlogen wäre, sondern als Analyse, was für Entscheidungen von wem und in welchem Machtzusammenhang getroffen werden, damit ein bestimmten Fakt Bedeutung erfährt und ein anderen vielleicht nicht.

Das ist auf der einen Seite erfrischend, weil es auf zwei Sachen verweist: Erstens, dass man den «grossen Erzählungen» über Forschung nicht vertrauen muss. Das heisst nicht der Erzählung, dass es immer darum, geht, der Natur Fakten «zu entlocken», sondern auch – um es in den Bereich der Bibliothekswissenschaft zu holen – solchen Erzählungen wie der, dass Forschende die ganze Zeit darauf schauen würden, wie sie ihre Reputation verbessern könnten. Das sind alles Erzählungen, die im Rahmen verschiedener Interessen gegeben und geglaubt werden, die aber offenbar auch nie alternativlos sind. Andere Erklärung können auch oft gut beschreiben, was bei der Forschungstätigkeit «passiert». Zweitens zeigen die verschiedenen Interpretationen, die Latour im Laufe der 1980er und 1990er immer wieder neu liefert, aber auch, dass immer verschiedene Darstellungen und Interpretationen möglich sind. Auch die Darstellung der Arbeit von Forschenden als «Kampf», die er zuerst liefert, muss nicht per se mehr oder weniger «wahr» sein als andere Erzählungen.

Allerdings scheint mir nicht, dass das eine besonders innovative Erkenntnis ist. Vielleicht leben wir alle in einer Welt «nach Latour», in der das sich als Erkenntnis durchgesetzt hat. Aber, auch wenn ich Darstellungen immer wieder interessant fand, wusste ich nie, ob das nicht auch zum Beispiel mit den Diskurs- und Machtanalysen von Foucault genauso gezeigt werden könnte. Wie schon mal oben angedeutet: Immer wieder schien mir beim Lesen, dass Latour nochmal, manchmal auf anderen Wegen, zu den gleichen Ergebnissen kommt, wie andere Forschende vor ihm (zumeist, wie auch gesagt, andere männliche, französische Forschende). Das ist nicht per se schlimm, sondern zeigt ja eher, dass solche Erkenntnisse offenbar eine gute Evidenzbasis haben – weil man auf verschiedenen Wegen zu dieser Erkenntnis kommt.

Fakten werden wirkmächtig als Black Box

Eine Erkenntnis, die sich auch gleich 1979 in Laboratory Life findet, ist die, dass sich Fakten, die im Labor «produziert» werden, nicht als solche durchsetzen. Damit sie eine Wirkung haben können, die über den eigentlichen Forschungszusammenhang hinausgeht, müssen sie zu einer «Black Box» werden.

Was heisst das? «Black Box» heisst, dass Fakten zu einem Ding, zu einem Objekt werden müssen, das in anderen Zusammenhängen benutzt werden kann. Dieses Objekt kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Aber in Laboratory Life geht es um zwei dieser «Black Boxen». Einerseits geht es um eine Chemikalie, die in diesem Labor «gefunden» wurde. Sie war schon vorher bekannt, aber während der Forschung wurde eine Methode entwickelt, diese Chemikalie, die ansonsten im menschlichen Gehirn produziert wird und deshalb nur in kleinen Mengen vorhanden ist, in grossen Mengen zu produzieren. (Zudem wird in der Forschung dann, weil eine grosse Menge vorliegt, auch möglich, besser zu erforschen, wie diese Chemikalie im menschlichen Gehirn funktioniert – sie ist dann also ein actor, der andere actors «in Bewegung setzt», also hier überhaupt erst Forschung ermöglicht und bestimmte Fragestellungen möglich macht.) Diese Methode, entwickelt um in einer spezifischen Forschung genutzt zu werden, wird dann von der Industrie übernommen, die dann damit in der Lage ist, anderen Laboren gewünschte Mengen dieser Chemikalie zur Verfügung zu stellen. Aus dem prekären Ding in einem Labor wird also ein Objekt, dass andere Labore «einplanen» können – sie haben die Möglichkeit, es ohne grosse Probleme zu erhalten. Was dann passiert sind zwei Sachen: Die Chemikalie wird für Fragestellungen verwendet, die überhaupt nichts mehr mit dem Labor und dem Forschungsprogramm, in dem sie entwickelt wurde, zu tun haben. Sie ist jetzt dann Objekt, das eingesetzt werden kann. Und, gleichzeitig, wird es egal, wer die Produktion dieser Chemikalie «erfunden» hat und wie genau dieser Prozess funktioniert. Andere Labore bestellen das Objekt einfach und können auf seine «Funktionsweise» vertrauen. Das ist deshalb relevant, weil selbstverständlich im Labor, das Latour untersuchte, die Entwicklung dieser «Produktionsstrecke» viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nahm. Und weil es auch eine Auseinandersetzung mit einem anderen Labor gab, wer diese «Produktion» zuerst aufgebaut und die tatsächliche Bedeutung dieser Chemikalie forschend bestätigt hat. Das ist dann innerhalb weniger Jahre vollkommen egal – wenn andere Labore die Chemikalie einsetzen, dann schreiben sie in ihren Papern nichts davon, wer damals «in der Auseinandersetzung gewonnen hat» oder wie viel Arbeit es war, die Produktionsstrecke zu entwickeln. Es wird nur noch die Chemikalie selber erwähnt. Dieses Ignorieren der ganzen Komplexität (Geschichte der Erforschung und der Auseinandersetzung, «Herkunft» aus dem spezifischen Labor und Forschungsprojekt, Aufbau des Produktionsprozesses) ermöglicht es aber, dass die Chemikalie «erfolgreich» ist in dem Sinne, dass sie Verbreitung findet.

Das ist einigermassen erstaunlich, weil es eine gewisse Widersprüchlichkeit zeigt: Es war ein Erfolg der Forschung, diese Chemikalie künstlich produzieren zu können. Aber, damit der Erfolg eine Relevanz erhält, muss er ein Objekt, eine Black Box werden, was dazu führt, dass nicht mehr auf diesen «Erfolg» verwiesen wird. Oder mit anderen Worten, wieder mit Bezug zur Bibliothekswissenschaft: Das Ergebnis der Forschung wird für die Praxis relevant, aber so, dass es keine Zitationen mehr gibt. Zitiert wird die Forschung des Labors während der Arbeit selber und während der Auseinandersetzung mit dem anderen Labor um die «Originalität» der Forschung. Aber je erfolgreicher das Ergebnis, also die industriell hergestellte Chemikalie, umso weniger Verbindung hat sie noch – ohne, dass es jemand aktiv verheimlichen würde, weil die Artikel dazu alle vorhanden sind – mit diesem Forschungsprojekt.

Dazu trägt auch bei, dass das «Öffnen» der Black Box – also das Nachvollziehen, was dort in ihr alles passiert, welche Entscheidungen getroffen wurden oder auch, auf welchen anderen Black Boxen sie aufbaut (zum Beispiel Messinstrumenten) – immer mehr Ressourcen benötigt, je komplexer die Black Box ist. Wenn also, um im Beispiel zu bleiben, ein anderes Labor nachvollziehen will, wie die Produktionsstrecke entstand, muss es Ressourcen verwenden, die es nicht verwenden muss, wenn es die Chemikalie einfach nutzt.

Latour (und Woolgar) zeigen im gleichen Buch noch, dass dies nicht einfach auf wissenschaftliche Fakten und Ergebnisse beschränkt ist, sondern deuten schon an – was Latour dann in anderen Büchern weiter ausarbeitet –, dass dies auch für die gesamte Gesellschaft gilt. Sie beschreiben gleichzeitig, wie ein Computer entwickelt wurde, den das Labor dann als Instrument einsetzt. Auch da gab es Entscheidungen und Auseinandersetzungen, die aber für das Labor egal sind – weil sie den Computer als «Black Box» nutzen, um Daten zu verwerten.

(Black Box kann aber auch, meinem Verständnis nach, eine Theorie sein – hier scheint mir Latour mit seinem ständigen Abgrenzungen gegen «Vorannahmen» in der Soziologie eine Sache übersehen zu haben. Diese «Vorannahmen», von denen er sich abgrenzt, lassen sich meiner Meinung nach gut als Objekte beschreiben, deren Herkunft und Produktionsprozesse nicht vollständig in einen Forschungsprozess eingebracht werden muss, um selber als actor dazu beizutragen, Wissen zu produzieren – also man muss nicht «den ganzen Foucault», «den ganze Marx», «den ganzen Weber» referenzieren, um eine sinnvolle Forschung mit deren Theorien durchzuführen.)

Non human actors

Der Interessanteste, und für mich auch Eigenständigste, Punkt bei Latour, sind die hier schon mehrfach besprochenen non human actors. Für mich sofort einsichtig ist, dass die Instrumente, die in einem Labor vorhanden sind (oder bei der Industrie bestellt werden können) eine grundlegende Rolle dabei spielen, was an Fragen überhaupt gestellt werden kann und was also überhaupt als Wissen «produziert» werden kann.

Bei Latour weitet sich das dann später immer und immer weiter in die Gesellschaft aus und es gibt dann unzählige non human actors. Das scheint manchmal fragwürdig, aber wenn man es – so meine Erfahrung – zurückführt auf das Modell von Forschungsinstrument und Wissensproduktion, wird es doch immer wieder verständlich.

Für mich einfach vorstellbar ist auch, dass Modell aus dem Labor heraus auf (zumindest) Wissenschaftliche Bibliotheken zu erweitern (also im Sinne von der Bestand von Bibliotheken ermöglicht erst bestimmte Fragestellungen) und auf den Raum Bibliothek.

Wissen in der Gesellschaft

Ein Punkt, der auch mit anderen Theorien ebenso gut beschrieben werden kann, aber bei Latour immer wieder vorkommt, ist der, dass die «Umsetzung» von Wissen, dass an einem Ort (also zum Beispiel dem Labor) produziert wird, nicht alleine von diesem Ort und seinen Handlungen abhängt. Damit Wissen eine Bedeutung über dieser Ort hinaus spielen kann, müssen viel mehr Akteur*innen handeln – human und non human. Oder anders, eher auf die Wissenschaft bezogen: Latour zeigt immer wieder, dass nicht die einzelnen Forschenden wirklich viel dafür können, ob ein Fakt, den sie erarbeiten, in der Gesellschaft oder in anderer Forschung genutzt wird. Es ist immer das ganze potentielle Netzwerk, dass darüber entscheidet.

In Le métire de chercheur regard d´un anthropologue (Latour 2001) bezieht er dies sogar explizit auf die Hochschule, an der er tätig war. Diese hat den Auftrag, angewandte Forschung zu betreiben. Er diskutiert kurz (weil es ihm doch um mehr geht), wie die Frage, was «angewandt» heisst und wie es «angewandt» wird, gar nicht so sehr von den Forschenden an der Hochschule abhängt, sondern vielmehr von der Bergbauindustrie, für die die Hochschule zuständig ist, und der Politik. (Das ist ja, als Forschender an einer Fachhochschule, auch meine Situation. Vielleicht stimme ich diesem Punkt deshalb sehr zu.)

Gaia, Europa als Modell, ökologische Klasse

Während die anderen Punkte hier sich alle irgendwie auf die «frühen Bücher» von Latour beziehen – die, die sich auch irgendwie direkt mit der ANT und der Wissenschaftsforschung verbinden lassen – fanden sich auch in späteren Büchern immer wieder Versatzstücke, die mich immer wieder einmal ansprachen, aber für mich schwierig in einem Bezug zu Forschung oder Bibliotheken zu setzen ist.

  • Weiter oben schon erwähnt, ist mir nach und nach die Bezeichnung Gaia (Latour 2017) für den «non human actor» Welt, der auf die Menschen und das Anthropozän reagiert, verständlicher geworden. Sicher – andere Bezeichnungen wären möglich. Aber diese eigenständige Bezeichnung macht es möglich, die Situation irgendwie besser zu fassen (wenn auch nicht positiver oder so): Die Welt reagiert auf die Umgestaltungen durch den Menschen und die Klimakatastrophe nicht so, als hätte sie ein Bewusstsein; gleichzeitig reagiert sie aber in einer Weise, die relevant wird für die Menschen und das Überleben der Menschheit (ganz gross gefasst), aber – weil es ein non human actor ist – auch vollkommen ohne eigenes Interesse daran. Es gibt da keine Moral, keine Ethik, sondern nur ein Agieren. (Und doch, auch hier, fand ich es verständlicher diskutiert – das ist jetzt ein interessantes Wort für dieses Buch, das ansonsten oft auch als sperrig beschrieben wird – in Donna Haraways Staying with the trouble (Haraway 2016).) Die im Grunde hoffnungslose, realistische Darstellung als Gaia macht die Situation irgendwie lebbarer, denkbar. (Schwer zu erklären. Aber es gibt einen Grund, warum es auch seit Jahren eine Reihe von philosophischen Texten gibt, die sich, unter anderem mit Bezug auf Latour, mit dem «Ende der Welt» beschäftigen.)
  • Wie gesagt beschäftigte sich Latour ab irgendwann in den 2000er Jahren mit immer grösseren Fragen. Die Themen breiten sich aus, (fast) am Ende geht es dann um Existenzweise aller möglichen actors und den «Weltuntergang» (also, den der Menschen, die Welt selber geht ja nicht unter). Und dazwischen schreib er dann Essays zu eher konkreteren Fragen (nicht zu konkret), die sich recht schnell lesen lassen. In einem davon, Das terrestische Manifest (Latour 2022 [2018]), reagiert er auf die Wahl Donald Trumps. Es ist ein Text, der auch von vielen Behauptungen und Argumentationsversuchen lebt (aber es ist ja auch ein «Manifest», obwohl ich eher sagen würde, es ist ein Essay). Hier scheint sich Latour indirekt auch mit seiner Angst zu beschäftigen, dass gerade er Stichwortgeber für Leugner*innen der Klimakatastrophe geworden sein könnte. Zwei Sachen sind mir aus diesem Essay als Denkanstösse geblieben: Erstens beschreibt er die Wahl Trumps auch als Wahl eines grossen Teils der US-amerikanischen Bevölkerung, sich aktiv dafür zu entscheiden, sich zu weigern, sich weiter als Teil dieser Welt zu sehen. Sie hätten die Wahl getroffen, sich nicht nur als Teil eines besonderen Landes (das wäre der US-amerikanische «Exzeptionalismus») zu sehen, sondern zu postulieren, dass dieses Land gar nicht zur Welt gehört und man deshalb alles ignorieren kann. Eine Realitätsverweigerung, die aber aktiv eingegangen wird – nicht, weil die Fakten nicht bekannt seien oder so. Und zweitens formuliert er ein Gegenbeispiel: Wie sollte man sich stattdessen in der Welt verhalten, in der jetzigen Situation der Klimakatastrophe? Er führt Europa an und sagt von sich, das er überzeugter Europäer wäre – Europäer verstanden als Teil einer Gemeinschaft, die gelernt hat – nach langen, schrecklichen Prozessen – auf Exzeptionalismus, Sonderstellung und auch auf imperiale Ansprüche zu verzichten; sondern stattdessen akzeptiert, was ist. Realistische Handlungen, realistische Erwartungen. Sicherlich: Das ist eine Darstellung von «Europa», die man als sehr optimistisch verstehen kann. Es ist in gewisser Weise eine Utopie – ein Europa und auch ein Frankreich, dass sich als Teil der Welt versteht und nicht mehr als irgendwie abgehoben. Ein Europa, das die Ergebnisse der Geschichte akzeptiert und versucht, innerhalb dieses Rahmens zu handeln (also zum Beispiel keine Grenzen mehr verändern, Länder ausweiten oder aber Verbrechen der Vergangenheit schön reden will.) Aber – gerade mit dem Krieg in der Ukraine habe ich mich immer wieder einmal an diese Darstellung erinnert und mich gefragt, ob Latour damit nicht doch ein wenig Recht hat. Vor allem in dem Sinne, dass «Europa» es grösstenteils heute vollkommen einsichtig findet, dass es keine imperialen Veränderungen von Grenzen und Ländern geben sollte (etwas, dem Russland nicht zustimmen würde) und das auch in recht aktive Politik umsetzt – was Anbetrachts der Geschichte Europas eigentlich erstaunlich ist. Ich weiss nicht, was ich daraus machen soll – es ist nur einer dieser kleinen «interessanten Gedanken», die mir bei Latour immer wieder unterkommen.
  • Der letzte Essay, den ich von Latour (und Schultz) gelesen habe – vielleicht auch der letzte publizierte Text von Latour, auch wenn ich erwarte, dass da noch einige «aus dem Nachlass» kommen werden und das schon an mindestens einer Gesamtausgabe gearbeitet wird – ist Zur Entstehung einer ökologischen Klasse (Latour & Schultz 2022). Das ist wieder so ein Essay zu einer grossen Frage – nämlich, ob und wie eine «Klasse» entstehen kann, die politisch das Erbe linker Bewegungen (hier vor allem auf die «proletarische Bewegung» bezogen) antreten kann, aber mit dem Ziel der Umgestaltung der Gesellschaft hin zu einer, die nicht nur sozial ist, sondern auch noch ökologisch das Überleben der Menschheit sicherstellen kann – also wieder das grosse Ganze. (Das klingt jetzt gleich ein wenig, als würde ich einen Witz machen wollen, aber das steht alles so in diesem Buch und das Buch ist wirklich bei einem Verlag wie Suhrkamp verlegt worden.) Latour und Schultz benutzen den Begriff Klasse, wie er im Marxismus verstanden wurde, weil sie damit auch über die Fragen reden können, die im Marxismus relevant waren. Zum Beispiel, wie sich die Klassen in der jetzigen Gesellschaft zusammensetzen, wie sich ein «Klassenbewusstsein» bildet (also nicht nur die Klasse als Teil der Gesellschaft bestimmt werden kann, sondern «die Klasse selber» lernt, sich als solche zu sehen, gemeinsame Ziele zu definieren und dann auch politisch anzustreben). Zudem schliessen sie – mal mit direkten Verweisen, mal indirekt – an weitere linke der Debatten der letzten 200 Jahre an, insbesondere an Gramsci und seine Überlegungen zur Hegemonie. Und, wie oben erwähnt, in gewisser Weise ist der Essay so aufgebaut und argumentiert auch so, wie Lenin das in seinen kurzen Essays kurz vor der Oktoberevolution gemacht hat – es geht also nicht nur um eine Analyse, sondern auch um die Frage, «wie die Revolution zu machen ist». Wie gesagt: Latour ist immer irgendwie in anderen Debatten drin und dabei teilweise erstaunlich radikal und rabiat. (Wobei mir auch immer wieder auffällt – wenn ich das so in Deutsch schreibe, klingt das viel radikaler und erstaunlicher, als wenn ich das in Französisch lese.) Was mich an dem Buch aber vor allem irritiert hat, ist, dass es in gewisser Weise doch zurückkehrt zu Punkten, die Latour selber in den 1980ern und 1990ern vehement abgelehnt hat – während er mehrfach herausgestellt hat, wie wichtig es wäre, ohne Vorannahmen in die Analyse von Situationen zu gehen und stattdessen «zweidimensionale Karten» der Situation zu zeichnen, auf denen alle human und non human actors die gleiche Bedeutung und Wirkmacht haben, ist er in Zur Entstehung einer ökologischen Klasse auf einmal wieder ganz schnell bei, well, Klassen, sozialen Schichten und Macht. Ich weiss – darum geht es in dem Essay gar nicht, aber mir schien auch, dass es ebenso ein (indirektes) Eingeständnis zeigt: Nämlich das solche «Vorannahmen» sinnvolle Werkzeuge sein können. Mir schien, Latour führt in dem Essay indirekt auch vor, dass die ANT und davon abgeleitete Analysen immer nur eine Möglichkeit der Analyse darstellen und dass andere Ansätze auch immer möglich (und manchmal sinnvoller) sind. Auch hier – was macht man damit? Ich weiss es. Aber ich hatte, als ich das Buch las, schon beschlossen, dass ich die Relektüre abbreche. Ansonsten aber wäre das ein wichtiger Punkt für die weitere Diskussion gewesen: Welche «Reichweite», welchen Anspruch hat die ANT – besonders, wenn Latour selber von ihr abweicht, wenn es ihm notwendig erscheint.

ANT und die Bibliothekswissenschaft

Dieser Blogpost hier ist «einfach runtergeschrieben». Für eine richtige Relektüre hätte ich ihn selbstverständlich besser strukturiert, Argumente in eine Reihenfolge gebracht, darauf geachtet, Fakten und Meinung zu trennen… Wie gesagt, irgendwann wurde mir das Projekt zu gross. Deshalb gibt es hier auch kein richtiges Ende. Ich kann nicht wirklich sagen, ob und wenn ja, wie die ANT in der Bibliothekswissenschaft genutzt werden kann. Soweit bin ich nicht gekommen.

Aber noch hier kurz, anstelle eines schönen Fazit, ein paar Überlegungen dazu. Was denke ich, ohne das systematisiert zu haben, was die Bibliothekswissenschaft von Latour beziehungsweise aus seinen Arbeiten, lernen kann?

  • Man kann lernen, dass Wissenschaft (sowohl als direkte Aktivität, also das, was Forschende tun, als auch als System) nicht einfach mit einem Modell beschrieben werden kann. Relevant ist das, weil eigentlich für all die Projekte und Darstellungen zu Open Access, Bibliometrie und so weiter, im Bibliothekswesen und in der Bibliothekswissenschaft immer nur ein Modell («Forschende forschen und sind an Publikationen für die Reputation interessiert») rezipiert wird (was ein Modell ist, das gerade Wissenschaftsverlagen eine hohe Bedeutung zugesteht, und den Verlagen damit vielleicht mehr nützt, als der Wissenschaft oder den Bibliotheken selber). Sinnvoller wäre eine direkte Beobachtung der wissenschaftlichen Arbeit (also: Was tun Forschende wirklich beim Forschen und Arbeiten – nicht was sagen sie in Umfragen und Interviews, wenn man immer die gleichen, auf nur diesem einem Modell basierenden, Fragen stellt). Diese würde wohl zu einer genaueren, aber wohl auch komplexeren und teilweise widersprüchlichen, Beschreibung von Wissenschaft führen, die näher an der Realität sind. Und vielleicht auch zu Modellen, die mehr den Bibliotheken und den Forschenden nützt, als den Verlagen.
  • Der Punkt mit der Black Box (also, dass wissenschaftliche Fakten erst eine «Black Box» werden müssen, um in der Gesellschaft «erfolgreich» zu sein, erfolgreich im Sinne von: Die Gesellschaft und das Leben der Menschen verändern) und vor allem, dass mit dem erfolgreichen «Black Boxing» einhergeht, dass die Verbindung zwischen Forschenden und dem Objekt verloren geht, scheint mir relevant, weil er eigentlich die meisten Überzeugungen, die «hinter» der Bibliometrie stehen, obsolet macht. Zumindest, wenn die Bibliometrie (also die Arbeit mit Zitationen als Datenmaterial) genutzt wird, um den «Fluss» von Wissen und den Einfluss von Wissenschaft nachzuvollziehen. Denn praktisch zeigte Latour (in dem oben angeführten Buch sogar teilweise mit bibliometrischen Daten), dass ein Erfolg von Wissenschaft in diesem Sinne immer damit einhergeht, dass es für die «betroffenen» Forschenden keine Zitationen gibt. Sicherlich: Das ganze Bibliothekswesen betreibt Bibliometrie immer nur mit Bauchschmerzen, jeder «bibliometrische» Bericht enthält einen Abschnitt dazu, dass Zitationen immer nur einen begrenzten Aussagewert haben. Und es gibt auch schon zahlreiche weitere kritische Betrachtungen der Annahmen hinter der Bibliometrie (sowie genauer durchdachte «Annahmen»). Und trotzdem scheint mir der Begriff und die Beschreibung des «Black Boxing» eine weitere Ebene der Kritik hinzufügen.
  • Immer noch eher intuitiv scheint mir, die ANT liefert auch eine – aber wirklich nur eine neben anderen – Möglichkeiten, den Raum Bibliothek zu untersuchen, also zu schauen, wie die non human actors (vor allem Medien) in Netzwerke der Tätigkeiten integriert sind, die Menschen in Bibliotheken ausüben. Aber genauer beschreiben, wie ich mir das vorstelle, kann ich immer noch nicht. (Das wäre wohl Teil der Relektüre gewesen. Allerdings ein Verweis auf Monospace and Multiverse: Exploring Space with Actor-Network-Theory von Sabine Hansmann (2021), welche die ANT nutzt, um ein Gebäude zu verstehen, dass gleichzeitig Museum, Bibliothek, Lernort und sozialer Ort ist.)
  • Und, selbstverständlich, aber irgendwie auch so naheliegend, dass es sich komisch anfühlt, es extra zu erwähnen: Medien lassen sich mit der ANT als non human actors in Netzwerken der Wissensproduktion verstehen, auch und gerade die Medien, zu denen Bibliotheken Zugang liefern.

Literatur

Chaillan, Pierre (2022). Bruno Latour, penseur des sciences et de l’écologie salué et critiqué. In: lʹHumanité, 10.10.2022, https://www.humanite.fr/en-debat/anthropologie/bruno-latour-penseur-des-sciences-et-de-l-ecologie-salue-et-critique-766754

Felski, Rita ; Muecke, Stephan (edit.) (2020). Latour and the Humanities. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2020

Füssel, Mariam ; Neu, Tim (Hrsg.) (2021). Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft. Leiden, Boston, Singapore, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2021

Haraway, Donna (2016). Staying with the trouble: making kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press, 2016

Jeffries, Stuart (2022). Bruno Latour obituary. In: The Guardian, 10.10.2022, https://www.theguardian.com/world/2022/oct/10/bruno-latour-obituary

Kofman, Ava (2022). On Bruno Latour (1947–2022): The world was his laboratory. In: N+1, 2022, https://www.nplusonemag.com/online-only/online-only/on-bruno-latour-1947-2022/

Latour, Bruno ; Woolgar, Steve (1979). Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts. (Sage Library of Social Research ; 80). Beverly Hills, London: Sage Publications, 1979

Latour, Bruno (1987). Science in Action: How to follow scientists and engineers through society. Cambridge: Havard University Press, 1987

Latour, Bruno (1988). The Pasterization of France. Camb, London: Harvard University Press, 1988

Latour, Bruno (1993). We Have Never Been Modern. Cambridge: Harvard University Press, 1993

Latour, Bruno (1996a). Aramis: or the love of technology. Cambridge, London: Harvard University Press, 1996

Latour, Bruno (1996b). Der Berliner Schlüssel : Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag, 1996

Latour, Bruno (1999). Pandora´s Hope: Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge: Harvard University Press, 1999

Latour, Bruno (2001). Le métire de chercheur regard d´un anthropologue: Une conférence-débat à lÍNRA Paris, le 22 septembre 1994. (2e éditon) Paris cedex: Institut National de la Recherche Agronomique, 2001

Latour, Bruno (2005). Reassembling the Scoial: An Introduction to Actor-Network-Theory. (Clavendo Lectures in Management Studies) Oxford: Oxford Universities Press, 2005

Latour, Bruno (2017). Facing Gaia : eight lectures on the new climatic regime. Cambridge: Politiy, 2017

Latour, Bruno (2018). Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018

Latour, Bruno (2022 [2018]). Das terrestische Manifest. (5. Auflage) Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022

Latour, Bruno ; Schultz, Nikolaj (2022). Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022

Laux, Henning (Hrsg.) (2016). Bruno Latours Soziologie der «Existenzweisen»: Einführung und Diskussion. (Sozialtheorie) Bielefeld: transcript Verlag, 2016

Hansmann, Sabine (2021). Monospace and Multiverse: Exploring Space with Actor-Network-Theory. (Materialities) Bielefeld: transcript Verlag, 2021

Schmidgen, Henning (2011). Bruno Latour: Zur Einführung. (Zur Einführung) Hamburg: Junius Verlag, 2021

Schötzel, Hagen (Hrsg.) (2019). Der große Leviathan und die Akteur-Netzwerk-Welten: Staatlichkeit und politische Kollektivität im Denken Bruno Latours. (Staatsverständnisse ; 122) Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2019

Truong, Nicolas (2022). Bruno Latour, penseur du « nouveau régime climatique », est mort. In: Le Monde, 09.10.2022, https://www.lemonde.fr/disparitions/article/2022/10/09/bruno-latour-penseur-du-nouveau-regime-climatique-est-mort_6145057_3382.html

Wilde, Jessica (2021). Die Fabrikation der Stadt: Eine Neuausrichtung der Stadtsoziologie nach Bruno Latour. (Urban Studies) Bielefeld: transcript Verlag, 2021


Fussnoten

1 Einschränken muss ich auch, dass eine «richtige Relektüre» sich jeweils mindestens mit den ersten Ausgaben und – wenn es sie gibt – denen «letzter Hand» befasst hätte. Die meisten (nicht alle) Bücher von Latour erschienen zuerst in Französisch, ich hätte sie also auch in Französisch lesen müssen. Hingegen habe ich mich darauf beschränkt, die Ausgabe zu nehmen, die mir irgendwie zugänglich war – und das waren dann auch oft Übersetzungen ins Englische oder Deutsche. Das ist / wäre also nicht perfekt gewesen. Ein wenig zu meiner Verteidigung: (1) Es wäre, auch wenn es fertig geworden wäre, wieder mal ein Projekt in meiner Freizeit gewesen. Da muss ich zeitökonomisch sein und nehmen, was mir zugänglich ist. Also eher das Buch aus meinem eigenen Regal oder der Bibliothek, aus der ich es direkt per Fernleihe bestellen kann, als dem Buch das in Strasbourg oder Lyon liegt und nur vor Ort eingesehen werden kann. (2) Mir waren per Fernleihe auch viele Werke in Französisch in der ersten Auflage zugänglich, weil sie in Bibliotheken in Lausanne, Genève oder so liegen. Aber die waren erstaunlich oft in einem erbärmlichen Zustand, kurz vor dem Auseinanderfallen. Ich habe mich dann oft nicht getraut, in ihnen intensiv zu lesen, sondern lieber nochmal eine neuere Version bestellt, die dann oft in Übersetzung kam.

2 Kofman (2022) schreibt, dass er sich viele Gedanken darum gemacht hätte, ob die Leugner*innen des Klimawandels sich auf ihn beriefen.

3 In der Literatur (Laux 2016) findet sich die gut nachvollziehbare Kritik, dass Latour nicht an einer Soziologie interessiert ist, sondern an einer Ontologie (im Sinne der Philosophie, also als Beschreibung wie etwas ist und nicht im Sinne der Informationswissenschaft als Kategorisierung).

Einfach mal nachgucken gehen, anstatt alle Thesen zu glauben

In Wien bin ich gewesen. Nicht das erste Mal, aber diesmal fiel mir etwas auf, dass mit Öffentlichen Bibliotheken, den von ihnen gepflegten Diskursen und Obsessionen und damit, wie sie zu Entscheidungen über ihre eigene Entwicklung kommen, zu tun hat. Nämlich grundsätzlich, dass viele Behauptungen, welche die Basis für reale Entwicklungen in Bibliotheken bilden, eigentlich ohne grosse Probleme überprüft werden könnte, bevor sie einfach geglaubt und wiederholt werden. Das möchte ich hier schildern, aber zuvor noch darauf eingehen, wieso ich das relevant finde.

Unterschiedliche Wissenskulturen

Ein Leben als Bibliothekswissenschafter hat – wie auch das Leben mit anderen Jobs – viele frustrierende Momente. Öffentlichen Bibliotheken dabei zuzusehen, wie sie regelmässig die immer gleichen Behauptungen über die Entwicklung von Bibliotheken, über die aktuelle und zukünftige Mediennutzung oder über gesellschaftlichen Entwicklungen wiederholen, die oft einfach nicht stimmen und – noch schlimmer – wie sie oft offensichtlich falsche Aussagen von Berater*innen als scheinbare sinnvolle Argumente übernehmen – das sind oft solche frustrierende Augenblicke. Frustrierend ist dabei nicht etwa, dass nicht anstatt der jeweiligen Berater*in einfach ich gefragt werde: Das wäre nur die Ersetzung mit einem anderen Berater (allerdings, im Gegensatz zu vielen Berater*innen, die alles sind, aber keine Bibliothekar*innen, jemand mit fachlicher Qualifikation). Frustrierend ist, mit wie wenig Anstrengung Bibliotheken eigentlich diese Obsessionen und Behauptungen selber überprüfen und als falsch (oder mindestens unterkomplex) erkennen können. Sie wiederholen oft Behauptungen entgegen einfach zugänglichen Wissens. Das ist das Frustrierende.1

Und dann werden auf der Basis dieses Obsessionen oder Behauptungen die oft immer wieder gleichen Entscheidungen getroffen – die dann (a) oft auch schon vorher vorausgesagt werden können und (b) Ressourcen (Zeit, Personal, Geld, Goodwil von Personal und Nutzer*innen, Infrastruktur und so weiter) verschwenden, weil selbstverständlich nichts anderes herauskommt, wenn Bibliotheken das gleiche nochmal machen, wie andere Bibliotheken vor ihnen auch.

Manchmal, muss ich zugeben, möchte ich einfach tief und vernehmbar durchatmen, dabei einen frustrierten Ton ausstossen und dann einfach nur fragen: „Warum, um alles in der Welt, glauben Sie dann das jetzt schon wieder?” wenn ich Kolleg*innen aus Bibliotheken über Makerspaces oder 3. Orte oder „neue Stadtgesellschaft” oder „Wohnzimmer der Stadt” oder „Coding als die neue Sprachkompetenz” oder Ähnliches reden höre.

Aber selbstverständlich ist auch das unterkomplex. Es gibt wohl Gründe dafür, dass die Dinge sind, wie sie sind (sonst wären sie anders).

Wissenschaft, Praxis, Beratung: Das sind drei verschiedene Wissenskulturen mit drei unterschiedlichen Wissensparadigmen. Man würde erwarten, dass die sich sinnvoll aufeinander beziehen, aber das tun sie selbstverständlich nicht. Dann wäre die Welt ja zu einfach.

  1. Wissenschaft – jetzt einmal einfach und kritiklos gefasst – ist vor allem daran interessiert, strukturiert und methodisch neues Wissen zu generieren. Schon vorhandenes Wissen wird benutzt, strukturiert, ausgewertet und dann daraus neues Wissen geniert (oft über neue Fragen, die dann systematisch beantwortet werden). Bei Luhmann hat Wissenschaft als System die Aufgabe, zu entscheiden, ob etwas wahr oder nicht wahr ist. (So wie alle Systeme bei Luhmann genau eine Aufgabe haben.)

  2. In der Bibliothekspraxis ist das Interesse an Wissen ein anderes: Es geht darum, Wissen zu erhalten, vielleicht auch zu generieren, welches Entscheidungen ermöglicht: Soll man Ressourcen für XYZ einsetzen oder nicht? Soll man Angst vor Veränderung ABC haben oder nicht? Soll man sich Gedanken um dies machen oder um das? Am Ende des Prozesses muss jeweils eine Entscheidungen darüber stehen, wie die Arbeit gemacht wird. Man würde vielleicht vermuten, dass dieses „Entscheidungswissen” und das Wissen, wie es in der Wissenschaft produziert wird, übereinstimmt – aber das tut es nicht. Für die Praxis ist es nicht so wichtig, ob etwas wahr oder nicht wahr ist, sondern das eine Entscheidung getroffen wird. [Das sich das nicht nachhaltig ausgeht, weil Ressourcen so falsch investiert werden und weil so auch Erfahrungen aus anderen Einrichtungen oder gar abstrakteren Wissen oft nicht genutzt werden… das ist ein anderes Thema.]

  3. Beratung hat auch kein grosses Interesse dran, ob Wissen wahr oder nicht wahr ist. Stattdessen wird, abstrakt gesagt, Wissen in der Beratung eingesetzt, um in Bibliotheken Entscheidungsprozesse zu motivieren (also oft erst den Eindruck zu vermitteln, dass Veränderungen nötig sind, aber gleichzeitig auch möglich) und dann diese Entscheidungen zu ermöglichen. Das heisst nicht, dass Beratung unbedingt falscher Wissen präsentiert oder das die Berater*innen nicht von dem, was sie erzählen, überzeugt sind. Aber die Funktion des Wissens ist eine ganz andere: Wenn es nur Entwicklungsprozesse anstösst, ist es gut. Dann wird nichts mehr nachgeprüft. Auch die Methoden, die genutzt werden, haben dann eine sehr andere Funktion als in der Wissenschaft: Sie sollen Ergebnisse ermöglichen, nicht – wie in der Wissenschaft – neues Wissen generieren.

Wie gesagt könnte man vermuten, dass sich diese Wissenskulturen sinnvoll ergänzen würden. Aber sie tun es nicht. So oft wird das vorhandene Wissen aus der Forschung nicht genutzt und stattdessen nochmal die gleichen Aussagen wiederholt, weil Sie Entscheidungen ermöglichen. Ich kann mir vorstellen, dass das hilfreicher ist: Zu glauben, das Makerspaces und Coding-Workshops gross etwas verändern würden, ist wohl motivierender, als die tatsächlichen Ergebnisse aus Forschungen zu Makerspaces und Coding-Workshops, die eher geringe nachhaltige Effekte zeigen, wahrzunehmen und von diesen auszugehen. Aber gleichzeitig ist hoffentlich verständlich, wie frustrierend es sein kann, wenn man als Bibliothekswissenschaftler all die Studien zu Makerspaces in Bibliotheken und zu anderen Makerspaces kennt, deren Ergebnisse eigentlich eindeutig sind (siehe hier und hier) – und dann wieder und wieder stattdessen etwas anderes behauptet wird.

Umzugehen mit diesen Frustrationen; aus dem Wissen daraus, dass die Wissenskulturen anders sind etwas machen: Das mag eine Aufgabe sein, die man vielleicht gemeinsam angehen sollte. Ein Schritt dahin wäre wohl, wahrzunehmen, dass es diese Unterschiede gibt und zumindest zu schauen, was man einfach und schnell besser machen könnte.

Mein Vorschlag hier für die Praxis wäre: (1) Sich bei allen Entscheidungen bewusst sein, dass die Behauptungen, die so in der bibliothekarischen Presse und unter der Hand verbreitet werden, vielleicht gut klingen, aber deshalb nicht unbedingt stimmen müssen – und auch nicht dadurch richtiger werden, dass sie wiederholt werden. (2) Einfach mal bedenken, wie viele dieser Behauptungen schon gemacht wurden, um dann wieder aus dem Diskurs zu verschwinden und (3) deshalb Behauptungen überprüfen, bevor auf ihrer Basis Entscheidungen getroffen und Ressourcen eingesetzt werden.

Wien liefert ein gutes Beispiel dafür, wie einfach das oft möglich ist.

Wien: Kaffeehäuser, public space, Stühle und Bänke

Wien kommt in Ray Oldenburgs „The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day” (New York, 1989) prominent vor. In diesem Buch formuliert Oldenburg seine, well, Analyse vom „3. Place”, auf dem viele bibliothekarische Diskurse heute basieren. [Dass das Buch 1989 erschien – und vieles darin auch schon anderswo gesagt wurde –, die Diskurs in Englisch aber erst gegen 2000, in Deutsch und Französisch gegen 2010 anfingen, ist eine der komischen Eigenheiten, die eigentlich aufhorchen lassen sollten – aber das hat dem Diskurs auch bisher nicht aufgehalten.]

Zur Erinnerung: Oldenburg suchte nach Einrichtungen, welche die gesellschaftliche Kohärenz der US-amerikanischen Gesellschaft (wieder) erhöhen könnten – und fand diese vor allem in Europa oder der US-amerikanischen Geschichte. Diese nannte er „3. Place” (als Kurzform für „great good place”).2 In diesen Orten würden Menschen in einem besonderen Raum aufeinander treffen, angeregt durch „anregende Getränke” über gesellschaftliche Grenzen hinweg miteinander kommunizieren und somit lernen, Gesellschaft herzustellen.

Kaffeehäuser

Bibliotheken haben daraus heute selbstverständlich etwas ganz anderes gemacht. Aber trotzdem: Die Kaffeehäuser in Wien sind für Oldenburg – neben englischen Pubs und französischen Bistros – die Vorzeige 3. Orte der Jetztzeit (beziehungsweise der späten 1980er Jahre). Die Kaffeehäuser gibt es heute noch – nicht mehr alle; einige sind so touristifiziert, das sie nicht mehr als der 3. Ort gelten können, von dem Oldenburg sprach. Es gibt (und gab) selbstverständlich in Wien auch ganz andere Lokalitäten als nur die Kaffeehäuser. Und auch die Kaffeehäuser, welche weiterhin vor allem die lokale Bevölkerung bedienen, haben sich seit den späten 1980ern etwas verändert [bei dem um die Ecke von meiner Unterkunft konnte man jetzt explizit vegetarisch essen und wurde sofort, wenn auch weiterhin mit Wiener Schäm, bedient – das war vor einigen Jahren nicht so].

Dennoch sind es weiter Wiener Kaffeehäuser. Was Oldenburg an diesen hervorhob, war (a) das „soziale Spiel”, also vor allem das Verhalten der Ober, die erstmal warten lassen, wenn man die ersten Mal kommt, dann von oben herab fragen, was es sein soll, dann betont unhöflich servieren; dann aber nach wenigen Besuchen schnell Personen zu Stammgäst*innen erheben, sich deren Namen und Vorlieben merken, mit einem Titel eine Stufe über dem tatsächlichen Titel ansprechen und so schnell Personen in eine Gemeinschaft einbinden, (b) die Stammgäst*innen, welche den spezifischen Ort Kaffeehaus prägen würden, mit ihrem raumnehmenden Verhalten, langer Kommunikation, Sonderwünschen und so weiter. Solche Personen, so betont Oldernburg, wären für 3. Orte nötig. Erst sie würden den Raum sozial machen und dafür sorgen, dass er als ein Ort funktionieren würde, der Gesellschaft herstellt.

Stimmt das? Also: Ist das Wiener Kaffeehaus wirklich ein Ort, der so Gesellschaft herstellt? Erfüllt der 3. Ort par excellence seine Funktion? Wenn ja: Was heisst das für die Versuche von Bibliotheken, 3. Orte zu werden? Erfüllen sie die Funktion, Stammgäst*innen einzubinden, wie es das Personal der Kaffeehäuser tut? Und wenn nein (was gut sein kann, das Buch von Oldenburg ist nicht unbedingt immer überzeugend): Heisst das vielleicht, dass schon Oldenburg einer fixen Idee gefolgt ist, die sich so gar nicht umsetzt? Ist es dann wirklich sinnvoll, der zu folgen?

Was jetzt interessant ist: Anstatt dass Bibliotheken immer wieder in Workshops, Strategiepapieren, Gesprächen mit Journalist*innen einfach nur die sehr verkürzte Formel, der 3. Ort seie nicht der 1. und nicht der 2. Ort, wiederholen, könnte man auch einfach mal für zwei-drei Tage nach Wien fahren und dort Kaffeehäuser besuchen. Die Thesen, denen gefolgt wird, könnte man überprüfen, bevor man sich daran macht, aus ihnen Entscheidungen abzuleiten. [Auch die anderen beiden Beispiele, Bistro und Pub könnte man besuchen – nach dem Brexit vielleicht eher Pubs in Irland, aber soviel anders als die britischen sind die auch nicht.] Folgt man einer forschenden Wissenskultur, wäre das selbstverständlich – Thesen müssen systematisch überprüft werden; man kann die nicht einfach glauben. Aber auch in einer praxisorientierten Wissenskultur wäre das sinnvoll – auch wenn es am Ende heissen könnte, dass man eventuell die eigenen Vorstellungen ändern müsste. [Was nicht unwahrscheinlich ist: So sehr ich Kaffeehäuser und Bistros selber mag, so sehr denke ich mir, dass das nicht das ist, was Bibliotheken machen. Aber nicht mir glauben: Lieber mal hinfahren, selber nachgucken.]

Public space

Wien ist auch eine sehr progressive Stadt. Was gut ist. Bekannt ist sie heute für ihre Lebensqualität, die immer wieder verbessert werden soll. Dazu gehört der Versuch, Autos möglichst aus der Stadt herauszuhalten, dafür einen guten ÖPNV anzubieten und den öffentlichen Raum zu beleben. Das 365-Euro-Jahresticket gehört dazu, ebenso die doch sehr zuverlässigen Trams, Busse und Bahnen. Das mag bekannt sein.

Was man aber eher erst bei einem Besuch sieht, ist der Ausbau des öffentlichen Raumes in der Stadt. Zum Beispiel haben viele Restaurants und Cafés, die an einer Strasse situiert sind, heute einen Vorbau neben dem Trottoir. Da wo in anderen Städten zwei, drei Autos parken würden, finden sich in Wien abgegrenzte Bereiche für Stühle, Tische, Schirme. Weniger Platz für Autos, mehr Platz für Menschen und freiere Trottoirs. Daneben sind im öffentlichen Raum zahllose Stühle und Bänke gestellt. Massiv viele, viel mehr als anderswo. In allen Parks scheinen die Gehwege lückenlos mit Bänken bestückt, auf den kleinen Plätzen, teilweise an den Strassenkreuzungen, stehen neue, fest installierte Sitzgelegenheiten (alle so, was auf den zweiten Blick aufhält, dass niemand dort schlafen könnte, dafür sind sie „zufällig” zu klein, die Lehnen zu hart). Es ist offensichtlich, was hier versucht wird: Die Stadt folgt der gerne geäusserten Behauptung, dass ein Ort geschaffen werden muss, wo sich Menschen treffen können; dann würden sie miteinander kommunizieren und damit über Unterschiede hinweg gesellschaftliche Nähe entstehen.

Das sollte aufhören lassen, weil es die gleiche These ist, die aktuell bei vielen Umbauten bei Bibliotheken im Hintergrund steht: Der Raum Bibliothek soll belebt werden, indem Barrieren abgebaut und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet werden.

Was man jetzt in Wien machen kann – und das war es, was mir vor allem auffiel –, ist, zu überprüfen, ob diese Annahme stimmt. Funktioniert es? Wird so ein öffentlicher Raum hergestellt?

Nein, das passiert nicht. Besonders gut kann man das in Bezirken sehen, wo diese Stühle und Bänke neben Cafés und Restaurants stehen. Kaum jemand sitzt auf den freien Bänken, praktisch niemand kommuniziert; aber in den Restaurants und Kaffeehäusern daneben sind Menschen und kommunizieren. (Ist das dann schon ein public space in den Restaurants oder reden einfach nur die miteinander, die sich auch schon kennen? Das ist eine andere Frage. Erstmal geht es um den Vergleich.)3 Das ist vielleicht zu erwarten, aber in Wien, gerade in den Jahreszeiten, wo man draussen sitzen kann, kann man das gut selber sehen: Es ist offensichtlich nicht so, dass die vorgebaute Situation Kommunikation ermöglicht, sondern das, was im Raum passiert und was der Raum ausdrückt, hat eine grössere Bedeutung. Bibliotheken bräuchten sich also von Berater*innen nicht erzählen lassen, dass die Gestaltung des Raumes zur Belebung führt und das glauben – sondern könnten diese These einfach mal selber überprüfen. [Auch anderswo. Wien ist hier ein wenig zufällig gewählt, weil ich (a) nach Wien wollte (wer will das nicht) und (b) sich gleich zwei Thesen einfach überprüfen lassen.]

Eine Konsequenz wäre dann wohl, die These zurückzuweisen und mehr über die tatsächliche Nutzung – also die Veranstaltungen, Angebote und so weiter – zu reden. (Das wäre auch bei Oldenburg angelegt, der hat auch betont, das der 3. Ort plain sein müsste und vor allem die Stammkund*innen, Kommunikation und anregender Getränke wichtig wären.) Und zwar wirklich drüber reden, nicht behaupten, dass das irgendwie „doch klar” wäre, aber dann wieder nur vom Raum reden.

Schauen kann man überall

Was ich sagen will ist wohl vor allem:

  1. Es ist erstaunlich, was Bibliotheken in ihren Diskursen und Zukunftskonzepten so alles an Behauptungen wiederholen, die auch ohne grosses Nachdenken überprüft und dabei als fehlerhaft erkannt werden könnten. Erklärbar ist das zum Teil mit den unterschiedlichen Wissenskulturen: Die Bibliothekspraxis braucht vielleicht solche Behauptungen, weil sie Entscheidungen treffen muss; mich in der Forschung interessiert eher, ob die überhaupt stimmen und sinnvoll sind.

  2. Aber es sollte klar sein, dass Entscheidungen, die auf der Basis falscher Behauptungen getroffen werden, wohl vor allem Ressourcen verschwenden und irgendwann auch demotivierend auf Personal und Leitung wirken müssen, wenn sich immer und immer wieder Versprechen, die auf der Basis dieser Behauptungen gemacht werden, nicht einlösen.

  3. Dabei gäbe es in vielen Fällen einen einfach Weg, die Thesen zu überprüfen: Einfach mal nachschauen, ob sie wirklich stimmen. Zwei Beispiele dazu: Ich war nicht nur in Wien diesen Sommer, sondern auch in den Niederlanden. In den Niederlanden [weil ich dort mit jemand anders war, mit dem man das machen kann] war ich auch in Öffentlichen Bibliotheken. Das kann ich auch empfehlen. Gerade deutsche Bibliotheken hängen bestimmten Entwicklungen ja lange hinterher. Was in Deutschland als innovativ besprochen wird, ist in den Niederlanden oft schon eingerichtet; nicht nur in den grossen Städten, sondern auch in den kleineren. Man kann sich also live angucken, wie aufgelockerte Bibliotheken mit Hands-On-Labs und Ausstellungen und offenen Räumen und Makerspaces eigentlich im Normalbetrieb wirken. Oder wie hippen Sitzgelegenheiten genutzt werden.4 [Ausserhalb der Veranstaltungszeiten: Leise, leise, leise. Viele Leute, die leise vor sich hinarbeiten oder lesen.] Anstatt Oldenburg nochmal zu lesen habe ich auch Richard Sennetts neues Buch (Building and Dwelling. Ethics for the City. London 2019) Was man in dem Buch lernen kann, auch für Bibliotheken, ist das der 3. Ort keine neue Fragestellung ist und das schon viel darüber nachgedacht wurde, wie Menschen überhaupt „Stadt machen”, also Beziehungen miteinander herstellen – das man also auf viel mehr Erfahrungen, Teste, Nachdenken zurückgreifen könnte, wenn man über Räume nachdenkt, als die einfachen Behauptungen, auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Die Thesen bei Sennett – und nicht nur bei ihm, er geht so ein bisschen durch die Geschichte der Stadtplanung – sind auch viel differenzierter. Man könnte also auch mal weitergehen und muss nicht bei den gleichen drei Behauptungen stehen bleiben.

Das sind alles ganz einfache Vorschläge: Obsessionen als solche erkennen; Behauptungen nicht glauben, insbesondere wenn sie beständig wiederholt werden, sondern überprüfen; die unterschiedlichen Wissenskulturen beachten. Das würde, davon bin ich überzeugt, zu besseren Entscheidungen in Bibliotheken über ihre eigene Entwicklung führen und zu besser eingesetzten Ressourcen.

Warum kann das nicht die Forschung machen? Ich hoffe, dass ist klar geworden: Bibliotheken interessieren sich für anderes Wissen als das, was die Forschung produziert. Die Forschung hat viele Behauptungen schon schon widerlegt, bevor die Bibliothekspraxis sie sich aneignet. Bibliotheken wiederholen sie dann trotzdem gerne weiter. Deshalb müssen offenbar sie selber sich daran machen, die zu überprüfen (was vielleicht auch ein leicht anderes Mindset als jetzt bedarf). Ich wollte hier nur zeigen, wie einfach solche Überprüfungen von Thesen möglich sind.

 

Fussnoten

1 Es gibt selbstverständlich noch weit mehr Frustrationsquellen als Bibliothekswissenschafter, aber um die soll es hier nicht gehen.

2 Falls das überrascht, dann überrascht vielleicht auch, dass er in diesem Buch explizit ausschliesst, dass Bibliotheken 3. Places sein können. Aber auch das hat den bibliothekarischen Diskurs nicht gestoppt.

3 Zumindest unter der Woche. Kaum hatte ich das geschrieben, fiel mir – weil ich durch sie gegangen bin – auf, dass in der einen Hälfte der Bergmannstrasse in Berlin-Kreuzberg auch ähnliche Vorbauten stehen: Dort, wo sonst Autos parken würden, aber nicht für Plätze von Restaurants und Kneipen, sondern als öffentliche Sitzgelegenheiten. Und auf diesen sassen tatsächlich einige Menschen und redeten – lange nicht so viele wie in den Restaurants drumherum, aber doch einige. Allerdings: Am Samstag Abend. Zu anderen Zeiten, in denen ich dort vorbeigegangen bin, ist mir nicht erinnerlich, dass sie merklich benutzt worden wären.

4 Was man in diesen Bibliotheken auch lernen kann, ist, dass man die Toiletten in der Bibliothek 50 Cent kosten lassen kann – manchmal für alle, manchmal kostenlos für Nutzer*innen mit Bibliothekskarte. Ich weiss aber nicht, ob das ein gutes Beispiel ist.

Was ist eigentlich die Aufgabe der Bibliothekswissenschaft für Bibliotheken? Doch Kritik und Überprüfung von Annahmen, oder?

Problem: Woher soll ich das eigentlich wissen? Bloss, weil ich als Wissenschaftler bezahlt werde?

Letztens sass ich bei der Jahrestagung der bibliothekarischen Fachstellenkonferenzen (der Deutschen, ich hoffe, dass ist jetzt der richtige Name), in Saarbrücken auf dem Podium. Thema war die Leseförderung. Mein Beitrag, der bei solchen Diskussionsrunden ja immer kurz sein muss, bezog sich darauf, dass “wir” im Bibliothekswesen eigentlich gar nicht (mehr) wissen, warum Leseförderung gemacht wird, also wozu die Menschen (Jugendlichen, es geht ja meist um die) was lesen sollen, was Ihnen das bringt / bringen soll etc. Das liesse sich immer nur ganz allgemein beantworten (Lesefreude und soziales Fortkommen), aber dann bleibt es allgemein und es ergibt sich nicht, was genau das mit Bibliotheken zu tun hat. Oder man versucht es ganz weit runterzubrechen, auf bestimmte Personengruppen in bestimmten Situationen, dann wird es schnell klar, dass “wir” gar nicht so ein klares Verständnis davon haben, wozu die was Lesen sollen ‒ und dann stellt sich die Frage, was die bibliothekarische Leseförderung eigentlich genau will.

Wo ich mich zurückgehalten habe, was ich im Nachhinein aber doch lieber klar gesagt hätte ‒ aber man will sich ja auf einem Podium auch nicht zu streiten sehr ‒ ist, dass die Diskussionen, Angebote, Studien um die Leseförderung eigentlich nicht mehr von der Gesellschaft reden; “sozial abstinent” habe ich später als Begriff gelesen, der das gut ausdrückt. Es wird in der Forschung ‒ und wurde auch auf dieser spezifischen Konferenz – nicht mehr von Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen ausgegangen, sondern davon, dass alle die gleiche Form des Lesens und der Lesestoffs benötigen würden, egal aus welcher Schicht, mit welchem Hintergrund etc. Alle das gleiche. Das wirft schnell die Vermutung auf, dass man z.B. von Armut nicht reden will und lieber eine mittelständisches Verständnis von “gutes Leben”, “vorankommen”, “Karriere” und “Lesen” reproduziert. Gefragt wird dann vor allem, wie “die anderen” dazu gebracht werden können, diesem mittelständischen Verständnis zu folgen; wie man sie dazu “verführen” könnte, dass in der Bibliothek zu tun. (Ausnahme, auch auf dieser Konferenz, und wie ich schon anderswo betont habe bestimmt eine der Sternstunden des deutschen Bibliothekswesens, ist das massive Engagement der Bibliotheken für Geflüchtete. Das soll man nicht verschweigen, aber auch das scheint oft davon auszugehen, dass es eine deutsche Gesellschaft gäbe, die quasi im Bezug auf das Lesen immer gleich funktioniert, mit den gleichen Ziele, ohne Unterschiede in den sozialen Schichte etc. ‒ und die man für die Geflüchteten öffnen will.)

Ich dachte, ich hätte zumindest Ersteres (wir wissen nicht genau, was eigentlich das Ziel von Leseförderung in Bibliotheken sein soll und deshalb können wir auch gar nicht so richtig sagen, wie in welche Richtung vorgegangen werden kann) klar gesagt. Vielleicht war das nur mein Eindruck. Eine Kollegin aus einer der Fachstellen fragte in der offenen Runde dann nämlich direkt mich (nicht die anderen auf dem Podium), was sie jetzt “ihren Bibliotheken” sagen sollte, die sie immer fragten, was sie tun sollen. Ich muss ehrlich sagen, dass mich dies überrascht hat. Wieso soll ich das wissen?1

Jetzt, nach einigen Wochen drüber nachdenken, habe ich den Eindruck, dass es bei dieser Frage und meinem Erstaunen darüber auch um das Verständnis davon geht, was Bibliothekswissenschaft für Bibliotheken leisten können sollte. Obwohl ich mich selber nicht als Experte für viele andere Dinge ansehen würde, als für das Generieren und Aggregieren von Texten, werde ich teilweise wirklich als Wissenschaftler wahrgenommen (Dafür werde ich ja auch bezahlt, als “Wissenschaftlicher Mitarbeiter”, aber damit bin ich wirklich nicht allein.), wenn auch anders, als ich das tun würde. Das ist mir nicht das erste Mal begegnet.

Was die Bibliothekswissenschaft tun soll, 1

Ein Beispiel ist die Erwartung, gerade die Bibliothekswissenschaft müsse innovativ und immer vorneweg bei allen Zukunftsvisionen sein. Das wird direkt und indirekt immer wieder geäussert. Teilweise nimmt das absurde Blüten an, wenn Menschen aus der Praxis sich stark in einem Thema oder Projekt engagieren und das dann als innovativ verstehen. Sie selber sehen sich als innovativ, also sind ihre Projekte auch innovativ. Und sie erwarten, dass die Forschung, als hier die Bibliothekswissenschaft, sich auch in die Richtung, die sie richtig finden, engagiert. Absurd wird dies, wenn man als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler ‒ Fokus: Texte, also auch Erfahrungen, Berichte aggregieren ‒ eher Zweifel an bestimmten Behauptungen entwickelt hat, z.B. bemerkt, dass die Behauptungen, die von den Engagierten darüber gemacht werden, was demnächst kommen wird, jetzt gleich und man müsse sich darauf vorbereiteten ‒ wenn diese Behauptungen schon eine lange Zeit gemacht werden, ohne das sie bislang eintraten. Aber manchmal scheinen die Engagierten so überzeugt von ihrem Engagement, dass sie auch gegen vorgebrachte Gründe die Sache so interpretieren, dass die Wissenschaft sie unterstützen müsste ‒ oder nicht innovativ sei und damit keine richtige Wissenschaft.2

Aber das sind nur einige Fälle. Eher scheint es das allgemeine Gefühl zu geben, die Wissenschaft müsse Innovation hervorbringen. Nicht: Die Wissenschaft macht etwas und am Ende kommt daraus auch etwas Innovatives, sondern: das Ziel der Wissenschaft müsse die Innovation sein. Mir scheint, dass dann Wissenschaft als “Erfindungen machen” verstanden wird. So: im Labor stehen, an Dinge rumschrauben, Heureka schreien. Frank Seeliger ‒ der sich da nicht missrepräsentiert sehen wird, aber der mich darauf brachte, dass es da einen Unterschied zwischen meinem Verständnis von Wissenschaft und seinem Verständnis gibt ‒ vertritt ein solches Verständnis, wie ich persönlich erfahren durfte (obwohl er selber und sein Team in Wildau eher so Innovations-getrieben agieren und dafür nicht wirklich die Bibliothekswissenschaft brauchen würden). Mich irritiert dieses Verständnis, weil mir nicht klar ist, wie viel dieses Ausprobieren, Rumschrauben etc. wirklich Wissenschaft im Sinne von “neues Wissen schaffen” ist. Klar, wenn es funktioniert, kommen neue Dinge raus, die man anwenden kann. Schön und gut. Aber machen das nicht auch Bibliotheken (Stichwort: Wildau) selber ‒ und viel besser? Und Firmen? Sollten nicht gerade Firmen das machen? Ich dachte, dass wäre ein Argument, warum wir so viele Sachen an Firmen abgeben, dass die immer so risikobereit und auf Marktvorteil durch Innovation aus sind. Habe ich das missverstanden? Ich habe gar nichts gegen das Rumschrauben per se, wir machen das zum Teil in Chur auch, aber eben immer in Projekten, wo wir Thesen testen und neues Wissen produzieren wollen.

Daneben gibt es noch das Verständnis, dass die Kollegin in Saarbrücken zu äussern schien: das die Bibliothekswissenschaft so etwas wie eine Beratungsstelle sein solle, die zu konkreten Alltagsproblemen der Bibliotheken Lösungen anbietet. Das ist mir auch nicht das erste Mal begegnet.3 Angesichts dessen, dass Kolleginnen und Kollegen aus Hochschulen immer wieder in Weiterbildungen zu allen möglichen Themen eingebunden werden, ist das vielleicht sogar eine naheliegende Vermutung. Aber ich finde sie doch komisch: Die Bibliothekswissenschaft ist doch keine Beratungseinrichtung. Wie sollte sie das sein? Auf welcher Wissensbasis sollte sie das auch tun?

Was die Bibliothekswissenschaft, jede Wissenschaft an Fachhochschulen heutzutage, eigentlich macht

Mir scheint, dass diese Vorstellungen auch daher stammen könnten, dass man (a) aus der eigenen Praxis heraus interpretiert, wie die Wissenschaft arbeiten würde und (b) nicht genau weiss, wie heute die Hochschulen strukturiert sind. (Wobei sich a und b ergänzen.)

Das Bild von den Forschenden, die angestellt sind, um frei rumzuforschen, sich in Laboren zu verkriechen, um dann mit einer Welterfindung und wirren Haaren wieder hervorzutreten oder die in Elfenbeintürmen hocken und nur denken, im Stillen Bücher schreiben und dann mit wirren Haaren aus diesen Türmen heraustreten würden ‒ falls diese Bilder je gestimmt haben, heute stimmen sie nicht mehr. Vielmehr sind alle an den Hochschulen eingebunden in bürokratische Prozesse, die vielleicht anderswo nicht weniger sind, aber doch nervig und ständig wachsend, in die Lehre ‒ die sie nur noch zu einem ganz geringen Teil selber entscheiden, d.h. gar nicht wirklich an die eigene Forschung zurückbinden können ‒ und immer auf der Suche danach, mit Mitteln von ausserhalb irgendwelche Projekte zu machen. Bei einigen Hochschulen ist das noch besser, als bei anderen. Aber zum Beispiel bei uns in Chur (und eigentlich in der ganzen Schweiz) findet die Wissensproduktion in Fachhochschulen nur in diesen Projekten statt, die fast immer von aussen finanziert werden. Und diese Projekte verbieten eigentlich auch ‒ strukturell, weil sie Projekte sind ‒ das weitergehende Denken: Sie müssen ein klares Ziel haben (ein “Produkt” wie es oft heisst), sie müssen sehr oft möglichst eine Lösung für irgendwas anbieten (zumindest behaupten, dass es können, im Vorfeld, was ganz absurd ist, weil… vorher soll man die Lösung im Vorfeld kennen?), oft auch mit möglichst vielen hippen Schlagworten ausgestattet sein. Am Ende müssen den Interessen der geldgebenden Einrichtungen (und das können auch gutmeinende Stiftungen, Sozialunternehmen oder staatliche Strukturen sein, man muss da nicht gleich an die Pharmaindustrie denken ‒ aber auch gutmeinde Stiftungen haben immer einen eigenen Fokus) entsprechen; nicht den Interessen der Forschenden oder der Gesellschaft oder der Bibliotheken.4 Das das nicht lange gut gehen wird und die Gesellschaft so nur immer dümmer wird, wenn Forschende nur noch Projekten hinterlaufen, ist richtig. Mal schauen, wann sich das wieder ändert, irgendwann muss es das. Bis dahin aber wird Wissen eigentlich nur noch “heimlich”, “irregulär” produziert: Wenn es sich irgendwie im Rahmen der Projekte am Rand realisieren lässt, wenn es sich irgendwie anderswo abknapsen lässt (ich sag nur: Lehre) oder am Abend/Wochenende/Urlaub/Freien Tagen (also unbezahlt). Es ist nicht so, dass man Projekte machen würde und dann Zeit hätte, nach den Projekten Wissen zu produzieren. Nach den Projekten sind einfach nur noch mehr Projekte.

All das zeigt, dass die Vorstellungen davon, was die Bibliothekswissenschaft (oder irgendeine andere an Fachhochschulen angegliederte Wissenschaft) tun soll ‒ Projekte von Engagierten unterstützen, Innovativ im Sinne von “Rumbasteln im Labor”, Beratung für alle möglichen praktischen Fragen ‒, nicht funktionieren kann. Wenn, müsste man von aussen Projekte finanzieren, die das irgendwie zum Ziel haben. (D.h. wenn die Fachstellen wirklich Beratung von der Bibliothekswissenschaft haben wollen, müssten sie das bezahlen. Was nicht an der Bibliothekswissenschaft oder den Forschenden liegt, sondern daran, dass wir als Gesellschaften es zugelassen haben, dass die Fachhochschulen so widersinnig konstruiert sind, dass sie strukturell von Steuergeldern finanziert werden, aber nicht der Gesellschaft, sondern den Institutionen mit eh schon viel Geld zugute kommen. Das kommt halt davon, wenn man der Bildungs- und Forschungspolitik als Gesellschaft nicht auf die Finger schaut.)

Was die Bibliothekswissenschaft tun soll, 2

Aber das ist noch nicht alles, was mich irritiert. Bislang kann man vielleicht von Missverständnissen sprechen, Missverständnisse darüber, was im Rahmen der heutigen Fachhochschulstrukturen überhaupt zu leisten ist. Was mich mehr irritiert ist, dass diese Vorstellungen wenig mit meinem Verständnis davon, was Bibliothekswissenschaft tun kann und sollte (und wie sie rezipiert werden könnte) zu tun hat. Ich kann von den drei genannten Perspektiven die mit dem “Rumbasteln im Labor” noch einigermassen nachvollziehen. Die ist sympathisch,5 aber ‒ wie schon gesagt ‒ finde ich oft, dass das die Bibliotheken (also jetzt nicht alle, aber doch im Ganzen gesehen) das viel besser machen als z.B. ich es könnte.6

Für mich ist Wissenschaft, und hier rede ich jetzt vor allem von Geisteswissenschaft ‒ aber als solche verstehe ich die Bibliothekswissenschaft ‒, vor allem eines: kritisch. Bei Wissenschaft geht es kurz gesagt darum, mehr, besseres, genaueres Wissen zu schaffen. Besseres, nicht per se “praktischeres” oder politisch für die eigene Meinung zu verwendendes. Wie oben gesagt: Texte ‒ und damit Überlegungen, Berichte, Analysen ‒ aggregieren und neue Texte produzieren. Das ist nicht Selbstzweck, sondern soll dazu dienen, die Welt, in der wir alle leben (und die wir mit geschaffen haben bzw. immer weiter schaffen) immer besser zu verstehen. Die Hoffnung dahinter bleibt, dass eine besser verstandene Welt eine ist, die wir (also wir alle) besser so gestalten können, das sie am Ende für alle Menschen besser wird. Aufklärung, Humanität, all das. (Und immer eingedenk allem, was mit dieser Hoffnung schon schief gegangen ist. Dialektik der Aufklärung und so weiter. Kurz gesagt: Die Hoffnung, dass sich eine reflektierte Aufklärung immer noch dazu nutzen lässt, die Welt besser zu machen. Besser, nicht unbedingt effektiver.)

Dafür stehen der Wissenschaft verschiedene Methoden zur Verfügung: Thesenbildung, Hypothesenbildung, Theoriebildung, Modellbildung, Prototypen und die Überprüfung, Widerlegung, Testung derselben etc. pp.. Aber grundsätzlich zusammengefasst geht es mir darum, bezogen auf die Bibliothekswissenschaft und ihren Untersuchungsgegenstand Bibliotheken, die tatsächliche Praxis zu überprüfen und vor allem die hinter dieser Praxis stehende Annahmen und Vorstellungen erst sichtbar zu machen und dann auch zu testen. Gehen wir zurück auf die am Anfang dieses Beitrags stehende Leseförderung in Bibliotheken, heisst das zum Beispiel klar zu machen, dass ein Verständnis und damit eine Diskussion darüber fehlt, was das Ziele der Leseförderung sind.7 Das aufzuzeigen ist selbstverständlich kritisch, weil es zeigt, dass die Praxis vielleicht deshalb sich fragt, was sie tun soll, weil sie nicht ausspricht oder durchdenkt, was sie eigentlich will. Das ist eigentlich kein grosser Wurf, keine neue Sozialtheorie oder so. Aber es ist das, was Wissenschaft eigentlich gut kann: Zeigen, wann die Praxis ins Leere läuft oder wann Überzeugungen ‒ hier: eine “eigentlich wissen doch alle, wofür Leseförderung da ist”-Haltung ‒ sich nicht halten lassen (aber es gibt noch mehr Thesen, gerade im Bereich Open Access und Digital Humanities, auf der die strategische Planung von Bibliotheken basiert, die einer genauen Überprüfungen meiner Meinung nach nicht standhalten).

Ist das zu wenig? Nur weil es nicht ein total neues Programm für die Leseförderung vorschlägt (Woher sollte das kommen? Aus den Büchern über gut funktionierende Leseförderung, die auch die Bibliothekarinnen und Bibliothekare selber lesen könnten?), dass dann alle jungen Menschen zum Lesen in die Bibliothek bringt?

Sicherlich: In der Wissenschaft kann man so weit gehen, Wissen zu produzieren und Dinge aufzuzeigen, die diskutiert, geklärt, vielleicht auch verändert werden müssten. Wobei in der Bibliothekswissenschaft vor allem, da es sich bei der Bibliothek am Ende vor allem um eine soziale, also über Kommunikation funktionierende Einrichtung handelt, aufzeigen der Notwendigkeiten zu Diskussionen und Entscheidungen, die gemeinsam im Rahmen des Bibliothekswesens getroffen werden müssten. Selber diese Diskussionen führen kann sie nicht. Das muss die Praxis, die dann selbstverständlich auf die Einwürfe der Wissenschaft reagieren müsste.

Dabei ist das selbstverständlich eine fragile Hoffnung. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass irgendeine Praxis, die “eine eigene Wissenschaft” hat, auf diese, “ihre” Wissenschaft reagieren würde – insbesondere wenn sie kritisch wird. Da hilft auch alles Gerede von “evidence based” nix. Die Beziehung von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik ist besser untersucht,8 aber grundsätzlich gilt das wohl auch für die Bibliothekswissenschaft. Die kritischen Einwürfe der Wissenschaft, die sie macht, wenn sie Texte, Gedanken, Erfahrungen aggregiert und eventuell auch auf eine abstraktere Ebene packt, müsste die Praxis wahrnehmen und darauf reagieren. Aber das passiert eher ausgesucht, uminterpretiert, d.h. die Praxis nimmt das, was sie als sinnvoll findet. Prototypen werden als Innovation verstanden, als Produkte, ohne die getesteten Thesen wahrzunehmen; die Anmerkungen werden vor allem wahrgenommen, wenn sie “passen” und als Bestätigung für die eigene Position Engagierter eingebaut, aber die Anmerkungen, das bestimmte Überzeugungen vielleicht nicht stimmen und besser nochmal überprüft werden sollten, werden ignoriert. Die Forschenden werden als Beraterinnen und Berater “missverstanden”, die nicht “liefern”, weil sie entweder nicht konkrete Vorschläge machen, sondern zum Überdenken anregen, oder aber (was mich ehrlich gesagt viel mehr irritiert), weil ihre publizierten Toolkits etc., die so gestalten sind, dass sie in der Praxis direkt eingesetzt werden können, dann doch nicht wahrgenommen werden.

Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass Wissenschaft vor allem über Texte kommuniziert wird, aber in der Praxis zum Teil diese Texte nicht wahrgenommen werden. So einen Gegensatz kenne ich als die Aussage, dass es nicht möglich wäre, im Alltag 50 Seiten zu lesen (warum nicht?) oder einen Text in Englisch wahrzunehmen (warum nicht?). Sicherlich ist diese Aussage nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber sie irritiert mich: Wie kann man erwarten, dass die Wissenschaft der Praxis etwas liefert, wenn man sie nicht wahrnimmt? Ist es so schwer? Ich fahre ja auch “in die Praxis” und schaue die mir an?

Aber das lässt sich wohl nicht so einfach klären und spricht eigentlich gegen meine Hoffnung, dass Wissenschaft irgendetwas in Bibliotheken weiterbringen würde. Gleichzeitig gibt es auch genügend Gegenbeispiele, wo Anmerkungen von Seiten der Bibliothekswissenschaft dazu führten, dass Bibliotheken sich Gedanken machten (nicht immer die, die ich erwartet hätte, aber das ist okay; Wissenschaft, die “ihrem” Untersuchungsgegenstand vorgeben will, wie dieser zu sein hätte, ist schon so oft falsch gelaufen).

Grundsätzlich: Wissenschaft ist Denken und soll Denken anregen. Eine kluge Gesellschaft (oder ein kluges Bibliothekswesen), die sich nicht hinter “das muss so” oder “im Alltag gibt es andere Probleme” versteckt, sondern wahrnimmt, dass es immer eine Differenz zwischen Denken und Handeln geben wird, dass aber ein Handeln alleine oder ein Denken in immer den gleichen “Problemen” und mit den immer gleich ungetesteten Überzeugungen im Besten Falle die Reproduktion des Immer-Gleichen, im Schlimmsten die Verstärkung der negativen Seiten dieses Handelns und Denkens ist ‒ und das deshalb das Testen der eigenen Überzeugungen und das Ernstnehmen von Hinweisen auf Leerstellen sinnvoll ist ‒ würde eine bessere Gesellschaft für alle sein. Ich bin da am Ende positiv gesinnt, dass das funktionieren kann. (Das ist die Bedeutung von Kritik, im guten Sinne: Das falsche Schlechte im Bestehenden aufzeigen. Eine Gesellschaft, die sich selbst regelmässig fair kritisiert und damit ihrer Grundlagen klarer ist, wird deshalb besser, eine Gesellschaft, die das nicht tut, wird tendenziell schlechter. Und für “die Gesellschaft” lassen sich immer gesellschaftliche Teilsysteme, wie das Bibliothekswesen, in diesen Satz einsetzen.) Die Rolle als kritische Instanz ist es, in der ich die Bibliothekswissenschaft sehe. Alles andere machen die Bibliotheken schon selber.

 

Fussnoten

1 Grundsätzlich, wenn ich schon etwas dazu sagen soll: Wenn ich schon einen Tipp geben soll, sollten sich die Bibliotheken klar werden, was sie eigentlich wollen, dass die Menschen mit dem “Lesen” tun, was die daraus ziehen sollen und nicht einfach nur Leseförderung mit dem Ziel “alle sollen viel lesen” machen. Sie müssen das wohl für sich selbst bestimmen, weil das Bibliothekswesen als Ganzes es nicht tun. Und von dieser Bestimmung aus sollten sie ihre Leseförderung konzipieren. Gleichzeitig sollten sie sich klar werden, dass sie wohl “Lesen” aus einer sehr spezifischen Schicht heraus bewerten und verstehen, das aber die Gesellschaft nicht aus dieser Schicht alleine besteht und nicht einfach dieses Verständnis für alle Menschen aus allen Schichten vorausgesetzt werden kann. Eher sollte man zuhören, wie Menschen aus unterschiedlichen Schichten Lesen verstehen und angehen ‒ und dann darauf aufbauen, sie dabei zu unterstützen, Lesen wie sie es jeweils als sinnvoll oder gehaltvoll ansehen umzusetzen. Aber nicht andersrum ihnen das vorschreiben.

2 Zu prüfen wäre auch, welche Formen von Zukunftsvision die Wissenschaft eigentlich formulieren darf, ohne das ihr die Ernsthaftigkeit abgesprochen würde. Ich würde z.B. gerne darüber nachdenken, wie ein Bibliothekswesen in einer sozial gerechten Gesellschaft aussehen würde. Aber dürfte ich das, besonders wenn ich davon ausginge, dass einen sozial gerechte Gesellschaft halt eine sein würde, in der die BWL als Scharlatanerie (mit egomanischen Strukturen) verstanden und die Wirtschaft ganz anders organisiert und dem gesellschaftlichen Willen unterworfen wäre? Oder wäre das zu weit? Könnte ich zumindest über ein Bibliothekssystem in einer Gesellschaft nachdenken, die nachhaltig wirtschaftet? Oder wäre auch das zu weit? Mir scheint immer wieder, dass “Innovation” heutzutage nur Innovation in bestimmten Richtungen sein darf.

3 Allerdings auch schon in absurderen Zusammenhängen, wenn an Kolleginnen, Kollegen oder mich Fragen gestellt wurden, die schon längst “gelöst” waren, also zum Beispiel Probleme angesprochen wurden, für die schon mehrere Handbücher, Toolkits und so weiter existieren, teilweise geschrieben von diesen Kolleginnen und Kollegen, die gefragt wurden, oft in Zusammenarbeit oder mit Rückmeldungen aus “Bibliotheken aus der Praxis”. Als wäre es ‒ für Bibliothekarinnen und Bibliothekare nota bene ‒ schwer vorstellbar, einfach mal nach denen zu recherchieren. Aber es ist auch so oft passiert, dass es mir strukturell vorkommt; so als wären es Bibliotheken zum Teil einfach gewohnt, dass es immer Beraterinnen und Berater gibt, die rumkommen und sagen, wie es richtig geht. Das aber nur eine Vermutung.

4 Theoretisch gibt es den Schweizerischen Nationalfonds (oder ähnliche Einrichtungen in anderen Staaten) als Einrichtung, die Forschung von den Interessen der Forschenden geleitet finanziert. Aber wer sich nur die Statistiken zur Mittelvergabe anschaut wird merken, dass die jetzige Funktion des Nationlfonds eigentlich ist, Geld an die Unis und den ETH-Bereich zu verteilen und von den Fachhochschulen fernzuhalten. Zumal die Fachhochschulen mit ihren an der Wirtschaft orientierten Jahresrhytmus für Projekte gar nicht auf die SNF-Struktur mit dem mehrmaligen Zurückweisen und Wiedereinreichen von Anträgen nach Überarbeitung vereinbar ist. Aber das ist ein anderes Thema. Praktisch ist er als finanzielle Quelle für Fachhochschulen verschlossen, ohne dass das wirklich thematisiert wird.

5 “Verrückte” Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser Art haben auch immer was vom utopischen Potential eines “anderen Lebens”, dass möglich ist, so wie Popstars. Dieses “verrückt-sein” ist ja auch immer ein Ver-rücktsein, ein gewisses Ent-rücktsein aus den gesellschaftlichen Strukturen und Anforderungen, die uns sonst alle betreffen.

6 Es ist halt oft nur nicht so bekannt, was schon gemacht wird. Aber ich würde immer raten, mal in Wildau nachzufragen. Die haben offenbar oft schon das gebaut, was man sich so als “könnte mal wer machen” ausdenken kann.

7 Was noch sichtbarer wird, wenn man darauf verweist, dass zumindest grosse Teile der Bibliotheken das vor hundert Jahren wussten, wenn wir auch die damaligen Ziele ‒ gegen “Schund” und dagegen, dass die Jugend durch die falschen Bücher sozialdemokratisch, gar kommunistisch wird oder, bei den Bibliotheken der Arbeiterbewegung, gegen “Schund” und für Klassenbewusstsein, nicht mehr teilen.

8 Z.B. Rürup, Matthias (Hrsg.): Innovationen im Bildungswesen : analytische Zugänge und empirische Befunde (Educational Governance). Wiesbaden: Springer, 2013; Bosche, Anne: Schulreformen steuern: Die Einführung neuer Lehrmittel und Schulfächer an der Volksschule (Kanton Zürich, 1960er- bis 1980er-Jahre). Bern: Hep, 2013; Bosche, Anne: The back office of school reform: educational planning units in German-speaking Switzerland (1960s and 1970s). In: Paedagogica Historica 52 (2016) 4: 380-394.

Was ist das Ziel und die Praxis von Leseförderung in Bibliotheken?

Was genau ist eigentlich gemeint, wenn (Öffentliche) Bibliotheken von Leseförderung reden? Grundsätzlich werden Bibliotheken in der Öffentlichkeit (und im Bibliothekswesen selber) zumindest in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit dem verbunden, was in Bibliotheken als „Leseförderung“ durchgeführt wird. Das scheint mir, zumindest aktuell, ausser Frage zu stehen, auch wenn andere Themen hiper sind. Nur frage ich mich seit einiger Zeit (wieder), was genau da eigentlich passiert.

Es ist ja so, dass sich in jeder Öffentlichen Bibliothek im deutschsprachigen Raum, wenn sie nur gross genug ist, Angebote zu diesem Bereich finden, mal implizit, mal sehr explizit mit eigenen Stellen, Veranstaltungen etc. Angesichts dieser weiten Verbreitung scheint mir erstaunlich wenig darüber gesprochen zu werden. Es gibt aus den letzten Jahren einige Buchpublikationen mit Vorschlägen dazu, wie Leseförderung gestaltet werden kann. (Z.B. Keller-Loibl 2012; Keller-Loibl & Brandt 2015) In diesen finden sich zahlreiche Vorschläge für Veranstaltungen, die zum Teil aus Bibliotheken, zum Teil aus der Forschung in Fachhochschulen stammen. (Mir ist, ehrlich gesagt, nicht immer klar, wieso es dann gerade diese Beispiele es „in die Bücher geschafft“ haben und andere nicht – aber das ist eine andere Frage.) Gleichzeitig scheint es einen unaufhörlichen Strom an Artikeln dazu zu geben, gerne illustriert mit Kindern, die glücklich in der Bibliothek Bücher lesen. Wie gesagt: Das es dazu gehört, scheint ausgemacht. Aber mir scheint, dass einiges fehlt. Zum einen Beschreibungen, die in die Tiefe gehen:

  • Wieso werden bestimmte Dinge gemacht und wieso bestimmte Dinge nicht?

  • Wie werden die Bücher und anderen Medien ausgesucht, die zur Leseförderung benutzt werden, welche Kriterien werden vom wem angelegt?

  • Wie entsteht das „lokale Wissen“, dass sich immer wieder findet, wenn man in den Bibliotheken nachfragt (also zum Beispiel: Wieso wissen – zumindest so gut, dass es funktioniert – die Kolleginnen und Kollegen, welche Medien „funktionieren“ und welche nicht?)?

  • Finden Veränderungen statt, welche und wieso?

  • Was sind die Effekte der Leseförderung?

  • Lesen die Kinder und Jugendlichen mehr?

  • Lesen sie etwas anderes?

  • Bestätigen sich Bibliotheken durch diese Leseförderung selber in ihrer Identität als Bibliothek?

Solche Fragen werden meist gar nicht oder aber nur im Vorbeigehen behandelt. Es scheint viel Praxis, aber kaum Austausch über diese Praxis (sowohl was die Praxis eigentlich genau ist als auch was das Ziel dieser Praxis ist oder sein sollte) – eine Theoretisierung, die die Praxis irgendwie erklärbar macht, scheint es gar nicht erst zu geben. Das ist irgendwie erstaunlich. (Aber vielleicht muss es so sein, damit die Autonomie der einzelnen Bibliotheken erhalten bleibt? Wer weiss?) Das irritiert mich auch, weil ich bei meiner kleinen Sammlung alter Bücher zum Bibliothekswesen zum Beispiel einen Schrift von 1923 habe, „Vorlesestunden“ von Erwin Ackerknecht (Ackerknecht 1923), die das genau anders macht. Da gibt es erst eine Einleitung, die sagt, wozu diese „Vorlesestunden“ – also Leseförderveranstaltungen, bei denen der Volksbibliothekar oder die Volksbibliothekarin den Kindern und Jugendlichen vorliest – da sein sollen, wie sie methodisch aufbereit sein sollen, es wird Position bezogen zu den Möglichkeiten dieser Vorlesestunden (Ackerknecht war Vertreter der „Stettiner Richtung“ im Richtungsstreit, er arbeitet auch direkt in Stettin), dann werden praktisch Fragen angesprochen (wie organisieren, welcher Raum, Gebühren oder nicht, etc.) und dann folgt eine lange Liste von Büchern, die sich für Vorlesestunden eignen würden, inklusive geschätzten Vorlesezeiten und Hinweisen dazu, wozu der jeweilige Texte gut wäre. Selbstverständlich folgt Ackerknecht anderen gesellschaftlichspolitischen Zielen, als es heute der Fall wäre. Die Schrift ist die einzige, die ich gerade greifbar habe. Sie ist aber Teil zahlreicher ähnlicher Schriften, die Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen sind und sich auch aufeinander bezogen. Mir scheint, dass es auch heute einfacher ist, die damalige Praxis in den Bibliotheken zu beschreiben oder zumindest zu erahnen sowie zu beschreiben, was die Diskussionspunkte waren, als es heute möglich wäre, die Praxis der Leseförderung in den Bibliotheken zu beschreiben.

Erste Irritation: Welches Lesen? Wozu?

Zwei Dinge haben mich in der letzten Zeit auf dieses Thema gebracht. Der erste Grund ist eine Studie, die wir in Chur gemacht haben und bei der wir die Volksschulbibliotheken im Kanton St. Gallen über deren Arbeit befragt haben. Das war alles sehr interessant und ich freue mich schon darauf, wenn wir den Bericht zu der Studie veröffentlichen können – gerade, weil die Ergebnisse sehr überraschend waren. Das wird aber noch etwas dauern. Was man schon sagen kann ist, dass die Volksschulbibliotheken in St. Gallen zumeist gar nicht von Bibliothekarinnen oder Bibliothekaren geführt werden, sondern von Lehrpersonen aus den Schulen selber. Insoweit sind sie nicht prototypisch für Öffentliche Bibliotheken. Aber bei den Interviews in den Schulen fiel mir etwas auf, was mir auch bei Gesprächen und Berichten aus Öffentlichen Bibliotheken oft auffällt: Einerseits wird die ganze Zeit davon geredet, dass es die Aufgabe der Bibliothek wäre, das Lesen der Kinder und Jugendlichen zu fördern, andererseits wird nicht darüber gesprochen, wie genau das geschehen soll. In St. Gallen ging es vor allem darum, den Zugang zu Büchern zu ermöglichen, in Öffentlichen Bibliotheken geht es auch um andere Medien. Aber wie genau geht das vonstatten? Das war kein richtiges Thema in den Interviews unserer Studie, das ist auch selten Thema in bibliothekarischen Texten. Etwas polemisch ausgedrückt erscheint es oft so, dass „viele Medien == Leseförderung“ gedacht wird. In der Praxis wird das nicht so einfach sein, da beispielsweise immer wieder Gespräche mit Kindern und Jugendlichen geführt und auch Veranstaltungen durchgeführt werden. Aber das wird nie so richtig kommuniziert. Irgendwie scheint es immer so, als ob einfach Medien mit Kindern und Jugendlichen zusammengebracht werden müssten – und dann ist es Leseföderung.

So einfach kann das einfach nicht sein und ich wundere mich in letzter Zeit immer wieder mal darüber, warum nicht diskutiert wird, welche Medien genau (die wie ausgesucht werden), wie angeboten, genutzt etc. werden. Vor allem, wenn man es ein wenig historisch ansieht, wird es noch verwirrender. Volksbibliotheken hatten eine grosse Zeit, als sie sich Ende der 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts „gegen Schund“ engagierten (neben den Lehrerinnen und Lehrern). (Maase 2012) Damals „wussten“ sie sehr klar, was die richtige Literatur war und es gab zumindest Darstellungen dazu, wozu Literatur (für Kinder und Jugendliche) wie vermittelt werden sollte. (Selbst, wenn es nicht direkt als „gegen Schund“ bezeichnet wurde, wie halt bei Ackerknecht 1923.) Es war am Ende doch nicht so einfach und klar, weil ständig darüber diskutiert werden musste, welche Literatur überhaupt „Schund“ sei (Masse 2012) und weil alle möglichen Anstrengungen regelmässig auch scheiterten. Aber es gab zumindest ein klares Ziel. Allerdings hat sich dieser „Schund-Kampf“ lange überholt. Die Diskussionen um Kinder- und Jugendliteratur haben sich verändert. Erst ging es in den 1950er und 1960er dahin, dass über „das gute Jugendbuch“ nachgedacht wurde, das Kinder und Jugendliche fördern sollte – und nicht andere Literatur bekämpfen. (Müller 2014) Auch damals scheint eher klar gewesen zu sein, was Bibliotheken tun sollten. Dann, in den 1970ern, ging es darum, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Kinder- und Jugendliteratur widerzuspiegeln und Kritikfähigkeit zu fördern, in den 1980er zeigte sich dann, dass Kinder und Jugendliche (deren Leseinteressen mit der Zeit immer mehr ernst genommen wurden) auch mit der Literatur nicht unbedingt viel anfangen konnten, sondern beispielsweise die Phantastische Literatur ein Hoch erlebte (kjl&m 2015). Und dann? Es gibt weiterhin Kinder- und Jugendliteratur, aber aus der ergibt sich spätestens seit den 1980ern keine direkte „Aufgabe“ für die Bibliotheken (kein Schund ist zu bekämpfen, keine Kritik zu fördern etc.). Das ist per se nicht schlecht, immerhin scheinen die Interessen der Kinder und Jugendlichen heute im Fokus zu stehen. Aber nach alle den Jahrzehnten, wo in der bibliothekarischen Literatur dargelegt wurde, was Leseförderung erreichen soll, scheint mir das heutige nicht-darüber-Reden erstaunlich.

Mir ist schon klar, dass es Versatzstücke von Diskursen gibt, die im Bezug auf Lesen in den letzten Jahren immer wieder reproduziert werden. Beispielsweise der Verweis darauf, dass „seit PISA“ klar wäre, dass Lesen eine Kulturtechnik sei, die eine steigende Bedeutung hätte – und deshalb die Leseförderung wichtig sei. Aber solche Aussagen scheinen mir alles nur noch verwirrender zu machen. Erstens will ich bei solchen Aussagen oft den Personen, die das sagen / schreiben eine Ausgabe der PISA-Studien schicken, damit sie die mal selber lesen können. Es steht da nämlich die gleiche Behauptung, als Behauptung, drin: Lesen sei wichtig. Aber es gibt keinen Nachweis oder so, das Lesen wirklich wichtig wäre – dass können die Studien gar nicht, weil sie nicht so angelegt sind. Doch selbst, wenn man die Studien (und all die Programme, die sich daran anlehnen) ernst nimmt, scheint mir etwas Wichtiges nicht zu stimmen: Lesen wird in den PISA-Studien als Kompetenz verstanden, die funktionell sein soll. Lesen ist Sinn-entnehmendes Lesen. Die Schülerinnen und Schüler werden darauf getestet, ob sie in der Lage sind, aus einem Text Informationen zu entnehmen und diese auf die Lösung von Aufgaben (und, so die Hoffnung, dem Alltag) zu übertragen. Und das ist doch gar nicht das, worum es bei der Leseförderung in Bibliotheken geht. Oder? Wenn es in Bibliotheken darum geht, Zugang zu Medien zu schaffen und vielleicht noch die Kinder und Jugendlichen zum Lesen zu motivieren, dann fördert das doch nicht das Sinn-entnehmende Lesen. Oder sehe ich das falsch? Wie gesagt: Ich frage mich ja, was eigentlich in den Bibliotheken konkret passiert, insoweit weiss ich es nicht. Ich würde aber erwarten, dass man sich Pläne macht, welche Literatur und welche Form der Arbeit mit Texten zu einem besser „Informationen entnehmen“ führen würde, wenn es wirklich darum ginge, diese Form von Lesen zu fördern. Und wenn Bibliotheken das nicht tun, sollten sie dann nicht (a) aufhören, PISA und ähnliche Studien als Begründung anzuführen und (b) beginnen, darüber zu reden, was sie eigentlich bei der Literatur fördern wollen?

Ich hatte bei den Interviews in St. Gallen – wie gesagt, eher mit Lehrpersonen, aber solchen, die Bibliotheken führen – den Eindruck, dass diese pädagogische Frage keine Rolle spielt. Es ging offenbar darum, dass viel Gelesen wird. Bücher wurden danach ausgewählt, ob die Kinder und Jugendlichen sie gerne lesen wollen – nicht unbedingt, zumindest explizit gemacht, weil sie irgendein näher bestimmtes pädagogisches Ziel fördern würden. Und das waren Lehrpersonen, also Menschen, die es von ihrer Ausbildung her gewohnt sind, pädagogische Ziele zu setzen und didaktische Mittel zu wählen, um diese zu erreichen. Wie ist es dann in Bibliotheken?

Wie gesagt: Es gab Zeiten, da war das klarer. Ich will gar nicht, dass diese Zeiten wiederkommen. Wir sind als Gesellschaft weitergekommen und offener geworden, das wird leider schon immer wieder zurückgedreht und Bibliotheken müssen diesen Backlash nicht auch noch aktiv mitmachen. Aber es irritiert mich schon, dass auf einmal das Ziel der Leseförderung nicht mehr klar zu sein scheint. Wie kann man Fördern, wenn man nicht klar bestimmt hat, was man Fördern will? (Und ich habe auch nichts dagegen, wenn Kinder und Jugendliche viel lesen.)

Zweite Irritation: Forschung zum Lesen. Was kommt davon eigentlich in den Bibliotheken an?

Der zweite Grund, der mich zu solchen Überlegungen gebracht hat, ist sehr einfach, dass ich in der letzten Zeit einige Arbeiten zur Leseförderung und Studien zur Leseforschung gelesen habe. Das eher unsystematisch, also vor allem das, was interessant klang. (Wobei ich zugeben muss: Publikationen der Stiftung Lesen, die im deutschen Bibliothekswesen ja einen guten Ruf hat, finde ich selten interessant genug, um sie einfach so zu lesen. Das ist eher nervige Arbeit.) Bei zweien habe ich sehr gestockt, aber eigentlich wiederholten sich meine Irritationen.

Fragwürdiges Kinderbuch (Kruse & Sabisch 2013) ist eine Sammlung von Studien zur Rezeption und Nutzung von Kinderbüchern. Die Auswahl scheint sehr beliebig, aber gerade das hat auch etwas gezeigt: Die Forschung zu Kinderbüchern kommt aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen. Grundsätzlich: Kinder bilden sich sehr wohl differenzierte Meinungen zu Kinderbüchern und verarbeiten die Geschichten in ihnen. Diese Rezeption wird durch verschiedene Faktoren unterstützt. Was auch mehrfach gezeigt wurde: Diese Rezeption ist anders, als sich das Lehrkräfte, die mit Kinderbüchern arbeiten, vorstellen. Beispielsweise gibt es unter Lehrkräften die Meinung, dass bestimmte Bilderbücher sich nicht für die Arbeit mit Kindern eignen würden, weil sie zu viel der Geschichte offen lassen. Die Lehrkräfte haben das Gefühl, bei den offenen Teilen der Geschichte zu viel erklären zu müssen, weil dies für Kinder (noch) zu schwierig sei. Hingegen zeigten Kinder bei diesen Büchern eine grosse Rezeptionsfähigkeit und konnten mit den offenen Teilen der Geschichten gut umgehen. Das hat ihren Spass nicht eingeschränkt. Ich habe das gelesen und dachte dabei an all die Öffentlichen Bibliotheken (und Schulbibliotheken), die Kinderbuchkinos und ähnliches durchführen. Ist das da anders? Wissen die mehr? Nutzen die Bilder- und Kinderbücher anders? Ein paar Mal habe ich in Bibliotheken gehört, dass man mit der Zeit schon wüsste, was bei Kindern ankommen würde und es vor allem darum ginge, gerne mit Kinder zu arbeiten, wenn man solche Veranstaltungen macht. Und sicher: Gerne mit Kindern arbeiten wollen ist unbedingt wichtig. Aber die in den Studien untersuchten Lehrkräften sind ja auch Menschen, die gerne mit Kindern arbeiten, die ständig Kinder beobachten – das ist ja Teil ihrer Profession und Ausbildung – und so weiter. Das unterscheidet die nicht von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren. Nur, wenn die die Rezeptionsfähigkeit und die Lernerfolge von Kindern offenbar falsch einschätzen, wieso sollte das in Bibliotheken nicht genauso sein? An good will mangelt es ja wohl weder in Kindergarten / Schulen noch in Bibliotheken?

Und wieder musste ich mir sagen, dass ich es einfach nicht weiss. Wie suchen die Kolleginnen und Kollegen in den Bibliotheken die Bilderbücher aus, die sie für Bilderbuch-Kinos und ähnliche Veranstaltungen nutzen? Für welchen Zweck? Mit welchem Erfolg? Was genau machen die damit und mit welchem Erfolg? Was halten eigentlich die Kinder davon? Ich konnte Anfang des letzten Jahres auf dem bibliothekspädagogischem Forum in Hamburg einen Workshop zu Kinderbüchern in der Bibliothek von Susanne Brandt besuchen. Am Ende des Workshops, der vor allem von Kolleginnen besucht wurde, die in Bibliotheken mit Kindern arbeiten, suchten sich die Anwesenden Bilderbücher aus (aus dem Bestand der Hamburger Bücherhallen, insoweit gab es schon eine Anzahl von Büchern zur Auswahl), die sie selber für die Verwendung in der Bibliothek nutzen oder vorschlagen würden. Nicht alle, aber viele der Bücher wurden vorgestellt und was auffiel war, dass die Begründungen, warum sie ausgewählt wurden, sehr oft die persönlicher Begeisterung der Kolleginnen war und in kleinerem Masse die Erfahrung, dass Kinder gut auf das jeweilige Buch ansprechen würde. Das sind bestimmt nicht die schlechtesten Begründungen, aber im Rückblick fällt mir jetzt auf, dass es zum Beispiel fast nie darum ging, ob die Kinder aus den Büchern etwas lernen könnten oder das sie mit einem Buch unterstützt würden, eine Kompetenz aufzubauen, etwas zu verarbeiten etc. Es gab nicht so richtig einen Grund für die Nutzung von Kinderbüchern, der besprochen wurde, sondern viel Begeisterung für Kinderbücher. Wie gesagt: Das ist schon okay und vielleicht besser, als Bücher nach rein inhaltlichen Gründen auszusuchen – aber irgendwie auch irritierend. Ist denn das alles, was interessiert? Will denn niemand darüber reden, wie die Kinder die Veranstaltungen in Bibliotheken mit Bilderbüchern wahrnehmen, was sie daraus machen und so weiter? Wenn man nur das eine erwähnte Buch von Kruse & Sabisch (2013) dagegen hält, ist doch zu vermuten, dass auch auf Seiten der Bibliothekarinnen (und Bibliothekaren, die es in diesem Workshop aber nicht gab) grosse Missverständnisse vorherrschen – so wie bei den Lehrpersonen. Und das die Fragen viel weiter greifen könnten und müssten als „welche Bilderbücher funktionieren für welche Veranstaltungsformen“. Oder?

Ähnliches ist mir passiert, als ich einige Untersuchungen aus der Pädagogik zu der Frage, welche Formen von Leseförderungen welche Effekte haben, gelesen habe. Beispielsweise steht im Standardwerk von Risebrock & Nix (2013) als Zusammenfassung des Forschungsstandes, dass Programme, die darauf abzielen, Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, möglichst viel zu lesen, aus medienpädagogischer Sicht falsch sind. Sie brächten nichts, sondern hätten eher zufällig Erfolge (was aber auch gilt, wenn Kinder und Jugendliche selber ohne Förderung lesen) und würden sich vor allem in die Behauptung flüchten, dass die Tendenz zum „Freizeitlesen“ aus eigenem Interesse steigen würde, wenn die Kinder und Jugendlichen nur oft genug dazu gebracht würden, zu lesen. Das ist etwas polemisch, aber, bezogen auf andere Studien zur Leseförderung auch nicht falsch: Kontinuität der Leseförderung alleine scheint nur kurzfristige Effekte zu haben, die meisten Effekte von Leseförderung in verschiedenen Formen sind eher gering – und wenn sie doch funktionieren, haben sie zumeist darüber nachgedacht, was Kinder und Jugendliche eigentlich mir Literatur machen.

Schaut man aber in die bibliothekarischen Texte zur Leseförderung, scheint es, dass sie meistens gerade darauf abzielen, Kinder und Jugendliche zum Viel-Lesen zu bringen. Sehr oft wird eine Sprache verwendet, die eigentlich ein wenig creepy ist, wenn davon gesprochen wird, Kinder und Jugendliche „zu kriegen“ oder „zu überraschen“ oder ähnliches – fast immer klingt es so, als wüssten die Kinder und Jugendlichen nicht, was gut für sie ist, und mit einigen Tricks müssten sie ausgetrickst werden, um doch zu tun, was gut ist. Und was gut ist, ist Lesen. Was Gelesen wird, scheint dann einigermassen egal (und, wie gesagt, dass ist historisch gesehen auch ein Fortschritt: Immerhin ist es egal und wird nicht kontrolliert.). Mich irritiert das. Lesen wozu? Was Lesen? Was bringt es den Kindern und Jugendlichen eigentlich wirklich? Sollte nicht die Rezeption und Nutzung der Literatur durch die Kinder und Jugendlichen (zu unterschiedlichen Zwecken, und wenn es die Identitätsfindung ist) im Mittelpunkt der Planung von Leseförderung stehen? Oder ist das der Preis, den die Bibliotheken historisch zu tragen haben: Die Kinder und Jugendlichen werden jetzt – im Gegensatz zu vor hundert Jahren, als sie potentiell alle ein Gefahr darstellten, besonders, wenn sie in Gruppen auftraten und aus proletarischen Familien stammten (Maase 2012) – als eigenständig entscheidende Personen akzeptiert, denen man nicht reinreden darf – aber dafür wird auch die konkrete Leseförderung beliebig? Und was ist mit der pädagogischen Forschung zur Leseförderung? Gilt die nicht für Bibliotheken? Ist die falsch? Wissen es Bibliotheken besser? Oder stimmt es gar nicht, dass es „nur“ ums Lesen an sich geht?

Wie gesagt: Es sind eher weiterführende Fragen, die sich mir stellen. Mir ist schon bewusst, dass es eine Anzahl von Vorschlägen für Veranstaltungen der Leseförderung in Bibliotheken gibt (und es ist auch einfach, grundsätzlich einige Leitsätze dafür vorzuschlagen. Wie ich beim Schreiben an diesem Post gemerkt habe, habe ich das vor fünfeinhalb Jahren in einem Post selber schon einmal getan – und wieder vergessen.), aber es ist mir nicht bekannt, ob die wirklich in der Praxis so sinnvoll sind, ob sie überhaupt beachtet werden und wenn ja wie. Aber dieses Vorschläge unterbreiten ist ja nur eine Möglichkeit, Forschung zu betreiben. Ich fände es gerade viel interessanter, zu fragen, wie die Leseförderung in Bibliotheken „wirklich“ ist und vor allem, warum und wie sie von denen wahrgenommen und rezipiert wird, bei denen sie wirken soll, also vor allem den Kindern und Jugendlichen. In der weiter oben schon genannten Studie zu Volksschulbibliotheken in St. Gallen sind wir davon ausgegangen, dass die Einrichtungen so, wie wir sie „vorfinden“ einen Sinn haben müssen, dass also aus der Struktur, Ausstattung, Aufgabe und so weiterer der Schulbibliotheken auch etwas gelesen werden kann. Hätten sie in der vorliegenden Form keinen Sinn, wären sie von den Schulen schon verändert worden. Das ist eine andere Perspektive, als sie sonst in der bibliothekarischen Literatur eingenommen wird, die viel eher dazu tendiert, zu sagen, wie es sein muss und dann die vorhandenen Schulbibliotheken an diesem „wie es sein soll“ misst. Mir scheint unser Vorgehen viel aussagekräftiger und ich habe den Eindruck, dass es mit der Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken ähnlich ist: Vorschläge dazu, wie es sein soll, gibt es viele. Untersuchungen dazu, wie es ist, verbunden mit der Frage, welche Sinn im sozialen System Bibliothek der jetzige Zustand hat, wäre meiner Meinung nach interessanter.1

Was halt auch irritiert, ist, dass in den bibliothekarischen Texten kaum wirklich auf die Forschungen zur Leseförderung aus der Pädagogik zurückgegriffen wird. Eher wird auf ein paar Texte verwiesen, die angeblich grundlegend sind, und dann weiter fortgefahren, Vorschläge für Veranstaltungen zu machen. Oft ist mir nicht klar, was dann die angeführten Texte mit den Vorschlägen zu tun haben – wie oben bei den PISA-Studien geschrieben, habe ich oft den Eindruck, dass da ein grosses Missverständnis vorliegt und in den angeführten Texten nicht das steht, was vermutet wird. Das gleiche gilt aber auch andersherum: In den pädagogischen Forschungen findet sich erstaunlich wenig zu Bibliotheken selber. Manchmal sind „Bibliotheksbesuche“ eine unabhängige Variable, die in empirischen Untersuchungen mit erhoben wird. Dann zeigt sich oft, dass Kinder und Jugendliche, die gut lesen, auch oft Bibliotheken besuchen – aber darauf beschränkt sich das dann. Wie genau das funktioniert, wird quasi nie gefragt. Allerdings: Die Bibliothekswissenschaft könnte meiner Meinung auch gar nicht zu pädagogischen Forschung hingehen und es ihr besser zeigen, weil sie ja auch nicht weiss, was da in Bibliotheken, wieso, wann, warum passiert. Es gibt ein Schreiben über das gleiche Thema (Leseförderung), aber ohne aufeinander richtig zu reagieren oder das überhaupt zu können. Ich denke, auch für den richtigen Anschluss an die pädagogische Forschung wäre es sinnvoll, wenn die Bibliothekswissenschaft sich mehr mit der tatsächlichen Realität der Leseförderung in Bibliotheken beschäftigen würde. Wenn fast alles, was geschrieben ist, Vorschläge für Veranstaltungen sind, was soll man dann der pädagogischen Forschung als Anschluss bieten? Ohne getestetes Modell von Wirkungen der Leseförderung, das auf der Realität in den Bibliotheken basiert, wird das immer schwierig bleiben.2

Ein paar potentielle Fragestellungen

Wie gesagt: Ich habe mehr Fragen als irgendwelche klaren Antworten. Je mehr man die Bibliothek als ein System anschaut, dass irgendwie immer funktioniert, beginnt man offenbar zu fragen: Wieso funktioniert das? Was passiert da? Wie reagieren z.B. die Nutzerinnen und Nutzer wirklich und wieso? Das wäre viel interessanter, als noch ein weiteres „innovatives Ding“ rauszuhauen, partizipative Leseförderung im Co-Workingspace oder so. Das alles hat sich bei mir bislang weder zu einem Forschungsprojekt noch einer Forschungagenda verdichtet. Ich muss das ja auch nicht alleine tun. Aber ich würde gerne ein paar Fragestellung vorschlagen:

  • Was ist und was sollte das (pädagogische?) Ziel der Leseförderung in Bibliotheken sein? Mir scheint, dass das in den Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund geraten ist – was auch seine Vorteile hat. Die Welt ist freier geworden, die Literatur der Kinder und Jugendlichen sollte nicht mehr kontrolliert werden. Aber gleichzeitig leben wir in einer Zeit des gesellschaftlichen Backlashs: Bildung wird wieder mehr als „Erziehung zu etwas, dass man definieren kann“ verstanden (siehe Kompetenzraster) und immer weniger als „auf dem Bildungsweg zu einem offenen, selbstbestimmten Individuum begleiten“. Das muss man nicht gut finden; ich finde es nicht gut. Aber so zu tun, als würde man irgendwas fördern, gleichzeitig „Freiheit“ mit „das Lesen die Kinder und Jugendlichen gerne“ übersetzen… Mir scheint, die bibliothekarische Praxis, das Denken in der Praixs, warum etwas gemacht wird (und anderes nicht), die Ziele, die angeführt werden, die Ziele, die tatsächlich angestrebt und gelebt werden, all das ist in einem erstaunlichen Widerstreit. Und es wäre gut, diesen Widerstreit erst einmal klar darzustellen. Danach oder dabei kann (und sollte) der auch offen geführt werden. Vielleicht wollen Bibliotheken ja wirklich, dass die Kinder und Jugendlichen sich zu freien, selbstbestimmten Individuen entwickeln (was sie zum Teil von der Schule unterschieden würde, weil das eher etwas ist, was die Sozialpädagogik als Ziel hat). Aber dann sollte das auch geklärt sein, da das Konsequenzen hat. (Z.B. für die Zusammenarbeit mit Schulen.)

  • Was wird eigentlich konkret gemacht und warum (wie begründen Bibliotheken das?)? Wie gesagt, dass scheint mir der wirkliche ungeklärte Bereich zu sein: Viele Vorschläge, was gemacht werden soll, einige Zahlen zu den geleisteten Stunden in den Bibliotheksstatistiken, aber sonst viel Unklarheit. Mich würde auch eher interessieren, was passiert und gemacht wird; nicht, ob mir das sinnvoll, richtig, effektiv etc. erscheint. Dieses „daherkommen und es besser wissen“, dass ja zum Teil im Bibliothekswesen verbreitet ist, wenn jemand sich eines Themas annimmt, scheint mit oft den interessanteren Teil zu übergehen, nämlich, dass die Praxis ja immer einen Effekt hat und es immer Gründe dafür gibt, dass sie so ist, wie sie ist – und nicht anders. Eine Vermutung, die bei mir (bzw. unseren Diskussionen in Chur) immer wieder mal aufkommt, ist, dass bestimmte Dinge, die ineffektiv aussehen, für die Identität von Bibliotheken als „professionelle Bibliothek“ (oder für die Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Bibliothekarinnen und Bibliothekare – und gerade nicht irgendwelches, austauschbares Personal) wichtig wäre. Beim Nachdenken über die Leseförderung scheint mir das immer wieder einmal der Fall zu sein. (Zumal, historische Note, die Volksbibliotheken ja gerade über ihr Engagement im „Schund-Kampf“ überhaupt zur eigenen Identität gefunden haben, was nachwirkte, auch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus.)

  • Wie rezipieren Kinder und Jugendliche die unterschiedlichen Veranstaltungen? Das scheint mir eine der grossen unbearbeiteten Themen zu sein. Wie gesagt, Vorschläge für die Leseförderung gibt es immer wieder, auch immer gerne mit Bildern von begeisterten Kindern illustriert. Hier und da werden die Kinder und Jugendlichen auch gefragt werden, was sie von den Veranstaltungen hielten, ob sie Spass hatten etc. Aber das ist ja reine Evaluation, keine Erkenntnisgewinnung. Mich würde viel mehr interessieren, wie die Kinder und Jugendlichen die Veranstaltungen rezipieren, welche Lerneffekte sie haben, welche Effekte auf ihre Identitätsbildung sie haben etc. Ich kann mir z.B. gut vorstellen, das Kinder die Vorlesestunden in der Bibliothek mögen, weil sie dann andere Sachen nicht machen müssen, weil sie sich dann mit anderen Sachen nicht auseinandersetzen müssen, weil es so nett ist, aber ohne dass das irgendetwas an ihrem Bezug zu Büchern ändert. Was mir auch interessant erscheint ist, dass bibliothekarische Texte sich gerne damit beschäftigen, wie Kinder und Jugendliche an Bücher „herangeführt“ werden können; dann aber dazu schweigen, was passiert, wenn sie „herangeführt“ sind. Das ist doch keine einmalige Sache, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Auch die Kinder aus reichem Elternhaus, die dazu angehalten werden, Bücher zu mögen, machen irgendwas mit diesen Büchern, interpretieren die irgendwie etc. An sich sind die Rezipientinnen und Rezipienten von bibliothekarischen Veranstaltungen zu oft nur als Menschen konzipiert, die zufrieden oder unzufrieden sind (halt „Kundinnen und Kunden“) und zu wenig als Menschen, die sich beständig entwickeln.

  • Warum lesen so viele Kinder und Jugendliche eigentlich in Leseförderprogrammen – weil sie besser lesen wollen, weil sie sonst noch was schlimmeres machen müssten, weil sie sonst nichts zu tun haben, weil es gut für sie ist? Und immer: Warum? Schon um die eigenen Überzeugungen zu testen, ist es immer auch gut, einmal andersherum zu fragen: Eigentlich ist es doch erstaunlich, dass Kinder und Jugendliche so oft so viel in Leseförderprogrammen lesen. Ich denke da an die Berichte über Lesesommer etc. Wenn die stimmen, sind die ja immer wieder überlaufen. Wieso eigentlich? Haben Kinder und Jugendliche nicht auch anderes zu tun? Auch wenn ich nicht wirklich weiss (wie ich ja gesagt habe), wie die Praxis in der Leseförderung in den Bibliotheken wirklich ausssieht, scheint mir doch, dass das recht erfolgreiche Systeme sind – gemessen an dem, was alles gelesen wird, wie viele Kinder und Jugendliche kommen etc. Aber mich erinnert das bei Jugendlichen z.B. auch an Forschungen zu Teen-Fankulturen, wo gefragt wird, was und warum tun da eigentlich jugendliche Fans, wenn sie irgendwelche Teenstars anhimmeln – und die Antwort ist oft, mit der eigenen Identität experimentieren, weil sie z.B. versuchen können, sich über ihre eigene Sexualität klar zu werden, ohne dafür wirklich Sex haben zu müssen. Teen-Fankultur als Schonraum. Das ist sinnvoll, aber selbstverständlich nicht das, was man erwarten würde. Manchmal fragen ich mich, ob nicht auch gerade Jugendliche Bibliotheken und Leseförderung so „unerwartet“ nutzen.3

  • Schichtspezifische Effekte von Leseförderung. Sowohl im Bibliothekswesen als auch in der pädagogischen Forschung geht es meist ganz unbestimmt „um alle Kinder und Jugendlichen“, so als würde die sich alle gleich entwickeln. (Auch das ist ja ein historischer Fortschritt.) Manchmal gibt es Texte zu „bildungsfernen“ Kindern und Jugendlichen, aber schon das „bildungsfern“ ist ja ein Begriff, der gesellschaftliche Verhältnisse überdecken oder zumindest vereinfachen soll. Er passt in eine Zeit, wie unsere, wo (wieder) mehr und mehr so getan wird, als ob es Schuld der Menschen in Armut, wenn sie arm sind — weil sie halt sich von der Bildung fern halten und nicht anstrengen würden. Das ist meist Unsinn, soviele Menschen strengen sich nicht an und landen am Ende in besseren ökonomischen Situationen, als Menschen in Armut. Aber zum Punkt: Mir scheint, das, was im Bibliothekswesen (und auch in der Pädagogik) zur Leseförderung geschrieben wird, ist erstaunlich „gesellschaftsfern“. Nicht nur, dass die Kinder und Jugendlichen halt in unterschiedlichen Schichten aufwachsen und damit unterschiedliche Möglichkeiten, Probleme, Aufgaben etc. haben – was zu untersuchen wäre, nicht nur für die „unteren Schichten“, sondern für alle, da ja auch die Kinder und Jugendlichen aus höheren Sozialschichten das Lesen irgendwie in die eigene Entwicklung einbinden (müssen). Es kann auch nicht (nur) darum gehen, die unteren Schichten in die gleichen Bildungsbahnen und -vorstellungen zu drängen/zu bringen, wie die mittleren Schichten (mal abgesehen davon, dass sich Vorstellungen aus der Mittelschicht, z.B. über Kindererziehung längst auch in „unteren Schichten“ finden, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, Verduzco-Baker 2015), sondern es muss darum gehen, zu Verstehen, ob und wenn ja wie, die unterschiedlichen Leseförderungen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten, Aufgaben, Identitäten von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen sozialen Situationen haben. Vielleicht kann man davon ausgehend dann Dinge ändern, Menschen aus „unteren Schichten“ besser unterstützen – wer weiss. Aber mit scheint bislang schon lange nicht mehr darüber geredet worden zu sein, ob es eine Leseförderung für alle gibt oder ob es faktisch nicht unterschiedlich (angekommende) Leseförderungen sind. (Das kann man dann auch noch erweitern, z.B. auf den Wohnort. Bei der oben erwähnten Studie war ich auch in vielen kleinen st. gallischen Gemeinden, bei denen ich sehen konnte, wie sehr die Schulen und Bibliotheken die jeweilige Gemeinde mitprägen, einfach weil es kaum andere Einrichtungen mit ihrer Ausstrahlung gab, ausser den Kirchen. Das war schon irritierend für jemand wie mich, der in einer Stadt aufgewachsen ist, wo die Bibliotheken nur ein kleiner Teil sind und die Kirchen vollkommen irrelevant. Die Wirkung von Leseförderprogrammen wird in solchen Gemeinden auch anders sein, als in Berlin. In der bibliothekarischen Literatur allerdings scheint es solche Differenzen nicht zu geben. Da ist Leseförderung gleich Leseförderung, egal wo sie stattfindet. Ein anderes Thema sind die Rezeption von Leseförderung bei Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen. Bibliotheken setzen sich ja aktuell sehr aktiv für Geflüchtete ein – was auch ein weiterer historischer Fortschritt ist, für den ich sehr dankbar bin – aber die Beschreibungen dieser Aktivitäten sind auch sehr kurz. Was passiert da eigentlich, wie wird das von Menschen, die Geflüchtet sind, erfahren und vor allem bei ihrer Entwicklung eingebunden? Was ist eigentlich das genaue Ziel dieser Aktivitäten? Wie stellen sich die Bibliotheken – oder andere Helfende – eigentlich vor, was da passiert und was es bringen soll? Ich weiss es nicht, ich fände es aber interessant, es zu wissen. Bin ich der Einzige?)

Literatur

Ackerknecht, Erwin (1923). Vorlesestunden. Berlin: Weidmansche Buchhandlung, 1923

Keller-Loibl, Kerstin ; Brandt, Susanne (2015). Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken. (Praxiswissen Bibliothek.) Berlin: De Gruyter Saur

Keller-Loibl, Kerstin (2012). Bibliothekspädagogische Klassenführungen : Ideen und Konzepte für die Praxis. (2. Auflage). Bad Honnef: Bock + Herchen

kjl&m (2015). ästhetischer, poetischer: Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren. kjl&m 15 (2015) 4

Kruse, Iris ; Sabisch, Andrea (Hrsg.). Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel – Denkspiele – Bildungspotenziale. Müchen: kopaed

Maase, Kaspar (2012). Die Kinder der Massenkultur: Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main ; New York: Campus, 2012

Müller, Sonja (2014). Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs ‒ Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien: Theorie, Geschichte, Didaktik; 88). Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2014

Risebrock, Cornelia ; Nix, Daniel (2013). Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen Leseförderung. (6. Auflage). Baltmanssweiler: Schneider Hohengehren

Verduzco-Baker, Lynn (2015). ‘I Don’t Want Them to Be a Statistic’: Mothering Practices of Low-Income Mothers. In: Journal of Family Issues 36 (2015): 1–29

Fussnoten

1 Es würde halt weniger Forschung sein, die die Leute beruhigt, die gerne irgendwelche „Vorschläge“ für ihre Bibliothek hören möchten. Ich denke ja, wie angedeutet, dass es solche Vorschläge schon in grosser Zahl gibt – und das es nicht die einzige Aufgabe von Forschung sein kann, solche Vorschläge zu sammeln oder sich neu auszudenken. Forschung muss eine kritische Funktion haben, ansonsten ist sie reine Affirmation – und Affirmation gibt es schon zur Genüge. Aber ich habe auch schon die Situation erlebt, dass eine Kollegin erzählte, sie würde gerne solche „interessanten Vorschläge“ hören, sei deshalb auf einer Weiterbildung und fände, es gäbe viel zu wenige dieser Vorschläge – während gleich neben ihr Frau Keller-Loibl, die ja mehrere Bücher mit solchen Vorschlägen geschrieben hat, stand. Die Bücher kannte die Kollegin gar nicht. Das scheint mir noch ein weiteres Phänomen zu sein, mit einer eigenen Fragestellung: Wie entwickelt sich eigentlich die Leseförderung in Bibliotheken? Offenbar nicht einfach so, indem darüber geschrieben wird.

2 Wobei dieses „Aneinander vorbei Schreiben“ auch bei Schulbibliotheken zu finden ist, wo die bibliothekarischen Texte sich fast nur auf andere bibliothekarische Texte beziehen und die pädagogischen/schulpraktischen Texte fast nur auf pädagogische/schulpraktische.

3 Autobiographische Notiz: Habe ich auch. Der Bestand zum Expressionismus der Amerika Gedenkbibliothek war sehr wichtig dafür, in meiner Jugend meine eigene Identität als kulturell interessierter Prä-Hipster zu entwickeln, der halt einfach die ganzen Zeitschriften des Expressionismus kannte und einige sogar gelesen hatte (was auch hiess, Nachmittage in der Bibliothek zu sitzen, zwischen Menschen, die dort Bücher schrieben, und zu lesen – und eben zu der Zeit nicht mit anderen „Aufgaben“, die man so als Jugendlicher hat, beschäftigen zu müssen) – und vor allem damit etwas hatte, was mich von den anderen in meiner Peergroup unterschied (die dafür halt Italienisch lernten und Petrarca im Original lasen – es war vielleicht nicht die durchschnittlichste Peergroup). Insoweit kann ich so eine „unvorhergesehene“ Nutzung gut verstehen, frage mich aber, ob sich im Bibliothekswesen darüber Gedanken gemacht wird, dass sowas passiert – und ob es gut ist.