Sind Bibliotheken einer der wenigen Orte ohne Konsumzwang – und was soll das eigentlich heissen?

Die Bibliothek ist in vielen Gemeinden der einzige Ort ohne Konsumzwang […]‟ (Bibliosuisse 2020: 7) teilen die schweizerischen Richtlinien für Öffentliche Bibliotheken mit. Damit sind sie nicht alleine, vielmehr hört man diese Aussage so regelmässig von Bibliotheken, auch an ganz unerwarteten Stellen, dass man sie als Standardargument ansehen kann. Ein bisschen, als wäre es Teil der bibliothekarischen Folklore.

Beim vBib20 wurde dies beispielsweise bei einem Vortrag zur Nachhaltigkeit von Bibliotheken erwähnt. Neben diesem Vortrag wurde in einem Pad (anonym) diskutiert und diese Aussage dort kritisiert – worauf jemand anders schrieb, vielleicht betriebsblind zu sein, aber nicht zu wissen, welche Einrichtung sich in diesem Punkt mit Öffentlichen Bibliotheken vergleichen liesse. Ich sah diesem Austausch (der noch weiter ging) zu, überrascht: Hätte man mich gefragt, ich hätte mir nicht vorstellen können, dass jemand diese Aussage über den „Ort ohne Konsumzwang‟ im 21. Jahrhundert mit Ernst vorbringen würde und nicht mit Ironie. Aber selbstverständlich: Sie würde nicht so oft gemacht werden, wenn Kolleg*innen sie nicht auch glauben würden. Ich hätte gesagt, es wird vielleicht in der Hoffnung benutzt, andere (die Politik?, die Öffentlichkeit?) davon zu überzeugen, das Bibliotheken etwas Gutes sind (und ich habe die Aussage auch tatsächlich schon von Politiker*innen gehört), ohne das selber zu glauben. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall.

Ich hatte mit dieser Aussage immer Bachschmerzen, die mit den Jahren nur schlimmer geworden sind. In diesem Blogpost würde ich gerne kurz aufdröseln, warum. Vielleicht wird dadurch verständlich, warum die Aussage für mich bestenfalls ironisch klingt.

Ist die Bibliothek wirklich so einzigartig?

Der erste Punkt, der bei dieser Aussage auffällt, ist die Behauptung, dass die Bibliothek mit der angeblichen Konsumfreiheit eine Besonderheit in der Gesellschaft darstellt. Das ist, um es kurz zu sagen, nicht richtig. Nur ein wenig Nachdenken kann andere Einrichtungen anführen, die das auch sind: Parks und Wälder, Jugendclubs, Senior*innenclubs, Spielplätze, staatliche Galerien (und in einigen Ländern auch Museen), Gedenkstätten, freie Badezonen, Wanderwege, Lehrwege, Naturhäuser, viele kleinere Zoos, Märkte und Marktplätze (über die man ja gerade auch wandern kann, ohne etwas kaufen zu wollen), immer mehr Stadt-, Kunst-, Lichtfestivals, Friedhöfe (die ja nicht nur zum Gedenken da sind, sondern auch als interessantes Ausflugsziel – looking at you, Wien).1 Diese Liste wird schnell lang und länger. Und wenn man dann auch noch konkret fragt, was „Konsumzwang‟ genau heisst (also, , um es hier einfach zu machen, ob man wirklich etwas kaufen muss), wächst sie sogar noch mehr. Starbucks betont auch immer und immer wieder, dass man nichts kaufen muss. In Stammkneipen konnte man immer auch so rumhängen, wenn man „dazugehörte‟. Viele Bahnhöfe mögen jetzt zwar umgebaut worden sein, um dort mehr zu konsumieren – aber immer widersetzen sich dem Leute und hängen dort eher rum. Kurz: Nein, die Bibliothek ist nicht so einzigartig darin, dass man dort nichts kaufen muss. So einfach gefasst hat dieses Argument noch nie gestimmt.

Und wenn man es genau nimmt, stimmte es ja auch nie, dass in der Bibliothek kein Geld fliesst. Sicherlich: Ausser der Jahresgebühr (und die nicht überall) muss kein Geld fliessen, um eine Bibliothek zu nutzen. Aber es fliesst trotzdem ständig, beispielsweise für besondere Leistungen. Nicht umsonst haben Bibliotheken Gebührenordnungen. Und seit Bibliotheken Cafés einrichten und sich vorstellen (und es ermöglichen, zum Beispiel indem am Arbeitsplatz getrunken werden darf) das Menschen lange Stunden in ihnen verbringen und sich dann in diesen Cafés versorgen, fliesst noch mehr Geld. Sicherlich: Man darf auch in die Bibliothek ohne das jeweilige Café zu nutzen. Aber genau das darf man im Starbucks auch.

Insoweit ist das Argument faktisch nicht richtig. Aber das muss es noch nicht ganz falsch machen. Nehmen wir an, „ohne Konsumzwang‟ wäre etwas Positives: Dann wäre es ja auch gut, wenn es mehr als eine Einrichtung gibt, wo das gilt. Man sollte dann vielleicht nur nicht mehr davon reden, dass die Bibliothek das als Besonderheit hat.

Was soll das sein, „ohne Konsumzwang‟?

Ein weiteres Problem mit dem Statement ist allerdings, dass nicht so richtig klar ist, was genau damit eigentlich gesagt werden soll. Es wird im Allgemeinen gebracht, als wäre es selbsterklärend und wird also nicht weiter erklärt. Es scheint sehr klar, dass es etwas Positives sein soll. Aber wie genau, dass muss man raten. Vielleicht soll es ja heissen, dass die Bibliothek offen für alle ist, weil sie keinen Eintritt nimmt und weil man niemanden zwingt, etwas zu kaufen? Ich könnte mir vorstellen, dass das oft der Hintergrund dieser Aussage sein soll.

Was spricht im Kapitalismus für Bibliotheken gegen Konsum?

Aber das ist nicht per se logisch: Wir leben im Kapitalismus (egal, ob man jetzt denkt, dass es gut ist das wir das tun), also einer Gesellschaft, in der soziale Beziehungen über Geld vermittelt sind. Sicherlich kann man sagen, dass sollte nicht so sein; Menschen sollten direkte Beziehungen untereinander aufbauen und so weiter. Aber gleichzeitig ist das auch illusorisch, solange man nicht die ganze Gesellschaft verändern will. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Beziehungen oft gut funktionieren über den Tausch von Geld – das ist zum Beispiel einer der Punkte, an dem schon Weber und Marx einer Meinung waren (und beide zeigten auch, dass das erst die Ausweitung der Tauschbeziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft, inklusive der Freiheiten, die dadurch trotz allem entstehen, ermöglicht). Bei einem Angebot praktisch zu sagen, dass es nichts kostet, heisst erstmal also noch nichts per se Positives.

Auffällig ist dieser Widerspruch aktuell noch mehr, wenn diese Aussage vom fehlenden Konsumzwang in den gleichen Texten auftaucht, in denen sich auf Ray Oldenburg und sein Konzept des 3. Ortes bezogen wird. Ich weiss, das Konzept wird auch zitiert, ohne Oldenburg gelesen zu haben. Aber er hat in seinem Buch (Oldenburg 1989), aus dem das Konzept stammt, explizit eine gegenteilige Position bezogen. Geld vermittelt bei ihm soziale Beziehungen, deshalb ist die Möglichkeit, für etwas zu bezahlen, inklusiv: Wer Geld gibt, stellt Beziehung zur restlichen Gesellschaft her und nimmt an ihr teil. Deshalb betont er, dass es wichtig sei für „3. Orte‟, dass sie so billig wären, dass alle sie sich leisten können – und gerade nicht umsonst sein sollen. Das englische Pub lobt er, weil man dort für Pennies (naja, irgendwann mal) ein Bier trinken kann, während andere Personen gleichzeitig in anderen Räumen für mehr Geld mit der Familien essen können: Alle haben Zugang, weil alle bezahlen können. Dinge, die man nicht bezahlt, würden diese Integration nicht leisten.

Sicherlich kann man Oldenburg hier widersprechen. Es ist vielleicht (bestimmt sogar) eine rein ökonomische Sichtweise, die ignoriert, dass Menschen auch auf andere Weise integriert werden können, beispielsweise durch die sichtbare Zugehörigkeit zu einem Staat, der – aus Steuern finanziert – Angebote für alle macht (aber das gilt dann wieder für das fünfhunderste Festival of Lights genauso wie für eine Bibliothek). Aber darauf kann man sich so einfach nicht zurückziehen, wenn man schon selber mit dem Begriff „Konsumzwang‟ argumentiert, also die ökonomische Sphäre hereinbringt.

Ist es vielleicht der Zwang, der stört?

„Ohne Konsumzwang‟ könnte auch heissen sollen, dass Bibliotheken nicht das Ziel hätten, Menschen zum Kauf oder zur Annahme von etwas zu verleiten, während andere Einrichtungen – sagen wir einmal Einkaufzentren – dies zum Ziel hätten.

Auch diese Vorstellung lässt sich eigentlich nicht halten. Zum einen haben Bibliotheken selbstverständlich Ziele, die sie aber anders ausdrücken: Literatur vermitteln, Menschen zum Lesen verführen, Informationskompetenz vermitteln. Hierzu werden ja immer wieder Strategien entworfen und Wege gesucht. (Was nicht heisst, dass sie immer erfolgreich sind, aber das gilt ja auch bei Einrichtungen des Konsums – die können ja auch nicht alles verkaufen, was sie sich erhoffen.) Das nicht direkt zu erzwingen, sondern beispielsweise eher anzuregen (so, dass die Menschen das selber wählen zum Beispiel) ist auch nichts spezifisch nicht-kommerzielles. Die gerade – ich gebe zu, für dieses Argument – eingeführten Einkaufszentren agieren auch so. Auch dort werden immer wieder indirekt Dinge ein- und aufgebaut, die nicht direkt zu mehr Konsum führen, aber offenbar indirekt doch mehr Konsum erreichen wollen: Sitzgelegenheiten, Ausstellungen, Foodcorner, die man auch frei nutzen kann (in Grenzen, solange man sich benimmt, aber das gilt für Bibliotheken auch), aktuell auch offenbar gerne Spendenboxen, um soziale Verantwortung zu zeigen (die man glauben kann oder auch nicht). Kein Zwang, sondern eher Nudging – auch das ist nichts spezifisch Besonderes oder Gutes, das nur für Bibliotheken gilt.

Des bibliothèques pour le socialisme / néo-anarchisme ?

Und nicht zuletzt fällt an dem Begriff ja auch auf, dass Bibliotheken ja gerade keine Einrichtungen sind, die irgendwie in Opposition zu der Gesellschaft stehen, in der Beziehungen über Geld vermittelt sind. Sie wollen keine sozialistische Gesellschaft aufbauen oder Verhaltensweisen einer solchen Gesellschaft einprobieren lassen. (Redecker 2018) Überhaupt: „ohne Konsumzwang‟. Was ist das eigentlich für ein Wort? Wer sagt so was im 21. Jahrhundert? Klingt es nicht auch etwas aus der Zeit gefallen?

Es gibt im Francophonen eine gewisse politische Strömung, die aktive Kapitalismuskritik vor allem darin versteht, weniger zu Produzieren, weniger zu Verbrauchen, lokaler zu Handeln. In der Westschweiz gibt die Zeitschrift „Moins!‟ („Weniger!‟, http://www.achetezmoins.ch), die das vertritt. Im Verlag Éditions La Découverte (https://editionsladecouverte.fr) erschienen einige Bücher, die man der Strömung zuordnen kann (aber viele auch nicht, der Verlag hat einen extrem hohen Output). Oder in Grossbritannien eine Anzahl der Autor*innen, die bei PlutoPress (https://www.plutobooks.com) publizieren. Eigentlich viele Personen, die sich irgendwie auf Ivan Illich beziehen. (Im DACH-Raum vielleicht die Zeitschrift graswurzelrevolution, https://www.graswurzel.net/gwr/.) In Ermangelung einer klaren Bezeichnung dieser Strömung nenne ich sie mal „Neo-Anarchismus‟.2 Wenn Personen aus diesem Umfeld „Konsumzwang‟ sagen, dann hat das eine Verbindung zu ihrer Gesellschaftkritik und ihrer politischen Praxis. In der „Moins!‟ werden zum Beispiel kontinuierlich irgendwelche selbstverwalteten Initiativen, Kommunen, Fahrrad-Werkstätten, Bauernhöfe vorgestellt, dies sich irgendwie mit dieser Strömung in Verbindung bringen lassen. Wenn die Leute dort sagen, dass sie „ohne Konsumzwang‟ leben wollen, dann passt das Wort dort. (Ob es funktioniert, das ist eine andere Frage.)

Aber bei Bibliotheken, die ja nicht diesen neo-anarchistischen Kreisen zugehören, klingt das Wort halt auch kontextlos. Die oben zitierten schweizerischen Richtlinien für Öffentliche Bibliotheken führen sonst eher Begriff aus anderen Zusammenhängen an, beispielsweise solche Sätze: „Die Optimierung der Betriebsabläufe und der Angebote steht im Dienst der Kundschaft. Effektives und effizientes Handeln sowie marktorientiertes Denken sind Konstanten der Betriebsführung. Bibliotheken setzen sich Ziele und kontrollieren permanent deren Umsetzung, sie überprüfen periodisch ihre Organisation sowie die Arbeitsabläufe. Mit gezielter Lobbyarbeit stärken sie ein positives Image.‟ (bibliosuisse 2020: 6)3 Das Argument mit dem fehlenden „Konsumzwang‟ ist auch deshalb wenig glaubwürdig, weil es nicht in den sonstigen Diskurs von Bibliotheken über sich selber passt. Es scheint entweder aus einem anderen Kontext oder aus einer anderen Zeit (oder beidem) zu stammen.

Was hiess „ohne Konsumzwang‟ früher?

Mir scheint eine andere Erklärung für dieses Argument viel passender, als die Vermutung, dass Bibliotheken sich in Wirklichkeit hinter der Suche nach Best Cases, Professionalisierung, Bestimmung von Kennzahlen und so weiter nur verstecken, um ihre eigentliche neo-anarchistische Zielsetzung zu verschleiern. Viel überzeugender ist für mich die Vermutung, dass es aus einer anderen Zeit stammt, aber im bibliothekarischen Diskurs kontinuierlich reproduziert wird. (Ich gebe zu, dieses Argument wiederholt sich bei mir mit einige Themen und die folgende Geschichte habe ich jetzt auch schon ein paar mal erzählt.)

Bibliothekarische Polemiken, Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert

Die Geschichte der Einrichtungen, die wir heute als Öffentliche Bibliotheken kennen, beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, Pi mal Daumen mit der Industrialisierung beziehungsweise in deren Schlepptau: Als die Städte urbanisiert waren, die Arbeiter*innen als eigene Schicht (oder Klasse) auftraten (sich selbst organisierten, aber gleichzeitig den Rest der Gesellschaft so auch dazu brachten, darüber nachzudenken, wie man auf diese neue Schicht reagieren sollte), als die Alphabetisierung weit genug verbreitet war und die Druckindustrie technisch und organisatorisch in der Lage war, billig Massenauflagen zu produzieren, beginnt die eigentliche Geschichte der Öffentlichen Bibliothek.4

Was wichtig zu erinnern ist, ist Folgendes: Wie die Öffentliche Bibliothek aussehen, was ihre Aufgaben sind und von wem sie getragen werden sollte (finanziell, aber auch politisch) war damals keine ausgemachte Sache. Es gab verschiedene Formen von Bibliotheken, nicht eine Öffentliche Bibliothek. Es gab teils heftige Auseinandersetzungen und Polemiken zwischen Aktiven in diesen unterschiedlichen Bibliotheksformen. Genauso, wie die entstehende moderne Gesellschaft massive Friktionen durchlief, galt dies auch für das Bibliothekswesen. Als wichtige Bibliotheksformen der damaligen Zeit sind zu erwähnen:

  • die Lesehallen (die sich als unpolitische Einrichtungen verstanden, die einen liberale Zugangspolitik pflegten, der Volksbildung – wir kommen gleich dazu – dienen sollten und die forderten, von den Gemeinden finanziert zu werden)
  • die Arbeiterbibliotheken (die der sozialistischen Bewegung – und ihrer Spaltungen – verpflichtet waren, sich als Bildungseinrichtungen für das Proletariat verstanden, die das politischen Ziel einer sozialistischen Gesellschaft hatten und die finanziert wurden von der Bewegung selber, also durch Partei, Gewerkschaften, proletarischen Bildungsvereine (siehe auch: Schuldt 2019))
  • die katholischen Bibliotheken (die vom politisch organisierten Katholizismus getragen wurden, der insbesondere während des „Kulturkampfes‟ Ende des 19. Jahrhunderts entstand – mit der Zentrumspartei im Mittelpunkt, aber tausenden von weiteren Vereinigungen, die um die Kirche herum organisiert waren – um sich gegen den Zugriff des Staates zur Wehr zu setzen, die Mitgliedern der Gemeinden offen standen, die die Ziele des politisch organisierten Katholizismus unterstützten und die von den Kirchgemeinden getragen wurden)
  • Leihbibliotheken, in der Folgezeit (von den anderen Bibliotheken) auch „kommerzielle Leihbibliotheken‟ genannt (Unternehmen, oft mit genau einer Filiale, in denen Bücher und Broschüren verliehen wurden wie später Videos in Videotheken – auf ökonomischer Grundlage, dafür auch durch dieses Geschäft selber finanziert)

Das sind lange nicht alle Formen von Bibliotheken, die es Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts gab, aber die wichtigsten.5 Wichtig ist auch zu erinnern, dass das keine monolithischen Bewegungen waren: Teilweise waren die Grenzen fliessend, oft gab es Auseinandersetzungen innerhalb der einzelnen Bibliotheksformen.6 Für das eigentliche Thema dieses Blogposts, der Frage wo die Aussage, Bibliotheken wären Orte „ohne Konsumzwang‟, herkommt, werde ich mich hier auf die Lesehallen fokussieren. Aber wenn man die Zeit hat, kann man das selbstverständlich noch weiter auffächern.

„Konsumzwang‟ als polemisches Argument

Fast alle diese Bibliotheken grenzten sich voneinander ab, insbesondere die, die sich als Bewegung (oder Teil einer Bewegung) verstanden und dafür auf eigene Medien zurückgreifen konnten. Die Leihbibliotheken sahen sich nicht wirklich als gemeinsame Bewegung (mit Ausnahmen) und äusserten sich praktisch kaum zu den Angriffen auf sie. (Auch wenn es einige Publikationen gab wie „Der Leih-Bibliothekar‟, 1885-1891.) Dafür waren sie verbreitet und existierten entgegen aller Angriffe bis in die 1950er, 1960er Jahre hinein.

Lesehallen hingegen wussten sich zu äussern: In Zeitschriften (eigenen, wie den „Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen‟, 1900-1919 oder den „Eckart: ein deutsches Literaturblatt‟, 1906-1915 oder inhaltlich nahen wie den „Comenius-Blättern für Volkserziehung‟), in Broschüren, Büchern, Eingaben, Artikeln und anderen Formen. Wir wissen also recht viel darüber, was zumindest in den Leitungen der Lesehallen gedacht wurde.

Lesehallen verstanden sich, wie oben gesagt, als unpolitisch. Aber selbstverständlich waren sie das nicht. Unpolitisch im Deutschen und Österreich-Ungarischen Kaiserreich und dann vor allem anschliessend in der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik hiess, eine bestimmte politische Position einzunehmen, die allerdings als über der Politik verstanden wurde: Geteilt wurden hier Vorstellungen von Volk, Gesellschaft, Autorität, Kaiser und später Demokratie, die heute eindeutig rechts einzuordnen wären. Die Vorstellung, dass es eine geistige Elite gäbe, die das Volk führen müsste; dass es Werte gäbe, die in jeder Regierungsform gelten, auch, dass diese Autorität nicht erklärt werden müsse, sondern – wenn man nur richtig schaut – für sich selbst verständlich würde, war Teil dieser Idee des „Unpolitischen‟. Jede Einführung in die Geschichte der Weimarer Republik, der Ersten Republik oder auch der Gesellschaft der beiden Kaiserreiche schildert diese bürgerliche Elite, die sich der Mitarbeit an der Demokratie mindestens verweigert, teilweise auch an ihrer Abschaffung mittat und das immer mit dem Verständnis, grössere Zeitzusammenhänge zu verstehen als „die Massen‟. Sie war einer Form von Romantik verpflichtet, die angeblich fühlend geistige Wahrheiten erkennen würde, die nicht rational zu erfassen wären.

Teil dieses „unpolitisch sein‟ war ein gewisses Verständnis davon, was „Volksbildung‟ heissen sollte – auf das sich die Lesehallen explizit bezogen. Diese wurde als ästhetische Bildung verstanden, in welcher das Volk – hier: die Massen, die nicht zu Elite gehörten, aber auch schon mit genügend Anklängen an das „völkische‟ – die ihm innewohnenden Eigenheiten erkennen und entwickeln sollte und sich damit gegen „Vermassung‟ und andere Charakteristika der Moderne wehren sollten. Das ging schnell vom Individuum über zu angeblich natürlichen Gemeinschaften, die mit „Volksbildung‟ ihr wahres Wesen erkennen lernen würden. Volksbildung hiess ein gefühlsmässig verstandene und vermittelte Ästhetik in Kultur, Literatur und anderen Bereichen zu vermitteln, die immer gegen „Vermassung‟ stehen sollte. Verband man das mit sozialem Anspruch landete man vielleicht bei Arts and Crafts-Bewegung, der Lebensreformbewegung oder den Wiener Werkstätten, aber wohl öfter bei solchen ästhetischen Programmen wie denen im George-Kreis oder solchen Vereinigungen wie den „Vereinigten Prüfungsausschüssen‟, die in ihrer Zeitschrift „Jugendschriften-Warte‟, 1893-1933, auf der Basis solcher ästhetischen Urteile, die vor allem aus sich selbst heraus erklärt wurden, Literatur bewerten und solche, die sie als „Schmutz und Schund‟ bezeichneten bekämpfen wollten.7

Das waren alles vor allem Abwehrbewegungen gegen die Moderne, wie Kaspar Maase (2012) vollkommen richtig gezeigt hat: Die Eliten hatten Angst vor den Massen, die sie eigentlich erst mit der Industrialisierung geschaffen hatten. Einige fühlten sich den Massen überlegen und wollten, dass dies so bliebe. Andere sahen eine neue Gesellschaft herankommen, in denen die Massen sich durchsetzen würden, und wollten die Massen auf dem Weg dorthin erziehen, damit sie eine bessere Gesellschaft einrichten würden. Immer ging es um irrationale Ängste.

Und aus dieser Zeit und diesem Denken stammen die Lesehallen: Der Literatur wurde ein Wert zugeschrieben, weil sie zur Bildung des Volkes da sein sollte. Wie genau das funktionieren sollte, was Volk genau hiess und wie gute und schlechte Literatur aussehen: Das war immer offen für Diskussionen und Interpretationen, gerade weil das alles immer politische Frage sind, auch wenn behauptet wurde, dass sie nicht politisch wären. Eine der Einrichtungen, die für die Lesehallenbewegung als Einrichtung dieser Vermassung galt, weil sie „Massenliteratur‟, „Schund und Schmutz‟ verbreiten würden, waren die „kommerziellen Leihbibliotheken‟.

Das „Problem‟ war immer da: Volksbildungsbewegung, Lesehallen, Verbände von Lehrpersonen und Bibliothekar*innen, auch oft die Politik und Polizei versuchten gegen die „schlechte‟ Massenliteratur vorzugehen – und trotzdem gab es sie immer weiter, wurde sie immer weiter gelesen. Irgendwer musste daran Schuld sein. Heute würden wir sagen, das war halt das, was die Leute lesen wollten. (Und wir würden auch darauf verweisen, dass die ganze Einteilung in Schund und Schmutz auf der einen und guter Literatur auf der anderen Seite immer Unsinn war; vor allem, dass die Literatur, die dabei als schlecht verworfen wurde, viel differenzierter war, als in der Polemiken gegen sie dargestellt.) Aber von den Grundthesen der Volksbildungsbewegung her kann das nicht sein, sondern jemand musste diese Literatur verbreiten, um die Massen zu, well, „Vermassen‟.

Leihbibliotheken wurde vorgeworfen, dass sie aus kommerziellen Interessen Literatur anschaffen und verbreiten würden. Literatur, die „niedere Instinkte ansprechen‟ würde, nicht kunstvoll gestaltet sei, sondern grob. Inhaltlich schlecht: Action, Romanze, Erotik, schnelle Geschichten, die vor allem Sinne reizen, aber nicht zur Ausbildung eines Individuums beitragen würden. Literatur, die schnell weggelesen und Appetit auf noch mehr davon machen würde. Eine Droge, die die Massen dumm halten würde – Schund halt. („Opium für das Volk‟ hätte man in der Lesehalle nicht gesagt, dass Zitat wäre damals zu geladen gewesen – aber ungefähr so war es gemeint.) Dies alles würde sich daraus ergeben, dass die Leihbibliothek eine kommerzielle sei – eine, die immer auf das Geschäft schauen müsste.

Und hier kommen wir dazu, woher die Aussage, Bibliotheken (eigentlich Lesehallen) seien Einrichtungen „ohne Konsumzwang‟, wohl stammt: Aus der Polemik der Lesehallen gegen die „kommerziellen Leihbibliotheken‟. Es war eine Abgrenzung: Leihbibliotheken müssten Geschäfte machen, Lesehallen würden sich der Volksbildung zuwenden. Leihbibliotheken würden Schmutz und Schund verbreiten (müssen), die Lesehalle gerade nicht. Leihbibliotheken würden die „Vermassung‟ vorantreiben, Lesehallen hingegen Volksbildung betreiben. „Ohne Konsumzwang‟ hiess in diesem Zusammenhang nicht, dass individuell in der Bibliothek nichts bezahlten werden müsse, sondern dass sie gegen die als Problem wahrgenommen Entwicklungen der modernen Gesellschaft stehen würde: Konsum als instinkthaftes Handeln der ungebildeten Masse (im Gegensatz zum kulturellen Konsum der Gebildeten).

In diesem Zusammenhang macht das Argument auch mehr Sinn, weil es einen Kontext hat (so, wie es heute im neo-anarchistischen Diskurs einen Kontext hat, wenn auch einen sehr anderen). Man kann diesen Kontext (mit guten Gründen) falsch finden, aber es ist immerhin in gewisser Weise folgerichtig. Es passt von der Sprache auch viel mehr in diese Zeit und diese Denkweise als in die Sprache, die heute von Bibliotheken genutzt wird. Die Aussage war keine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, sondern eine Abwehr von spezifischen Entwicklungen der Moderne – unter anderem dem, dass immer weitere Teile der Bevölkerung ein Surplus an Einkommen hatten, die sie zur Entwicklung einer eigenständigen Kultur einsetzen konnten und das ein Markt für literarische Erzeugnisse (und andere, die Entwicklung des Kinos und die Reaktionen von Bibliotheken darauf sind zum Beispiel nochmal eine eigene Geschichte) entstand, der auf diese Surplus-Einkommen ausgerichtet war, also eher billige Massenprodukte, von denen viele verkauft werden mussten, um einen Gewinn zu produzieren, publizierte als teure Sonderdrucke.

Hat die Geschichte Relevanz?

Eine der Grundfragen bei solchen historischen Herleitungen ist immer, ob diese Geschichte heute eine Relevanz hat: Die Gesellschaft hat sich offensichtlich verändert, die Bibliotheken auch (um nur die auffälligste Veränderung zu unterstreichen: Es gibt jetzt nur noch eine Form Öffentlicher Bibliotheken, nicht mehrere). Und trotzdem wird diese Aussage – aber andere nicht mehr – laufend immer wieder gebracht. Hat sich vielleicht den Inhalt verändert und meint jetzt einfach etwas ganz anderes? Lohnt sich die Suche in der Geschichte dann überhaupt?

Ja, auf jeden Fall. Begriffe, Argumente, Dinge, „die man so daher sagt‟ (gerade die, weil halt ohne grosse Reflexion) schleppen immer die Bedeutung mit, die sich in ihrer Geschichte gebildet hat. Sie haben Bedeutung, weil sie oft ein Denken verlängern, selbst wenn sich die Situation vollkommen geändert hat, aus der dieses Denken stammt, und die aufgerufen werden, auch wenn die, die sie aufrufen, sich nicht darüber im Klaren sind (oder, schlimmer, sich weigern, sich darüber klar zu werden). Das gilt auch für die auf den ersten Blick vielleicht unschuldige Aussage, Bibliotheken seien Orte „ohne Konsumzwang‟. Diese stammt aus einer Zeit, in der sich diejenigen, welche Lesehallen forderten, als Elite verstanden, welche das Recht hätten, „die Massen‟ davon abzuhalten, eine eigene Kultur inklusive einer eigenen Mediennutzung auszuprägen und stattdessen sie auf Ideal zu verpflichten, welches die Eliten für richtig und natürlich ansahen.8 Hat die Aussage diese Geschichte wirklich verloren? Sagt man mit ihm nicht auch weiterhin, die Kultur, die da zum Beispiele Jugendliche beim Cornern im Einkaufszentrum ausprägen oder die Kultur, die in der Stammkneipe entsteht, sei Konsum: Irgendwie falsch, zumindest nicht richtig gut. Nicht verboten, aber auch nicht richtig. Erhebt man die Bibliothek durch das Argument nicht auch weiterhin zu einer Einrichtung, die irgendwie ausserhalb der Gesellschaft steht?

Fazit: Aussagen bedenken

Also: Sollten man die Aussage weiter als Argument verwenden? Nein, sie ist faktisch einfach nicht richtig. Sie ist inhaltlich nicht genügend geklärt, um zu überzeugen. Und sie hat eine Geschichte, die man beenden, nicht verlängern sollte.

Aber das scheint mir gar nicht das Wichtigste zu sein. Interessanter finde ich festzustellen, dass offenbar eine ganze Anzahl von Kolleg*innen immer weiter Argumente und Behauptungen als richtig und sinnvoll ansieht, die ich – und andere – eigentlich immer nur als ironische Aussage verstehen können. Das habe ich beim Nachdenken über dieses Argument gelernt. Warum ist das so? Was finden Kolleg*innen an solchen Aussagen und Argumenten richtig? Ich muss zugeben, dass ich daran immer noch knabbere: Ich hoffe, dass an diesem Beispiel hier sichtbar geworden ist, dass es eigentlich nicht viel Arbeit bedeutet, zu zeigen, dass die Aussage nicht stimmen kann. Das ist mit anderen Argumenten, die oft für Bibliotheken gebracht werden, nicht anders. (Vor nicht zu langer Zeit habe ich das zu dem Argument, Bibliotheken würden „Armut beim Zugang zu Medien ausgleichen‟ auch schon mal diskutiert.) Was aber ist dann ihre Funktion? Verlängern sie veraltete Vorstellungen? Bieten sie Orientierung? Gibt es einfach keine besseren Argumente mehr? Darüber sollten wir alle mehr nachdenken.

Gleichzeitig ist das hier selbstverständlich ein Plädoyer dafür, Begriffe und Argumente nicht einfach zu übernehmen, sondern gerade dann, wenn man sie selber als für sich selbst-erklärend und richtig versteht, stehenzubleiben und erst einmal die Begriffe zu klären: Was sagen sie eigentlich? Sind sie faktisch richtig? Überzeugen sie auch andere? Wo kommen sie her und welche Geschichte schleppen sie mit? Ist man dann immer noch überzeugt, kann man sie wohl verwenden. Aber in vielen Fällen, so bin ich überzeugt, werden sie das dann nicht mehr sein. (Was nur die Argumente, die man dann doch macht, besser machen wird.)

 

 

Literatur

Bibliosuisse (2020). Richtlinien Öffentliche Bibliotheken 2020: Grundlagen und Empfehlungen zu Personal, Infrastruktur, Angeboten und Leistungen, Qualitätsmanagement. Aarau: Bibliosuisse, 2020, https://bibliosuisse.ch/Dokumente/Angebote/Downloads/Richtlinien-Öffentliche-Bibliotheken

Maase, Kaspar (2012). Die Kinder der Massenkultur : Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus, 2012

Oldenburg, Ray (1989). The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York: Paragon House, 1989

Redecker, Eva von (2018). Praxis und Revolution: Eine Sozialtheorie radikalen Wandels. Frankfurt, New York: Campus, 2018

Schuldt, Karsten (2019). Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: LIBREAS 35 (2019), http://dx.doi.org/10.18452/20324

Vodosek, Peter (Hg.) (1978). Vorformen der öffentlichen Bibliothek (Beiträge zum Büchereiwesen. Reihe B, Quellen und Texte ; 6). Wiesbaden : Harrassowitz, 1978

 

Fussnoten

1 Der Zufall will es, dass ich das in einem solchen Café auf einem Friedhof schreibe, keine fünf Minuten von so einem Marktplatz und so einem Zoo ohne Eintritt – aber auch keine fünf Minuten von einer Bibliothek – und vielleicht zehn Minuten von der nächsten staatlichen Galerie ohne Eintritt entfernt schreibe. Sicherlich: Inmitten einer Grossstadt, aber so schwer ist es wirklich nicht, solche „Orte ohne Konsumzwang‟ zu finden.

2 Anarchismus als politische Strömung, die eine Gesellschaft die auf gemeinsamen Absprachen und Assoziationen freier Individuen errichten möchte, nicht Anarchismus als „Chaos‟. Ich hoffe, der Unterschied ist bekannt. Man tue mich auch bitte nicht in diese Strömung, nur weil ich sie kenne. Ich habe sie des Arguments wegen ausgesucht, weil sie halt die sind, in der ich einen Begriff wie „kein Konsumzwang‟ heutzutage besser aufgehoben sehe als in Bibliotheken.

3 Auch hier gebe ich gerne zu, dass ich die Richtlinien wegen dieser Argumentes ausgewählt habe. Aber das macht das Argument nicht falsch – in ihnen (auch weil sie so konzis geschrieben sind) zeigt sich der Widerspruch einfach sehr gut.

4 Selbstverständlich gab es Vorformen, siehe Vodosek (1978).

5 Selbstverständlich gab es zum Beispiel auch Bibliotheken, die von evangelischen Gemeinden getragen wurden, aber diese Kirche war nicht Angriffes des Staates ausgesetzt, wie die katholische und entwickelte deshalb auch keine eigene Bewegung (prägte aber Parteien). Und: Das gilt auch nicht für alle Denominationen. Beim Judentum traue ich mir keine übergeifende Aussage zu, aber selbstverständlich unterhielten die jüdisch-sozialistischen Parteien Bibliotheken, mehr oder minder – wie diese Parteien selber mehr oder minder in der Arbeitebwegung – eingebunden waren in die Arbeiterbibliotheken. Zionistische Vereinigungen unterhielten auch Bibliotheken, wie hätte man sonst für die Alija lernen sollen? Für andere Teil des Judentums weiss ich es bislang nicht. Daneben gründeten auch viele Vereinigungen von Angestellten, auch die, die sich nicht als Teil der Arbeiterbewegung verstanden, Bibliotheken für ihre Mitglieder. Es war eine sehr offene Situation für die gesellschaftliche Entwicklung und so auch für Bibliotheken.

6 Die innerhalb der Lesehallen in den 1910ern und 1920ern ist als „Richtungsstreit‟ bekannt; die innerhalb der Arbeiterbewegung folgten der Ausdifferenzierung der Arbeiterbewegung: Welche politische bewusste Anarchistin hätte sich 1912 schon in einer sozialdemokratischen Bibliothek blicken lassen? Welcher Kommunist in einer anarchosyndikalistischen? Eben.

7 Schund sei Literatur, die „inhaltlich wertlos‟ sei, Schmutz sei solche, die sich „mit niederen Themen‟ beschäftigen, was fast immer hiess mit Sex (Gewalt war nicht so negativ angesehen, vor allem nicht in der militarisierten Gesellschaften der beiden Kaiserreiche).

8 Wie ich in Schuldt (2019) auch dargestellt habe, unterschieden sich Arbeiterbibliotheken in diesem Punkt nicht so sehr von Lesehallen, aber mit einer gewichtigen Differenz: Anstatt das Volk von der „Vermassung‟ abhalten zu wollen, bewerteten sie Literatur aus ihrer Aufgabe heraus, eine bessere Gesellschaft einrichten zu helfen.

„Bibliotheken sind kein Luxus‟ (1973) – Die Bibliothek der Zukunft ist nicht so anders als auch schon

Artikel zu Öffentlichen Bibliotheken sind in Tages- oder Wochenzeitung keine Seltenheit. Zwar nicht täglich, aber doch regelmässig sind Entwicklungen in Bibliotheken Thema grösserer Texte. Und warum auch nicht? Es ist ein Thema, dass sich den Redaktionen offenbar immer wieder einmal aufdrängt, das keinen grossen Widerspruch erwarten lässt und bei dem es zum Beispiel auch nicht schwierig erscheint, Gesprächspartner*innen zu finden. Ich habe hier einmal einen älteren dieser Texte herausgegriffen – und gerade nicht den aktuellsten –, um an ihm etwas zu besprechen: Nämlich, zuerst welche Themen sich wiederholen und dann, was das für die Entwicklung von Bibliotheken heisst.1

Rolf D. Schürch: „Bibliotheken sind kein Luxus‟. In: Wir Brückenbauer, 05. Oktober 1973, Seite 3. Digitalisat der Schweizerischen Nationalbibliothek: https://www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=MIM19731005-01.2.14.1&e=——-de-20–1–img-txIN——–0—–

„Bibliotheken sind kein Luxus‟ von Rolf D. Schürch erschien 1973 in der Wochenzeitung „Wir Brückenbauer‟ des Migros [sprich: Migro], einer Genossenschaft, die heute noch in der Schweiz (und Liechtenstein) neben der Genossenschaft Coop [sprich: Cohp] den Einzelhandel prägt. Lange war insbesondere Migros auch eine politische Institution, die als „sozial-kapitalistisch‟ beschrieben werden könnte (nach kapitalistischen Prinzipien handelnd, aber mit sozialen Auftrag im Sinne der Verbesserung der Lebensverhältnisse – weshalb es zum Beispiel in der Migros weiterhin keinen Alkohol oder Tabak zu kaufen gibt). Sie – zumindest ihr Gründer Gottlieb Duttweiler, aber auch die „Migros-Partei‟ Ring der Unabhängigen – verstand sich als übergreifend für die ganze Schweiz, insbesondere alle Klassen, tätig. Wichtig ist hier: Das in dieser Wochenzeitung ein Text darüber erschien, wie mit einer Einrichtung wie Bibliotheken einem grossen Teil der Bevölkerung Zugang zu Medien und Informationen geschaffen werden könnte, war an sich nicht überraschend. Das passt gut in das Gesamtprogramm von Zeitung und Genossenschaft. Das dabei gefordert wird, dass sowohl Föderalismus der Gemeinden als auch übergreifende Strukturen gefördert werden sollte, ebenso – so funktioniert auch die Migros. Der Ton, in welchem der Text geschrieben ist, passt gut in die Zeitung selber.

Interessanter ist, dass der Artikel in der ersten Hälfte der 1970er erschienen ist; einer Zeit, die von gesellschaftlicher Veränderung und auch tatsächlicher Veränderung im Öffentlichen Bibliothekswesen geprägt war. Zehn Jahre vorher wäre dieser Text nicht erschienen. 1963 wurde über Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum anders gesprochen und geschrieben. Aber – und auf diesen Punkt möchte ich am Ende wieder kommen – zehn Jahre später oder auch heute könnte dieser Text in grossen Teilen weiter so erscheinen. Er wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, wo sich (im Bibliothekswesen, aber nicht nur da) viel veränderte, was sich seitdem aber wenig änderte.

Der Text ist nicht nur ein Beispiel dafür, dass sich das Bibliothekswesen nicht so viel geändert hat, wie es das vielleicht gerne hätte und das viele Vorstellungen zwar neu erscheinen, aber es eigentlich nicht sind. Er ist auch ein Beispiel dafür, dass Journalist*innen seit einigen Jahrzehnten immer wieder ähnliche und sich wenig verändernde Texte über das Bibliothekswesen schreiben.

Themen

Ich empfehle, den Artikel (plus die Bildunterschrift und die beiden „Kästchen‟ auf der Zeitungsseite) selber zu lesen. Hier werde ich, ein wenig voraussetzend, dass er bekannt ist, einige Themen aus dem Text besprechen.

Das Buch und die moderne Medienentwicklung

Warum wurde der Text überhaupt geschrieben? Sicherlich: Es ist ein Text in einer Wochenzeitung, die nicht nur der politischen Information, sondern auch der Unterhaltung und, ähm, der Information über Angebote bei Migros und zu Migros gehörender Einzelhandelsunternehmen bieten wollte (Cassettobox für 24 Kassetten bei exlibris für 8 CHF – das waren andere Zeiten (S. 15)). Insoweit muss nicht jeder Text einen klar erkennbaren Grund haben. Die gleiche Ausgabe enthält zum Beispiel einen Fortsetzungsroman (S. 14), eine als Gespräch getarnte Diskussion darüber, wer dafür haftet, wenn ein Hund ein Kind beisst (S. 6) und eine Kolumne dazu, wie viel oder wenig Kühlschränke auf Bakterien und Viren in Lebensmitteln einwirken (S. 2). Aber es finden sich auch zahlreiche Artikel, die einen explizit aktuellen Inhalt haben und zum Beispiel auf die Situation der Erwachsenenbildung nach der Ablehnung der Bildungsartikel in einer Volksabstimmung eingehen (S. 1), politische Ereignisse kommentieren (S. 1, S. 4, S. 8) oder Entwicklungen in der Migros selber schildern (S. 2).

Für den Text über Bibliotheken aber gibt es keinen erkennbaren Grund: Kein Neugründung, kein Jubiläum, keine Katastrophe. Es scheint, als wäre die Redaktion der Meinung gewesen, dass es einmal Zeit für dieses Thema wäre. Sie führt den Artikel wie folgt ein:

„Angesichts der Entwicklung neuer Informationsmedien wurde dem Buche bis vor kurzem der langsame Tod vorausgesagt. Der schwarze Pessimismus scheint nun aber zumindest verfrüht. Nach wie vor steigt weltweit die Zahl der produzierten Bücher ebenso wie die Beliebtheit der Bibliotheken, vorab in angelsächsischen und skandinavischen Ländern. Ein wachsendes Bedürfnis nach mehr Wissen und Information in unserer Zeit lässt die Bibliothek längst nicht mehr als Luxus für wenige erscheinen.‟

Wir sehen hier die Annahme, dass es offenbar die weit verbreitete Vermutung gibt, dass „neue Informationsmedien‟ das Buch verdrängen würden – aber diese Vermutung falsch wären. Es wird nicht gesagt, welches diese neuen Informationsmedien sind. Auch nicht, wer genau denn eigentlich erwartet, dass diese neuen Informationsmedien Bücher verdrängen würden. Stattdessen informiert die Redaktion hier, dass Bibliotheken weiterhin wichtig seien.

Diese argumentativen Sprünge finden sich nach den 1970ern in zahllosen vergleichbaren Texten:

  • Die Behauptung, es gäbe die Vermutung, dass bestimmte neue Medien oder Technologien sich durchsetzen und deshalb Bücher an Bedeutung verlieren würden. Welche diese Medien oder Technologien sind, wandelt sich: In den 1970er redet man zum Beispiel über Kassetten, in den 1980ern über Videokassetten, in 1990ern über Computer in Haushalten, in den 2000ern über das Internet, irgendwann auch über E-Books oder über Audiobooks. Aber immer gibt es die Idee, dass irgendwer erwarten würde, dass diese Medien gerade Bücher obsolet machen würden. Kaum einmal (auch nicht hier) wird gesagt, wer genau das vermutet oder warum eigentlich. Es wird einfach als bekanntes Bild aufgerufen.
  • In den Texten – manchmal, wie hier, direkt am Anfang, manchmal auch im Laufe des Textes – stellt sich dann heraus, dass das gar nicht stimmt. Anschliessend ist das dann für den Text selber kein Thema mehr, sondern oft nur ein Aufhänger für das eigentliche Thema. Aber immer wieder praktisch der gleiche Aufhänger.
  • Der Artikel springt von der Aussage, dass Bücher doch nicht verschwinden, sofort zu den Bibliotheken. Man könnte auch zum Buchhandel, zu Verlagen, zur Leseforschung oder Medienentwicklung springen – es ist also vom Beginn her eigentlich nicht ausgemacht, dass es um Bibliotheken geht. Aber auch dieser Sprung von Büchern direkt zu Bibliotheken, der nicht wirklich erläutert wird, findet sich in solchen Texten regelmässig. Für die Autor*innen scheint dieser Sprung nicht der Erläuterung würdig.

Die Bibliothek als etwas anderes, nur keine Bibliothek

Der eigentliche Text beginnt dann mit einem Café crème. Es gibt ihn hier noch nicht wirklich, sondern erst in einer „Bibliothek der Zukunft‟, aber offenbar einer, die sehr, sehr kurz bevorsteht. Worauf der Artikel auch gleich kommt, ist dass diese Bibliothek etwas anderes ist. Etwas, das man am Besten mit anderen Einrichtungen beschreibt:

„ Herr Bücherwurm befindet sich nämlich weder in einem Tea Room noch in einem Restaurant: Er sitzt in einer Bibliothek der Zukunft.‟2

Was der Text sagt, ist, dass es in Zukunft um Bibliotheken um etwas anderes geht, als um das, was offenbar als normal angesehen wird. Die Bibliothek wird dann etwas mehr sein, als sie bislang ist. Sie wird gemütlich sein, mehr (und andere) Menschen als bislang ansprechen, mehr Funktionen übernehmen:

„Diese Bibliothek ist im Stadtquartier Informationszentrum und Begegnungsstätte zugleich. Hier fühlen sich Heiri Hablützel (angelernter Fräser) und Vreni Fuhrimann (Nurhausfrau) ungeniert wohl. Bisher haben sie wie Lokomotivführer Bücherwurm und viele andere Leute aus lauter Angst und Misstrauen vor Büchern und Bildung einen weiten Bogen um Bibliotheken gemacht.‟

Dieser Absatz ist paradigmatisch dafür: Empirie wird nicht betrieben (Zum Beispiel: Wer besucht eigentlich bislang Bibliotheken? Das wird eher als bekannt vorausgesetzt.). Stattdessen werden Begriffe, die aktuell in der bibliothekarischen Literatur verbreitet sind, benutzt – hier „Informationszentrum‟ und „Begegnungsstätte‟, zwei Begriffe, die man in den frühen 1970ern zum Beispiel in der „Buch und Bibliothek‟ oft lesen konnte. Was diese Begriffe im Bezug auf Bibliotheken heissen, wird nicht richtig ausgeführt. Sind sie für sich alleine, als Begriffe, ausreichend? Wo kommen sie überhaupt her? Hat sich der Autor sie ausgedacht? Lagen sie „in der Luft‟? Es scheint eher, als hätte er sie aus den Interviews – die er ja im Artikel auch direkt zitiert – und der Recherche, die er für den Artikel durchgeführt hat, übernommen. Hier, in diesem Text, ist sogar ein Gespräch (mit Tista Murk) angegeben, in dem der Begriff „Informationszentrum‟ direkt fällt.

Es scheint, als wären sie als Begriffe überzeugend genug, um eine Veränderung anzuzeigen, ohne das geklärt wird, wie genau das vonstatten gehen soll. Es gibt Andeutungen: Diese neuen Bibliotheken würden bestimmte Bevölkerungsschichten ansprechen, hier als Arbeiter und Hausfrau gekennzeichnet, die sich bislang davon abhalten lassen würden, eine Bibliothek zu nutzen, weil diese einen falschen Ruf hätte und zudem bislang offenbar als fern von ihren eigenen Lebenswelten angesehen würde. Und zwar dadurch, dass die Bibliotheken gemütlich (durch Café crème oder auch die Einrichtung, die im gleich an diesen Absatz folgenden Zitat von Heinrich R. Rohrer erwähnt wird) und das Medienangebot breit würde.

Gleichzeitig soll die Bibliotheken neue Aufgaben übernehmen, was unter dem Begriff das „Informationszentrum‟ und später im Text mit „moderne[r] Informationsmanager‟ dargestellt wird. Was genau heisst das? Das wird nicht gesagt, aber – wieder weiter hinten im Text – es ist etwas anderes als „alte Schwarte[n]‟ oder das Spitzweg‛sche Gemälde vom lesenden „Bücherwurm‟.

Ebenso gleichbleibend scheint, dass Bibliotheken als schon auf dem Weg hin zu dieser „Bibliothek der Zukunft‟ gezeichnet werden: Noch nicht ganz da, aber doch auch schon nicht mehr „wie früher‟. Das scheint eines der Grundmotive dieses Artikels zu sein: Die Bibliotheken bewegen sich – die Politik oder die Gesellschaft müsse jetzt nur mitziehen.

Heute haben sich die Begriffe geändert, unter denen ähnliche Ideen im Bibliothekswesen besprochen werden. Wenn Journalist*innen für ihre Artikel mit Bibliothekar*innen über die Veränderungen in Bibliotheken reden, kommen diese neueren Begriffe auf und erscheinen dann wohl deshalb – ebenso wenig konkret geklärt wie das „Informationszentrum‟ – in ihren Artikeln, vielleicht weil sie ähnlich überzeugend klingen, aber inhaltlich offen bleiben. Es gibt heute tatsächlich auch in eigentlich allen schweizerischen Bibliotheken einen Café crème. Aber sonst scheint sich nicht so viel verändert zu haben.

Wachstum

Was ist eigentlich das Problem?

„1948 wurden hier [in der Berner Volksbücherei

] bei einem minimen Bücherbestand von nur 4000 etwas über 17 000 Bände ausgeliehen, 1961 waren es bei einem Bestand von 17 120 Büchern schon 57 045. Im Jahre 1971 aber offerierte die Volksbücherei bereits rund 117 000 Bücher – vom Kinderbuch bis zum Sachbuch – mit der Rekordzahl von 444 445 ausgeliehenen Werken.‟

Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz sind, folgt man dem Artikel, 1973 massiv erfolgreich. Mehr Entlehungen, mehr Nutzende, mehr Projekte, die in die Zukunft gerichtet sind, sogar mehr Bibliotheken. Es ist, wie gesagt, gar kein Text darüber, dass es Bibliotheken schlecht gehen würden oder gar das sie vor dem Zusammenbruch stehen würden. Wie oben gesagt: Warum genau der Text geschrieben wurde, ist nicht ersichtlich.

Es scheint eher, als wäre alles auf einem guten Weg. Die Politik müsste es nur noch richtig unterstützen, damit es noch besser würde. Es gäbe schon Einrichtungen, die eine solche Ausweitung unterstützen könnten und Vorstellungen, wie diese Veränderungen zu bewerkstelligen wären. Es gibt in diesem Text auch niemand, welche*r dieser Entwicklung irgendwie widerspricht und zum Beispiel sagen würde, „nein, Bibliotheken braucht es nicht‟ oder „das Geld wäre aber besser bei der Feuerwehr / dem Stadtverschönerungsverein / dem Tourismus / mehr Tea Rooms angelegt‟. Vielleicht ist die lokale Politik etwas schwerfällig hinterher, aber sonst: Was ist eigentlich das Problem?

Auch das ist in solche Texten normal: Folgt man solchen Artikeln, ist eigentlich das meiste immer schon auf einem guten Weg.

Fortschritt

Der Artikel ist auch voll von Entwicklungen, die als positiv dargestellt werden. Neben der Zunahme an Bibliotheksnutzung („Benützerexplosion‟) vor allem Projekte und neue Strukturen: „Hilfe zur Selbsthilfe‟ beim Aufbau von Bibliotheken durch die Schweizerische Volksbibliothek, Wachstums des Schweizerischen Bibliotheksdienstes, Schweizerischer Gesamtkatalog, die bevorstehende Gründung von drei Bibliothekscentern in drei Sprachregionen (das Räto-Romanische geht mal wieder leer aus). Was auffällt ist, dass Fortschritt vor allem als Aufbau von neuen Strukturen und von Projekten beschrieben wird. Sicherlich: Das ist etwas, über das man in einem Artikel dieser Art gut berichten kann, insoweit hat es vielleicht auch etwas mit dem Medium Wochenzeitung zu tun. Aber es ist doch eine spezifische Vorstellung von Fortschritt, die hier geschildert wird – eine, bei der zum Beispiel nicht so richtig gefragt wird, was dieser Fortschritt genau verändert. Auch das findet sich heute noch in ähnlichen Texten wieder.

Spitzweg

Wenn überhaupt ein Problem angesprochen wird in diesem Text, dann, dass es bislang bei vielen Menschen ein falsches Bild von Bibliotheken gäbe. Deswegen auch wird Spitzweg‛s bekanntes Bild – dessen Bibliothekar aber eigentlich gar nicht in einer Volksbibliothek steht – erwähnt. Die Behauptung zieht sich durch den Text: Bibliotheken würden schon hübscher, ansprechender, mehr, gemütlicher, relevanter für den Alltag (wenn man „Informationszentrum‟ so verstehen will) werden, aber es gäbe einfach ein altes Bild von Bibliotheken, dass Personen davon abhalten würde, diese neuen Bibliotheken zu besuchen.

Stimmt das? Welche Bilder haben diese Personen und woher eigentlich? Was genau wird dagegen getan? Auch das: So richtig klar ist nicht. Spitzweg zitieren mag sich anbieten, aber dessen Bild – schon zeitgenössisch eine Karikatur – wurden gegen 1850 gemalt, ist also auch 1973 schon über hundert Jahre alt.

Der Artikel – und auch das findet sich bis heute in solchen Artikeln – geht darauf nicht ein. Vielmehr wird ein Missverhältnis zwischen vorgeblichen Bild von Bibliotheken und vorgeblicher Realität behauptet und gleichzeitig postuliert, dass das Bild zu überwinden die Lösung für dieses Missverhältnis wäre. Das wird mit der Zeit – also wenn es auch in späteren Jahrzehnten immer wieder in solchen Artikeln auftaucht – immer unglaubwürdiger: Müsste sich mit der Zeit nicht doch das Bild von Bibliotheken geändert haben? Wenn nicht, wo kommen „die falschen Bilder‟ her? Oder würde es dann nicht sinnvoll sein, zu fragen, warum sie reproduziert werden? (Sind sie zum Beispiel gar nicht das Problem, sondern vielleicht nur Ausdruck eines tieferen Problems, dass überhaupt nicht mit neuen Bildern weggehen würde? Oder sind diese „veralteten‟ Bilder gar nicht so falsch? Aber wie kann das sein, wenn doch Bibliotheken seit Jahrzehnten dabei sind, sich zu verändern?)

Skandinavien und Bibliotheksgesetze

Vielleicht ist das Problem ja auch, dass die Schweiz nicht „Skandinavien‟ ist? Zumindest taucht als Vorbild für Bibliothekswesen in diesem Text mehrfach Skandinavien auf. Es wird als „Mekka vieler schweizerischer Bibliothekare‟ beschrieben, ohne zu klären, wieso eigentlich (oder das erwähnt würde, dass die dortigen Gesellschaften anders strukturiert sind, als die Schweiz, beispielsweise viel zentraler). Auch dieses Wissen scheint irgendwie vorausgesetzt zu werden. Dafür gibt es hier die Behauptung, Bibliotheken würden dortzulande3 noch mehr geachtet als hierzulande:

„Eine schöne und moderne Bibliothek ist dort eine Prestigeangelegenheit.‟

Vielleicht soll der Artikel dazu auffordern (Aber wen? Die Politik? Die Gesellschaft?), Bibliotheken auch als Prestigeangelegenheit anzusehen? Das ist ungeklärt, aber – auch das ist in Texten dieser Art bis heute normal.

Einen konkreten Hinweis gibt aber zweimal, einmal im Artikel, einmal im „Kästchen‟ daneben: Der Wunsch nach einem Bibliotheksgesetz. Es wird als „Geheimnis‟ bezeichnet, warum es in Dänemark so viele gute Bibliotheken gäbe. Gleichzeitig wird die geplante Ausweitung der Schweizerischen Volksbibliothek über ein Gesetz gefordert, aber auch gleichzeitig der Eindruck erzeugt, dass dies kurz bevorstehen würde:

„Das Eidgenössische Departement des Innern möchte das Projekt reiflich und wohlwollend prüfen. Eine Gruppe von Parlamentariern will sich im National- und Ständerat dafür einsetzen.

Erwartet wird auf dem Wege über die Gesetzgebung des Bundes die Bestätigung der Aufgaben zur Förderung des Bibliothekwesens, wie dies bei der Landesbibliothek und der ETH-Bibliothek bereits der Fall ist.‟

Werbung für Bibliotheken

In diesem Artikel werden Bibliotheken sehr, sehr positiv dargestellt. Sie gelten als wichtig, ihre Entwicklung wird als richtig und wichtig erläutert. Gefordert wird von ihnen, wenn überhaupt etwas, dann so weiter zu machen: Mehr davon. Ein Bibliotheksgesetz (ein Dauerwunsch des Bibliothekswesens) wird nicht direkt gefordert, aber indirekt doch. Kritik gibt es keine. An Problemen wird benannt, dass es ein veraltetes Bild von Bibliotheken gäbe, bei einigen Menschen – aber das scheint sich gerade zu ändern. Und, dass es zu wenig Geld gäbe, weil es in Dänemark mehr hätte.

Grundsätzlich ist dieser Artikel Werbung für Bibliotheken – man weiss aber nicht so recht, wofür genau. Aber für das, was man einige Jahre später „Marke Bibliothek‟ nennen wird, schon.

Solche Texte, wie schon erwähnt, erscheinen seit den 1970ern regelmässig im DACH-Raum. Sicherlich, zwischendurch gibt es auch Pressemeldungen über gekürzten Bibliotheksetat oder kurze Meldungen über Umbaumassnahmen oder kleine Probleme. Wenn Bibliotheken geschlossen werden auch mal Artikel zu Protesten dagegen (was noch eine ganz eigene Artikelgattung darstellt, bei der Bibliotheken ebenso sehr positiv dargestellt werden). Aber die grossen, seitenlangen Beiträge klingen eigentlich immer wieder so, wie dieser Artikel. Das ist interessant, weil man aus der bibliothekarischen Literatur nicht unbedingt den Eindruck erhält, es gäbe in der Öffentlichkeit ein gutes Bild von Bibliotheken. Dort wird immer wieder einmal beklagt, dass das Bild von Bibliotheken in der Öffentlichkeit veraltet sei – was halt nicht stimmt, wenn man die Presse als Öffentlichkeit nimmt. Aber bei diesem Bild teilen offenbar Bibliotheken und Journalist*innen die gleiche Vorstellung.

Doch, ehrlich gesagt, könnte man sich bessere Werbung für Bibliotheken in diesem Medium nicht wünschen, selbst wenn man dafür bezahlen würde.

Schulbibliotheken

Ein Thema, dass nicht so oft in solchen Artikeln angesprochen wird, aber hier halt doch, sind Schulbibliotheken. Diese erhalten sonst oft eigene Artikel, nicht so oft, aber doch alle Jahre wieder einmal. Hier ist es ein eigener Abschnitt, in welchem behauptet wird, sie hätten bislang „vielerorts ein trauriges und stilles Schattendasein [gefristet]‟, jetzt aber hätte „man [wer?] die Bedeutung einer modernen Schulbibliothek erkannt‟. Sie würden zur Demokratisierung der Schule beitragen und hätten zudem „im modernen Arbeitsunterricht eine zentrale Bedeutung: Sie dient Schülern und Lehrern gleichermassen als Informations-, Lese- und Arbeitsstätte. Nicht zuletzt soll sie die Schüler unter anderem auch auf die Benützung von Spezialbibliotheken vorbereiten.‟

Auch hier finden sich vor allem Begriffe, die zeitgenössisch in der bibliothekarischen Literatur zu finden waren.4 Der Ton gleicht dem des restlichen Artikels: Die Veränderung steht kurz bevor, weil klar wäre, welche es sein müsste. Es ist nicht zu sehen, wer sich dem in den Weg stellen sollte.

Und heute noch klingen Artikel zu Schulbibliotheken so, als wäre bewusst, wie Schulbibliotheken bislang sind, als wäre klar, dass sie so, wie sie sind, schlecht sind. Dass aber auch bekannt sei, wie sie werden müssten. Und so, als ob es bald besser würde – auch wenn es schon in den 1970ern so klang.

Aber: Warum werden Schulbibliotheken hier überhaupt erwähnt? Sie sind keine Öffentlichen Bibliotheken. In den realen Schulbibliotheken ist die Verbindung zu Öffentlichen Bibliotheken auch selten Thema. Aber in der bibliothekarischen Literatur wird es so beschrieben, als wären Schulbibliotheken eigentlich Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens, wenn einmal über Schulbibliotheken gesprochen wird. Auch hier scheint der Artikel sehr vom bibliothekarischen Diskurs selber gesteuert zu sein.

Was hat sich geändert?

1973 ist nun schon eine recht lange Zeit her – und doch habe ich bis jetzt vor allem betont, dass sich bei solchen Artikeln wenig geändert hat. Aber stimmt das? Was hat sich vielleicht doch geändert?

  • Einfach zu sehen ist: Die Namen der Institutionen sind heute andere. Die Schweizerische Volksbibliothek ist heute die Stiftung Bibliomedia Schweiz (tatsächlich mit drei Standorten in drei der vier Sprachregionen). Der Schweizerische Bibliotheksdienst heisst heute sdb (und ist jetzt Tochterunternehmen der ekz). Wenn im Artikel von zwei Bibliotheksverbänden gesprochen wird, bei dem sich der eine aus dem anderen herauslöst, sind beide heute wieder ein Verband, der bibliosuisse (vereinigt unter dem Eindruck, man müsse sie zusammenführen, um eine gemeinsame Stimme zu haben).
  • Ein Bundesgesetz über Bibliotheken gibt es in der Schweiz weiterhin nicht (wie auch in einem föderalistischen Staat), aber es gibt tatsächlich eine Anzahl von kantonalen Bibliotheksgesetzen. Wie wirksam sind sie? Das ist nicht einfach zu beantworten – vor allem ist es aber kein Thema der bibliothekarischen Literatur.5
  • Was sich geändert hat, ist, dass sich damals, 1973, als dieser Artikel erschien, im Bibliothekswesen in der Schweiz (und im restlichen DACH-Raum) tatsächlich viel veränderte. Viele Öffentliche Bibliotheken (und Ludotheken) feierten letztens erst 50 Jahre Bestehen oder werden es bald tun. Es gab damals Anfang der 1970er eine Gründungswelle von Bibliotheken über die grossen Städte hinaus. Dies bedeutete oft auch, dass die Gemeinden begannen, einen regelmässigen Etat (beziehungsweise schweizerisch: einen Kredit) zu sprechen, das Bibliotheksgebäude gebaut oder zumindest Räume für Bibliotheken eingerichtet wurden. Infrastrukturen wurden etabliert. Insoweit hatten die Diskurse von bevorstehender Veränderung, die auch diesen Artikel tragen, schon eine gewisse Nachvollziehbarkeit: Es änderte sich sichtbar etwas (nicht nur in den Bibliotheken), insoweit war es überzeugend, noch mehr Veränderung zu erwarten. Aber gilt das heute, 50 Jahre später, immer noch? Wie kann nach 50 Jahren praktisch von der gleichen Veränderung erwartet werden, dass sie demnächst kommen wird? Wie kann zum Beispiel die bessere Präsentation von Medien oder die gemütlicher eingerichtete Bibliothek 50 Jahre, nachdem man die Medien schon besser präsentieren und die Bibliothek gemütlicher einrichten wollte, eine Veränderung in der Nutzung von Bibliotheken hervorbringen? Nicht so sehr die eigentlichen Diskurse, aber die Überzeugungskraft der vorgebrachten Bilder scheint sich verändert zu haben – allerdings nicht so sehr, als das sie nicht doch immer wieder aufgerufen werden.
  • Die 1970er Jahren waren im DACH-Raum (mit Ausnahme der DDR, aber selbst dort gab es zum Beispiel mit den Jugendweltfestspielen 1973 die Hoffnung auf Liberalisierung) eine Zeit der gesellschaftlichen Liberalisierung. Die Grundidee der Demokratisierung prägte Überlegungen und Planungen. In diesem Artikel spiegelt sich das explizit in dem Abschnitt über Schulbibliotheken wieder: „Sie [die moderne Schulbibliothek] soll die Liberalisierung der Bildung im modernen Schulwesen ermöglichen helfen und den jungen Menschen frühzeitig durch Bereitstellen von Informationsmaterial zu selbständigen intellektuellen Erfahrungen führen. Ausserdem möchte sie sein kritisches Urteilsvermögen fördern.‟ Aber auch die Vorstellung, dass die Bibliothek für alle geöffnet werden sollte, speist sich aus dieser Vorstellung, dass eine moderne Gesellschaft eine liberale und demokratische Gesellschaft sein müsse, in der alle in der Lage sein müssen, sich zu informieren und zu bilden, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Das ist heute eigentlich kein Thema mehr (nicht nur im Zusammenhang mit Bibliotheken). Man kann sich streiten, wieso. Ist die Gesellschaft schon ausreichend (oder zumindest ausreichend mehr als in den 1970ern) liberal und demokratisch? Ist das kein Ziel mehr? Ist es durch andere Ziele (zum Beispiel alle Menschen als Träger*in von „Humankapital‟ zu verstehen und zu fördern) ersetzt worden? Auffällig ist aber, dass das in den heutigen Artikeln über Bibliotheken dieser Art und auch der bibliothekarischen Literatur fehlt. Dieser gesellschaftspolitische Anspruch – der ist verschwunden.
  • Der Artikel beginnt mit „Heiri Hablützel (angelernter Fräser) und Vreni Fuhrimann (Nurhausfrau)‟. Beide sind erfunden, doch sie stehen offenbar für die Personengruppe, die bislang Bibliotheken nicht besuchen würden, die aber mit den Bibliotheken der Zukunft angesprochen würden: Arbeiter, Hausfrauen. Weiter im Artikel findet sich das Zitat von Tista Murk: „Vor allem die junge und jüngere Generation und dann wieder die Aelteren lesen heute eher mehr als früher.‟ Das hat sich heute auch geändert: Die Personengruppen, von den man ausgeht, dass sich nicht lesen, sind andere geworden. Man kann diskutieren, welche. Aber interessant ist eher, dass sich die Bilder derer, die man ansprechen möchte, ändern, während sich die Ideen, wie man sie ansprechen möchte, weniger ändern. Eine Gruppe, der man unterstellt, dass sie bislang nicht Lesen / nicht in Bibliotheken gehen würde, die aber mit einem Umbau der Bibliothek dann lesen / in die Bibliothek kommen würden, gibt es immer. Was sich hingegen nicht geändert hat, dass solche Texte ohne empirische Untermauerung auskommen, also gar nicht erst zeigen, ob es diese jeweilige Gruppe gibt oder wie deren Leseinteressen / Bibliotheksaktivitäten eigentlich sind – das wird als bekannt vorausgesetzt. Ebenso wie, dass sie von Bibliotheken angesprochen werden, wenn die Bibliotheken nur gemütlicher werden, die Medien besser präsentieren und neue Funktionen übernehmen.
  • Ein Begriff, recht am Ende des Artikels, lässt aufhören: „Sie [die Bibliotheken in der Schweiz bis zur Neuzeit] war der Masse fremd, die sich bestenfalls zur «geistigen Suppenküche» verlief.‟ Geistige Suppenküche – auch hier offenbar kein Begriff, der extra eingeführt werden muss, sondern auf den einfach so zurückgegriffen wird. Aber einer, den man heute kaum noch hört und wohl eher erklären muss. Wo kommt er her? Er stammt aus einer Zeit vor den 1970er Jahren. Ende des 19. Jahrhunderts begannen im Bibliothekswesen die damals neuen Lesehallen, aber auch die Arbeiterbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken, die von Kirchgemeinden betrieben wurden, nicht nur zu wachsen, sondern auch sich polemisch abzugrenzen. Ihre Forderung war, als „richtige‟ Bibliotheken anerkannt und finanziert zu werden, die „ohne kommerzielle Interessen‟ einfach nur Bildung verbreiten wollten. Dazu grenzten sie sich nicht nur gegeneinander ab, sondern auch von einer Institution, die weit verbreitet war. Der sogenannten „kommerziellen Leihbibliothek‟, also Einrichtungen, die den Verleih von Büchern (und Heften) auf kommerzieller Basis betrieben, oft in Verbindung mit anderen Geschäften (zum Beispiel Buchhandlungen, aber auch allgemeinen Kiosken). Diesen wurde – selbstverständlich auch, um sich abzugrenzen – vorgeworfen, nur bestehen zu können, indem auf literarische Qualität oder Bildungsinhalt von Literatur nicht geachtet wurde: Nur, wenn sie umstandslos die literarischen Interessen der Massen abdecken würden, möglichst billig, möglichst viel, könnten sie finanziell überleben. Zum polemischen Begriff dazu wurde „geistige Suppenküche‟ (auch „literarische Suppenküche‟). Hier ist egal, ob der überhaupt berechtigt war (natürlich nicht, er war eine Polemik6). Interessant ist, dass er in einem Artikel von 1973 noch einmal erscheint, obgleich die Einrichtung, gegen die Bibliotheken so abgegrenzt werden sollten, eigentlich gar nicht mehr existierten und obwohl die Abgrenzung keinen Sinn mehr machte, weil die modernen Bibliotheken ja jetzt auch darauf zielten, alle Menschen anzusprechen und nicht mehr literarisch zu erziehen. Er scheint hier in gewisser Weise „übergeblieben‟. Heute ist er fast nicht mehr verständlich, vielleicht weil wir uns historisch von den bibliothekarischen Auseinandersetzungen von Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts entfernt haben und weil sich ein Verständnis von Bibliothek etabliert hat, dass diese Abgrenzung auch nicht mehr sinnvoll macht.

Fazit

Was lässt sich also aus diesem Artikel von 1973 lernen, insbesondere wenn man – was ich hier nicht gezeigt habe, aber was man selber gut überprüfen kann – davon ausgeht, dass sich solche Texte seit den 1970er Jahren in Wochenzeitungen und im Feuilleton grosser Tageszeitungen im DACH-Raum in gewissen Regelmässigkeit finden?

Zuerst wohl, dass nicht alles, was in ihnen als Veränderung dargestellt wird, vor allem als kurz bevorstehende Veränderung, tatsächlich eine Veränderung darstellt. Dieses Bild basiert oft auf immer wieder reproduzierten Bildern, Vorstellungen und – well – Vorurteilen (zum Beispiel darüber, was Gruppen, die nicht in die Bibliothek kommen, eigentlich wollen würden). Gleichzeitig wohl auch auf Hoffnungen von Bibliotheken, die wenig hinterfragt werden (Warum gibt es diese Hoffnungen? Wer hat die? Was genau wird sich eigentlich erhofft?) Warum gibt es diese ständige Reproduktion und warum fällt die in der bibliothekarischen Literatur vielleicht gar nicht so auf? Mir scheint, sie ist Teil des modernen Bibliothekswesens. Eine moderne Bibliothek geht heute davon aus, dass sie sich verändern müsse, dass sie die Medienpräsentation verändern müsse, dass es Gruppen gäbe, die wegen falschen Vorstellungen davon, was Bibliotheken sind, nicht in die Bibliothek kommen. Dabei geht es vielleicht gar nicht darum, ob diese Vorstellungen stimmen, sondern darum, dass sie zur Identität einer modernen Bibliothek gehören.

Ist das hilfreich für die Entwicklung von Bibliotheken? Das ist eine andere Frage. Auch die Reproduktion einer Institution ist ja eine Aufgabe, die Arbeit erfordert. (Um hier Luhmann ganz, ganz abzukürzen.)

Es lässt sich aber auch vermerken, dass nicht alles an vorgeschlagener Entwicklung von Bibliotheken, was auf den ersten Blick logisch oder sinnvoll erscheint, das auch wirklich ist. Auch nicht, wenn es als neue Idee daherkommt (wie zum Beispiel Bibliotheksgesetze, die immer wieder einmal als neue Idee vorgeschlagen werden und bei denen man dann „entdeckt‟, dass es sie in anderen Ländern – in Skandinavien, aber eigentlich auch anderswo – schon lange gibt7). Wie man in diesem Artikel von 1973 lesen kann, ist die Vorstellung, Bibliotheken würden an einem veralteten Bild von Bibliotheken in der Gesellschaft leiden oder die Vorstellung, das Buch wäre irgendwie durch neue Medien oder Informationstechnologien bedroht oder das Schulbibliotheken Informationszentren werden sollen oder halt das Bibliotheksgesetze sinnvoll wären, schon älter. Das hat sich nicht verändert, nur leicht verschoben. (Was hat sich dann eigentlich tatsächlich verändert?) Es ist deshalb nicht sofort falsch, aber halt offenbar auch nicht einfach so richtig.

Aber man sollte den Blick nicht nur auf das Bibliothekswesen richten. Was man aus diesem Text auch lernen kann, ist, dass Journalist*innen immer wieder praktisch den gleichen Text über den Zustand von Bibliotheken schreiben: Einen, der davon ausgeht, dass Bibliotheken eigentlich irgendwie bedroht wären, dann aber – oft im Gespräch mit Vertreter*innen des Bibliothekswesens – merken, dass das gar nicht stimmt, sondern das Bibliotheken sich entwickeln würden und schon Vorstellungen davon hätten – ausgedrückt oft in gut zitierbaren Schlagworten, die dann auch zitiert werden – wohin sie sich entwickeln sollten. Das sind dann immer wieder auch Texte, in denen die Schreibenden offensichtlich „Pro Bibliothek‟ sind. Aber halt auch solche, die sich über die Jahrzehnte wenig ändern.

 

Fussnoten

1 Es spricht auch für ihn, dass er – da er aus der Schweiz stammt – voller Helvetismen steckt, was ich immer gut finde: Wir sollten alle möglichst viele Varietäten des Deutschen lesen, um zu sehen, wie bunt auch diese Sprache eigentlich sein könnte / ist. Schon als Gegengift gegen die Idee, Sprache sei immer gleich, eindeutig und unveränderlich. Aber das als Nebenthema.

2 Vom „Tea Room‟ sollte man sich nicht irritieren lassen, falls das irritiert. Das ist ein Helvetismus. Es sind Cafés mit Gebäckangebot und kleiner warmer Küche, die sich in der Schweiz praktisch in jeder Gemeinde finden. (Ich tippe vom Namen her auf ein Überbleibsel aus der Zeit der „grand tour‟. Guten Tee gibt es in ihnen im Allgemeinen leider nicht.) In einem Text aus Deutschland würde hier Café oder Konditorei stehen, in einem aus Österreich vielleicht Kaffeehaus.

3 Auch in diesem Artikel gibt es dieses Phänomen, dass nicht klar ist, welche Länder hier zu Skandinavien gezählt werden und welche nicht – was bei einem Artikel in einer Wochenzeitung vielleicht nicht so auffällig ist, weil das nicht das Thema des Textes ist. Aber es gilt halt auch für Texte dieser Zeit – oder heute – in bibliothekarischen Medien.

4 Es würde mich nicht wundern, wenn sie Wort für Wort in: Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3. stehen, der damals aktuellsten schweizerischen Publikation zu Schulbibliotheken. (Habe ich aber leider gerade hier nicht vorliegen.)

5 In einer Bachelorarbeit (Buck, Ute. Die Schweizer Bibliotheksgesetze: ein Vergleich der Wirkung anhand festgelegter Kriterien. Bachelorarbeit FH Graubünden, 2019) war die Antwort: Etwas weniger als kantonale Richtlinien für Bibliotheken.

6 Nicht nur war die „kommerzielle Leihbibliothek‟ eine wichtige Einrichtung, um überhaupt die Massen-Alphabetisierung zu erreichen, auf die dann die Industrialisierung, aber auch das moderne Bibliothekswesen aufbauen konnte. Auch ist die Abgrenzung in der Schweiz nicht so klar: Bis vor wenigen Jahren gab es hier zum Beispiel noch Bibliotheken, die – wie die „kommerziellen Leihbibliotheken‟ – Gebühren nach einzelnen Ausleihen berechneten. (Als: Kosten pro ausgeliehenem Buch, nicht nur eine einmalige Jahresgebühr.)

7 Ich erinnere mich gut, wie in den frühen 2000er Jahren die Bertelsmann-Stiftung das als neues Ziel für Bibliotheken verkündete und ihr darin von vielen gefolgt wurde. Ich kann nicht der Einzige sein, der sich daran erinnert.

Neue Hygienedispositive – werden wohl auch die Bibliotheken verändern

Das Buch „Un siècle de banlieue japonaise‟ von Cécile Asanuma-Brice (2019) hat die Geschichte der ständigen Um- und Neubauten der Vorstädte Tokios seit der Meiji-Restauration (1868) zum Thema. Diese ist geprägt von rasanten Veränderungen nicht nur des Bauens, sondern auch der Vorstellungen über gutes Wohnen, über die Organisation von Stadt und Umland oder auch der Frage, wer für das Bauen guter Wohnungen zuständig ist (der Staat oder der Markt). Als ich es letztens gelesen habe, fiel mir aber noch etwas ständig Wiederkehrendes auf: Die Bedeutung je neuer Dispositive um Hygiene, die sich vor allem als Antwort auf Gesundheitskrisen (konkrete Epidemien und der sich wandelnde Blick auf Problemlagen, die je neu als Krisen, wahrgenommen wurden, die anzugehen wären1) etablierten und dazu führten, dass anders geplant, gebaut und dann auch gelebt wurde.

Das ist in der Geschichte der Stadtentwicklung ein ständiges Thema (Lévy 2012), aber mit der Beschleunigung von Entwicklungen und Veränderungen in der Moderne seit dem 19. Jahrhundert halt auch eines mit beschleunigter Dynamik. (Ich erinnere mich an meine alte Nachbarin in Neukölln, die Ende der „Nuller Jahre‟ rund 50 Jahre in der gleichen Wohnung lebte und sich jeder Renovierung widersetzte, deshalb aber mit Kohlen heizte und als einzige im Haus noch ein Etagenklo nutzte – was vollkommen aus der Zeit gefallen war, obwohl es kein Menschenleben vorher offenbar in diesem Haus vollkommen normal war, wie man im Treppenhaus sieht, wo die Aussparungen für die Etagenklos weiterhin sichtbar sind.) Es ist mir nur beim Lesen dieses Buches wieder aufgefallen. Beispielsweise auch in der ständigen Ausstellung des gerade wieder geöffneten Musée Historique hier in Lausanne über die Entwicklung dieser Stadt kommen Gesundheitskrisen, sich etablierenden Hygienedispositive und dann darauf teilweise langsam, teilweise schnell reagierende Umbauten prominent vor. Die Überbauung der beiden Flüsse Louve und Flon Ende des 19. Jahrhunderts, um weitere Typhus-Ausbrüche zu verhindern – die ja auch in vielen anderen Städten stattfand –, nimmt in dieser Ausstellung einen grossen Raum ein. Ebenso, wie der Umbau der Häuser in den proletarischen Quartieren, so dass alle Wohnungen fliessend Wasser und ausreichende Sanitäreinrichtungen erhielten. Oder die Schaffung von städtischen Strukturen für das sanitäre System Ende des 19. Jahrhunderts.

Andere Hygiene – andere Formen des Alltags

Oft ist auch schon darauf hingewiesen worden, dass solche Umbauten, die zuerst aus Gründen der Hygiene vorgenommen wurden, im Anschluss dazu führten, das sich neue, unerwartete Möglichkeiten zu wohnen oder die Stadt zu nutzen ergaben. (Zum Beispiel Hardy 2005, Lévy 2012) Menschen und die Gesellschaft haben sich da immer wieder angepasst (oder, wie meine alte Nachbarin, widersetzt, sind aber dann damit recht aus der Zeit gefallen). Die immer wieder erzählte Geschichte davon, wie Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Planung von Baron Haussmann die Strassen und Viertel in Paris auch umgebaut wurden, damit Militär bei Aufständen nicht in engen Gassen manövrieren muss, aber gleichzeitig die Hygiene so sehr verbesserten, dass sich an diesen Strasse zahllose Cafés mit offenen Flächen ansiedeln konnten, in denen sich dann besser und schneller revolutionäre Gedanken entwickeln und verbreiten liessen, als vorher, ist eindrücklich, aber auch nicht originär. (Sennett 2018) Ähnliche unvorhergesehene Veränderungen des Alltags kamen immer wieder vor. Schon, dass heute allgemein überall fliessend Wasser und Sanitäreinrichtungen erwartet werden – nicht nur in der Wohnung, sondern überall, selbst auf dem schmutzigsten Festival – und alle mit ihrem Vorhandensein planen, ist ein Hinweis darauf, wie sehr Einrichtungen, die der Hygiene wegen etabliert werden, sich in unser Leben integrieren.

Mir scheint sehr klar, dass auch die COVID-19-Pandemie dazu führen wird, dass sich neue Hygienedispositive etablieren. Die Frage scheint mir gar nicht, ob man die jetzt gut oder schlecht finden wird, sondern nur, wann und welche. Aktuell sehe ich zum Beispiel viele Bilder, wo Sitzplätze (in Schulen, in Cafés, aber auch in Bibliotheken) auseinander geschoben und in ihrer Zahl verringert werden. Gleichzeitig haben wir alle vielleicht jetzt neu gelernt, Hände zu waschen und überall Desinfektionsmittel vorzufinden. Das Tragen von Gesichtsmasken wird sich vielleicht auch als Normalität – nicht für alle, aber für die, die es wollen oder als notwendig ansehen – etablieren (zumindest haben andere Epidemien in anderen Gesellschaften bekanntlich dazu geführt). Vielleicht wird es sich auch etablieren, dass Menschen allgemein im Alltag mehr Distanz einfordern werden. Wer weiss.

Rasante Veränderungen. Nicht nächste Woche, aber vielleicht nächstes Jahr

Sicherlich, gerade stellen sich Leute wieder sehr, sehr nah, weil Leute den Eindruck zu haben scheinen, dass die Krise vorbei wäre. Oder, weil sie es nicht mehr aushalten, achtsam zu sein. Hier in der Schweiz durften zum Beispiel die Clubs dieses Wochenende wieder öffnen und bei dem direkt hier vor der Tür konnte man sehen, wie sich niemand in der Schlange an irgendeine Distanz gehalten hat. Für eine kurze Zeit scheinen viele Menschen vergessen zu haben, dass wir weiterhin eine Pandemie haben, die sich vor allem durch Nähe zwischen Menschen überträgt. Aber man sollte die mittelfristigen Veränderungen nicht unterschätzen. (Ebenso wie man die ersten Tage nicht überschätzen sollte. So voll, wie dieses Wochenende, ist der Club sonst nie. Da war „Nachholebedarf‟, wie woanders wohl auch – aber der ist irgendwann auch befriedigt.) Spätestens eine zweite Welle dieser Pandemie oder halt die nächste Pandemie (die mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen wird, wir sind ja in den letzten Jahren nur knapp an anderen „vorbeigeschrammt‟) wird – wenn die Geschichte eine Struktur zeigt – dazu führen, dass sich Dispositive und damit auch das Verhalten ändern werden.

Bibliotheken

Aktuell scheint auch bei Bibliotheken die Vorstellung vorzuherrschen, dass man über kurz oder lang wieder zur gleichen Nutzungsweise von Bibliotheken und Bibliotheksräumen übergehen wird, wie vor der Pandemie. Das also alles eher eine Frage der Zeit sei. Und, zugegeben, ich bin nicht gut darin, treffende Vorhersagen zu machen. Aber: So, wie wir bislang gelebt haben, hat es ja zur Pandemie geführt. Mir ist nicht klar, wie es sicher und sinnvoll sein kann, wieder dahin zurückzukehren.

Ich kann auch nur vermuten, was passieren wird. Mir scheint aber, es wäre sinnvoll, wenn Bibliotheken das zumindest mal andenken würden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in kurzer Zeit Menschen nicht mehr von der Idee angetan sein werden, in ein „Wohnzimmer der Stadt‟ zu gehen, wenn das Bilder von ungewollter Nähe vermittelt. Auch die Vorstellung, Communities herzustellen, indem man Menschen in Workshops, Veranstaltungen und so weiter zusammenbringt, dürfte jetzt zumindest mehr Raum benötigen. Ebenso scheinen mir Arbeitsplätze in Lesesälen nebeneinander, in langen Reihen, potentiell tendenziell weniger beliebt zu werden. Kann auch gut sein, dass mehr Menschen anfangen, sich mehr Gedanken darum zu machen, wie Viren „funktionieren‟ (so, wie man sich heute grundsätzlich auch mehr Gedanken darum macht, was man isst) und dann darauf zu achten – was immer dieses „darauf achten‟ heissen wird.

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass in den letzten 150 Jahren oder so sich immer wieder schnell, aufgrund von Gesundheitskrisen, neue Hygienedispositive etabliert haben und dann zum Beispiel dazu führten, dass die Vororte Tokios umgebaut oder überall in Lausanne Sanitäreinrichtungen installiert oder ganz grundsätzlich neue Verhaltensregeln etabliert wurden. Oder, dass Wohnungen so gebaut wurden, dass man sie lüften kann. Oder das Städte Parks und Grünflächen erhielten. Solche Veränderungen kamen nicht in zwei-drei Wochen, aber doch – wie zum Beispiel im oben erwähnten Buch von Asanuma-Brice (2019) dargestellt wird – zum Teil rasend schnell. Ich schaue immer wieder auf Bilder von Bibliotheken aus verschiedenen Jahrzehnten. Wenn man darauf achtet, zeigen sich in diesen die jeweiligen zeitgenössischen Hygienevorstellungen selbstverständlich auch. Bibliotheken sind von den Veränderungen in der Nutzung öffentlicher Einrichtungen nie ausgeschlossen.

Aktuell scheinen Bibliotheken, wenn sie über mögliche Veränderungen durch die Pandemie reden, vor allem über digitale Angebote, Homeoffice und so weiter nachzudenken. Schön und gut. Aber sie sollten sich darauf vorbereiten, dass sich mittelfristig auch die Dispositive dazu, was akzeptable Räume (nicht nur von Bibliotheken) sind und wie sie zu nutzen sind, ändern wird. Bislang können wir zu den bevorstehenden Veränderungen – aber das ist ja auch bei anderen Themen so – nur ein paar Vermutungen äussern. Aber ich würde mich wundern, wenn es nicht diesen Monat in einem Jahr ein intensiv diskutiertes Thema wäre. Einfach so, wie es „vorher‟ war, wird es nicht werden. Die Menschen werden sich (mit Ausnahmen) beginnen, anders zu verhalten.

 

Literatur

Asanuma-Brice, Cécile (2019). „Un siècle de banlieue japonaise: Au paroxysme de la société de consommation‟. Genève: Mētis Presses, 2019

Elsig, Alexandre (2015). „La ligue d’action du bâtiment – L’anarchisme à la conquête des chantiers genevois dans l’entre-deux-guerres‟. (Coédition Collège du travail) Lausanne: Editions d‛en bas, 2015

Hardy, Anne (2005). „Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit : Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts‟. (Kultur der Medizin, 17) Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2005

Lévy, Albert (2012). „Ville, urbanisme & santé: les trois révolutions‟. (Société et santé) Paris: Pascal / Mutualité Française, 2012

Sennett, Richard (2018). „Building and dwelling : ethics for the city‟. London: Allen Lane, 2018

1Alexandre Elsig (2015) stellt in seiner Geschichte einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft im Genf der 1930er unter anderem da, wie die Wohnverhältnisse der Arbeiter*innen zu einem politischen Thema wurden und die Gewerkschaft irgendwann begann – als direkte Aktion – „Typhus-Häuser‟ abzureissen, weil ihrer Meinung nach die Regierung sich nicht schnell genug darum kümmerte, diese Häuser zu verbessern. Auch hier hatte sich in wenigen Jahren die Vorstellung etabliert, dass bestimmte Formen des Wohnens – die vorher noch akzeptabel schienen – ein Gesundheitsrisiko darstellten.

Thekenbibliotheken / Pandemie-gerechte Bibliotheken

Thekenbibliotheken – aktuell, wo sich jetzt viele Bibliotheken darauf vorbereiten wieder für das Publikum zu öffnen, unter strengen Hygiene-Regelungen und vor allem für die Ausgabe zuvor bestellter Medien und die Rücknahme derselben, wird immer wieder einmal der Witz gemacht, sie seien jetzt halt wieder Thekenbibliotheken. Solche Witz kann man machen und es ist selbstverständlich auch gut, in der jetzigen Situation einmal zu lachen. Unbenommen.

Aber Thekenbibliotheken sind das selbstverständlich nicht.

Sicherlich: Da ist – in den meisten Bibliotheken – eine Theke, vor die die Nutzer*innen treten werden, dahinter Bibliothekar*innen, die Medien zurücknehmen oder zuvor bestellte Medien aushändigen. So ähnlich war es in den Thekenbibliotheken bis in die 1950er / 1960er auf den ersten Blick auch. Aber die Unterschiede sind doch immens.

Wenn man den Witz einmal gemacht hat, kann man die Situation auch nutzen, um sie als Beispiel dafür zu nehmen, was sich seitdem alles geändert hat. Die Bibliothek ist, so kann man bei diesem Vergleich gut sehen, immer mehr als der Raum selber. Es geht immer auch darum, was sich die Bibliotheken – also das Personal konkret vor Ort, aber auch die Profession als Ganzes – unter einer Bibliothek, deren Aufgaben, Möglichkeiten, Zielen vorstellt und was sich die Öffentlichkeit – die Nutzer*innen vor Ort, aber auch die Allgemeinheit – darunter vorstellt. Sicherlich: Der Raum repräsentiert dieses Denken und prägt es auch wieder (insbesondere, wenn dieser nicht von den notwendigen Regeln zur Reduktion des Ansteckungsrisikos in einer Pandemie geprägt ist – obgleich wir weiter unten sehen können, dass gerade das eine Verbindung zu den „alten Thekenbibliotheken‟ darstellt). Aber das ist nur ein Teilaspekt.

Was waren Thekenbibliotheken?

Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum begannen in den 1910er Jahren langsam darüber nachzudenken (und allererste Experimente dazu durchzuführen), ob den Leser*innen nicht der direkte Zugang zum Bestand gewährt werden könnte. Immer mit Einschränkungen, immer erstmal bezogen auf Teile des Bestandes und immer mit grossem Widerstand aus der Profession. Es dauerte lange, bis dieser Zugang zum Allgemeingut wurde. Jahrzehnte lang gab es diese Diskussionen, immer mit Verweis darauf, dass ein solcher Zugang – die Freihandbibliothek – in anderen Ländern normal sei (was übrigens so auch nicht stimmte).

Während des Nationalsozialismus gab es eine ganze Reihe von Bibliotheken, die als Freihand eingerichtet wurden, aber es scheint, als seine viele davon nach 1945 zerstört gewesen oder zurückgebaut worden. Zumindest wurde kaum über diese Phase geredet.

Erst während der 1960er scheint sich die Freihand-Bibliothek im DACH-Raum als normale Bibliotheksform etabliert zu haben. Zumindest finden sich ab Anfang der 1960er in der bibliothekarischen Literatur Raumskizzen für neugebaute Öffentliche Bibliotheken, die nicht mehr lange begründen, warum bestimmte Bereiche als Freihand gebaut oder geplant wurden, sondern offenbar stillschweigend voraussetzen, dass dies die richtige Form für eine Bibliothek sei. (Selbstverständlich gab es eine Übergangszeit mit Bibliotheken, die nicht oder nur so halb umgebaut wurden. Aber in den 1960ern verschwindet zumindest die Debatte über die Freihand-Bibliothek aus der bibliothekarischen Literatur.) Das gilt eigentlich für den gesamten DACH-Bereich.1

Zuvor, seit man von Formen Öffentlicher Bibliotheken reden kann (also je nach Land und Region den 1870er-1890er Jahre), waren diese im DACH-Raum alle als „Thekenbibliotheken‟ konzipiert. Es gab von der Grösse her unterschiedliche Formen. Beispielsweise bei sehr kleinen Beständen „Bibliotheksschränke‟, die in anderen Einrichtungen (Schulen, Gaststätten, Partei- und Gewerkschaftslokalen, Kirchen und so weiter) standen und die nur vom jeweiligen Bibliothekar (bis zu Bona Peiser, die 1895 als solche zu arbeiten begann, offenbar keine Bibliothekarin) verwaltet wurden, der dann auch die Bücher ausgab und wieder einstellte. Etwas grössere Bibliotheken hatten keine richtigen Theken, sondern Tische, die vor Buchregalen an der Wand standen. Nur die grösseren Einrichtungen hatten wirklich Theken, die baulich den Raum zwischen Leser*innen und Bibliothekspersonal trennten, mit Türen, verschiedenen – oft auch verschliessbaren – Ausgabe- und Rücknahmetresen und anderen gebauten Feinheiten. Dies hing immer von der Grösse des Bestandes und den verfügbaren Mitteln ab. Aber grundsätzlich waren das alles Thekenbibliotheken.

Die räumlich Gestaltung war aber, wie gesagt, nur ein Teil der Thekenbibliotheken. Was diese ausmacht, war ein spezifisches Denken über (a) das Lesen, (b) davon, was für eine Einrichtung Bibliotheken darstellten und (c) was für Aufgaben sich daraus ergaben.

  • Zuerst verstanden sich alle diese Bibliotheken explizit als Bildungseinrichtungen. Und zwar nicht im recht offenen, recht unbestimmten und immer auch mit anderen Aufgaben wie Unterhaltung oder Kultur in Konkurrenz stehenden Sinne, wie dieser Begriff heute manchmal für Öffentliche Bibliotheken verwendet wird – sondern ganz explizit: Die Aufgabe der Bibliotheken war es, die Leser*innen zu bilden und zwar zum richtigen Lesen. Die heutige Idee, dass einige (viele) Nutzende die Bibliothek selbstbestimmt für ihre eigene Bildung nutzen, andere aber für etwas anderes, wäre diesen Bibliotheken zumindest als Ziel fremd. Bibliotheken hatten den Anspruch, die, die sie nutzen zu erziehen. Selbst Unterhaltungsliteratur stand unter diesem Vorbehalt, wenn sie überhaupt vorhanden war. (Das impliziert auch, dass die Bibliotheken halt nicht „für alle‟ da waren, sondern für die, die diese Bildung nötig hätten.)
  • Alle diese Bibliotheken hätten deshalb ein Konzept für die „Leserlenkung‟. Wie erreicht man die Menschen, damit sie überhaupt anfangen, in die Bibliothek zu kommen? Wie lenkt man sie dahin, die richtige Literatur zu wählen, nicht nur keine „schlechte‟, sondern auch keine so komplexe, dass sie von den Leser*innen „noch nicht‟ verstanden werden kann? Was genau ist „richtiges Lesen‟ und wie schafft man es als Bibliothek, die einzelnen Leser*innen zu diesem Lesen zu führen? Wie viel ist zu viel oder zu wenig Lesen? Die Antworten auf diese Fragen waren unterschiedlich, änderten sich mit den Jahrzehnten, waren Thema von Diskussionen in der bibliothekarischen Literatur, in Debatten, in der Ausbildung. Aber die grundsätzliche Idee, dass die Leser*innen „gelenkt‟ werden müssten (und der Anspruch als Bibliotheken, das zu können und zu dürfen), war allen diesen Bibliotheken gemein.
  • Die Bewertungskriterien und die Strategien dazu waren unterschiedlich. Es gab nicht die eine Öffentliche Bibliothek – so wie wir das heute kennen –, sondern bis in die 1950er Jahre Bibliotheken, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielen dienten: Neben den Lesehallen, die nach eigenem Verständnis neutral und für alle da sein wollten (ein Anspruch, der von anderen bestritten wurde und deren Ideologie man auch eher als Teil des rechts-konservativen Mainstreams der beiden Kaiserreiche und des Bürgertums bis in die 1950er Jahre bezeichnen müsste), gab es zum Beispiel „Arbeiterbibliotheken‟, die sich vor allem als Teil der sozialistischen Bewegung verstanden (und die Arbeiter*innen dazu ermächtigen wollten, Produktionsmittel und Gesellschaft zu übernehmen) oder die katholischen Bibliotheken, die ein konservatives (aber eigentlich modernes, weil erst in der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft gewonnenes) Gesellschaftsbild etablieren wollten.2 Es gab auch teilweise massive Auseinandersetzung über diese Strategien innerhalb der unterschiedlichen Bibliotheksformen, insbesondere den sogenannten „Richtungsstreit‟ innerhalb der Lesehallen, indem es vor allem darum ging, was eigentlich die von diesen angestrebte „Volksbildung‟ sei und wie sehr zur Gewinnung von Leser*innen Unterhaltungsliteratur eingesetzt werden sollte. Aber wichtig hier: Alle Formen der Thekenbibliothek hatten Bewertungskriterien von Literatur und Strategien zur Lenkung von Leser*innen als gedanklichen Hintergrund und fanden diese so wichtig für die eigene Identität als Bibliothek, dass sie bereit waren, darüber zu streiten.
  • Die bibliothekarische Literatur der Jahrzehnte der Freihandbibliotheken ist voll von Texten (und Streitigkeiten) über „Bibliothekstechnik‟ (Technik auch im Sinne von Arbeitsweisen, -abläufen), die sich nur durch diese Form von Bibliothek erklären lassen: Einerseits die Frage, wie das Ausheben der benötigten Bücher aus dem Bestand am Effektivsten organisiert werden kann (das ist heute noch für Bibliotheken mit Magazinen Thema), anderseits aber auch, wie die Beratung der Leser*innen, die Ausgabe und Rücknahme der Medien zu organisieren sei. Pläne wurden gezeichnet, wie sich die Personen durch den Raum vor der Theke bewegen sollte. Gesonderte Kataloge für die Leser*innen wurden entworfen, die immer anders waren als die, welche das Bibliothekspersonal benutzte. Es gab Diskussionen um die „offene‟ und die „gebundene Theke‟ (bei der offenen kann an allen Plätzen alles gemacht werden, bei der gebundenen gibt es Plätze für die Rückgabe, für die Ausgabe und so weiter).
  • All diese Planungen und Diskussionen hiessen selbstverständlich nicht, dass alles immer funktionierte. Ebenso finden sich in der bibliothekarischen Literatur immer wieder Klagen, dass sich die Leser*innen den Zielen, der Beratung, den Arbeitsweisen der Bibliotheken entziehen. Dass sie eigene Interessen durchsetzen. Dass sie sich nicht darauf einliessen, sich „empor zu lesen‟. Zudem gab es – zumindest in den Städten – immer die Möglichkeit, dass Leser*innen auf andere Bibliotheken auswichen. Einerseits zum Beispiel nicht in die Lesehalle gingen, sondern in die Arbeiterbibliothek. Andererseits – das war eher der Horror – in die „kommerziellen Leihbibliotheken‟, welche Medien als Gewerbe vermieteten, oft direkten Zugang zu den Beständen boten und – so die Behauptung der ganzen unterschiedlichen Thekenbibliotheken, der die Leihbibliotheken selbstverständlich widersprachen – vor allem schlechte Literatur anbieten würden, weil es ihnen nur um Geld und nicht um Bildung ginge.
  • Ein Punkt, der in der bibliothekarischen Literatur der damaligen Jahre auch immer wieder einmal auftauchte war der der Hygiene. Es gab Diskussionen darüber, ob die Erreger verschiedenster Krankheiten – von denen vermutet wurde, dass sie bei Leser*innen aufgrund deren ökonomischer Verhältnisse, aber auch aufgrund ihres Lebenswandels verstärkt auftreten würden – sich über die Bücher von Bibliotheken verbreiten würden. Es gab auch dazu verschiedene Meinungen und Lösungsansätze, verschiedene Vorschläge zur Reinigung der Medien nach der Rückgabe oder auch Vorschläge, wie lange sie zu lagern wären, bevor sie wieder ohne Gefahr ausgegeben werden könnten. Eine eindeutige Lösung gab es nie, aber das Thema tauchte immer wieder auf. An sich war das in den letzten Jahrzehnten nicht mehr Thema der bibliothekarischen Literatur (was nicht heisst, dass es nicht von Zeit zu Zeit auf anderen Kanälen antönte), aber jetzt ist es das aus guten Gründen wieder. (Wobei es die Desinfektionsmittel, die heute zur Verfügung stehen, damals nicht gab.)

Zum Übergang zur Freihand

Wie gesagt, begangen die Bibliotheken im DACH-Raum in dem 1910er Jahren ganz vorsichtig über die Freihand zu diskutieren. Aber es dauerte wirklich lange, bevor sich dann – eher plötzlich – die Freihand wirklich durchsetzte. Die Vorstellung davon, was die Bibliothek sei und wie sie zu arbeiten hätte, veränderte sich nicht schnell. Interessant sind vor allem Beiträge am Ende dieser Entwicklung. In den 1950ern liest man öfters3 davon, dass an sich akzeptiert wird, dass die Freihand „die Bibliotheksform der Zukunft wäre‟, aber das sie dann auch massiv viel mehr Personal bedürfe, weil die Lenkung der Leser*innen dann direkt am Regal erfolgen müsse. An der Theke können man die Gespräche gut organisieren – wie gesagt, wie das stattfinden sollte, war auch Teil der Bibliothekstechnik –, aber am Regal müsse man neue Formen finden.

Auch wurden lange diskutiert, ob man nur bestimmte Teile der Bestände als Freihand aufstellen solle und welche. Und wem man dann Zugang gewähren könne und wem nicht. Dazwischen kamen viele Teilschritte, beispielsweise der immer wieder neue Entwurf von Katalogsystemen für die Leser*innen oder die Mechanisierung der Ausleihe. Das ist seine eigene Geschichte.

Aber sichtbar ist, dass sich der Übergang zur Freihand nicht einfach räumlich gestaltete – auch wenn das einen nicht zu unterschätzenden Aufwand bedeutete –, sondern inhaltlicher Art war. Die Bibliotheken mussten erst die Vorstellung ändern, was für Einrichtungen sie wären und was ihre Aufgabe wäre, um dann in der Freihand wieder eigene bibliothekarische Arbeitsformen zu finden. Das veränderte viel mehr, als nur die Aufstellung der Bestände. Beispielsweise wurde den Interessen der Leser*innen substantiell mehr Beachtung geschenkt – deshalb heissen sie heute ja auch nicht mehr Leser*innen, sondern je nach Weltanschauung Nutzer*innen oder Kund*innen (oder anders).

Thekenbibliothek versus „Pandemie-gerechte Bibliothek‟

Die eingeschränkte Ausleihe in Bibliotheken, wie sie jetzt eingeführt und wohl für den Zeitraum der Pandemie beibehalten wird (und, machen wir uns nichts vor, die Welt ist kaputt, es wird mit hoher Wahrscheinlichkeeit in unserer Lebenszeit weitere Pandemien geben, in denen das wieder ähnlich sein wird) ist also offensichtlich keine Thekenbibliothek. Im Hintergrund der jetzigen Bibliotheken steht eine andere Idee davon, was für eine Aufgabe (beziehungsweise Aufgaben) die Bibliotheken haben. Der Zugang zum Bestand ist jetzt physisch eingeschränkt, aber sonst offen. Nutzer*innen und Bibliothekar*innen nutzen die gleichen Kataloge, weil man alle zutraut, sich in diesen zurecht zu finden. Bibliotheken erziehen die Nutzer*innen nicht zum richtigen Lesen und erheben auch nicht den Anspruch, Literatur inhaltlich daraufhin zu bewerten, ob sie zum „hinauflesen‟ geeignet wäre. Es gibt weit mehr Medienformen als Bücher und das ist keiner Diskussion mehr wert.

Was dieser Ausflug in die Bibliotheksgeschichte zeigt, ist, dass es immer eine Sicht der Bibliotheken auf sich selber, auf ihre Aufgaben und so weiter gibt, die sich mit der Zeit ändert. Sie ist offensichtlich nicht festgeschrieben, sondern verhandelbar (dafür muss sie dann benannt, diskutiert, vielleicht auch kritisiert werden – aber das ist hier nicht das Thema). Diese Vorstellung strukturiert dann die Arbeit, die tatsächlich in den Bibliotheken geleistet wird, sie strukturiert den Raum Bibliotheken und auch das, was als wichtig genug angesehen wird, um es zu diskutieren (oder was als dafür nicht wichtig genug angesehen wird). Die jetzige Situation wird vorübergehen – vielleicht in Monaten, vielleicht in Jahren. Aber die Vorstellung von Bibliotheken, was ihre Aufgabe ist, wird sich auch nach dieser Pandemie immer weiterentwickeln.

 

Fussnoten

1 Für die DDR habe ich, glaube ich, schon einmal geschrieben, wie erstaunlich ich das fand, dass die Broschüre „Über die Arbeit in Freihandbibliotheken‟ (Günter de Bruyn, Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen ; 1957) auf Erfahrungen aus „den bürgerlichen Bibliotheken‟ (also BRD und vielleicht Österreich) und USA, Grossbritannien und Skandinavien sowie aus der DDR selber zurückgriff, aber gerade nicht auf – eigentlich damals schon existierende – Erfahrungen in der Sowjetunion mit Freihandbibliotheken.

2 Zu Arbeiterbibliotheken siehe meinen Artikel„Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts‟ (Schuldt, Karsten, in: Libreas 35 (2019), https://libreas.eu/ausgabe35/schuldt/), zu katholischen Bibliotheken (in Frankreich, aber das lässt sich prinzipiell übertragen) siehe „La mise au pas des écrivains. L’impossible mission de l’abbé Bethléem au XXe siècle.‟ (Mollier, Jean-Yves, Paris: Librairie Arthème Fayard, 2014).

3 [Ich weiss, hier wären Literaturnachweise angebracht. Aber die liegen leider nicht hier, wo ich gerade bin, sondern in einem Ort, den in wegen geschlossener Grenzen während der Pandemie nicht einfach erreichen kann.]

Eine untergegangene Tradition der bibliothekarischen Arbeit: Lesesoziologie

Ich möchte in diesem Blogpost (Essay?) gerne über einen Teil der Arbeit öffentlicher Bibliotheken (kleines ö, wird gleich thematisiert) reden, der lange Zeit ganz normal dazugehörte, aber seit einigen Jahrzehnten verschwunden ist. Das hat mit meinem Versuch zu tun, ein bibliothekshistorisches Buch zu schreiben, welches die Diskurse um öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum nachzeichnen soll. Im Rahmen der Recherchen dazu fallen solche abgebrochenen Traditionen selbstverständlich auf.

Diesen Teil der Arbeit, den ich besprechen möchte, nenne ich hier Lesesoziologie. So wurde er oft genannt. Aber es gab auch viele andere Bezeichnungen, zum Beispiel „Lesekunde‟, „Literatursoziologische Untersuchungen‟, „Leseforschung‟. Heute, wie gesagt, gibt es diese Tradition nicht mehr. Es gibt weiterhin eine Literatursoziologie in der Soziologie und Literaturwissenschaften miteinander verbunden sind, aber die – obgleich interessant – stellt andere Fragen. Mir geht es um die Lesesoziologie, die von Bibliotheken und bibliothekarischen Infrastrukturen betrieben wurde.

Ich spreche von öffentlichen Bibliotheken mit kleinem „ö‟, weil es um alle Bibliotheken mit dem Anspruch geht, eine gewisse Öffentlichkeit zu erreichen. Gerade für die Jahre vor 1933 (beziehungsweise den 1950ern in der Schweiz) gilt, dass es sehr verschiedene Bibliothekstypen gab, die das versuchten; nicht nur die, die am Ende die heutigen Öffentlichen Bibliotheken wurden. Auch bewegungsgebundene Bibliotheken („Arbeiterbibliotheken‟, Bibliotheken des politisch organisierten Katholizismus) oder „kommerzielle Leihbibliotheken‟ teilten sich diese Tradition. Ich spreche hier aber nicht von den Wissenschaftlichen oder Spezial-Bibliotheken.

Themen und Praktiken der Lesesoziologie

Es ist nicht ganz einfach zu sagen, wenn die Tradition der Lesesoziologie anfing und wann sie endete. Wie immer bei solchen Enden gibt es kein Dokument, dass sagt: „Jetzt ist Schluss.‟ So etwas passiert gradueller. Aber ich würde sagen, dass sie mit dem modernen Bibliothekswesen, also ungefähr in den 1880er Jahren aufkam und bis in die 1970er, vielleicht auch 1980er betrieben wurde. Mit merklichen Häufungen an Publikationen um die Jahrhundertwende und in den 1960er Jahren.

Wie und warum die Lesesoziologie betrieben wurde, veränderte sich – parallel zu den Bibliotheken selber – während dieser Zeit. Aber die Grundfragen war immer die gleichen: Was lesen die Lesenden? Die, die in die Bibliothek kommen und die, die nicht in die Bibliothek kommen? Oft wurde auch nach dem Warum lesen sie das? gefragt und lange Zeit auch: Welche Wirkung hat dieses Gelesene auf die Lesenden? (Letztes änderte sich mit der Zeit, siehe nächster Abschnitt.)

Es wurden verschiedene Methoden genutzt, um Antworten auf diese Fragen zu finden: Empirische (Umfragen, Auswertungen von Ausleihen, Befragungen) und theoretische (Auswertung der in Bibliotheken verliehenen Literatur, beispielsweise mit Modellen von „Schmutz und Schund‟ auf der einen, „Kunst und Technik‟ auf der anderen Seite). Es wurden Untersuchungen ganz verschiedener Grössenordnungen durchgeführt: Auf der Basis eine Bibliothek, einer Stadt oder eine Landes. Mal mit wenigen Themen, mal mit möglichst viel. Die bibliothekarische Literatur, die auf uns gekommen ist, ist voll von Ergebnissen solcher Studien: Artikel, Broschüren, Teile von Jahresberichten informieren über diese. Eine Anzahl von Abschlussarbeiten bibliothekarischer Ausbildungsgänge mit lesesoziologischen Studien existieren auch. Gerade die Vielzahl grauer Literatur lässt vermuten, dass es noch weit mehr Broschüren und Abschlussarbeiten gab, die vielleicht gar nicht überliefert wurden oder sich noch in dunklen Ecken von Magazinen und Archiven befinden.

Teil bibliothekarischer Arbeit

Eines ist wichtig zu betonen: Die Lesesoziologie war keine Aufgabe von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Sie war vorrangig Teil der normalen bibliothekarischen Arbeit und wurde vor allem von Bibliotheken selber durchgeführt, in allen öffentlichen Bibliothekstypen1 und offenbar auch von Bibliotheken aller Grössen. In älteren bibliothekarischen Lehrbüchern werden sie auch (aber eher nebenher, als wichtige, aber nicht immer durchzuführende Arbeit) thematisiert. Es war nicht so, das die paar Forschungseinrichtungen, die von Zeit zu Zeit gab, Hauptproduzenten dieser Studien gewesen wären.

Vielleicht auch deshalb sind die theoretischen Hintergründe der Arbeiten nicht immer leicht ersichtlich, selten reflektiert und vor allem sind die Studien methodisch nicht immer perfekt. Aber das mussten sie auch nicht. Es ging in ihnen nicht darum, wissenschaftliche Qualifikation nachzuweisen, sondern Wissen zu generieren, das oft den jeweiligen Bibliotheken zu Gute kommen sollte. (Allerdings ist es schon auffällig, wie viele Bibliothekare, spätere auch Bibliothekarinnen, sich zutrauten, solche Studien durchzuführen. Vom heute gerne mal postulierten geringen Selbstbewusstsein der Bibliotheken ist in den Studien nichts zu spüren.) Dafür wurden in der bibliothekarischen Literatur Kolonen über Kolonen von Zahlen und Titeln ausgeborgter Werke produziert, dargestellt und diskutiert.

Die Überzeugung, die sich auch in vielen Quellen explizit so ausgedrückt findet, war, dass Bibliotheken ihre Arbeit nur effektiv und sinnvoll durchführen könnten, wenn sie wüssten, was ihre Leser*innen lesen, beziehungsweise was die Menschen, die sie zu erreichen hofften lesen und warum. Nur dann könnten Bibliotheken (a) ihren Bestand sinnvoll aufbauen und (b) die Lesenden beraten. Ohne dieses Wissen können man nur mit Annahmen und den eigenen, immer unvollständigen, Vorstellungen arbeiten. Aber, das wird in den Quellen auch deutlich, selbst in Zeiten, als die Bibliothekare (männlich) stark der Meinung waren, dass sie bestimmen könnten, was gute und schlechte Literatur sei, welche Literatur zu welcher „Lesestufe‟ passen würde und welche (noch) zu komplex für für welche Lesenden war, gab es immer die Vorstellung, dass die (potentiellen) Lesenden Personen mit eigenem Willen seien, denen man nicht einfach Literatur aufzwingen könne. Mag das in der Realität auch anders gehandhabt worden sein, in den Quellen werden die Literaturinteressen immer erst einmal akzeptiert, um dann an ihnen zu arbeiten. Selbst, wenn man mit den Bibliotheken Menschen erziehen wollte, wurde es als notwendig angesehen, erst einmal zu wissen, was sie lesen.

Entwicklungen

Die Lesesoziologie entwickelte sich. Auch das wird in den Quellen sichtbar. Je nachdem, was die einzelnen Bibliotheken als ihre Aufgabe ansahen, entwickelte sich auch, was und wie genau gefragt wurde.

Lange Zeit war es üblich, die Aufgabe der Bibliotheken darin zu sehen, die jeweiligen Lesenden zu einer besseren Nutzung von Literatur zu erziehen. Nicht unbedingt als Selbstzweck. Im Diskurs der Lesehallen war zum Beispiel verankert, dass sie helfen sollten, vor allem in den unteren Sozialschichten Menschen, die das Talent dazu hatten und sich selber engagierten, den Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Das sollte diesen Menschen, aber auch der Gesellschaft im Allgemeinen helfen. Arbeiterbibliotheken sollten dazu beitragen, dass die organisierten Arbeiter*innen in die Lage versetzt würden, eine sozialistische (kommunistische, anarchistische und so weiter) Gesellschaft aufzubauen. Bibliotheken im Nationalsozialismus sollten dazu beitragen, dass sich Menschen ihre angeblich natürlichen Rolle in der „Volksgemeinschaft‟ und „Rasse‟ klar würden. Und so weiter. Lesesoziologie wurde eingesetzt, um den Erfolg solcher Aufgaben zu überprüfen. Borgten die Lesenden im Laufe der Zeit mehr „qualitätsvolle‟ und / oder politisch richtige Literatur aus? Verzichteten sie auf die falsche Literatur (lasen sie beispielsweise mehr sozialkritische Romane und weniger Liebesromane)? Wie wirkte sich die Arbeit der Bibliotheken jeweils darauf aus?

In den späten 1910er, frühen 1920er Jahren änderte sich die Vorstellung davon, wie Lesen funktioniert und was die Aufgabe von Bibliotheken ist. Nicht vollständig, nicht überall, aber doch merklich. Der demokratische Geist der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik zeigte sich auch in den Bibliotheken, obgleich es dort viele konservative Tendenzen gab. Man ging weniger davon aus, dass das Lesen der Menschen gesteuert werden könne, sondern das es eine Lesebiographie gäbe, deren Entwicklung man unterstützen müsse. Das lässt sich auch in den Lesesoziologie nachvollziehen. Immer mehr wird nicht danach gefragt, ob die richtige Literatur gelesen wird, sondern eher danach, welche Wege die Lesenden nehmen. Das Ziel ist oft immer noch, dass sie am Ende die richtige Literatur (was immer das in der jeweiligen Bibliothek ist) gelesen wird. Aber die Lesenden sollen praktisch selber dahinkommen und auf dem Weg dorthin unterstützt werden. Gesteuert, aber selbstbestimmt. (Das erscheint uns heute vielleicht nicht logisch, aber ist wichtig, diese Entwicklung auch als Entwicklung anzusehen. Bibliothekare, und auch die ersten Bibliothekarinnen, machten sich sehr wohl Gedanken über ihre Arbeit und veränderten ihre Vorstellungen. Das war nie eine feste Meinung, die für immer feststand und von allen geteilt wurde.)

Und auch, als sich nach dem Nationalsozialismus (beziehungsweise der Geistigen Landesverteidigung in der Schweiz) und den restaurativen Jahren dann Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die Auffassung durchsetzte, dass es die Aufgabe der Bibliotheken sei, die Interessen der potentiellen Lesenden zu unterstützen, ihnen Fortbildungsmöglichkeiten und „sinnvolle Freizeitbeschäftigung‟ zu bieten, aber sie auch nicht zu zwingen, wurde dem in der Lesesoziologie gefolgt. Weiterhin wird in diesen Jahren gefragt, was gelesen wird, von wem und warum. Es werden Thesen über die weitere Entwicklung der Literatur aufgestellt, da man davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche und technologische Entwicklungen auch darauf niederschlagen werden, was und wie viel gelesen wird. (Stichwort: Mehr Freizeit.)

Auffällig ist auch, dass die jeweilige Lesesoziologie sich mit den Aufgaben der Bibliotheken verbindet. In der DDR gab es beispielsweise immer wieder „parteiliche‟ Auswertungen, in denen aus den gesammelten Daten vor allem die der „Werktätigen und Kollektivbauern‟ herausgehoben wurden. Bekanntlich sollten die gefördert werden, damit sie die sozialistische Gesellschaft aufbauen könnten. (Und dann wären alle in der sozialistischen Gesellschaft, auch die, die nicht gesondert gefördert würden.) Hier verband sich Politik und Bibliotheksarbeit ganz direkt.

Aber, und das ist mir hier wichtig: Die Grundfragen der Lesesoziologie blieben. Was lesen die Leute und warum? Die Studien und Inhalte entwickelten sich mit den Bibliotheken,. Aber die Grundüberzeugung, dass eine sinnvolle Bibliotheksarbeit nur möglich wäre, wenn es Antworten auf diese Frage gibt, wurde die ganze Zeit beibehalten. (Das ist wichtig für die Frage ganz unten, ob sich Lesesoziologie wieder etablieren lässt.)

Gesellschaft und Lesesoziologie

Eine Sache, die in der ganzen Lesesoziologie auffällt, ist, dass sie immer einen Blick auf die Gesellschaft hatte. Egal, wer die Studien betrieb, egal in welchem Jahrzehnt oder für welchen Bibliothekstyp: Es gab immer ein klares Verständnis davon, dass die soziale Schicht und die konkreten sozialen Umstände, aus denen die betreffenden Lesenden kamen, eine grosse Bedeutung für die jeweilige Lesebiographie hatten. Sowohl dafür, was gelesen wurde als auch dafür, was als sinnvolle Lektüre galt. Nicht nur Arbeiterbibliotheken – bei denen das zu erwarten war, immerhin waren sie Teil einer marxistischen Bewegung – gingen davon aus, dass verschiedene soziale Schichten einen unterschiedlichen Zugang zum Lesen hatten, sondern praktisch alle taten dies. Sicherlich betonten andere Bibliotheken mehr die individuellen Entscheidungen der Lesenden. Aber praktisch galt immer:

  1. Prinzipiell können alle Menschen lernen, alle Literatur lesen.
  2. Menschen in verschiedenen sozialen Schichten haben unterschiedliche Möglichkeiten dazu. Deshalb ist es wichtig, nach den sozialen Umständen zu fragen.

Oft wurde zum Beispiel betont, dass Arbeiter*innen gar nicht so viel Zeit hätten, um sich umfassende literarische Kenntnisse anzueignen. Oder das der Alltag von Bäuer*innen durch die „Zeitläufe der Natur‟ geprägt sei und somit auch die Anregungen zur Beschäftigung mit Literatur andere wären als die der städtischen Mittelschicht. Das galt auch für Bibliotheken, die zum Beispiel einen „sozialen Ausgleich‟ im Ständestaat unterstützen sollten. Nicht nur für solche, die in Kategorien des Klassenkampfes dachten.

So oder so: Es war ein soziologisches Verständnis von Gesellschaft, das hinter der Lesesoziologie stand. Soziologisch in dem Sinne, dass die Gesellschaft begriffen wurde als in verschiedene soziale Schichten eingeteilt und dass die Literaturinteressen als von den sozialen Umständen dieser Schichten bedingt gedacht wurde (nicht determiniert, immer galt es auch die individuellen Interessen zu beachten). Deshalb zum Beispiel wurde intensiv diskutiert (in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen), ob der Zuwachs an Freizeit für Arbeiter*innen in Fabriken in den 1950er / 1960er Jahren zu anderen Leseinteressen dieser Schicht führen würden: Weil sich deren soziale Umstände veränderten.

Vom Verschwinden der Lesesoziologie

Heute gibt es, pauschal gesagt, keine Lesesoziologie mehr. Vor allem nicht mehr als Teil bibliothekarischer Arbeit. Sie kommt in der Ausbildung nicht vor. Sie kommt bei der Festlegung der Bestandsstrategien nicht vor und sie wird auch nicht bei den strategischen Prozessen von Bibliotheken benutzt. Wann ist das passiert und wieso?

Wie oben gesagt: Genau lässt sich das nicht sagen. Es scheint eher, als sei diese Tradition ausgelaufen. Wie so oft bei öffentlichen Bibliotheken scheint sich diese Veränderung in den 1970er zu vollziehen. Spätestens in den 1980er Jahren scheint die Tradition mehr oder minder „tot‟ gewesen zu sein. Sie taucht in den bibliothekarischen Publikationen nicht mehr auf.

Ist sie von etwas anderem ersetzt worden? Auffällig ist, dass, als diese Tradition verschwindet, das Konzept und der Begriff des „Kunden‟ (heute selbstverständlich auch „Kund*innen‟) auftaucht. Die Leute, die die Bibliothek nutzen, werden nicht mehr als Lesende, Benutzer*innen und so weiter verstanden, sondern als Kund*innen. Auch das nicht sofort, nicht vollständig. Aber wenn man ein Datum setzen will, dann wäre der Beginn des Engagements der Bertelsmann-Stiftung im deutschen Bibliothekswesen 1985 ein guter Termin. Das würde zeitlich passen. (Aber nicht erklären, warum es in Österreich, der Schweiz und auch der DDR mit dieser Tradition gerade dann vorbei zu sein scheint. Man kann das Engagement der Stiftung vielleicht als Katalysator einer Entwicklung, die auch so stattgefunden hätte, interpretieren.)

Was diesen Begriff unter anderem auszeichnet ist, dass die Menschen als einzelne Individuen begriffen werden, die eigne Interessen ausprägen. Soziale Unterschiede werden dabei eingeebnet: Warum die Individuen ihre Interessen ausprägen, warum sie das mögen und das nicht, wird als grundsätzlich egal angesehen. Sie werden Atomisiert. Es wird bei Kund*innen eher nach Trends gefragt, die sich entwickeln und auf die man reagieren müsste und nicht mehr nach sozialen Umständen, welche die Trends hervorbringen. Zumindest als These lässt sich aufstellen, dass die Lesesoziologie mit ihrem Fokus darauf, warum Menschen was lesen, nicht in ein solches Denken passt. Wenn die gesellschaftlichen Umstände die Literaturinteressen mitbestimmen, kann man sie nicht als Kund*innen verstehen. Die Fragen der Lesesoziologie passen nicht zum neoliberalen Denken.

Aber das kann nicht die ganze Erklärung sein: Das Wahrnehmen von Menschen als atomisierte Individuen, und nicht als geprägt von sozialen Schichten, muss überzeugt haben. Sonst wäre es nicht so angenommen worden. Und die Lesesoziologie – die, dass muss man erwähnen, oft zeigte, dass die Anstrengungen der Bibliotheken wenig Einfluss auf das Leseverhalten hatten – mussten weniger überzeugt haben.

Should we revive Lesesoziologie?

Bibliotheken heute wissen überhaupt nicht, welche Menschen aus welchen sozialen Schichten welche Literatur (oder welche anderen Medienformen) bevorzugen. Sie wissen nicht, ob sich das Interesse an bestimmten Medien, Genres und so weiter grob an sozialen Schichten orientiert oder nicht. Wenn überhaupt, dann wird gefragt, ob bestimmte Altersstufen und das Interesse an bestimmten Medien zusammenhängt. (Vor allem bei Kindern und Jugendlichen, nicht bei anderen Altersgruppen.2)

Die Lesesoziologie basierte auf der Annahme, dass man wissen müssen, was Menschen lesen und warum, um überhaupt den Bestand und die restlichen Aktivitäten der Bibliothek sinnvoll planen zu können. Das war keine falsche Überzeugung. Heute hingegen scheinen die meisten Entscheidungen von Bibliotheken über den Bestand und über die Angebote der Bibliothek auf kaum fundierten Vorstellen, Behauptungen und Hoffnungen (die sich halt auch oft zerschlagen) aufzubauen. Dadurch, dass die Tradition der Lesesoziologie aufgegeben wurde, haben sich Bibliotheken (gewiss ungewollt) eher in die Hände von meinungsstarken Einzelpersonen begeben. Sie sind dadurch strukturell dümmer geworden (im Sinne von: Sie wussten früher mehr).

Eventuell ist ein Grund dafür, dass sie ihre strategischen Entscheidungen mehr und mehr nicht an Medien, sondern an Angeboten, die weniger mit Medien zu tun haben, ausrichten, der, dass sie sich kaum noch Daten darüber erarbeiten, was Menschen eigentlich alles mit Medien machen. Die Abwertung der konkreten Mediennutzung (also dem lautstark thematisieren Interesse am Lesen und ähnlichen Aktivitäten) im bibliothekarischen Diskurs scheint auch mit dem Niedergang der Lesesoziologie einigermassen parallel zu laufen.

Deshalb drängt sich Frage auf (auch, weil die These vom Ende des Neoliberalismus in unseren Gesellschaften in der Luft hängt), ob es sinnvoll und möglich wäre, die Lesesoziologie wiederzubeleben. Sollte man Bibliotheken raten, sich wieder Studien darüber zuzuwenden, was und warum ihre potentiellen Nutzer*innen lesen?

Ja, aber der Zeit und unserem Wissen über die Medienrezeption angepasst. Es ist offensichtlich, dass in den letzten Jahrzehnten, in denen Bibliotheken versucht haben, Angebote neben der „reinen Mediennutzung‟ aufzubauen, die Nutzung der Medien – und vor allem immer noch das Lesen von ausgeborgten, gedruckten Büchern – weiterhin die Hauptaktivität in Bibliotheken geblieben ist. Das ist nie weggegangen. Deshalb sollte man auch wieder anfangen, Daten über diese Aktivitäten zu erheben und für die bibliothekarische Arbeit zu verwenden.

Wie oben diskutiert wurde die Lesesoziologie immer im Rahmen dessen durchgeführt, wie die Bibliotheken jeweils ihre Aufgaben definierten. Lesesoziologie ist also wandelbar. Was wäre heute anders?

  1. Sicherlich würde man heute die verschiedenen Medienformen, die in Bibliotheken vorhanden sind, integrieren. Das wäre keine Innovation. Als in Bibliotheken Angebote an Zeitschriften und Zeitungen aufgebaut wurden, wurden auch sie in die lesesoziologischen Befragungen integriert. (Sie würde dann vielleicht auch anders heissen. Aber Lesesoziologie ist ja, wie oben dargestellt, eh nur der Begriff, den ich gewählt habe. Insoweit wäre auch das kein Problem.)
  2. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herrschte eine recht direkte Vorstellung davon, wie Literaturrezeption funktioniert vor. Man ging davon aus, dass man aus dem Text selber herauslesen konnte, wie dieser auf die Lesenden wirken würde. Literatur würde praktisch eins zu eins interpretiert, Romane praktisch als Abbildung der Realität gelesen (und damit zum Beispiel falsche Vorstellungen vermitteln oder aber gerade ungewohnte Einblicke ermöglichen). Das stimmt selbstverständlich nicht. Die Literaturwissenschaft (oder auch die Filmwissenschaft, die Musikwissenschaft und so weiter) haben komplexere Rezeptionsmodelle erarbeitet und auch empirisch untermauert. Wir wissen zum Beispiel heute, dass Lesende jeweils mitbestimmen, wie ein Medium wahrgenommen wird und das Bedeutung eines Textes (Films, Musikstücks und so weiter) von diesen bei der Rezeption co-produziert wird.3 Solche Rezeptionsmodelle müssten sinnvoll in die Lesesoziologie integriert werden.
  3. Es gibt heute mehr Forschungseinrichtungen um Bibliotheken drumherum als früher. All die Fachhochschulen, aber auch mietbaren freien Forschungsinstitute wären wohl in der Lage, lesesoziologische Untersuchungen durchzuführen. Aber: Die Stärke der Lesesoziologie war, dass sie direkt von Bibliotheken durchgeführt und dann wohl auch eher genutzt wurde. Nur Daten über die Mediennutzung zu erheben, verändert die Bibliotheksarbeit noch nicht. (Es gibt ja zum Beispiel regelmässige Studien zur Nutzung digitaler Medien. Wie werden die den genutzt.) Wenn Bibliotheken solche Studien durchführen, müssen sie sich selber klar werden, was sie eigentlich wieso und wie fragen, auswerten und so weiter. Das ist es, was wiederbelebt werden sollte.

Was sich allerdings ändern würde durch eine solche „neue Lesesoziologie‟ wäre wohl, dass einige in den letzten Jahrzehnten liebgewonnene Vorstellungen über Bibliotheken aufgegeben werden müssten: Es würde sich zeigen (weil sich das in anderen soziologischen Studien auch immer wieder zeigt), dass sich die Interessen an bestimmten Medien, Genres, Inhalten und so weiter stark an den sozialen Schichten anlehnen. Die Grundvorstellung, dass es in unseren Gesellschaften nur „Kund*innen‟ gäbe, müsste aufgegeben werden. Ausserdem würde sich wohl zeigen, dass es weiterhin die Mediennutzung ist, welche die meisten Besuche von Bibliotheken motiviert. Es ist seit den 1980ern normal geworden, zu behaupten, Bibliotheken müssten sich auf andere Angebote konzentrieren (heute Makerspaces, aber auch das ist nicht neu, sondern eine Tradition). Es würde sich wohl zeigen, dass diese Behauptungen argumentativ davon profitieren, dass sie kaum empirisch überprüft werden. Wie gesagt zeigte sich in den lesesoziologischen Untersuchungen oft, dass die Bemühungen der Bibliotheken mit spezifischen Angeboten, Beratungen, Lenkungsversuchen und so weiter die Lesenden zu beeinflussen, immer nur geringe Effekte hatten,. Immer kamen Menschen vor allem, um das zu lesen was sie interessierte. Wenn sich also in neuen lesesoziologischen Untersuchungen zeigen würde, dass das auch heute gilt, wäre das nur gut. Es würde die Bibliotheksarbeit erden.

 

Fussnoten

1 In meinem Artikel zu Arbeiterbibliotheken in der vorletzten LIBREAS habe ich auch Beispiele angeführt, wo solche Studien zu polemischen Zwecken genutzt wurden. Zum Beispiel Abbildung 4 und 5, wo die Arbeiterbibliotheken Wiens anführen, welche Autor*innen und welche Arten von Beständen bei Ihnen ausgeliehen wurden, um zu zeigen, dass sie die Kultur der Arbeiter fördern würden. (Schuldt, Karsten (2019). „Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts‟. In: LIBREAS. Library Ideas 35 (2019), https://libreas.eu/ausgabe35/schuldt/).

2 Es gab auch die kurze Zeit, wo einige Bibliotheken auf den antifeministischen Zug aufzuspringen versuchten und angebliche „Literatur für Jungen‟ anbieten wollten. Das ist zum Glück untergegangen, wohl auch weil die Vorstellungen davon, was „Jungenliteratur‟ sein soll, auf keinen Daten – sondern auf hinterwäldlerischen und antifeministischen Annahmen – beruhte.

3 Das wäre übrigens die „richtige‟ Verwendung von „co-produziert‟ (richtig im Sinne von: hierfür gibt es einen Definition). Ich weiss, dass Bibliotheken diesen Begriff aktuell auch benutzen, aber mir ist nicht klar, was sie damit meinen. Offenbar nicht das.

„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.”

„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.” Die Präsidentin des Stiftungsrats der Liechtensteinischen Landesbibliothek, Christina Hilti, schrieb diesen Satz in ihre Geleitwort zur „Bibliotheksstrategie 2025”.1 Dabei war und ist sie nicht die Einzige. Vielmehr findet sich diese Aussage aktuell immer und immer wieder in Bibliotheksstrategien, in Texten, in denen sich Bibliotheken der Öffentlichkeit gegenüber vorstellen oder in denen über die Zukunft von Bibliotheken nachgedacht wird. Auch Journalistinnen und Journalisten schreiben ihn seit einig Jahren sehr gerne. Es ist klar, was dieser Satz heissen soll: Bibliotheken sind modern, entwickeln sich und so weiter.

Aber: Dieser Satz enthält eine (a) falsche und (b) auch ein wenig gefährlich Behauptung. Ich fände es gut, wenn im Bibliothekswesen etwas mehr nachgedacht wird, bevor solche Sprachbilder verbreitet werden. (Auf den Journalismus habe ich keinen Einfluss, aber auch da kommt diese Aussage ja nicht von ungefähr. Irgendwer muss die Leute ja darauf bringen, immer wieder diesen Satz zu schreiben.) Das werde in diesem Blogpost besprechen: Zuerst etwas dazu, wie Sprachbilder allgemein wirken (1), dann etwas zur Geschichte von Bibliotheken, die von diesem Sprachbild überzeichnet wird (2), anschliessend einige Überlegungen dazu, was der Effekt dieses spezifischen Sprachbildes ist (3) und im Fazit noch ein paar Vorschläge, was man anders machen könnte (4).

1.Sprachbilder

Bibliothekarische Texte verwenden, wie alle anderen Texte auch, Sprachbilder, um Zusammenhänge darzustellen, Überlegungen zu verdeutlichen, Argumente zu verstärken, Bedenken zu zerstreuen und so weiter. Aber Sprachbilder sind mehr als „nur Gerede”. Sie sind nicht unschuldig in dem Sinne, dass es egal ist, ob sie verwendet werden oder nicht.

Vielmehr produzieren erfolgreich angewendete Sprachbilder bestimmte Vorstellungen von Realität – und führen auch dazu, dass andere Vorstellungen von Realität mehr oder minder unmöglich zu denken sind. Nicht, weil es verboten wäre, sie zu denken, sondern weil sie von den wirkmächtigen Sprachbildern überdeckt werden. Meist wird durch solche Sprachbilder die komplexe Realität so weit reduziert, dass sie falsch wird. Wir kennen das: Wenn sich zum Beispiel das Bild durchsetzt, Lyrik sei vor allem unzugänglich und schwierig zu verstehen, prägt das, wie Lyrik wahrgenommen wird – auch wenn man einfach durch das Lesen von etwas Lyrik merken würde, dass das so überhaupt nicht stimmt. Aber es ist ein wirkmächtiges Sprachbild, das leider viele davon abhält, Spass mit Sprache zu haben.

Kurz: Sprachbilder verkürzen das Denken und die Wahrnehmung von der Realität. Das kann manchmal sinnvoll und notwendig sein, dass kann – in der Lyrik – auch interessante Effekte hervorbringen. Aber wenn es falsch läuft, bringen sie falsche Vorstellungen hervor und produzieren auch falsche (irrealistische) Überzeugungen. Deshalb sollten sie immer wieder einmal überprüft werden. [Ganz abgesehen davon, dass sie auch sprachlich langweilig sind. Wenn sie neu gefunden werden, im Gedicht, dann mag das interessant sein; aber wenn sie zum hundertsten Male wiederholt werden, dann vermitteln sie nur noch Überzeugung, nicht mehr sprachliche Innovativität.]

2.Bibliotheken als Bücherspeicher

Was mit dem Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” behauptet wird, ist, dass früher [Wann?] Bibliotheken einmal „Bücherspeicher” [Warum?] gewesen wären und sich jetzt [Seit wann?] verändert hätten [Wie?], also nicht mehr „Bücherspeicher” wären, sondern modern.

Das ist schlicht und ergreifend historisch falsch.

In der ganzen Geschichte moderner Bibliotheken (lassen wir sie mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts beginnen, ein guter Startpunkt ist „Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform” von Constantin Nörrenberg2) waren Bibliotheken nie „Bücherspeicher” – das gilt für alle Bibliothekstypen, dafür steht die Landesbibliothek in Vaduz als Nationalbibliothek und Öffentliche Bibliothek in einem ganz gut. Immer gab es Versuche – sowohl in der Literatur als auch in der Bibliothekspraxis selber – Bibliotheken als moderne Einrichtungen zu definieren und zu gestalten.

  • Niemals gab es die Idee, die Bibliothek als reine „Ausleihstation” oder „Bücherspeicher” zu betreiben. Vielmehr wurden Bibliotheken immer wieder Aufgaben zugeschrieben, die sie erfüllen sollten (oft aus den Bibliotheken selber, manchmal aber auch von aussen): Bildung, Kampf gegen die Sozialdemokratie oder für das Klassenbewusstsein, gegen den Alkoholismus oder für den Patriotismus, gegen schlechte Literatur oder zum modernen Staatsbürger, zur modernen Staatsbürgerin, die Aufbewahrung und Erschliessung des nationalen Kulturerbes. Aber niemals galten sie als „reiner Bücherspeicher”.

  • Was genau modern hiess und was Bibliotheken deswegen tun sollten, veränderte sich mit der Zeit. Es war oft umstritten, gab immer wieder auch andere Meinungen (so wie es lange nicht nur eine Form von Bibliothek gab). Aber das ist ja mit einem Blick in die Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts auch zu erwarten.

  • Diese Entwicklung wurde im DACH-Raum zum Teil durch Kriege und gesellschaftliche Katastrophen unterbrochen; es war auch keine gradlinig verlaufene Entwicklung. (Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bekanntlich in Deutschland und Österreich erstmal versucht, an die Vorstellungen und Debatten der 1920er wieder anzuschliessen. Aber man darf sich zum Beispiel deswegen nicht vorstellen, dass Bibliotheken während des Nationalsozialismus nicht „entwickelt” worden wären. Vielmehr gab es bis in die Jahre des Weltkrieges hinein massive Entwicklungen, Neubauten, Aufbau von Infrastrukturen – ganz abgesehen davon, dass in der Zeit selbstverständlich auch in der Schweiz und Liechtenstein Bibliotheken weiterentwickelt wurden.) Aber immer gab es eine Entwicklung. Und niemals eine dahin, dass die Bibliothek nur Bücher „speichern” sollten.

  • Das gilt gerade auch für Bibliotheken und Bibliothekstypen, die wir heute als unmodern und veraltet ansehen. Aber auch die „Thekenbibliotheken” der 1910er – egal ob mit oder ohne Lesesaal – hatten nicht einfach die Aufgabe, Bücher zu speichern. Sie sollten als moderne Einrichtungen wirken. Der Bestand, das ganze Sammeln, Auswählen, Managen, Vermitteln von Beständen war diesen Aufgaben untergeordnet. Es gab zu anderen Zeiten mehr Bücher in Bibliotheken als heute, aber das hatte auch mit den jeweils vorhandenen Medien zu tun – und es gab auch immer wieder Diskussionen über andere Medienformen. Das ist nicht neu.

  • Was es auch gab, waren immer Bibliotheken, die den gerade aktuellen Ansprüchen an moderne Bibliotheken nicht genügten, die schlecht ausgestattet waren, sich langsamer entwickelten und so weiter. (Und es gab lange auch solche, die aus anderen Bibliotheken heraus abgelehnt wurden, weil sie die falschen Ziele verfolgten.) „Veraltete” Bibliotheken gab es immer, aber daneben – das ist für die folgende Argumention wichtig – immer, immer Diskussionen darüber, wie moderne Bibliotheken auszusehen hätten, wie sie einzurichten wären und was für Leistung von ihnen erwartet werden könnten.

Der Unterschied ist nochmal wichtig: Einen Diskurs um moderne Bibliotheken gab es immer. Mal mehr heftig, mal weniger; mal besser untermauert, mal weniger; mal mit mehr Beteiligung, mal mit weniger – aber irgendwie gab es ihn immer. Und daneben gab es immer eine bibliothekarische Realität, die diesen Diskussionen nicht perfekt entsprach – aber das ist ja auch logisch, sonst wären die Diskussionen nicht notwendig gewesen.

3.Was dieses Sprachbild verdeckt

Was passiert nun, wenn der Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” benutzt wird? Es wird eine Entwicklung des Bibliothekswesens behauptet, die nicht stimmt. Es wird damit auch die Realität über die heutigen Diskussionen und Darstellungen davon, was eine moderne Bibliothek sei, verzerrt.

  1. Der Versuch, Bibliotheken modern zu gestalten, ist auch historisch der Normalfall. Das heute darüber diskutiert wird, dass sich Bibliotheken zur Gesellschaft öffnen sollten, dass sie einen bunten Medienmix anbieten sollten, aber auch Lern- und Arbeitsplätze, dass sie Veranstaltungen anbieten sollten – all das ist Teil einer Tradition. Es passt in die Geschichte des bisherigen Diskussionen und ist gerade nicht neu (und, so wie es aussieht, werden auch diese Diskussionen wieder von neuen Diskussionen abgelöst werden; sie brechen eigentlich mit nichts und fangen auch so richtig nichts Neues an).

  2. Die tatsächlichen Veränderungen sind nicht die, über die geredet wird. Das Sprachbild vermitteln den Eindruck, als hätte sich bislang niemand Gedanken darüber gemacht, was die Bibliotheken sein sollten, sondern als seien bislang vor allem Bücher „gespeichert” worden – ohne grosses Nachdenken, wozu. Mit dieser Behauptung im Hinterkopf kann dann auch das Einrichten eine Bibliothekscafés als radikal neue Entwicklung angesehen werden (oder, dass man die Nutzerinnen und Nutzer auch mal fragt, wie sie die Bibliothek sehen). Aber was sich wirklich verändert (hat) sieht man so nicht. Insoweit wird man auch immer wieder die realen Entwicklungen falsch einschätzen: Als Bruch mit einer Tradition, als radikal neu, als ganz anders, als modern – aber man kann gar nicht fragen, ob sie das wirklich sind, weil man so zum Beispiel nicht sehen kann, dass die Orientierung an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer schon lange Thema war.

  3. Die Vorstellung davon, wie die „alten Bibliotheken” waren, die jetzt verändert werden, basieren so also auf einer falsche „Rückprojektion”. Was nicht selten zu passieren scheint, ist, dass einzelne Personen ihre privaten Erfahrungen davon, wie Bibliothek „früher waren” (vielleicht zu ihrer Kindheit oder Jugend) als Basis dieser „Projektion” nutzen. Aber das ist falsch: Wie gesagt gab es immer „schlechte”, „veraltete” Bibliotheken; auch haben immer Menschen Bibliotheken etwas anders interpretiert, als die Bibliotheken selber. Es mag also sein, dass einer oder einem Jugendlichen die lokale Bibliothek damals…. 1983 (?)… als „Bücherspeicher” erschien (weil sie keine heissen Scheiben hatte?). Aber das ist nicht gleichzusetzen mit der tatsächlichen Diskussion im Bibliothekswesen, sondern vielleicht eher mit der Wahrnehmung Jugendlicher der unterfinanzierten Bibliotheken 1983 in XYZ-Stadt.

  4. Das ist auch relevant für Folgendes: Die Vorstellung, jetzt würden durch neue Diskurse die Bibliothek verändert, ist so nicht stimmig: Es ist erstmal nur eine Veränderung der Diskurse. Es scheint oft, als würde angenommen, der Diskurs sei schon eine Veränderung der Realität. Menschen stellen sich vor, zu wissen, was die Bibliothek 1983 (?) war („ein Bücherspeicher, da sind wir nie reingegangen”) und würden jetzt den Diskurs ändern („auf die Stadtgesellschaft zugehen, sie in die Bibliothek hineinholen”). Aber das sind zwei unterschiedliche Ebenen (die auf einander bezogen sind). Den Diskurs, nicht nur Bücher anbieten und nicht nur im Literaturbereich unterwegs zu sein, gab es auch schon 1983; Jugendliche, die das nicht wahrnehmen und nicht in die Bibliothek gehen, gibt es auch 2019 (vielleicht gibt es jetzt weniger davon, aber das mag eher mit den heutigen Jugendlichen zu tun haben).

  5. Man vergibt sich also, die Erfahrungen, welche schon in der Vergangenheit bei der Entwicklung von bibliothekarischen Diskursen und darauf basierenden Veränderungen der Bibliothekspraxis gemacht wurden, in die heutige Entwicklung zu integrieren. Zu vermuten ist, dass man deshalb auch bestimmt viele, viele Erfahrungen, die schon längst gesammelt wurden, noch einmal macht. Vor allem, weil nicht nachschaut wird, was schon gelernt wurde – weil man denkt, die Bibliothek früher sei „ein Bücherspeicher” gewesen, von dem man nichts zu lernen hätte.

  6. Daneben ist diese Vorstellung auch etwas beleidigend gegenüber den früheren Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die sich immer auch schon Gedanken um die Entwicklung von Bibliotheken – auf der Ebene einer Bibliothek oder aber des Bibliothekswesens – gemacht haben. Selbstverständlich waren die auch nicht dumm und selbstverständlich haben die auch nach sinnvollen Möglichkeiten gesucht, moderne Bibliotheken zu entwickeln. Das diskreditiert man, wenn man behauptet, erst jetzt würde man sich solche Gedanken machen. (Als ob Menschen heute, 2019, klüger wären als 1890.)

  7. Falsche Vorstellungen über die vergangene Bibliotheken scheinen ein Grund für falsche Vorstellungen über langfristige Entwicklung hin zu den heutigen Bibliotheken, den Diskussionen um die Entwicklung von Bibliotheken und der Realität in Bibliotheken zu sein. Solche falschen Vorstellungen können zu falschen Entscheidungen führen (wenn man zum Beispiel gar nicht fragt, warum bestimmte Dinge so geregelt wurden, wie sie geregelt sind, sondern sich einfach vorstellt, dass das immer eine mindestens veraltete Entscheidungen gewesen wären).

Sicherlich: Solche Sprachbilder können immer schnell in die Tasten gehauen werden – vor allem, wenn sie schon so oft zuvor gebraucht wurden. Mein Tipp wäre hier aber, einfach mal von Zeit zu Zeit in ältere bibliothekarische Zeitschriften zu schauen, ganz zufällig über die Jahrzehnte verteilt oder aber gezielt aus der Zeit, von der man denkt, dass Bibliotheken damals „Bücherspeicher” gewesen seien, und dort nachzuschauen, über was damals eigentlich wirklich diskutiert wurde. Nicht selten wurde sogar tatsächlich über „Bücherspeicher”, also Magazine, diskutiert, aber nie als Leitbild von Bibliotheken.

4.Fazit

Am Ende würde ich dafür plädieren, gerade dieses Sprachbild nicht mehr zu benutzen. Es ist einfach falsch und überdeckt zu viel. [Und es ist auch langweilig geworden. Wenn schon Sprachbilder, warum dann nicht ein paar neue? Die Lyrik schafft das ja auch.] Wirklich gut wäre, sich öfter mal Gedanken darüber zu machen, was man da eigentlich sowohl in die Bibliotheken hinein als auch aus ihnen heraus für Vorstellungen transportiert, wenn man bestimmte Sprachbilder nutzt und sich dann zu fragen, ob man das wirklich will. [Ich hätte da noch einige andere Beispiele: Was soll das beispielsweise mit dem „Sofa” oder „Wohnzimmer der Stadt”, das Bibliotheken sein sollen?]

Was man unbedingt tun sollte, ist, nicht so zu reden oder zu denken, als sei man, nur weil man gerade in 2019 aktiv ist, klüger als die Kolleginnen und Kollegen vorher. Selbstverständlich hatten die in vielem nicht Recht, selbstverständlich waren viel ihrer Annahmen falsch – aber die kann man nicht sinnvoll kritisieren, indem sie abqualifiziert als quasi dumm („nur Bücherspeicher”). Wenn wir hingegen deren Überlegungen und deren Bibliothekspraktiken ernst nehmen, können wir in der Auseinandersetzung mit diesen viel besser und viel genauer darüber nachdenken, was eigentlich unsere Vorstellungen sind, wo diese herkommen und wo die tatsächlich hingehen. Wenn wir hingegen behaupten, bisher sei einfach alles unmodern und falsch gewesen, aber jetzt, weil wir gerade in unserer Zeit leben und weil wir unsere Methoden anwenden, wüssten wir es einfach besser, halten wir uns (selber) vom Nachdenken darüber ab, was sich wirklich verändert und / oder verändern sollte. Es macht uns ehrlich gesagt dümmer und überheblicher, als wir sein müssten. Veränderung gab es immer – das macht unser Zeitalter nicht aus.3

Zu lernen ist auch, dass der Zusammenhang zwischen Diskurs und Realität wohl komplexer ist, als das man erwarten könnte, einfach mit einer Veränderung des Diskurses schon die Realität massiv zu verändern. Wie gesagt: Diskussionen darum, wie eine moderne Bibliothek sein sollte, gab es praktisch immer, seit die Gesellschaft über breitenwirksame Einrichtungen diskutiert. Aber offenbar, sonst wäre das Sprachbild von den „Bücherspeichern”, die Bibliotheken angeblich früher gewesen seien, nicht so überzeugend: Die Realität, zumindest die, die wahrgenommen wurde, war offenbar nicht immer so. Es gibt keinen Hinweis, das einfach durch eine Weiterentwicklung der Diskussionen die Wahrnehmung der Bibliotheken verändert wird.

 

Fussnoten

1 Liechtensteinische Landesbibliothek: Bibliotheksstrategie 2025. Vaduz 2018, S. 2, https://www.landesbibliothek.li/wp-content/uploads/2019/01/LiLB_Bibliotheksstrategie-2025_20190130.pdf.

2 Constantin Nörrenberg: Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform. Berlin 1895, https://archive.org/details/dievolksbibliot00nrgoog. Ich verlinke die hier auch, damit man gleich einmal mit dem im Fazit angesprochenen Nachlesen in älterer bibliothekarischer Literatur beginnen kann.

3 Auch die Behauptung, heute gäbe es mehr Veränderung als früher, stimmt nicht – einfach nochmal über die Veränderung 1880-1900 nachdenken und dann mit der Veränderung 1999-2019 vergleichen. Erstere war, was leicht zu sehen ist, massiver.

Neo-70er. Oder: Bibliotheken werden nicht getrieben, sie erfinden nur ständig die 1970er neu. [Vortragsskript, 13. InetBib-Tagung, Stuttgart, 12.02.2016]

Vorbemerkung: Im Folgenden ein Skript meines Vortrags auf der diesjährigen, 13. InetBib-Tagung in Stuttgart. Der Vortrag war auf die Tagung und deren Motto – „Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?“ – zugeschnitten, also auf ein Treffen, auf der Bibliotheken vor allem darüber sprechen, wie sie an auf die Zukunft gerichteten Projekten arbeiten, verbunden mit einem Motto, dass in gewisser Weise eine unterschwellige Angst ausdrückt, von Entwicklungen ausserhalb der Bibliotheken „überholt“ zu werden. Er präsentierte eine These, mit der ich mich schon länger rumschlage und die zu dieser Tagung gewollt etwas quer stand. Diese These ist ein Diskussionsangebot, allerdings sind Tagung nicht der perfekte Ort für Diskussionen (ein grosser Saal, vorne die Vortragenden, alle anderen im Hörsaal schauen nach unten). Trotzdem rief der Vortrag einige Reaktionen hervor, die ich so von anderen Vorträgen nicht kenne. Ein ganzer Teil der Kolleginnen und Kollegen, vor allem auf den hinteren Reihen ganz oben (die man aber von der Position des oder der Vortragenden halt am Besten sieht) schienen nicht einverstanden zu sein, sondern sehr vor sich hinzugrummeln. Warum genau weiss ich selbstverständlich nicht. Aber es schien mir schon mehr Widerspruch als sonst. Gleichzeitig kamen nach dem Vortrag aber auch viel mehr Anwesende, als sonst, die etwas zu meinen Thesen zu sagen hatten. Auch das eher kurz, weil selbstverständlich auf einer Tagung auch die Kaffeepausen eher kurz sind. Aber offenbar haben meine Ausführungen ein paar Punkte getroffen, die zumindest Reaktionen auslösten.

Da nicht alle Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart anwesend waren und weil ich tatsächlich die These als Diskussionsangebot unterbreite möchte, bei der ich selber noch nicht sicher bin, was genau sie bedeuten (könnte), aber gleichzeitig überzeugt bin, dass die Beobachtungen, die ich im Vortrag darlegte, für die bibliothekarischen Debatten relevant sind, liefere ich hier einen über die Folien (hier) hinausgehenden Beitrag nach. Er ist als Skript geschrieben, das heisst, er folgt den Folien, die ich verwendete. Gleichzeitig ist es erst nach der Tagung geschrieben worden, insoweit stimmt es nicht mit dem gesprochenen Wort – dass sich auch auf die Tagung und die heftigen Diskussionen um einen kurz vorher publizierten Artikels eines gar nicht Anwesenden bezog – überein, aber mit dem, was ich sagen wollte.

 

Folie 1

Erinnerung

Die Frage der Konferenz ist: Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?

Gegenthese:

  • Bibliotheken haben das Gefühl getrieben zu werden, wissen aber nicht, dass sie sich das selber immer wieder neu erzählen.
  • Die meisten Debatten gab es schon mal.
  • Bibliotheken wissen nicht, was ’sie‘ schon gemacht und durchgestanden haben.

 

Guten Morgen. Ich möchte Ihnen heute einige Thesen vorlegen, die sich aus dem Motto der Tagung und meiner Forschungstätigkeit ergeben haben. Dabei müssen Sie beachten, dass ich als Bibliothekswissenschaftler viele Nachteile gegenüber Ihnen in den Bibliotheken habe, aber einen Vorteil: Ich muss nicht, wie die meisten der hier Anwesenden, Entscheidungen darüber treffen, was in einer konkreten Bibliothek passiert, was dort demnächst gemacht werden oder wofür Geld ausgegeben werden soll. Stattdessen kann ich am Rande meiner Arbeit über Bibliotheken und deren Entwicklungen in einer längeren Perspektive nachdenken. Eine Sache, die ich dabei noch recht oft mache, ist, die Bibliotheksliteratur aus der Vergangenheit anzuschauen. Nicht so sehr die von vor einigen hundert Jahren, sondern eher die der vergangenen Jahrzehnte. Dabei ist mir etwas aufgefallen, dass sich dann mit dem Motto dieser Tagung zu diesem Vortrag entwickelt hat.

Dabei muss Sie bitten, dass alles als provisorisch anzusehen, als Vorschlag zur Diskussion. Vielleicht übertreibe ich Entwicklungen, vielleicht beachte ich wichtige Dinge nicht. Aber ich denke, es ist besser, Ihnen das zur Diskussion vorzulegen, als es zurückzuhalten.

Sie erinnern sich, dass das Motto der Tagung lautet: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Es geht also darum, ob die Bibliotheken nicht ganz up to date sind, sondern Entwicklungen hinterher rennen oder ob sie selber bestimmen, was up to date ist. Ich möchte dem eine These gegenüberstellen. Mir scheint, dass Bibliotheken sehr gut darin sind, sich gegenseitig überzeugend zu erzählen, dass sie getrieben würden – was auch seine guten Seiten hat, weil es Bibliotheken offenbar zu ständigen Veränderungen antreibt. Dabei scheinen sie sich aber nicht im Klaren zu sein, dass die meisten der Debatten darüber, wie und warum Bibliotheken sich entwickeln sollen oder müssen, schon mindestens einmal geführt wurden und das die Bibliotheken diese Debatten auch durchgestanden haben.

Das, was wir heute im Bibliothekswesen als Entwicklungen diskutieren – und das auf verschiedenen Ebenen und Themengebieten –, scheint mir in vielen Fällen so ähnlich schon einmal in den 1970er Jahren diskutiert worden zu sein. Oft mit den gleichen Argumenten für die (vorgeblichen) Entwicklungen, manchmal bis hin zu den einzelnen Formulierungen, oft mit ähnlichen Lösungen; nur halt oft auf der Basis der damaligen technischen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Was ich Ihnen in diesem Vortrag aus Zeitgründen nicht zeigen werde, sondern als grosse These darbiete, ist die Behauptung, dass sich in den 1970er Jahren, innerhalb weniger Jahre, in den deutschsprachigen Bibliothekswesens – zumeist mit Ausnahme der DDR, die ein Thema für sich ist – das Denken der Bibliotheken über sich selber und über die Herausforderungen der Bibliothek radikal änderte. Sicherlich ging dies nicht sofort mit dem dem Jahreswechsel von 1969 zu 1970 einher, aber doch scheint es mir so, als ob die bibliothekarische Literatur der 1960er und 1950er Jahre noch sehr wie die der 1920er oder 1910er Jahre klingt, sowohl in Gestus als auch der Zielsetzung der bibliothekarischen Arbeit, der Wahrnehmung der Bibliothek – und sich dann in kurzer Zeit vom Ende der 1960er und bis vielleicht 1975, die bibliothekarischen Literatur rabiat änderte und sich Diskursformen etablierten, welche sich seitdem in der bibliothekarischen Literatur immer wieder finden. Mir scheint, die 1970er waren die Zeit dieses Bruches, nicht etwa die 1990er, auch nicht die späten 1940er (was man ja aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Jahren eher hätte erwarten können).

Falls Sie eine ähnlichen Bruch suchen, allerdings einen mit einer hohen Fallhöhe, wie ich Ihnen noch mehr in diesem Vortrag als Interpretation vorschlagen werde: Mich erinnert dieser Bruch in den Diskursen, auch wenn er viel kleiner ist, immer wieder an das Aufkommen der Strafgesellschaft, wie sie Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschreibt (Foucault 2001), wo innerhalb kurzer Zeit Ende des 18. Jahrhunderts sich auf einmal Formen des Denkens über die Steuerung, Kontrolle und Bestrafung von Menschengruppen durchsetzen, die dann dazu führten, dass auf einmal ganz viele unterschiedliche öffentliche Bauten ähnlich konzipiert wurden: das Gefängnis, die Schule, die Kaserne, die Fabrik, das Hospital. Selbstverständlich: Bibliotheken sind ein viel erfreulicheres Thema als die Gefängnisse, aber der Bruch scheint mir ähnlich erstaunlich zu sein und ähnlich plötzlich aufzutreten. (Was ich auch nicht tun werde, aber was eine interessante Forschungsfrage wäre, wäre zu schauen, ob ähnliche Brüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise dem Bildungswesen, der Krankenversorgung oder auch den Gefängnissen, zur gleichen Zeit stattfanden.)

 

Folie 2

Vorbemerkung I:

  • Vortrag soll diese These testen
  • Persönliche Note: Gesellschaftliche Veränderung nach dem Ende der DDR meine „Lebenserfahrung“ –> Eindruck, dass sich einige Veränderungen & Versprechen wiederholen –> vielleicht überbetont
  • Texte aus den 70er zum Bibliothekswesen vermitteln aber ähnliches Gefühl („gab es doch schon…“)

 

Zwei kurze Vorbemerkungen, die mir notwendig erscheinen: Zu meiner Biographie gehört, dass ich meine Jugend in den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt habe und zuvor auch den Zusammenbruch der DDR. Neben all dem Stress mit Nazis und Ostalgischen Menschen, neben all der Freiheit, die wir dann auf einmal hatten und den frei nutzbaren Platz, den wir in Ost-Berlin damals noch vorfanden, gibt es eine Erfahrung, die vielleicht Menschen, die damals nicht in Ostdeutschland lebten, so nicht bewusst ist, obwohl sie doch sehr prägend war: Die 1990er waren eine Zeit, wo sehr oft der Eindruck entstand – was auch mit den Personen zu tun haben wird, die damals „in den Osten gingen“, um zu erzählen, wie Demokratie und Kapitalismus und Politik so richtig geht –, dass sehr viele Versprechen und Ansätze sich wiederholten, die es mit einer (zumeist) anderen Terminologie schon in der DDR gegeben hatte. Sicherlich veränderten sich Dinge, aber viele blieben auch einfach gleich, zumindest in der Grundstruktur. Mir scheint, dass diese Erfahrung unter anderem meinen Blick auf Entwicklungen im Bibliothekswesen geprägt hat und vielleicht zu sehr geprägt hat. Das wäre vielleicht ein Ansatz, meine These wieder aufzuheben. Vielleicht ist das, was ich Ihnen präsentieren möchte, einfach überinterpretiert.

Und trotzdem scheint mir immer wieder, dass sich dieses Gefühl, auf die gleichen Diskurse und Thesen, wie sie auch heute besprochen werden, gestossen zu sein, immer wieder sich einstellt, wenn man die bibliothekarischen Texte aus den 1970er Jahren – die immer noch in den Magazinen der Bibliotheken stehen und leicht zugänglich sind – liest.

 

Folie 3

Vorbemerkung II:

Die 1970er Jahre waren eine Zeit voller gesellschaftlicher Umbrüche und Zukunftsvisionen (gleichzeitig: gesellschaftlicher Kontinuität)

  • politische Bewegungen wurden „erwachsen“ und wirkmächtig
  • die Gesellschaft wurde als „in radikaler Veränderung“ begriffen, inklusive vieler neuer Möglichkeiten
  • generelle Liberalisierung
  • neue Technik, neue Methoden (u.a. in Schulen, Betrieben)
  • viele „Irrwege“ wurden enthusiastisch begangen –> Überzeugung vieler, zu wissen, was die Zukunft bringt

 

Eine zweite Vorbemerkung für alle die, die – so wie ich – vielleicht die 1970er gar nicht selber erlebt haben: Die 1970er Jahre, gerade die frühen, waren in den deutschsprachigen Gesellschaften (wieder, mit partieller Ausnahme der DDR) Zeiten grosser gesellschaftlicher Umbrüche, deren man sich heute nicht mehr ganz gewahr ist. Damals wurde in weiten Teilen der Gesellschaft davon ausgegangen, dass sich grundlegend alles ändern würde. Es gab politische Bewegungen, innerhalb und ausserhalb der Parlamente, die eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft oder auch eine ganz andere Gesellschaft anstrebten und die in den 1970er Jahren sehr wirkmächtig wurden. Ich habe vor kurzem in einem Projekt in St. Gallen, einen eher konservativen, aber auch nicht dem konservativsten, Kanton, politische Dokumente aus dieser Zeit gelesen, wo sich die politischen Parteien zu geplanten Gesetzen äusserten. In diesen Schriften finden sie auch bei den damaligen konservativen Parteien – die SVP gab es damals in der heutigen Form noch nicht – Sätze der Art: „In einer Zeit wie heute, wo alles in Frage gestellt wird…“ und die Vorstellung, dass es gerade aktuell eine notwendige Hinterfragung von gesellschaftlichen Strukturen und Zielen gab – und das das gut wäre. Generell gab es in den deutschsprachigen Gesellschaften (ausser der DDR) einen unheimlichen Liberalisierungsschub. Alles wurde „modern“, aber immer auch mit der Überzeugung, dass es dadurch besser und freier würde oder zumindest werden sollte.

Dies gilt nicht nur für das Denken, sondern auch für Technik und Methodiken. Beispielsweise wurden im Schulbereich unheimlich viele Experimente mit damals neuen Lernmethoden und Lerngeräten angestellt, die zumeist später wieder eingestellt wurden. Aber es war zum Beispiel auch eine Zeit, wo ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob man „Lernmaschinen“ bauen sollte, die auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler reagieren und den Unterricht individueller machen würden. In den Fabriken wurden in diesen Jahren Computer, Rechenzentren und erste Roboter in grosser Masse eingeführt.

Wenn Sie Literatur der damaligen Zeit lesen, nicht nur im Bibliotheksbereich, sondern zum Beispiele gerade im Bildungsbereich oder auch politischen Programme, finden Sie unter anderem einen Diskurs von Behauptungen darüber, wie die Zukunft sein wird. Oft sind diese Texte sehr polemisch gegenüber dem, was angeblich bislang gewesen wäre; also ein Diskurs von „was bisher war, ist alt und unmodern“ und das, was in Zukunft kommen oder gelten wird, ist dagegen modern und es wird genau so und so sein. Es gab ein unheimliches Vertrauen darin, die Zukunft vorhersagen und auch planen zu können. (Diese Überzeugung gab es dann auch in der DDR, aber mit einem anderen Hintergrund.) Vieles davon hat sich als falsch herausgestellt, aber in den 1970ern wurde es noch mit sehr viel Überzeugung vertreten.

Das als Hintergrund.

 

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Ein paar Beispiele für Dinge, die in den 1970ern im Bibliothekswesen diskutiert wurden – und heute sehr modern klingen

 

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Beispiele für Diskurse und Vorschläge zeigen, die Sie in der deutschsprachigen Bibliotheksliteratur der 1970er Jahre finden und die sich nicht so sehr von dem unterscheiden, was heute im bibliothekarischen Rahmen diskutiert wird. Sicherlich sieht die Technik heute anders aus, aber Sie werden hoffentlich sehen, dass die grundlegenden Vorstellungen und Ängste sehr ähnlich waren, zum Teil bis hin zur Terminologie.

Dabei sind das die Beispiele, die mir aufgefallen sind. Nicht alle, da wir nicht unendlich Zeit haben. Aber ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie systematischer Vorgehen, noch mehr Beispiele finden werden. Und das scheint mir wichtig: Ich habe diese Beispiele nicht aktiv gesucht, Sie sind mir eher zufällig aufgefallen, aber immer wieder neue und immer mehr, so dass ich irgendwann zur Grundthese meines Vortrags kam. Wie gesagt, ich präsentiere Ihnen die hier als Diskussionsvorschlag. Falls die Diskussion in Gang kommt, wäre es eine Aufgabe, nachzuschauen, ob ich einfach schon alles gefunden habe und überinterpretiere oder ob ich auf eine interessante Struktur gestossen bin.

 

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VORWORT

Kürzlich wurde mir in den USA die Bibliotheken eines elitären College mit besonderem Stolz vorgezeigt: sie hat kaum mehr Bücher; wirkt wie ein Rechenzentrum; alles ist mikrofein und telegen gespeichert; die Lesegeräte und Leseterminals machen die Räume zu technologischen Gehirnzellen und Kommunikationsganglien, in denen Informationen sekundenschnell zirkulieren, clever abgerufen, und (…) inkorporiert werden. Statt Bibliothekarinnen müssten eigentlich Stewardessen das geistige Air-conditioning durchstrahlen. (…)

 

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einer Broschüre – Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion – beginnen. Genauer mit einem Zitat direkt aus dem Vorwort (Glaser 1976). Sie sehen den ersten Teil hier. Die Broschüre wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung, also der SPD-nahen Parteienstiftung, herausgegeben und behandelte die Frage, wie die Öffentliche Bibliothek in den zukünftigen Städten der damaligen BRD aussehen sollte. Das ist also keine Vorstellung irgendwo von einem gesellschaftlichen Rand, ganz utopisch von links oder so; sondern kommt direkt aus der politischen Mitte. Es ist eine „normale“ Schrift und keine Novität.

Was sehen wir in diesem Zitat? Lassen Sie mich auf ein paar Punkte hinweisen. Sie sehen die Vorstellung von einer zukünftigen Bibliothek, die von Technik bestimmt sein wird. Offenbar gegenüber der bisherigen Bibliothek: Die Bücher verschwinden, die Computer kommen und das Wissen wird über die Computer organisiert. Das ist eine Vorstellung, die Sie technisch aktualisiert heute auch im bibliothekarischen Diskurs finden. Die Angst oder Vorstellung, dass die Bücher und Medien verschwinden und die Bibliothek von der Technik geprägt werden wird. Sie wissen das selber. Aber was Sie hier auch sehen, ist, dass diese Vorstellung nicht mit dem Internet oder so begonnen hat. Sie ist schon älter. (Und vor den 1970er Jahren scheint sie so aber nicht in breitem Rahmen geäussert worden zu sein.)

Was Sie auch sehen ist die damit zusammenhängende Vorstellung, dass die Aufgabe der Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sich radikal ändern würde, so sehr, dass sich die Frage stellen würde, ob es dann überhaupt noch Bibliothekarinnen und Bibliothekare wären. Auch das ist eine Vorstellung, die Sie heute immer wieder finden, wenn über die Zukunft der Bibliotheken diskutiert wird: Was wird das Personal machen? Wie werden sich seine Aufgaben verändern? Auch dies scheint mir als Diskurs nicht erst vor Kurzem, sondern in den 1970er Jahren gestartet zu sein. Nur, wenn Sie darüber nachdenken, ist das irgendwann absurd. Wenn sich die Bibliothek und die Aufgaben des Personals in Zukunft so radikal verändern sollen, wie es teilweise behauptet wird, sollte das irgendwann auch einmal passiert sein. Scheint es aber nicht, sonst würde sich der Diskurs nicht wiederholen.

Was Sie an dem Zitat auch sehen, ist die Ausrichtung auf die USA. Das ist etwas, was Sie in den bibliothekarischen Texten in den 1970er und danach immer wieder finden: Beispiele von Bibliotheken aus den USA, die in dem Impetus vorgetragen werden, dass sie die Zukunft aller Bibliotheken, gerade in der BRD, Schweiz und Österreich beschreiben würden. Was auch interessant ist, weil sich dies nicht wirklich geändert hat. Sie kennen auch das aus den bibliothekarischen Diskussionen: Fast alle Beispiele, besonders wenn es darum geht, das die Technik die Medien ersetzen würde, kommen aus den USA (seltener aus Grossbritannien), obwohl sie auch aus vielen anderen Staaten kommen könnten (beispielsweise Australien, Kanada oder den europäischen Nachbarländern wie Frankreich.)

 

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Lebt die Bibliothek bald? So, wie Walser sie sich als ‚wirkliche Bibliothek‘ wünscht: mit Abenduniversität, Diskussionsforum, Swimm-in, kritischer Buchberatung, Russischstunde, Tennismatch, Kulturkneipe? So wie Robert Jungk hofft: als Ort der Inspiration, die weniger perfekte Maschinen als phantasievolle Anreger – und Benutzer, die sich anregen lassen – braucht? Die Bibliothek als Treffpunkt für all diejenigen, die sich schreibend, zeichnend, photographierend, musizierend, und natürlich lesend ausdrücken wollen. Das Stockholmer ‚Kulturhaus‘ strebt ja derartiges an und ist in manchem sehr gelungen; viel frequentiert; ein Kommunikationsort par excellence.“

(Hermann Glaser, 1976: 6)

 

Schauen wir auf den zweiten Teil des Zitates. Was Sie hier sehen, ist die andere Region, aus der heute gerne Beispiele für die „Bibliothek der Zukunft“ zitiert werden, nämlich Skandinavien. (Genauer, eine Art „gefühltes Skandinavien“, das die Niederlande umfasst, aber nicht Island oder die Färorer-Inseln.) Auch das ist etwas, was in den bibliothekarischen Texten in den 1970er Jahren immer wieder finden. Es werden Beispiele von Bibliotheken angeführt, immer wieder bestimmte, die dann oft für eine bestimmte Zeit in mehreren Texten auftauchen. Auch diese Beispiele werden immer wieder mit dem Impetus vorgetragen, dass sie Bibliotheken die Zukunft darstellen würden. Jetzt – also wenn das Beispiel in einem Text gebracht wird – wäre das so, wie in Skandinavien Bibliothek gemacht würden – obwohl es eigentlich immer wieder bestimmte Beispiele sind, kaum einmal das ganzen Bibliothekswesens Dänemarks oder Schwedens, das dargestellt wird, insoweit ist nie klar, ob die Beispiele repräsentativ sind oder nicht –, bald wird das auch in Bonn, Zürich oder Wien so sein. So ungefähr die implizite Argumentation.

Und diese skandinavischen Bibliotheken, die Sie seit den 1970ern immer wieder in der bibliothekarischen Literatur als Vorbild finden, stellen immer wieder etwas ähnliches dar: Sie sind Bibliotheken, die über das Anbieten von Medien hinausgehen. Sie werden beschrieben als Einrichtungen, die soziale Funktionen erfüllen, gesellschaftliche. Einrichtungen, die Kommunikation für alle möglichen Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen. Einrichtungen, die flexibel sind, mit Räumen, die flexibel sind und in denen die Medien in den Hintergrund gerückt werden oder zumindest nicht die Hauptrolle spielen. (Aber oft gibt es Orte für damals neue Medien und Mediennutzungsweisen.) Oft sind diese Bibliotheken Teil von grösseren Einrichtungen – wie hier im Kulturhaus – oder umfassen selber andere Einrichtungen, beispielsweise Kinosäle, Discos oder Plattenabhörstationen. Und Sie finden in den deutschsprachigen, bibliothekarischen Texten auch immer wieder ein Erstaunen darüber, dass dies in einer Bibliothek möglich ist. Verbunden mit der Vorstellung, dass auch „unsere Bibliotheken“ so werden müssten, um modern zu sein.

Wenn Sie jetzt an das Dokk 1 in Aarhus (oder, ein paar Monate zurück, an die Centrale Openbare Bibliotheek Amsterdam) denken, und daran, wie diese in der bibliothekarischen Literatur dargestellt und besprochen wurde, finden Sie bestimmt zumindest einige Parallelen. Auch an dieser Einrichtung wurde hervorgehoben, das sie offen, flexibel und ein Kommunikationsort sei, das die Medien in den Hintergrund gerückt seien und so weiter. Und mir scheint, dass es auch nicht zufällig ist, dass diese Bibliothek eine dänische (oder niederländische) ist. Obwohl dies immer wieder als neu dargestellt und wahrgenommen wird, scheint sich der Diskurs um skandinavische (Öffentliche) Bibliotheken in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur kaum geändert zu haben. Auch das ist erstaunlich: Entweder stimmt der Diskurs nicht oder die Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern verändern sich nicht. Eine Vermutung wäre, dass es eher ein kultureller Unterschied ist, dass also Bibliotheken in Skandinavien einfach so konzipiert werden und in den deutschsprachigen Ländern eher nicht oder zumindest nicht so; aber sie erscheinen in der deutschsprachigen Literatur immer wieder neu als Zukunft.

 

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Beispiel Schulbibliotheken

  • Projekt 1970-1973 (Uni FF/M; Bertelsmann-Stiftung) zur „modernen Schulbibliothek“

–> „Bestandsaufnahme“: „alte Schulbibliotheken“ wurden verworfen, weil… alt und nicht modern, also nicht zeitgemäss (so die Behauptung, ohne Nachweis)

–> Entwurf „moderner Schulbibliotheken“ (a) alle Medien, alle modernen Medienformen, (b) zugänglich und immer offen, (c) Zentrum der Schule und in Kontakt mit den LehrerInnen, (d) Aufgreifen „moderner Pädagogik“ (Individualisierung des Lernens, Projekte / Arbeitsgruppen, Demokratisierung / Kritikfähigkeit)

 

-> Später übergegangen in das deutsche Bibliotheksinstitut, Zeitschrift „die schulbibliothek“ (1974-2000) -> heute „dbv-Kommission Bibliothek und Schule“

 

Ein weiteres Beispiel, das mit einem meiner Forschungsschwerpunkte zu tun hat, den Schulbibliotheken. Wenn Sie sich die Geschichte der bibliothekarischen Diskussion über Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum anschauen, kommen Sie nicht daran vorbei, das am Ende alles auf ein Projekt (und ein Buch) zurückverweist, welches am Anfang der 1970er stattfand. Das Projekt, gar nicht im bibliothekarischen Rahmen angesiedelt, sondern von einem Literaturwissenschaftler, Klaus Doderer, an der Goethe-Universität Frankfurt am Main geleitet, hatte das Ziel, eine Infrastruktur für moderne Schulbibliotheken aufzubauen.

Wenn Sie das Buch aus dem Projekt (Die moderne Schulbibliothek, Doderer et al. 1970) lesen, sehen Sie sehr schnell, wie dabei vorgegangen wurde. Das Projektteam stellte sehr hohe Anforderungen dafür auf, was eine moderne Schulbibliothek zu sein hätte. Diese Anforderungen sind nicht wirklich begründet, sondern im besten Falle hergeleitet: Moderne Schulen hätten moderne Schülerinnen und Schüler mit modernen Methoden zu unterrichten, daraus ergäbe sich auch eine bestimmte Form von Schulbibliotheken. Das ist ganz offensichtlich, wenn Sie das Buch lesen: Es gibt kaum Aussagen oder Studien oder Herleitungen, auf denen sich die Vorstellungen davon, was moderne Schulbibliotheken sein müssten, aufbaut. Es wird einfach behauptet und darauf verwiesen, dass es in anderen Ländern (vor allem den USA, aber es finden sich auch Bilder aus der Sowjetunion und anderen Staaten) so sei.

Die Behauptung ist halt, dass dies modern sei. Dabei gab es solche Behauptungen vorher nicht. Die Schulbibliotheken, welche zuvor in der bibliothekarischen Literatur besprochen wurden, wurden zumeist ganz anders dargestellt, zumeist als Lesebibliotheken, die von Lehrpersonen betreut wurden. Das Buch und das Projekt machen da einfach einen Bruch. (Und zumindest für die Schweiz ist es sehr einfach zu zeigen, dass dann im Nachhinein den Vorstellungen in diesem Buch im bibliothekarischen Diskurs gefolgt wurde. 1973 erschien eine Broschüre des Schweizer Bibliotheksdienstes (1973), die mit einem schweiz-spezifischen Twists diese Vorstellungen aufgreift, obwohl die Schriften zu Schulbibliotheken in der Schweiz zuvor nicht von solchen „modernen Schulbibliotheken“ sprachen.)

Danach besuchte das Projektteam eine ganze Reihe von Schulen und bewertete die Schulbibliotheken dort immer aus dem von ihm selbst aufgestellten Blickwinkel. Alle fielen durch und das wird im Buch so dargestellt, das all diese Schulbibliotheken als „noch nicht modern“, als „zurückgeblieben“, als „unmodern“ besprochen werden; also immer mit der Vorstellung, dass es möglich ist, zu sagen, was einen gute Schulbibliothek sei und das jede Schulbibliothek über kurz oder lang modern werden wird, also das man den „jetzigen Zustand“ quasi auf einer Zeitachse abtragen kann. Auch das ist eine Wahl: Man hätte ebenso fragen können, warum die Schulbibliotheken so sind, wie sie vorgefunden wurden, ob sie vielleicht so ihren Zweck erfüllen, ob es vielleicht so von den Schulen gewünscht wurde, ob vielleicht die Vorstellung von „modernen Schulbibliotheken“ nicht ganz richtig sei. Aber die einzige Begründung, die Sie im Buch finden, ist: Die Schulbibliotheken sind nicht so, wie sie sein sollen, also sind sie unmodern, veraltet. Und dieses Denken setzt sich meiner Meinung nach bis heute in den Texten über Schulbibliotheken fort, wenn auch die Terminologie etwas anders ist. Das ist für Deutschland nicht ganz so überraschend. Aus dem Projekt selber ging über mehrere Transformationen die heutige Expertengruppen im dbv hervor. Aber es gilt auch für die Schweiz (mit ihren Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) und zumindest zum Teil Österreich.

Und erstaunlich ist das, wenn Sie sich anschauen, was eigentlich in dem Buch von 1970 von einer „modernen Schulbibliothek“ erwartet wird: Sie soll ein Zentrum der Schule sein, alle Medienformen enthalten und wie eine Öffentliche Bibliothek funktionieren (mit Katalog als Nachweisinstrument, mit bibliothekarisch ausgebildetem Personal und allem), sie soll immer offen sein und vor allem „moderne Formen“ der Lernen und Unterrichtens unterstützen. Gerade diese „modernen Formen“ sind oft nur kurz beschrieben: Unterricht in der Bibliothek, Projekte und Arbeitsgruppen sowie Individualisierung. Und das ist genau das, was Sie auch heute in der bibliothekarischen Literatur über Schulbibliotheken finden. Wenn Schulbibliotheken zum Beispiel in Abschlussarbeiten beschrieben werden, merken Sie oft, das genau dieses Denken dahinter steht: Es gibt diesen „modernen Standard“, der angelegt wird. Wenn er nicht eingehalten wird, werden die Schulbibliotheken als defizitär beschrieben und oft Programme aufgestellt, wie sie zu „richtigen“ Schulbibliotheken werden können. Dabei, nochmal, könnte man auch Anderes fragen, zum Beispiel ob bestimmte Schulen nicht andere Schulbibliotheken haben wollen, ob die bibliothekarischen Vorstellungen wirklich stimmen und so weiter. Aber das wird nicht getan und gerade bei diesem Beispiel haben Sie mit diesem Buch auch eine Quelle, die ich Ihnen ans Herz legen würde. Hier scheint mir sehr klar sichtbar, wie ein Diskurs quasi „aus dem Nichts“ auftaucht und dann immer wieder als „richtig“ reproduziert wird. Erstaunlich ist dabei, dass er auch heute zumindest im bibliothekarischen Rahmen als modern gilt, obwohl er sich seit einigen Jahrzehnten kaum verändert zu haben scheint. Wie kann es den sonst sein, dass eine „moderne Schulbibliothek“ 1970 fast genauso beschrieben wird, wie heute? Das ist doch schon einige Generationen von Schülerinnen und Schülern her.

(Erwähnt werden muss allerdings, dass Klaus Doderer, der Projektleiter, offenbar ein solches polemisches Vorgehen, bei dem alles, was bislang war, über einen Kamm geschoren und als „unmodern“ und veraltet bezeichnet, dagegen ein „neues Denken“ als richtig und modern beschrieben wird, auch bei der Diskussion über Jugendliteratur an den Tag gelegt hat. Zumindest behauptet das Sonja Müller (Müller 2014) in ihrer Arbeit über die Theoriedebatten zum Jugendbuch in den 1950ern und 1960ern. Diese hätten sich von den Vorstellungen der Jahrzehnte vorher – Stichwort „Schmutz und Schund“ – entfernt, wären aber dann in den 1970ern ohne grosse Differenzierung mit den Diskussionen aus den 1910er zusammengebracht und als veraltet abqualifiziert worden, unter anderem von Doderer.)

 

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Schule und berufliche Ausbildung werden künftig für immer mehr Menschen nur die erste Phase im Bildungsgang sein. Denn schon heute zeigt sich, dass die in dieser ersten Bildungsphase erworbene Bildung den später an den einzelnen herantretenden Anforderungen selbst dann nicht genügen kann, wenn diese Bildung auf Tiefe, Breite und die Erfüllung erwarteter Bedürfnisse angelegt ist. (…) Immer mehr Menschen müssen durch organisiertes Weiterlernen neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben können, um den wachsenden und wechselnden beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Der Begriff der ständigen Weiterbildung schliesst ein, dass das organisierte Lernen auf spätere Phasen ausgedehnt wird und dass sich die Bildungsmentalität weitgehend ändert.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 51)

 

Noch ein Text, den ich Ihnen gerne zeigen möchte. Das ist kein direkter bibliothekarischer Text, sondern ein bildungspolitischer. Aber es ist einer, auf den sich Bibliotheken in den 1970ern ungefähr so bezogen, wie sie sich vor ein paar Jahren noch auf die PISA-Studien bezogen. Der Text, Strukturplan für das Bildungswesen, ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Der Deutsche Bildungsrat wurde Ende der 1960er von Bund und Ländern eingerichtet, mit Vertreterinnen und Vertretern aus allem damals im deutschen Bundestag vertretenden Parteien, um das zukünftige Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu planen, auf Jahrzehnte hin. Ich sagte vorher, dass diese Zeit eine war, in der die Gesellschaft als in radikaler Modernisierung begriffen wurde, und im und um den Bildungsrat herum hat sich das damals sehr zugespitzt. In seiner Hochzeit fokussierten sich um den Bildungsrat – und die Bildungsreformen in einigen Bundesländern wie Hessen – die Debatten darum, was das Bildungssystem in einer modernen deutschen Gesellschaft tun sollte. Und das hatte Auswirkungen. Das heute in den Schulgesetzen steht, dass die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen, demokratisch orientierten und selbstbewussten Personen werden sollen, wäre zum Beispiel ohne den Bildungsrat wohl nicht durchgesetzt worden. Durch den Bildungsrat wurden die Gesamtschulen erst möglich (auch wenn am Ende nicht, wie sich damals von vielen erhofft wurde, damit die Gymnasien abgeschafft wurden). Der Bildungsrat und seine damalige Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der Strukturplan war quasi das Meisterstück der Rates und unter anderem Bibliotheken nutzten diesen, um sich in den 1970er Jahren zu orientieren.

Ich habe Ihnen das Zitat hier mitgebracht, weil es zeigt, wie sehr sich nicht nur die Aussagen, sondern auch die Argumente und teilweise Formulierungen der damaligen Zeit und der heutigen Debatten gleichen. Wenn Sie dieses Zitat lesen, ohne auf die Jahreszahl zu achten, werden Sie merken: Dass ist die gleiche Argumentation, wie sie in den letzten Jahren für das „Lebenslange Lernen“ vorgebracht wurde. Dieses sei notwendig, weil die Menschen in der Schule und Erstausbildung nur noch eine Grundbildung erhalten würden, die nicht ausreichen würde, sich in einer ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Bislang sei das nötig gewesen, jetzt sei es anders. Sie merken schon, ganz kann das Argument nicht stimmen. Wenn es schon in den 1970ern nicht ausreichend war, in Schule und Ausbildung zu lernen, kann es in den 2000er Jahren nicht neu sein.

Wichtig ist mir hier, dass der Bildungsrat ungefähr die gleichen Schlüsse zieht, wie sie vor einigen Jahren die Bibliotheken sehr oft in den bibliothekarischen Texten vertreten haben: Wenn jetzt (halt immer von der Zeit aus gesehen, in der das postuliert wird) sich die Situation mit dem Lernen ändert, muss die Weiterbildung nach der Erstausbildung organisiert und die Mentalität der Gesellschaft geändert werden. Oder anders: Die Menschen müssten jetzt auch gerne über die Erstausbildung hinaus lernen. Ansonsten würden sie und damit auch die Gesellschaft untergehen. Wie gesagt: Ganz kann das nicht stimmen, denn sonst wäre die Gesellschaft entweder schon untergegangen (was sie ganz offensichtlich nicht ist), weil sich die Menschen in den 1970ern oder 1990ern nicht ausreichend genügend sich weitergebildet haben oder aber es ist nicht so, dass es in den 2000er Jahren neu ist und dann stellt sich die Frage, warum es in den 2000ern so überzeugend klang.

Trotzdem finden Sie sowohl in bibliothekarischen Texten der 1970er (aber nicht wirklich vorher) als auch der letzten Jahre, Bibliotheken, die sich gerade auf dieses Argument beziehen und davon ausgehen, jetzt Einrichtungen werden zu müssen, welche die individuelle Weiterbildung der Menschen ermöglichen. Daraufhin wurden Räume umgestaltet, Bestände aufgebaut, Beratungsangebote eingerichtet und so weiter. Mein Argument ist auch gar nicht, dass es falsch wäre, in Bibliotheken individuelle Weiterbildung zu ermöglichen. Mein Argument ist, dass sich die Begründung für diese bibliothekarischen Strategien wiederholen und das wir im Bibliothekswesen bislang nicht darüber nachdenken, wieso. Mir scheint, dass das Argument im Zitat vielleicht doch nicht so stark ist, wie es scheint (was ein Grund dafür sein könnte, dass die Angebote nicht von so vielen Menschen angenommen werden oder anders benutzt werden, als sich das Bibliotheken erhoffen).

 

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Mit dem Beispiel ‚Informationsverarbeitung‘ ist das bisher ungelöste Problem der ’neuen Fächer‘ aufgeworfen. Es ist offensichtlich, dass die Schule nicht automatisch entsprechend jeder neuen wissenschaftlichen und technischen Disziplin neue Schulfächer einrichten kann. Ebenso wenig kann sie neue Fächer entsprechend allen Anforderungen einrichten, die sich aus dem Alltag ergeben, so unbestreitbar es ist, dass dem Kind durch die Schule geholfen werden muss, sich im Alltag zurecht zu finden.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 69)

 

Aus dem gleichen Strukturplan, den Sie in seiner Wirkung und Verbreitung wirklich nicht unterschätzen sollten, wie ich schon sagte, habe ich Ihnen noch ein Zitat mitgebracht, dass leider nicht ganz so gut passt. Es kommt aber aus einer Argumentation, die Ihnen vielleicht erstaunlich aktuell vorkommt. Ich fasse die einmal zusammen: Die Vorstellung im Strukturplan ist, dass es jetzt, also in den 1970ern, zu einem Wachstum von elektronischen Geräten, elektronischer Datenverarbeitung und Lernmaschinen kommt. In der Zukunft würden immer mehr Informationen vorliegen und durch die elektronische Datenverarbeitung zugänglich gemacht. Es wäre jetzt, also in den 1970ern, ein Punkt erreicht, wo ein einzelner Mensch nicht mehr alle diese Informationen bewältigen könnte. Es gäbe einfach zu viele und ständig würden mehr produziert werden. Daraus ergibt sich, dass die Menschen – in diesem Zitat geht es vor allem um die Kinder und Jugendlichen in den Schulen – die Fähigkeiten erlernen müssten, sich in dieser Übermasse von Informationen zurechtzufinden. Das war alles auch mit dem Anspruch verbunden, dass die Fähigkeiten zur kritischen Reflexion über die Informationen – insbesondere über die Produktionsbedingungen der Informationen – damit einhergehen müssten. Im Strukturplan wird diskutiert, ob dafür ein extra Schulfach eingerichtet werden sollte, was abgelehnt wird. Vielmehr sei es eine Querschnittaufgabe. Wenn die Menschen aber diese Fähigkeiten nicht lernen würden, würden sie von den Informationen überwältigt und die Gesellschaft sei nicht mehr in der Lage, sich selber zu steuern.

Ich weiss nicht, wie Sie das sehen; aber für mich klingt diese Argumentation fast genauso, wie die für die ganzen Debatten und Projekte um „Informationskompetenz“, die in den letzten Jahren in Bibliotheken geführt wurden und zu unzähligen Angeboten, Strukturen und Personalstellen geführt haben. Man könnte diskutieren, wie wichtig heute noch die Frage der kritischen Reflexion genommen wird oder ob die Debatte nicht heute einen anderen Fokus hat. Aber ansonsten scheint mit das doch erstaunlich. Wenn Bibliotheken heute über „Informationskompetenz“ sprechen, ist die implizite Vorstellung, dass es die Verbreitung des Internets wäre, die es notwendig machen würde, diese Fähigkeiten zu lehren und das es das Internet wäre, das zu zu vielen Informationen geführt hätte, während es zuvor eher zu wenig Informationen gegeben hätte. Aber dann finden Sie die gleiche Argumentation schon in den 1970ern. Für mich stellt sich die Frage, wie das sein kann. Ist es vielleicht so, dass die Gefahr in den 1970ern gesehen wurde, die Menschen dann aber doch mit den ganzen Informationen klar kamen? Was würde das für die heutige Situation bedeuten?

Was stimmt ist, dass heute Bibliotheken eher aus diesen Vorstellungen heraus Angebote entwickelt haben. Ich muss Ihnen die ja gar nicht aufzählen, Sie alle kennen garantiert mindestens drei Standards für Informationskompetenz und so weiter. In den 1970ern finden Sie diese Ideen aber auch schon in bibliothekarischen Texten, nur halt mehr in pädagogischen.

Wieder geht es mir hier nicht darum, zu diskutieren, ob die Vorstellung falsch wäre. Mein Argument ist wieder, dass sich die Vorstellung wiederholt, ohne das dies bislang diskutiert oder wahrgenommen wird.

 

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Beispiel Benutzer/innen/forschung

  • Projekt Federführung Uni HH (BMBF) und Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (neu gegründet) (1970-1976)

–> Frage: Wer nutzt die Bibliothek wie? Kann man ein Instrument erstellen, um das kontinuierlich in den Bibliotheken zu erfassen?

–> Methoden: Umfragen und Beobachtungen („moderne Forschungsmethoden“)

–> Ziel: Verstehen, wer in die Bibliothek kommt; Angebote der Bibliotheken danach ausrichten

 

–> Instrument (Fragebögen und Auswertung) waren „zu kompliziert“

–> Daten liegen vor aus einigen Stadt- und Universitätsbibliotheken

 

Noch ein letztes Beispiel, die Forschung zu Nutzerinnen und Nutzern. Das ist etwas, was wir an der HTW Chur in den letzten Jahren versucht haben, anzustossen. Es erschien uns logisch; das, was bisher gemacht wird, sind oft Befragungen und Umfragen, dabei könnte man viel mehr Methoden anwenden. Wir haben das vor allem über Bachelorarbeiten und in Projektkursen machen lassen, aber mit der Überzeugung, etwas Neues zur Bibliotheksforschung beizutragen. Und dann sind mir diese drei Bücher untergekommen (Heidtmann 1971, Fischer 1973, Fischer 1978) – mit quasi genau der gleichen Idee, vielleicht sogar etwas weiter. Anfang der 1970er gab es offenbar die Vorstellung, dass es in den Bibliotheken nicht genügend Wissen über die tatsächliche Nutzung gab und das dies mit damals modernen Forschungsmethoden angegangen werden könnte. Dabei sind vor allem die beiden Bücher von Fischer (1973, 1978) interessant, weil die ein Projekt beschreiben, dass damals vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, und gleich mit dem Anspruch antrat, ein Instrument entwickeln zu können, dass von den Bibliotheken selber angewandt werden sollte. Die Idee war, dass die Bibliotheken Umfragebögen erhalten sollten, die sie dann regelmässig selber einsetzen uns auswerten könnten und dabei auch vergleichbare Werte erhalten würden. Im ersten Buch (Fischer 1973) wird das noch sehr ausführlich dargestellt: Die Bibliotheken erheben die gleichen Werte, dann vergleichen sie sich untereinander und können daraus lernen.

Auch das ist nicht ungehört in den letzten Jahren im Bibliothekswesen. Der jetzt eingestellte BIX hatte am Ende die gleiche Vorstellung, nur kam er aus einer anderen Richtung (halt der BWL, im Gegensatz zur Sozialwissenschaft wie bei Fischer). Aber auch seit den 1970ern scheint diese Idee zu bestehen, dass der regelmässige Vergleich von Daten, die in Bibliotheken erhoben werden, einen Lerneffekt darstellen könnte und für die Steuerung der Bibliotheken wichtig wäre. Deshalb finde ich es auch interessant, dass weder dieses Projekt noch der BIX lange über die Projektförderung hinaus bestanden haben. Das Projekt in den 1970er wurde, so heisst es im späteren Buch (Fischer 1978) eingestellt, weil sich herausgestellt hätte, dass das Umfrageinstrument zu komplex für die Bibliotheken sei. Was das genau heisst oder was wirklich passiert ist, steht da nicht. Mir scheint die Parallele aber beachtlich.

Das dritte Buch (Heidtmann 1971) ist dann für mich persönlich eine Erkenntnis gewesen. Das ist eine Studie zur Nutzung der Bibliothek der Technischen Universität in Berlin, ebenso durchgeführt mit damals modernen Umfragemethoden. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass wir grundsätzlich etwas Ähnliches in den letzten Jahren in Chur versucht haben. Das Projekt in Berlin wurde von Frank Heidtmann geleitet, der vielleicht den meisten von Ihnen nichts sagt. Aber: Das war mein Doktorvater, er hat schon meine Magisterarbeit betreut gehabt und ich habe auch bei ihm studiert. In all den Jahren aber ist diese Studie und die ganze Richtung Nutzungsforschung nicht aufgekommen. Wir haben damals in den 2000ern bei ihm stattdessen Buchillustrationsgeschichte gelernt. Erst jetzt, einige Jahre nach meiner Promotion, bin ich überhaupt auf das Buch gestossen. Was mir das gezeigt hat: Offenbar gibt es Themen und Vorschläge, die sich in der bibliothekarischen Literatur wiederholen, ohne dass die, die sich einmal mit einem Thema beschäftigt haben, es unbedingt als notwendig erachten, darauf hinzuweisen. Sicherlich, dass ist alles ein sehr grosser Zufall, dass ich jetzt ähnliches versucht habe, wie mein Doktorvater, ohne das mit zu bekommen. Aber es hat mich schon irritiert. Gerade als Forschender denkt man ja gerne, man wäre am Puls der Zeit, weit vorne. Aber offenbar stecke ich erstmal in den gleichen Denkstrukturen fest. Offenbar ist solches „Vergessen“ im Bibliothekswesen normal und nicht reiner Zufall. Aus solchen „Normalitäten“ kann man am Besten heraustreten, wenn man sie sich bewusst macht.

 

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Andere Themen (aus Zeitgründen ausgelassen):

  • Bibliotheksarchitektur (flexibel, offen, kommunikativ)
  • Grosse Infrastrukturprogramme, die auf „die technischen und ökonomischen Veränderungen reagieren“ sollen (Fachinformationszentren)
  • Offen Wissenschaft (Wissenschaftsläden)

 

  • Frage, ob „die neuen Medien“ die Bibliothek obsolet machen
  • Vorstellung, dass die Bibliothek potentiell dem Ende zugeht

 

Es gäbe noch eine ganze Reihe von anderen Beispielen, die ich aus Zeitgründen auslasse. Dabei hätte ich gerade zur Bibliotheksarchitektur einiges zu sagen, weil mich das sehr fasziniert, dass die Anforderungen an Bibliotheksräume in den 1970ern fast gleich klingen wie die Anforderungen, die heute in der Bibliotheksliteratur genannt werden – weil das wieder die Frage aufwirft, wie das sein kann. Hat sich die Vorstellung, was „flexibel“ und „offen“ heisst, so sehr verändert? Wurden die Bibliotheken in den 1970ern dann doch nicht so gebaut, wie gefordert? Oder wurde sie in der Zwischenzeit wieder „unflexibler“ gemacht – und wenn ja, wieso?

Wichtig ist mir nur noch mal zu sagen, dass das alles Beispiele sind, die mir persönlich im Rahmen anderen Projekte oder allgemeiner Lektüre untergekommen sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass es noch einige mehr gibt, die man mit einer systematischen Lektüre finden würde.

 

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Warum gibt es diese „Wiederholungen“? (Noch ein paar Thesen)

 

Ich möchte in diesem Teil des Vortrags ein paar Thesen dazu vorstellen, warum es diese Wiederholungen gibt. Wenn Sie von den Beispielen nicht davon überzeugt sind, dass sich dies zumindest zu untersuchen lohnt, wird Sie dieser Teil nicht interessieren. Ich denke aber, gerade wenn es um Bibliothekswissenschaft geht, ist es auch eine Aufgabe, zu schauen, ob diese auffälligen Gemeinsamkeiten irgendwie erklärt werden können und nicht nur Zufälle sind. Mir scheint schon klar zu sein, dass es hier nicht um irgendwelche Versäumnisse oder Verheimlichungen geht, also das irgendwer bestimmte Sachen verstecken wollen würde. Wir gesagt: Die Beispiele finden sich alle in der bibliothekarischen Literatur, die heute noch in Bibliotheken steht. Ich habe vor allem Bestände aus Zürich und Berlin benutzt, aber ich bin mir sicher, dass sich auch in Bibliotheken anderer Städte noch genügend dieser Literatur finden lässt. Wenn Sie daran Spass haben, können Sie ja mal schauen, was bei Ihnen noch im Magazin steht.

Zu diesen Thesen ist allerdings zu sagen, dass sie noch lange nicht fertig durchdacht oder ausformuliert sind. Es ist eher so, dass ich je nach Tag, Stimmung und Thema mal zu der einen oder anderen These neige. Sie werden auch merken, dass die Thesen sehr grob sind. Ich präsentiere sie Ihnen, um sie für die Diskussion vorzulegen, auch um Sie gemeinsam zu testen, wie sich das ja für einen wissenschaftlichen Diskurs gehört. Aber schon, dass sich die Thesen je nach Tagesstimmung ändern, zeigt, dass noch keine theoretisch gesättigt ist.

 

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Die Nietzsche-These:

  • Die ewige Wiederkehr des Gleichen (d.h. das ist normal und wird immer wieder passieren)
  • Aber was ist mit den Unterschieden (z.B. dem Ziel Demokratisierung?)

 

Die erste These (und die muss ich wohl haben, wenn ich in Graubünden arbeite) lehnt sich an der Vermutung an, die Sie bei Nietzsche finden. Selbstverständlich, bei Nietzsche geht es im Zarathustra um Fragen der menschlichen Geschichte und die Konstitution des Menschen (Nietzsche 1994), mir geht es darum zu verstehen, warum sich Behauptungen, Vorstellungen und Ansätze in der bibliothekarischen Diskussion seit den 1970ern wiederholen. Das sind sehr unterschiedliche Fallhöhen. Trotzdem finden Sie, sehr wirkmächtig, bei ihm die These, dass sich die Geschichte in Zirkeln wiederholt, dass es also normal ist, wenn sich Situationen und Behauptungen, die es schon mal gab, immer wieder neu finden. Wenn das stimmt, sind diese Wiederholungen nicht viel mehr, als eine normale Entwicklung und könnten auch als solche verstanden werden. Wir müssten dann auch sehr einfach vorhersagen können, welche Themen und Argumentationen als nächstes in der bibliothekarischen Diskussion auftauchen werden.

Zum Beispiel könnte man vermuten, dass einfach jede neuere Technik, die sich verbreitet, dazu führt, dass eine Anzahl von Beiträgen erscheinen, die postulieren, dass die Menschen jetzt die Fähigkeiten lernen sollten, diese Technik zu beherrschen, ansonsten würden sie von der Technik beherrscht. Dann wären die Debatten um „Informationskompetenz“ nur eine weitere Variante dieses Spiels. (Und wenn Sie sich erinnern, hat ironischerweise gerade Nietzsche im Bezug auf Schreibmaschinen ähnliches angedacht.)

Manchmal könnte man dies vermuten, aber es überzeugt auch nicht ganz. Warum passiert das bei bestimmten Techniken (Informationsverarbeitung, Internet, vielleicht auch Schreibmaschinen), aber anderen nicht. Oder habe ich einfach Debatten um die Auswirkungen der Videogeräte übersehen? Fanden die einfach nur ausserhalb des Bibliothekswesens statt? Und selbst dann, warum finden sich bestimmte Themen in diesen „Wiederholungen“ nicht mehr. Wo ist zum Beispiel die breite Debatte um die Demokratisierung und Erhöhung der Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen geblieben, die in den 1970ern die Debatten um die Nutzung der Informationsverarbeitungstechnologien mit prägte? Das gibt es bei den Debatten um die Informationskompetenz ja quasi nicht mehr oder nur sehr am Rande, als Kritik, das es fehlt, unter dem Stichwort „critical information literacy“, was aber in der deutschsprachigen Literatur so gut wie nicht beachtet wird.

Ich zumindest, und ich weiss nicht, wie es Ihnen da geht, bin nicht wirklich überzeugt. Zumal mir scheint, dass die Wiederholungen mit den 1970ern beginnen und nicht „schon immer“ zu finden sind.

 

Folie 14

Die Hegel/Marx-These:

Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Marx: 18 Brumaire…)

  • Sind die heutigen „Wiederholungen“ Farce, weil nicht (mehr) historisch gedacht wird? Kann man das verhindern? Sollte man es verhindern?

 

Eine andere wirkungsmächtige These über Wiederholungen in der Geschichte ist die, die auf die auf dieses Zitat aus der „18 Brumaire Napoleons“ von Marx zurückgehen. (Marx 1965) Auch hier ist die Fallhöhe wieder sehr unterschiedlich. Marx wollte, auf der Basis der Hegelschen Philosophiegeschichte, den, nun sagen wir mal: Verrat Napoleons an der Französischen Revolution untersuchen, Hegel ging es um antike griechische Philosophie. Mir geht es um Wiederholungen im bibliothekarischen Diskurs. Da steht nicht so viel auf dem Spiel. Und Sie wissen auch, dass sowohl Hegels als auch Marx’ens Thesen heute nicht unbestritten sind. Aber darum geht es mir hier nicht, sondern darum, dass durch diese Bemerkung von Marx eine Vermutung über die geschichtlichen Entwicklungen in die Welt gesetzt wurde, die immer wieder einmal als erklärungsmächtig wahrgenommen wird. Egal, was Sie dann persönlich von Napoleon und seiner Politik denken.

Diese Vermutung ist, dass Geschichte nicht in Zirkeln verläuft, sondern linear – das haben Sie so ja bei Hegel eine Grundthese – und es gleichzeitig möglich ist, aus der Geschichte zu lernen (und sie damit auch zu gestalten, wobei bei Marx nicht ganz klar ist, wie viel gestaltet werden kann; aber auch das ist hier nicht Thema). Insoweit lassen sich „Wiederholungen“ auch als Möglichkeiten verstehen, Dinge besser zu machen. Ansonsten, so die Vermutung, werden sie zur Farce. Oder: Wenn sie das erste Mal scheitern, war es ein ehrenhafter Versuch, die Geschichte zu gestalten, weil niemand wusste, wie es ausgehen würde. Wenn es wieder versucht wird, ohne das aus der vorliegenden Geschichte gelernt wurde, dann ist es eine Farce. Es wäre die Aufgabe der Menschen, indem sie über die Geschichte nachdenken – und eben nicht nur über das vorliegende „Problem“, auf das reagiert werden muss –, es nicht zur Farce kommen zu lassen.

Vor allem, wenn ich über Schulbibliotheken nachdenken – und das Thema lässt mich nicht los, auch wenn ich es immer wieder versuche, davon weg zu kommen –, scheint es mir manchmal, dass Marx und Hegel zumindest mit dieser Vermutung Recht haben könnten. Wenn in den 1970ern Bibliotheken (und Teile der Literaturwissenschaft) antreten, um – sicherlich mit dem besten Zielsetzungen und Wünschen – moderne Schulbibliotheken zu entwerfen und den Schulen als notwendig zu erklären, obwohl es in den Schulen so nur ganz selten ankommt und obwohl die Interessen der Schulen zurückstehen, kann man das etwas pathetisch als Tragödie verstehen. So viele Menschen wollten so viel gutes für die Schülerinnen und Schüler, für die Schulen und die Bibliotheken – und agierten offenbar aneinander vorbei. Wenn aber später, heute noch, quasi die gleichen Argumente und Ziele angestrebt werden, ohne das aus dem – trotz Ausnahmen – weitflächigen Scheitern, solche Schulbibliotheken umzusetzen, gelernt wird, dann lässt sich das manchmal als Farce verstehen. Weil es nicht nötig wäre. Nach all den Jahrzehnten wäre es möglich zu wissen, dass all dies Argumente – die Sie bei uns in der Schweiz ja auch noch handlich zusammengefasst in den „Richtlinien für Schulbibliotheken“ (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) finden, die aber ausserhalb des Bibliothekswesens kaum beachtet werden – nicht zu „modernen Schulbibliotheken“ in allen Schulen führen, egal wie oft man die – wieder mit den besten Zielsetzungen und Wünschen – vorbringt. Zumindest in diesem Fall scheint es oft, als könnte man sehr einfach aus der Geschichte lernen, wenn man sie als geschichtliche Entwicklung wahrnimmt und sich eben nicht nur auf das vorliegende „Problem“, dass die Schulen oft andere Entscheidungen im Bezug auf Schulbibliotheken treffen, als das Bibliothekswesen gerne hätten, fokussiert.

An manchen Tagen und für manche Themen klingt diese These recht überzeugend, aber an anderen Tagen und für andere Themen nicht.

 

Folie 15

Die „Neoliberalismus“-These:

Der Neoliberalismus basiert auch darauf, ständig zu behaupten, „neu“ zu sein und auf der Seite des Fortschritts zu stehen –> alles andere sei „alt“ und abzulehnen

Diese Rhetorik ist zum Teil (nicht unbedingt mit dem gleichen Zielen) im Bibliothekswesen zu finden

–> Eine solche Rhetorik ist überzeugender, wenn nicht überprüft wird, ob es wirklich „neu“ (und besser) ist

–> wer keine Geschichte kennt, kann einfacher innovativ sein und / oder Angst vor der Zukunft haben / verbreiten

 

Eine andere These, die mir gerade an Tagen, wenn ich sehr polemisch gestimmt bin, als sinnvoll erscheint, nennen ich, wie Sie sehen, die Neoliberalismus-These. Auf der nächsten Folie gibt es diese in einer weniger polemischen Form. Auch hier geht es mir nicht darum, zu diskutieren, was ist Neoliberalismus, wie wirkt er und so weiter. Mir geht es um einen Teilaspekt.

Wenn Sie die Literatur lesen, die sich als kritisch zum Neoliberalismus versteht, beispielsweise sehr ausformuliert bei Naomi Klein (Klein 2007), dann finden Sie immer wieder die Kritik, dass der Neoliberalismus als Diskursformation und Begründungszusammenhang intellektuell eigentlich sehr dürftig ist, das er aber wirkmächtig wird, weil seine Vertreterinnen und Vertreter Krisensituationen ausnutzen. Im Grossen und Ganzen: Wenn heftige Krisenmomente auftreten, tauchen Vertreterinnen und Vertreter auf, die argumentieren, dass alles, was bislang gewesen wäre, falsch, unmodern und ineffektiv gewesen sei und deshalb abzulehnen wäre und dass das, was sie anbieten, radikal anders, neu und zielführend sei. Diese Interventionen würden Sie immer wieder finden: nach dem Zusammenbruch der DDR, nach wirtschaftlichen Zusammenbrüchen wie in den Argentinien Ende der 90er oder auch gerade jetzt in der Ukraine. Die Beraterinnen und Berater würden die Reformen, die sie vorschlagen, vor allem argumentativ durch diese Diskreditierung der Vergangenheit absichern. Weil es eine Krise gibt, sei alles, was davor war falsch. Punkt. Gerade wenn es wirklich eine Krise gibt, kann das sehr überzeugend klingen. Gleichzeitig stimmt das meistens nicht: Die Situation ist oft komplexer, nicht alles, was war, ist wirklich falsch; nicht alles, was als neu vorgeschlagen wird, ist neu oder zielführend. Damit beschäftigt sich dann die Literatur zum Neoliberalismus.

Was Sie aber sehen ist, dass es einfacher ist, solche Behauptungen aufzustellen, wenn man ein sehr einfaches Bild von der Vergangenheit malt, zum Beispiel die Bürokratie ohne Unterschied als ineffektiv und korrupt darstellt oder die Lohnkosten und die soziale Absicherung an sich als Problem. Was ja so nie stimmt. Es gibt ja immer auch Gründe für die Bürokratie, für die Lohnkosten, für soziale Sicherungssystem. Aber es ist einfacher, sich als neu und gut darzustellen und die eigene Vorschläge als modern und zukunftsweisend, wenn man die Geschichte vereinfacht oder ganz ignoriert. Wenn niemand weiss, dass bestimmte Debatten schon einmal geführt wurden oder das bestimmte Dinge schon ausprobiert wurden, ist es einfacher, diese als neu und innovativ zu verstehen. Ebenso: Wenn man nicht mehr weiss, dass bestimmte Krisen oder Ängste schon einmal durchgestanden wurden, ist es leichter, vor ihnen Angst zu haben. (Oder umgekehrt: Es ist einfacher, vor ihnen keine Angst zu haben, wenn klar ist, dass sie auch schon zuvor durchgestanden wurden, dass zum Beispiel die Mikroelektronik oder die Kinos die Bibliotheken nicht obsolet gemacht haben und das es deshalb „das Internet“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht machen wird.)

Und wir haben im Bibliothekswesen eine Reihe von Personen, die sich zum Teil sehr laut äussern, welche eine ähnliche Rhetorik verwenden, die also oft von der Zukunft als grosse Veränderung reden, die Vergangenheit der Bibliotheken als sehr einfach darstellen und dann Dinge als neue Herausforderungen oder mögliche Enden der Bibliotheken oder so darstellen. Mir geht es bei meinem Argument hier um diese Rhetorik und die Darstellung von „Neuheit“. Ich will niemandem eine politische Agenda unterstellen. Darum geht es hier gerade nicht. Es geht mir auch gar nicht um einzelne Personen, sondern um diese Argumentationsform: (1) Die Vergangenheit wird als unmodern, falsch und krisenhaft bezeichnet – und das auch schon seit den 1970ern, auch da finden Sie Texte, wo behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen, aber jetzt, 1970, müsste das anders werden, sonst würde die Bibliothek untergehen, was solche Argumente nur noch komischer macht, wenn Jahrzehnte später wieder behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen und würde untergehen, wenn sie sich nicht verändert. Weil: Entweder stimmt das Argument nicht und die Bibliothek ist oder war nie dieser „Bücherspeicher“ oder sie ist schon längst untergegangen. Aber dieser Widerspruch fällt erst dann auf, wenn man die bibliothekarische Diskussion über einen längeren Zeitraum betrachtet. (2) Es wird dann aus der angeblichen oder tatsächlichen Krise geschlossen, die Bibliothek müsste sich in eine Richtung entwickeln, sonst würde sie untergehen. Und oft scheint das Argument da zu enden. Die vorgegebene Richtung wird als richtig und modern verstanden, weil sie anders sei, als die „unmoderne“ Bibliothek zuvor, die ja in der Krise steckt. Mir scheint, dass diese Argumente daraus an Überzeugungskraft gewinnen, weil sie nicht mit den schon mal geführten Debatten gegengeprüft werden. Und wie gesagt, gerade an „polemischen Tagen“ scheint mir, dass diese These viele Debatten und Wiederholungen im Bibliothekssystem erklären kann.

 

Folie 16

Die „Vorwärts immer“-These:

Der Blick von Bibliotheken, gerade bei strategischen Entscheidungen, scheint in die Zukunft gerichtet zu sein

–> wirkliche Veränderung und Konstanz ist so nicht mehr feststellbar

–> Es entsteht die Annahme, dass sich ständig etwas verändern würde und / oder man selber etwas ändern müsste, sonst würde man untergehen

–> Diese Angst ist Antriebskraft (Aber ist das gut? Übersieht man dann nicht wirkliche Veränderungen?)

 

Es gibt eine andere Form dieser These, eine für weniger polemische Tage. Schauen wir einmal in die zeitgenössische bibliothekarische Diskussion, realistisch, fällt schnell auf, dass sich heute Bibliotheken immer wieder nach vorne, in die Zukunft hin, orientieren. Das haben wir ja hier auf dieser Tagung direkt vor Augen gehabt. Immer wieder ging es darum, was Bibliotheken in Zukunft machen werden, wie sie sich entwickeln werden, wie sie auf Herausforderungen reagieren werden. Fast immer verbunden mit der Überzeugung, dass Bibliotheken das schaffen werden. Und das spricht für Bibliotheken. Egal, wie sehr sie selber manchmal Angst davor zu haben scheinen, von Entwicklungen überrollt zu werden, sind sie heute sehr agil und veränderungsbereit.

Aber: Das hat offenbar seinen Preis. Der ständige Blick nach vorne scheint mir ein Grund zu sein, dass es zu Wiederholungen von Vorhersagen, Annahmen und Projekten kommt. Wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, nach vorne zu schauen und sich zu fragen, wie man sich verändern muss und kann, ist man vielleicht nicht mehr in der Lage, die Konstanz in der eigenen Arbeit und dem bibliothekarischen Diskurs festzustellen. Man fragt nicht danach, was schon war und überwunden ist, man schaut nicht wirklich, ob Dinge funktionieren und warum, sondern man hantiert mit der These, dass man immer nicht gut genug ist und sich jetzt, sofort, auf der Stelle weiterentwickeln muss. Wenn die Vergangenheit überhaupt angeschaut wird, dann entweder als überwunden oder als Basis zur Weiterentwicklung – und vor allem, immer sehr einge Begriffe und Punkte reduziert.

Mein Argument hier ist nicht, dass es per se falsch wäre, sich zu verändern. Mein Argument ist, dass mit einem solchen, unhinterfragten Blick, sich eine Art Tunnelblick einstellt, der gar nicht mehr wirklich in der Lage ist, die eigene Vergangenheit zu befragen oder auch nur die Gegenwart danach, warum sie so ist, wie sie ist. Dieser Blick ist vielleicht notwendig, um sich zu entwickeln. Das weiss ich nicht. Aber er stellt eine radikale Verengung der Fragemöglichkeiten und damit auch Lerngelegenheiten dar. Ein Beispiel dafür scheinen mir die Vorstellungen rund um die Notwendigkeit von „Informationskompetenz“ darzustellen. Der Blick nach vorne scheint die Bibliotheken dahin geführt zu haben, in diesem Feld aktiv zu werden – und wir wissen alle, mit welchem Elan dies geschehen ist –, aber offenbar ohne sich zu fragen, ob das so eingängige Argument, das Internet würde bedingen, dass neue Kompetenzen gelernt werden müssten, wirklich ein Neues ist oder ob es nicht eine Wiederholung darstellt. Das hätte, um konkret zu werden, zum Beispiel dazu führen können, dass man viel früher hätte merken können, dass selbstverständlich die Schulen sich für solche „Kompetenzvermittlungen“ zuständig fühlen würden – wie sie es auch in den 1970ern getan haben. Stattdessen hat man neben den Schulen Angebote entworfen, die manchmal positive Ergebnisse hatten und manchmal auch nicht.

 

Folie 17

Die „Postmoderne“-These:

Eventuell sind wir einfach in einer Zeit angekommen, „in der alles geht“ und es ist egal

  • Aber warum dann immer die gleichen / ähnlichen Ideen?
  • Warum keine Referenz auf die eigene Geschichte, sondern auf Behauptungen über Entwicklungen (die Postmoderne wäre mehr „Hipster“ und würde Geschichte ironisch nutzen)

 

Zwei weitere Thesen noch. Die eine drängt sich oft auf, wenn all die Beispiele von Wiederholungen und die immer wieder vorgebrachten Argumente im bibliothekarischen Diskurs zu viel werden. Es gibt diese Behauptung, dass wir in der Postmoderne leben und in der Postmoderne alles irgendwie geht und deshalb irgendwie auch egal wäre. Das sind zwei Behauptungen, gerade die letzte stimmt eigentlich nicht, denn die Postmoderne – für die gerade der oder die „Hipster“ mit ihrer ironisch-kritisch-affirmativen Haltung prototypisch ist –, ist nicht beliebig, sondern zitiert sehr aktiv und auf der Basis eines Wissens um Geschichte (wenn auch manchmal der Geschichte komischer Themen wie popkultureller Phänomene) und eines recht von sich selbst bewussten Weltbildes, um daraus eine Identität zu prägen. Auch wenn sich an manchen Tagen die These aufdrängt, die Wiederholungen in den bibliothekarischen Diskursen seine einfach „postmodern“, scheint mir das die eine These zu sein, die man einfach zurückweisen kann. Eine „es ist doch heute egal, weil alles geht“ kann nicht erklären, warum diese Wiederholungen scheinbar in den 1970er Jahren einen Bruchpunkt haben und auch nicht, warum die heutigen Wiederholungen praktisch ohne einen Rückgriff auf die Geschichte der Bibliotheken daherkommen.

 

Folie 18

Die These von den ungelösten Problemen:

Eventuell haben sich Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten „nur“ mit anderen Fragen (z.B. Computerisierung) auseinandergesetzt und alte Fragen „beiseitegeschoben“. Nachdem Fragen der Computerisierung u.a. einigermassen geklärt sind, tauchen die alten Fragen und Thesen wieder auf, weil sie ungeklärt sind.

 

Eine letzte These und ehrlich gesagt die unspannendste. Aber vielleicht ist sie ja gerade deshalb richtig, weil sie so unspannend und irgendwie einfach ist. Auch diese These hat mit dem Projekt in St. Gallen zu tun, dass ich vorhin kurz erwähnte. Im Rahmen dieses Projektes haben ich Weiterbildungen, die in den letzten Jahrzehnten für Bibliotheken im Kanton angeboten wurden, durchgeschaut. Die Unterlagen der Kommissionen, welche diese Weiterbildungen organisierten und nachher die der Kantonsbibliothek, wo die eine Kommission angesiedelt wurde, sind recht vollständig erhalten. Was mir dabei auffiel war, dass sich die Weiterbildungen in den 1970er und frühen 1980er Jahren recht modern lesen. Der Fokus lag auf der Leseförderung, der Zusammenarbeit von Schule und Bibliothek, der Einführung von neuen Medien und so weiter. Zumindest eine Zeit lang scheinen diese Weiterbildungen gut funktioniert zu haben. Zumindest wurden sie immer wieder neu aufgelegt. Und dann, nicht sofort, aber doch stetig im Laufe der 1980er Jahre, ändert sich das. Die einst ausgebuchten Weiterbildungen hören auf, dafür gibt es neue Kurse zu neuen Themen, namentlich die Einführung von EDV in den Bibliotheken. Das ist dann auf einmal über Jahre hinweg das grosse Thema. So als ob sich in den 1980er Jahren in sanktgallischen Bibliotheken niemand mehr für das Lesen, aber alle für die Computer interessieren würde. In den 1990ern scheint noch die strategische Planung hinzuzutreten. Aber jetzt, nach 2000, tauchen Themen aus den 1970er Jahren wieder auf.

Ein Grund dafür könnte sein, dass einfach die Probleme mit der Einführung der EDV gelöst sind. In jeder Bibliothek stehen Computer, das Internet ist etabliert. Das ist kein Problem mehr. Das haben Sie ja auch auf dieser Tagung gesehen. Es wurde die Performance von Bibliothekssystemen verglichen und über die Präsentation von Lernplattformen in Öffentlichen Bibliotheken berichtet, aber niemand hat mehr darüber diskutiert, was die Einführung von Computern in Bibliotheken so verändern wird. Sie müssen auch heute eigentlich keiner Bibliothek mehr sagen, dass sie sich entwickeln soll und das sie das besser strategisch tut. Auch das ist gesetzt.

Vielleicht waren diese Probleme einfach wichtiger oder schwieriger und jetzt, nachdem sie gelöst sind, tauchen Fragen wieder auf, die gar nicht gelöst, sondern von anderen Fragen zur Seite gedrängt wurden. Beispiel Schulbibliotheken: Vielleicht hat man in den 1970ern gar nicht geklärt, was eine gute oder moderne Schulbibliothek ist, sondern hat das Thema praktisch zur Seite gelegt, weil erst einmal andere Fragen geklärt werden mussten. Und jetzt taucht es wieder auf, wo sich zeigt, dass die bibliothekarischen Vorstellungen die Schulen kaum überzeugen.

Falls diese These von den „ungelösten Problemen“ stimmt, wäre es sinnvoll zu schauen, was in den 1970ern alles diskutiert wurde. Hierfür ein Beispiel: In den 1970ern und frühen 1980ern wurde über „Soziale Bibliotheksarbeit“ diskutiert, ein Thema waren Bringdienste Öffentlicher Bibliotheken für hausgebundene Menschen. Die Diskussion hörte dann Anfang der 1980er Jahre auf. Eine Redaktionskollegin aus der LIBREAS hat in den frühen 2000ern zur Sozialen Bibliotheksarbeit ihre Abschlussarbeit geschrieben (Schulz 2009), zwei weitere haben ein Buch zu Sozialer Bibliotheksarbeit herausgegeben (Kaden / Kindling 2007), in welchen das Thema mit erwähnt wird. Aber mir scheint, das war es dann auch schon mit der bibliothekarischen Literatur in den letzten Jahren. Es scheint einfach so, als wären die Bringedienste „tot“. Dabei ist diese Frage nie vollständig geklärt worden: Sollten die Bibliotheken solche Angebote machen und wenn ja, wie sollten die aussehen? Jetzt habe ich eine Bachelorarbeit betreuen dürfen, die sich angeschaut hat, ob es überhaupt solche Bringdienste in Deutschland gibt und diese Arbeit konnte mit einer Internetrecherche – also noch nicht mal mit tiefgehenden Nachfragen nach nicht so einfach sichtbaren Angeboten, sondern „nur“ nach solchen, die öffentlich sichtbar sind –, über 100 solcher Dienste nachweisen, die aktuell betrieben werden. Davon wurde eine Anzahl seit den 1970er oder 1980er Jahren kontinuierlich weitergeführt, aber viele wurden auch erst in den letzten Jahren begründet. Offenbar ist das Thema gar nicht gelöst und fertig, sondern taucht wieder in der bibliothekarischen Praxis auf, obwohl es in der bibliothekarischen Literatur aktuell nicht vorkommt. Ich denke, dass ist zumindest ein Hinweis darauf, dass die These von den „ungelösten“ oder „aufgeschobenen“ Problemen stimmen könnte.

 

Folie 19

FAZIT (I)

  • Neue These: Niemand drängt Bibliotheken wirklich, sie drängen auch wenig. Vielmehr deuten sie bestimmte Entwicklungen als „Antreiben“ oder Gefahr, aber das ist ihre Interpretation.
  • Bibliotheken interpretieren immer wieder die gleichen / ähnlichen Gefahren / Innovationsgründe / gesellschaftlichen Entwicklungen und finden darauf immer wieder ähnliche Antworten (zumeist, ohne „die alten Antworten“ zu kennen)
  • Der Eindruck, gedrängt zu werden, kommt auch daher, dass man nicht fragt, was sich eigentlich wirklich verändert und wie die Bibliotheken wirklich sind –> eher eine Rhetorik von „wir müssen uns verändern, sonst gehen wir unter“, die offenbar überzeugt, aber nicht unbedingt den Fakten entspricht

 

Lassen Sie mich noch ein Fazit ziehen, ein vorläufiges. Ich habe mehrfach gesagt und betone das gerne nochmal, dass dies hier ein Diskussionsangebot ist; dass ich Ihnen zeigen wollte, was mir aufgefallen ist, und gerade nicht sagen, wie die Welt funktioniert. Ich würde mich freuen, wenn das klar geworden ist. Gerne würde ich wissen, ob es dieses Phänomen der ständigen Wiederholungen in der bibliothekarischen Debatte, vor allem mit dem Bruch in den 1970ern, wirklich gibt oder ob das überinterpretiere (oder vielleicht einen viel wichtigeren Bruch übersehen habe). Mir scheint das alles überzeugend, aber vielleicht bin ich der Einzige. Falls nicht, würde ich auch gerne darüber diskutieren, warum das so ist. Wie gesagt, einige grosse Vorschläge fallen mir sehr schnell ein, wenn ich über Geschichte und deren Strukturen nachdenke, aber passen die und wenn ja, wie? Vor allem, was heisst es dann für die bibliothekarischen Debatten? (Und habe ich vielleicht eine bessere Erklärung übersehen?) Wie Sie gewiss auch gemerkt haben, sind die anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die es in den 1970er Jahren gab, in meinem Vortrag nicht vorgekommen. Ich habe kurz auf sie verwiesen, als Kontext, aber die Frage, ob vielleicht dieses Phänomen gar kein rein bibliothekarisches ist, sondern für andere Diskurse auch festgestellt werden kann, habe ich gar nicht gestellt, weil die Zeit begrenzt ist. Selbstverständlich sollte sie aber gestellt werden. Sie sehen, ich sehe grosses Diskussionspotential.

Aber zum Fazit. Der erste Teil des Fazits bezieht sich auf das Motto der Tagung: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Ich hoffen, es ist ersichtlich geworden, warum ich zu der These neige, dass die Bibliotheken weder getrieben werden noch selber treiben, sondern dass sie sich vielmehr immer wieder neu vorstellen, angetrieben zu werden. Bestimmte Entwicklungen werden als „Antreiben“ oder als Gefahr interpretiert, aber das ist eine Interpretation – eine, die Bibliotheken dazu bringt, sich Gedanken über Veränderungen zu machen, aber doch eine Interpretation, die von Bibliotheken vorgenommen wird. Bibliotheken antworten auch immer wieder auf ähnliche Weisen auf diese wahrgenommen „Gefahren“, ohne zu reflektieren, dass diese Antworten schon mal gegeben wurden und dass ähnliche „Gefahren“ schon durchgestanden wurden.

Es überzeugt, aber stimmt nicht immer. Ich denke, Bibliotheken könnten als Gesamtsystem ruhiger und vor allem weniger kurzfristig reagieren, wenn sie das wahrnehmen würden. Dazu bedarf es selbstverständlich, nicht nur nach vorne zu schauen oder nur auf die vorliegenden „Probleme“, sondern sich Zeit zu lassen, schon um ganz banal auch mal ältere Texte zu lesen. Hat dafür jemand Zeit? Weiss ich nicht. Sollten wir uns dafür Zeit nehmen? Das denke ich schon. Wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese Aufklärung der Bibliotheken über sich selber und ihren eigenen Diskurs zu betreiben? Gewiss, aber das müsste als Aufgabe gefasst und organisiert – heute auch finanziert – werden.

 

Folie 20

FAZIT (II)

  • Um das Bibliothekswesen zu entwickeln, benötigt es Kenntnisse über die Geschichte der Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten (nicht einfach Annahmen darüber, wie die Bibliothek „früher war“)
  • Die hier vorgetragenen Thesen benötigen weiterer Überprüfungen.
  • Insgesamt braucht es für eine Entwicklung von Bibliotheken mehr Ruhe. „Untergangsszenarien“ und „das ist modern, alles andere ist alt“-Behauptungen weniger ernstnehmen, dafür einen etwas weiteren Blick entwickeln, kann gut helfen.
  • Irgendwas ändert sich immer. Das alleine ist noch kein Grund für irgendwas; es bedürfte immer einer weitergehenden Begründung, warum es wirklich etwas verändert.

 

Zweiter Teil des Fazits. Etwas, was sehr einfach gemacht werden könnte, wäre im bibliothekarischen Diskurs zu akzeptieren, dass es eines Wissens darüber bedarf, wie sich die Bibliotheken in den letzten Jahren wirklich entwickelt, was sie wirklich diskutiert und ausprobiert haben. Wenn wir das nicht wissen, sollten wir nicht versuchen, das mit Bildern von „alten“ oder „unmodernen“ Bibliotheken, die es früher einmal angeblich gegeben hätte, auszufüllen. Diese Bilder stimmen meist nicht. Die Behauptung, eine Bibliothek sei früher schlecht gewesen und würde jetzt erst richtig entwickelt – was, wie gesagt, auch schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder neu behauptet wird –, ist meistens für das Ziel, dass man erreichen will oder für das Argument nicht nötig. Will man zum Beispiel begründen, warum die Bibliothek einen Makerspace haben soll, kann man das auch, ohne zu behaupten, die Bibliothek hätte zuvor nichts in Richtung Aufbau von Communities oder so gemacht. Man kann auch einfach sagen, man hätte gerne einen Makerspace. Oder man kann auch gut und gerne sagen, man würde lieber elektronische Medien anbieten, ohne zu unterstellen, die Bibliotheken hätten sich bislang nie Gedanken dazu gemacht, welche Medienformen sie anbieten sollten.

Grundsätzlich wäre es bestimmt gut, in den bibliothekarischen Debatten mehr Ruhe zu bewahren. Die Bibliotheken werden nicht untergehen, das wurde schon so oft behauptet, ohne das ein eintrat. Die Bibliotheken werden nicht „unmodern“ werden, auch das sind einfach eine sehr alte, beständig wiederholte Behauptungen. Vor allem sollte man sich aber mehr Zeit nehmen, die Vorstellungen über die notwendigen Entwicklungen besser zu begründen und zu verstehen, vielleicht auch zu revidieren, bevor man anfängt, aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Mir scheint aber, dass wir in einer Zeit leben, in der es manchmal schon ausreicht zu behaupten, irgendetwas verändert sich, zum Beispiel in der Medienwelt, deswegen müssten die Bibliotheken das und das tun. Möglichst sofort. Aber das ist, dass sollte klar geworden sein, oft nicht wahr. (Und auch hier ist das Argument nicht, dass man nicht auf Veränderungen schauen und Dinge ausprobieren sollte. Das Argument ist, dass die Behauptung oder Feststellung, etwas sei neu oder hätte Potential, irgendetwas anders zu machen, als bislang, noch keine Begründung dafür ist, warum es Bibliotheken und deren Umfeld verändern wird, vor allem so, dass Bibliotheken darauf reagieren müssen. Der Begründungszusammenhang sollte viel genauer und komplexer sein, dass ist es auch viel besser möglich, über ihn zu diskutieren und tatsächliche Veränderungen von fehlgeleiteten Vorstellungen, übergrossen Versprechen oder einfach auch Hypes und Missverständnissen zu trennen.)

Irgendwas verändert sich immer, aber am Ende nie so, dass es nicht ein paar Jahrzehnte wieder neu auftauchen könnte. Man muss schon verstehen, was sich wirklich ändert und ob es überhaupt einen Einfluss auf Bibliotheken haben wird. Mir scheint, gerade bei Aussagen über die Zukunft von Bibliotheken sollte das Denken komplexer werden.

Ich danke Ihnen.

 

Folie 21

Literatur, Primär

  • Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen (Empfehlungen der Bildungskommission). Stuttgart, 1970
  • Doderer, Klaus et al. (1970): Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell (Schriften zur Buchmarkt-Forschung, 19). Hamburg, 1970
  • Fischer, Bodo (1973): Profil der Benutzer öffentlicher Bibliotheken : eine Analyse von Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und sozialen Determinanten der Bibliotheksbenutzer : quantitative Vorstudie (AfB-Materialien, 3). Berlin, 1973
  • Fischer, Bodo (1978): Die Benutzer öffentlicher Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland : Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung (AfB-Materialien, 21). Berlin, 1978
  • Glaser, Hermann (1976): Vorwort. In: Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion. Bonn, 1976, 6-7
  • Heidtmann, Frank (1971): Materialien zur Benutzerforschung : aus einer Pilotstudie ausgewählter Benutzer der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin (Bibliothekspraxis, 3). München-Pullach, 1971

 

Literatur, Sekundär

  • Foucault, Michel (2001). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 184). Frankfurt am Main, 2001 [1975]
  • Kaden, Ben ; Kindling, Maxi (Hrsg.) (2007). Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. Berlin, 20007
  • Klein, Naomi (2007). The shock doctrine: the rise of disaster capitalism. New York, 2007
  • Marx, Karl (1965). Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Sammlung Insel, 9). Leipzig, 1965 [1852]
  • Müller, Sonja (2014): Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, 88). Frankfurt am Main, 2014
  • Nietzsche, Friedrich (1994). Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. Stuttgart, 1994 [1886]
  • Schulz, Manuela (2009). Soziale Bibliotheksarbeit: „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit in öffentlichen Bibliotheken. Berlin, 2009
  • Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken (Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst, 3). Bern, 1973
  • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Planung von Schulbibliotheken (1973): Ein Dokument aus den Bildungsreformen der 1970er Jahre in der Schweiz (Zur Geschichte der Schulbibliotheken VII)

Vorab: Immer noch ist eine Bibliotheksgeschichte notwendig

Es ist heute, so scheint es, im Bibliothekswesen normal, sich gegen die Bibliotheken der letzten Jahrzehnte abzugrenzen. In unterschiedlichen Zusammenhängen wird regelmässig die Behauptung aufgestellt, dass die Bibliotheken bis vor Kurzem defizitär und unmodern gewesen seien und erst vor Kurzem mit einer Modernisierung der Bibliotheken begonnen worden sei. Dies gilt auch für die Diskussionen um Schulbibliotheken, die zum Teil neben den bibliothekarischen Debatten stattfinden. Als Diskurs ist das relativ einfach nachzuvollziehen: Dadurch, dass die (nahe) Vergangenheit als unzureichend gezeichnet wird, kann das, was gerade aktuell eingeführt oder verändert werden soll als neu und innovativ erscheinen. Realistisch ist dies allerdings nicht. Vielmehr wird oft die reale Bibliotheksgeschichte ‒ aus der, wie aus jeder Geschichte, für die Zukunft gelernt werden könnte ‒ einfach verdrängt. Auch das ist als Diskurs verständlich: Wenn bestimmte Vorstellungen davon, wie Bibliotheken sich entwickeln oder wie sie sich ändern müssten, schon einmal vor einigen Jahrzehnten diskutiert wurden, müsste man sich zumindest mit diesem Fakt auseinandersetzen und könnte nicht einfach behaupten, weil etwas neu und innovativ sei, sei es richtig. Oft müsste man vielmehr erklären, warum bestimmte Diskussionen und Vorschläge offenbar keine oder wenige Effekte hatten und warum sie trotzdem gerade heute sinnvoll wären. Einfacher ist es wohl, die Wahrnehmung der Bibliotheksgeschichte der letzten Jahrzehnte stark zu reduzieren. Nicht unbedingt mit Absicht. Es ist offenbar der Hauptmodus in welchem gesellschaftliche Debatten heute geführt werden.

Vor einigen Jahren habe ich in diesem Blog einige Beispiele aus der Vergangenheit der Schulbibliotheken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen, welche unter anderem diese Geschichtsvergessenheit demonstrierten: Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR sowie die Artikel, die zu Schulbibliotheken in der bibliothekarischen Literatur der DDR erschienen waren und auf eine relativ lebhafte Diskussion (im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten) vor allem in den 1960er Jahren hindeuteten (Schuldt 2011c, 2011a); auf der Basis der bibliothekarischen Literatur in der BRD (bis 1989) und dem modernen Deutschland (nach 1989) eine Übersicht zu den Schulbibliothekarischen Arbeitstellen 1970-2000, die praktisch eine Vorstellung, die in den jüngeren Debatten zu Schulbibliotheken vorherrscht ‒ nämlich, dass solche Einrichtungen für professionelle und kontinuierliche Schulbibliotheksarbeit notwendig wären ‒ historisch prüft und eine eher eingeschränkte Nachhaltigkeit aufzeigt (Schuldt 2011b); eine ausführliche Beschreibung zu einem Projekt, in einer Anzahl von Schulen von einer Öffentlichen Bibliothek geleitete Schulbibbliotheken zu gründen, inklusive Evaluation und Erfahrungsbericht (Schuldt 2011b, siehe auch Schuldt 2012a) sowie die Darstellung der Artikel über Schulbibliotheken in einer kantonalen Bibliothekszeitschrift der Schweiz von 1965 bis 2011 (Schuldt 2012b). Gemeinsam war diesen Beispielen unter anderem, dass ihre Existenz nachweisst, dass zahlreiche Vorschläge und Argumente die aktuell im Zusammenhang mit Schulbibliotheken gemacht werden, schon mindestens einmal gemacht wurden, ohne das die Erfahrungen dieser vergangenen Beispiele beachtet werden.

Das Dokument, welches im Folgenden besprochen wird, fügt sich in diese Darstellung ein: Es demonstriert, dass ‒ wie auch im Bildungssytem als solches ‒ vieles, das aktuell als modern und neu gilt in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren schon einmal gedacht und geschrieben wurde, allerdings im Rahmen anderer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Offenbar ist dies heute nicht mehr präsent, kann also als Erfahrungswert die Diskussionen gar nicht beeinflussen. Dabei sollten solche Dokumente, wie angedeutet, nicht als erstaunliche, aber vergessene Novitäten verstanden werden, sondern als Ausdruck einmal geführter Debatten. Offenbar ist es aber für die deutschsprachigen Bibliothekswesen und die Personen, die die Debatten führen, aus bestimmten Gründen gut, diese vorhergehenden Debatten, Projekte und Publikationen nicht mehr zu referenzieren. Zu fragen ist, wieso. Ebenso zu fragen ist, was aus dem Fakt, dass solche Publikationen, wie die im Folgenden vorgestellte, existierten, ohne dass diese und ihr Einfluss heute weiter thematisiert werden, zu lernen ist. Sicherlich ist dies eine Debatte, die nicht alleine in einem Blogpost geführt werden kann. Aber zumindest angedeutet werden soll, dass vor zu grossen Versprechungen der aktuellen Debatten zu warnen ist. Offenbar sind die Effekte, die sich mit solchen Publikationen erhofft wurden nicht in dem Masse eingetreten, dass sie heute als positive Beispiele rezipiert würden. Insoweit steht nicht zu erwarten, dass die aktuellen Publikationen ihre Versprechen erfüllen werden.

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Planung von Schubliotheken (1973)

Das Heft “Planung von Schulbibliotheken” erschien 1973 als drittes Heft des Informationsblatts der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst. Der Schweizer Bibliotheksdienst existiert weiterhin, das Informationsblatt wird nicht mehr herausgegeben. Bedeutsam ist der Erscheinungstermin. In den 1970er Jahren, beginnend mit einem 1970 gestarteten Projekt an der Johann Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt am Main, wurde in der BRD ein Plan zum breitflächigen Ausbau von Schulbibliotheken ausgearbeitet. (Doderer et al. 1970) Dieser Plan, der letztlich nicht die erwarteten Ergebnisse zeitigte, enthielt unter anderem die Publikationen einer Zeitschrift, zuerst benannt als “Informationen für den Schulbibliothekar” (Zentrale Beratungsstelle für das Schulbibliothekswesen 1972-1974), später “schulbibliothek aktuell”. Insbesondere die “Informationen für den Schulbibliothekar” waren als Sammlungen von Richtlinien und Beispielen gestaltet, die den Aufbau solcher Bibliotheken ermöglichen sollten und gleichzeitig die Aufgabe hatten, die mögliche Bedeutung von modernen Schulbibliotheken (im damaligen Verständnis) darzulegen. Sie sollten also auch überzeugen. Diese Vorstellungen waren eingebettet in einer Bildungs- und Schulreform, welche Bildung vorrangig als Menschenrecht definierte und anstrebte, in der gesamten Bundesrepublik Deutschland für qualitativ gute Schulen und Bildungseinrichtungen zu sorgen. Gleichzeitig schlug diese Bildungsreform in bestimmten Regionen radikalere Formen ein und entwarf beispielsweise utopische Bildungsräume, die geprägt waren von elektronischen Apparaten zur Unterstützung des individualisierten Lernens, bei gleichzeitiger Betonung der sozialen Verantwortung der Gesellschaft für die Gestaltung von Bildung. Ähnliche Bildungsreformen und Debatten waren damals auch in anderen Ländern in der Diskussion.

Die schweizerische Publikation fällt genau in diese Zeit und ist in diesen Debatten zu verorten, wobei sie gleichzeitig eine schweizerische Interpretation ‒ einerseits zurückhaltender und konservativer, andererseits technologie- und planungsbegeistert ‒ derselben vornimmt. Sie ist in gewisser Weise ein Gegenstück zu den “Informationen für den Schulbibliothekar”.  Es ist zu vermuten, dass sie ohne die Publikation und die Debatten in der BRD nicht erstellt worden wäre. Gleichzeitig ist sie ein Vorläufer der heute noch fortgeführten, aktuell in der dritten Auflage vorliegenden “Richtlinien für Schulbibliotheken” der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014).

Das Heft mit 32 Seite umfasst: drei Seiten, die für Schulbibliotheken argumentieren (Seite 2-4), eine Seite mit Richtwerten (die zum Teil aus kantonalen Richtlinien übernommen wurden) (Seite 5), einer Seite mit Angeboten des Schweizerischen Bibliotheksdienstes für Schulbibliotheken (Seite 6), eine Seite mit einem Interview mit einem Lehrer, welcher eine Schulbibliothek aufgebaut hatte (Seite 7), vier Seiten mit Angaben zu Licht und zur Position der Schulbibliothek im Schulhaus (Seite 8-11), 14 Seiten mit insgesamt 11 Beispielen von Schulbibliotheken, wobei eines ohne Namen als Negativbeispiel vorgeführt wird, auch und weil nicht auf die Beratung des Bibliotheksdienstes zurückgegriffen wurde (Seite 12-25), vier Seiten auf denen die Organisation und Durchführung eines Bibliotheksfestes und eines Bibliotheksbasars geschildert wird (Seite 26-29), zwei Seiten mit kantonalen Richtlinien, die sich auf Schulbibliotheken beziehen (Seite 30-31) und abschliessend einer Seite mit Literatur (Seite 31). Insoweit stellt das Heft eine Mischung aus Richtlinien (eher wenigen), Beispielen, die anleiten und motivieren sollen, Argumenten für Schulbibliotheken sowie Werbung für den Schweizerischen Bibliotheksdienst dar. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass diese Werbung nicht wirklich mit einer Konkurrenzsituation zu erklären ist. Es gab wohl keinen Anbieter, welcher dem Bibliotheksdienst in Sachen Beratung und Lieferung von bibliotheksfertigen Medien Angebote entgegensetzte. Vielmehr ‒ und darin ähnelt das Heft den “Informationen für den Schulbibliothekar”, dass beständig auf die herausgebende Zentrale Beratungsstelle verwies ‒ scheint die Vorstellung vorgeherrscht zu haben, dass nur mit der Einbindung des Bibliotheksdienstes eine professionelle Schulbibliothek möglich wäre.

Gleichzeitig ist alleine durch die Verteilung offensichtlich, dass versucht wurde, insbesondere durch Beispiele zu überzeugen und Richtwerten eher einen randständigen Ort zuzuweisen. Dies steht zum Beispiel im Gegensatz zu den heutigen Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014), die mit autoritativ vorgetragenen Zahlen und Angaben überzeugen wollen und auf Beispiele verzichten.

Schulbibliotheken: Die ganze Schweiz, gegen Rückständigkeit und zu viel Fortschritt

Die interessantesten Seiten des Heftes bilden jene, auf denen Argumente für Schulbibliotheken vorgetragen werden. Sie sind gleich am Beginn der Publikation positioniert, auf Seite 2-4. Die Doppelseite 2 und 3 liefert unter der Überschrift “Was sagen sie dazu?” ein auffällig inszeniertes Panorama von Personen, die sich vordergründig für Schulbibliotheken aussprechen. Das ist inhaltlich nicht vollständig zutreffend. Ein genaues Lesen offenbart, dass hier vor allem gegen verschiedene Dinge argumentiert wird. Zwei Beiträge gehen zum Beispiel gar nicht auf Schulbibliotheken ein. Recht schnell wird sichtbar, dass auf diesen beiden Seiten das Bild zu vermitteln versucht wird, dass die “ganze Schweiz” beim Thema Schulbibliotheken grundsätzlich einer Meinung sei. Die einzelnen Personen stellen hier Prototypen dar, die zusammengenommen ein vorgebliches Abbild der Gesellschaft bilden. Dies ist ein in schweizerischen Abstimmungskämpfen zu Volksabstimmungen noch heute bekanntes Verfahren; überraschend ist vor allem, dass es auch hier verwendet wird. Von links nach rechts kommen so zu Wort: Eine Primarschülerin, ein Schüler der achten Klasse, eine Primarlehrerin, ein Primarlehrer, ein Gymnasiallehrer, ein Bibliothekar (genauer: der Direktor der Schweizerischen Landesbibliothek, kein Schulbibliothekar), ein Industrieller und ein Landwirt. Dies stellt, in Abstrichen, ein Bild der “ganzen Schweiz” dar: Intelligenz (Lehrerinnen und Lehrer, Bibliothekar) Industrie, Landwirtschaft; gleichzeitig Männer (überwiegend), wenige (genau zwei) Frauen / Mädchen ‒ ein gedämpfter Fortschritt. Gleichzeitig werden Primarschule und Gymnasium, Schule und Bibliothek, Schülerin und Schüler sowie Lehrerin und Lehrer angeführt: Alle die, die mit Schulbibliotheken in Kontakt kommen. Es soll offenbar der Eindruck einer gemeinsamen Zustimmung erzeugt werden.

Auffällig ist aber auch, das dieses Bild der Schweiz klare Strukturen hat: Die Abgebildeten sind offenbar “richtige” Schweizerinnen und Schweizer, keine Zugewanderten, zumindest keine aus zu fremden Kulturen. (Eventuell ist der Primarlehrer dem Namen nach Österreicher, der Gymnasiallehrer Franzose.) Mädchen und Frauen sind zwar Teil der Gesellschaft, aber in sozial niedrigeren Rollen (die jüngste der Aufzählung und eine Primarlehrerin, während die “wichtigen” Positionen von Männern besetzt sind). Dies ist nicht rein schweiz-spezifisch, auch in anderen Staaten gab es ähnliche Darstellungen der jeweiligen Gesellschaft. Aber erstens ist es hier sinnbildlich so konstruiert, ausgewählt und damit zeigbar und zweitens ist es doch erstaunlich, dass immerhin fünf Jahre nach 1968 solch ein Bild noch als überzeugend angesehen und gedruckt werden konnte.

Interessant ist auch, wie erwähnt, dass sich nur ein Teil der abgebildeten Personen zu Schulbibliotheken äussert. Zu erwarten wäre ein Anpreisen derselben, hingegen gibt es in den Wortmeldungen eher Abgrenzungen. Die Schülerin betont beispielsweise, dass in der Schulbibliothek ein Buch schneller gefunden werden kann, als in einer Klassenbibliothek. Ebenso bezieht die Primarlehrerin gegen Klassenbibliotheken Stellung. Diese Haltung zieht sich durch das gesamte Heft: Offenbar schienen Klassenbibliotheken in den 1970er Jahren in der Schweiz so verbreitet gewesen zu sein, dass sie eine Alternative zur Schulbibliothek bildeten, die negativ besprochen werden musste. Gleichzeitig grenzen der Primarlehrer (mit Verweis auf Paul Ladewig) und der Gymnasiallehrer die moderne Schulbibliothek, die als Freihandbibliothek organisiert ist, von älteren Schulbibliotheken ab, bei denen der Zugang zu den Medien von den Lehrkräften kontrolliert wurde. Neben diesen Äusserungen liefern insbesondere der Industrielle und der Landwirt Schlagworte, die mit Schulbibliotheken selber wenig zu tun haben, aber die eigentümliche Haltung zwischen konservativer Bewahrung und Fortschritt, die der schweizerischen Gesellschaft eigen zu sein scheint, widerspiegeln. Der Landwirt befürchtet ein Abgleiten der Gesellschaft, welches von Öffentlichen Bibliotheken aufgehalten werden soll: “Als Optimist bin ich überzeugt, dass mit dem Weiterausbau bestehender und der Gründung neuer Gemeindebibliotheken wirksame Dämme gegen eine sich abzeichnende geistige Verarmung entstehen können.” (S. 3) Der Industrielle betont ‒ wie dies heute auch getan wird ‒ die vorgebliche Bedeutung des Lernens nach der Schulausbildung, da die Arbeit in der Industrie nur durch ständige Weiterbildung und eigenständiges Weiterlernen zu bewerkstelligen wäre (ohne Bibliotheken in diesem Zusammenhang zu erwähnen). Diese Äusserung ist aus der heutigen Sicht irritierend, da Lebenslanges Lernen oft als neue Entwicklung beschrieben wird. Aber dies ist, wie weiter oben erwähnt, eher dem Vergessen historischer Diskurse zuzuschreiben. Auch in den 1970er Jahren war diese Vorstellung verbreitet, sowohl im Zusammenhang mit Bibliotheken als auch ohne.

Daneben finden sich in den ausgewählten Wortmeldungen zahlreiche Behauptungen, die sich heute so oder so ähnlich in der Literatur als Behauptungen im Bezug auf Schulbibliotheken finden lassen (vgl. dafür als aussagekräftiges Beispiel Kirmse 2012), ohne offenbar vollständig überzeugt zu haben: Die Schulbibliothek könne nur sinnvoll sein, wenn die Schülerinnen und Schüler mehrfach am Tag an ihr vorbeigehen (Primarlehrer), die Schulbibliothek biete mehr Anregung als der Unterricht alleine geben kann (Gymnasiallehrer), wenn die Bibliotheksnutzung in der Schulbibliothek geübt wird, würden Bibliotheken auch im späteren Leben benutzt (Direktor der Landesbibliothek), die Nutzung der Schulbibliothek erhöhe das Selbstbewusstsein jünger Schülerinnen und Schüler (Primarschullehrerin).

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Auf der nächsten Seite findet sich, noch bevor über Richtwerte für Schulbibliotheken berichtet wird, eine Aufzählung von neun Argumenten gegen Schulbibliotheken, die jeweils widerlegt werden. Diese Struktur ist mehrfach interessant. Die Anordnung erscheint als Vorläufer einer Liste, die heute (und auch in früheren Versionen) der schweizerischen Richtlinien für Schulbibliotheken enthalten ist. (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014) Heute sind es allerdings zehn Punkte, genannt “Grundsätze”, die nicht als Widerlegung von Argumenten dargestellt werden, sondern als positive Aussagen über Schulbibliotheken. Sie sind ebenfalls an den Beginn der Richtlinien gerückt, gleich hinter der Einleitung. Sowohl in den aktuellen Richtlinien ‒ die allerdings keinen rechtlichen Stand haben ‒ als auch in der hier besprochenen Publikation aus den 1970ern wird es also offenbar als notwendig angesehen, zuerst von Schulbibliotheken zu überzeugen, bevor überhaupt über die Ausstattung von Schulbibliotheken gesprochen werden kann.

Die Gegenüberstellung von Argumenten und Gegenargumenten ist zudem bedeutsam, da sie vollkommen für die Publikation konstruiert wurde. Es ist nicht sichtbar, ob die Argumente gegen Schulbibliotheken, auf die reagiert wird, überhaupt je wirklich vorgetragen wurden und wenn ja, wie verbreitet sie waren. Sie schienen nur so relevant, dass die Redaktion ihr widersprechen wollte. Hierbei schreibt sie gegen drei Richtungen der Kritik an Schulbibliotheken an: (1) Gegen veraltete Vorstellungen, (2) gegen zu radikale oder progressive Schulreformen und (3) gegen falsche Bilder von Bibliotheken.

Zu (1) gehört zum Beispiel das Argument “Ich möchte wissen, welche Bücher meine Schüler lesen und auch kontrollieren, ob jene dann wirklich auch gelesen werden.” (S. 4), das Argument, dass Kinder bei der Buchauswahl beraten werden müssten und sie von der Ordnung einer zu grossen Bibliothek verwirrt wären. Zu (2) gehören Einwürfe, die wieder modern klingen, aber als zu radikal (und in einer teilweise antiquierten Sprache): “Das Medium Buch ist sowieso nicht mehr zeitgemäss. Wir müssen jetzt endlich an echte Schulreformen denken, damit wir nicht als Ewiggestrige dastehen” (S. 4), “Wir müssen jetzt alle Kräfte und Mittel auf die Schulkoordination konzentrieren” (S. 4), “Nur Technik und Elektronik vermögen einen veralteten Schulbetrieb wieder aufzumöbeln. Darum her mit Television, Audiovision, Videorecorder, Sprachlabor und anderen Schikanen!” (S. 4). Zu (3) schliesslich gehören Vorwürfe, “Bibliothekare [seien] verstaubte Outsider, unverbesserliche Idealisten, die stur ihrem Steckenpferde frönen” (S. 4) und Bibliotheken seien zu kompliziert. In den Gegenargumenten für Schulbiliotheken wird gegen zu radikal neue und gegen zu veraltete Haltungen eine moderne ‒ und explizit mit Hilfe des Schweizerischen Bibliotheksdienst aufgebaute ‒ Schulbibliothek skizziert, die darauf vertraut, dass auch Schülerinnen und Schüler im jüngsten Alter mit ihr umgehen können, die diesen Kindern die Freiheit gibt, auch einmal “ein Buch falsch [auszuwählen]” (S. 4) (das dann immerhin gelesen würde) und welche die “Schulreform” (S. 4) darstellen würde, auf die sich alle einigen könnten und die vor allem das Selber-Bilden der Schülerinnen und Schüler unterstützt, die sich gegen Technologie abgrenzt und gleichzeitig modern wäre: “Zeitgemässe, moderne Bibliothekare aber versuchen stets am Puls der Zeit zu sein, haben eine ausgesprochene Nase für alles Neue und Kommende, sind beweglich und stets bereit zu sichten, zu ordnen und zu entscheiden.” (S. 4)

Es ist klar, dass dies vor allem das Bild ist, dass der Schweizerische Bibliotheksdienst von Schulbibliotheken verbreiten will. Auffällig ist auch hier, dass vieles, aber nicht alles, ebenso über heutige moderne Schulbbibliotheken (oder Bibliotheken im Allgemeinen) behauptet wird. Beispielsweise werden Bibliotheken heute als zukunftsgerichtet beschrieben, aber offenbar auch in den 1970er Jahren. Die Freiheit der Nutzerinnen und Nutzer steht im Mittelpunkt nahezu aller Beschreibungen von modernen Bibliotheken, sowohl heute als auch in den 1970er Jahren. (Insoweit ist die Behauptung, dies sein eine relativ neue Entwicklung, mit Vorsicht zu geniessen.) Ebenso sind die falschen Meinungen, von denen sich abgegrenzt wird, ähnlich. Zu radikales (“Ende der Bücher”) wird ebenso verworfen wie zu rückwärtsgewandtes (“Kontrolle”). Eine Veränderung ist heute die weitgehende Akzeptanz von Technik in der Bibliothek. Obwohl sich dies Bibliotheken oft selber zurechnen, lässt sich auch fragen, ob die Haltung zu technischen Lösungen nicht eventuell doch zum Teil auch von der Haltung der Gesamtgesellschaft zu solchen Lösungen abhängt. Die Ablehnung technischer Lösungen war in den 1960er und 1970er Jahren auch gesamtgesellschaftlich verbreiteter, so wie in der hier diskutierten Publikation; während sie heute in Gesellschaft und Bibliothek grundsätzlich akzeptiert sind.

Überzeugen mit Beispielen

Im Gegensatz zu den dichten und stark ausgewählten Argumenten um Schulbibliotheken, fallen die konkreten Vorgaben für Schulbibliotheken relativ kurz und übersichtlich aus. Dies überrascht vor allem im Vergleich mit den heutigen Richtlinien, die grossen Wert auf Vorgaben und Zahlen legen. In “Planung von Schulbibliotheken” beschränken sich diese auf sechs Seiten, eine Tabelle, in der einige Werte zusammengetragen sind, teilweise ohne Quelle und Begründungen, teilweise mit Verweis auf Richtlinien in den Kantonen Bern, Zürich und Luzern sowie ‒ und hier schliesst sich der Kreis wieder ‒ der BRD. Während die erwähnten kantonalen Bestimmungen auf den letzten Seiten der Broschüre zusammengetragen sind, ist nicht ganz klar, welche Wert aus der BRD zitiert werden. Im weiter oben genannten deutschen Projekt gab es Vorschläge, aber keine verbindlichen Richtlinien. Die Angaben beschränken sich auf die Anzahl von Büchern (keine anderen Medien, nicht einmal Zeitschriften), Möbiliar, kurzen Angaben zu Licht, Raumgrösse und Lage der Schulbibliothek im Schulhaus. Die Preise mögen erstaunen (1000 bibliotheksfertige Bücher für 15000 CHF, als im Durchschnitt 15 CHF pro Buch sind heute nicht vorstellbar), aber ansonsten lässt sich insbesondere die Tabelle auf Seite 5 als Kern der heutigen Richtlinien ansehen ‒ obwohl sie das nicht ist, da die erste Aufgabe der Richtlinien für Schulbibliotheken erst im Jahr 2000 erschienen. Eventuell ist die Aufzählung von Buchbestandsgrösse und Grundmöbiliar auch einfach seit Längerem im Denken über Bibliotheken in der Schweiz verankert. Auf der folgenden Seite verweist der Schweizerische Bibliotheksdienst auf eigene Angebote für Bibliotheken wie zum Beispiel seinen Neuerscheinungsdienst.

Zwischen diesen Angaben findet sich ein längeres Interview mit einem Leiter einer Schulbibliothek ‒ ohne Namen oder Ort, insoweit ist nicht ganz ersichtlich, wie sehr oder wenig das Interview inszeniert ist, ob es nicht vielleicht sogar gänzlich erfunden wurde, um ein offenbar die Redaktion bedrängendes Problem anzusprechen ‒ zu den Problemen bei der Gründung derselben. Erstaunlich ist zumindest, dass der befragte Leiter genau die Äusserungen tätigt, welche der Schweizerische Bibliotheksdienst mit der gesamten Publikation vermitteln möchte. Die Unterstützung durch den Bibliotheksdienst (bibliotheksfertige Bücher, Normen) wird hervorgehoben, die Schulbibliothek wird als Institution beschrieben, die alle überzeugte, als sie dann einmal eingerichtet war, es wird eine Professionalisierung des Personals angemahnt (“Sehr wichtig ist, dass sich eine Person für die Bibliothek verantwortlich fühlt und den ganzen Betrieb organisiert und leitet.”, S. 7), kantonale Empfehlungen für Schulbibliotheken werden erwähnt, aber angemahnt und gehofft, dass diese in Zukunft stärker institutionalisiert und mit einer finanziellen Regelung verknüpft würden. Dazwischen reflektiert der befragte Leiter, dass der Aufbau einer Schulbibliothek zeitweise gegen Behörden durchgesetzt werden muss und schwierig sein kann. Im Gesamten liest sich das Interview so, als wäre es explizit daraufhin konstruiert worden, vor allem Lehrpersonen dazu aufzufordern, den Aufbau von Bibliotheken auch gegen Widerstände durchzusetzen und gleichzeitig auf weitergehende Regelungen zu drängen. Es liest sich eher wie der Teil einer Propagandakampagne, der Authentizität vermitteln soll, als wie ein offen geführtes Interviews.

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Relevanter als das Interview sind für die Publikation offenbar die elf dargestellten Beispiele von Schulbibliotheken. Auch diese sind selbstverständlich mit klarem Ziel ausgesucht worden. Vorgestellt werden, zumeist auf einer Seite, je eine Schulbibliothek, jeweils mit einem sehr kleinen Informationsfeld mit einigen Grunddaten zur Bibliothek, einem sehr kurzen Text, zwei bis drei Bildern aus der Bibliothek und einem Grundriss. Dieser Grundriss nimmt in den meisten Fällen den grössten Raum der jeweiligen Darstellung ein. Es ist zu vermuten, dass er auch als der überzeugendste Teil angesehen wurde. In einigen Fällen wurde beispielsweise auf Bilder aus der Bibliothek verzichtet, aber nie auf den Grundriss.

Die Auswahl der Beispiele wird nicht begründet, es ist aber selbstverständlich ein Plan zu vermuten. So umfassen die Beispiele die wichtigsten in der Schweiz vorkommenden Schultypen (Primarschulen, Sekundarschulen, Untergymnasien, Gymnasien), allerdings keine Berufsschulen. Auffällig ist, dass sich alle Beispiel in urbanen Gegenden ‒ grösseren Städten wie Luzern und Bern oder Gemeinden im Einzugsbereich solcher Städte ‒ befinden. Der ländliche Raum ist vollkommen ausgelassen. Sicherlich waren Schulbibliotheken in den Klein- und Kleinstschulen des ländlichen Raumes auch in den 1970er Jahren nicht so gut ausgebaut, wie im städtischen Raum. Angesichts dessen, dass die Publikation auf den ersten Seiten den Eindruck zu vermitteln versucht, die gesamte Schweiz zu umfassen, ist dies aber erstaunlich. Offenbar wird die moderne Schulbibliothek in den Städten verortet, die Schulen in den Dörfern und Gebirgsstädten scheinen auf sich allein gestellt.

Grundsätzlich dienen die Beispiele dazu, die zuvor in den kurzen Ausführungen zu Richtlinien und Vorgaben getroffenen Aussagen noch einmal, auf der Basis der existierenden Realität, zu wiederholen. Offensichtlich wurde davon ausgegangen, dass die Richtlinien alleine keine ausreichende Argumentation bilden. Die reine Zahl wird ergänzt durch die gebaute Bibliothek. Dies hat sich heute offenbar geändert, die aktuellen Richtlinien kommen ohne solche Beispiele aus, dafür begründen sie einige Zahlen stärker. (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken 2014)

Die Frage ist allerdings, an wenn diese Argumentation mit Beispielen gerichtet wurde. Sollten damit Personen überzeugt werden, Bibliotheken zu bauen, die vorher Schulbibliotheken abgelehnt hatten? Sollte für bestimmte Bibliothekscharakteristika geworben werden? Letzteres drängt sich bei einem negativen Beispiel auf, dass ohne Namen in der Mitte der Beispiele integriert wurde und zwei Druckseiten (S. 14-15) einnimmt. An diesem Beispiel wird in gewisser Weise vorgeführt, was offenbar passiert, wenn sich nicht mit Beratungsfragen an den Schweizerischen Bibliotheksdienst gerichtet würde. Dem Beispiel ist der Auszug aus einem Brief des Geschäftsführers des Bibliotheksdienstes beigegeben, in welchem “grosse Enttäuschung, ja Bestürzung über die Gestaltung der Bibliothek” (S. 14) geäussert wird. Der Brief massregelt weiterhin, dass die mögliche Hilfe abgelehnt wurde:

“Vor mehr als Jahresfrist trat Herr … in Kontakt mit uns, um sich betreffend Einrichtung des Raumes beraten zu lassen.

Wir waren bereit, an Stelle der vorgelegten völlig unbrauchbaren Möblierungsskizze des Architekturbüros auf unsere Kosten durch unseren Innenarchitekten einen detaillierten Grundrissplan ausarbeiten zu lassen. Wir wären Ihnen bei der Realisierung gerne mit Rat und Tat und ‒ sofern erforderlich ‒ sogar mit finanziellen Zuschüssen zur Seite gestanden. Der Plan wurde in der Folge ohne unser Wissen willkürlich verändert. Auf des öftern telefonisch angeregte Kontakte mit uns schienen weder Herr … noch Herr … irgendwelchen Wert zu legen: dabei hätten ihnen Anregungen von Bibliotheksfachleuten zumindest kaum geschadet.” (S. 14)

Weiterhin werden detailliert einzelne Fehler in der Planung aufgeführt (Bodenbelag unzweckmässig, zu viele Trennwände für den kleine Raum, kein Blick auf die Kinderecke und anderes) und sogar ein Grundriss der jetzigen Situation dem Grundrissvorschlag des Bibliotheksdienstes gegenübergestellt. Grundsätzlich ist die angriffige Sprache die verwendet wird, um das Beispiel als schlechtes zu kennzeichnen, erstaunlich (Wer genau wird eigentlich angegriffen, wer gemassregelt? Was ist die Gefahr, gegen die argumentiert wird? Fremde Architekturbüros? Uneinsichtige Schulen?). Recht klar ersichtlich ist aber, dass die Meinung etabliert werden soll, dass nur der Schweizerische Bibliotheksdienst in der Lage wäre, Schulbibliotheken zu planen (und gleichzeitig zu bewerten, was gute und schlechte Schulbibliotheken sind).

 

Die letzten beiden Beispiele, denen erstaunlich viel Platz von vier Seiten eingeräumt wurden, stellen keine fertig Schulbibliothek vor, sondern die Planung zweier Benefitzveranstaltungen für Schulbibliotheken ‒ ein Oktoberfest an einer Schule und ein Bibliotheksbasar. Beide Veranstaltungen schlossen mit einem Gewinn ab (Oktoberfest 63000 CHF, Basar 12524.15 CHF ‒ während 1000 bibliotheksfertige Bücher, wie erwähnt, 15000 CHF kosten). Insbesondere das Oktoberfest wird bis in kleine Details (Terminfindung so, dass die Menschen ihren Lohn noch nicht ausgegeben oder für andere Feste verplant haben etc.) beschrieben. Offenbar war es weiterhin eine Aufgabe, trotz finanziellen Zuschüssen, die der Bibliotheksdienst gewährte (siehe Brief im “schlechten Beispiel”), die Finanzierung von Schulbibliotheken auf anderen Wegen sicherzustellen. Die ausführliche Beschreibung lässt vermuten, dass es relativ normal war, dies durch Benefitzveranstaltungen, und nicht über ein regelmässiges Budget, zu sichern, was in einem gewissen Widerspruch zur restlichen Publikation steht, in welcher der Anspruch vorgetragenen wird, Bibliotheken zu bauen und den Eindruck entstehen lässt, dass die grundsätzliche Finanzierung der meisten Einrichtungen gesichert sei.

 

Abgeschlossen wird die Publikation mit Richtlinien für Schulbibliotheken aus den Kantonen Bern und Zürich sowie betreffenden Ausschnitten aus dem Erziehungsgesetz des Kantons Luzern sowie einer kurzen Literaturliste, wobei auf dieser das Buch von Doderer et al. (1970) und die “Informationen für den Schulbibliothek” prominente Plätze einnehmen. Aus der Schweiz konnten Artikel und Handreichungen aus den gleichen Kantonen ausgewiesen werden, aus denen auch die dargestellten Richtlinien stammen. Zudem wurden einige eher entfernt relevante Publikationen aufgenommen.

Fazit

“Planung von Schulbibliotheken” stellt eine erstaunliche Publikation aus der Schweiz der 1970er Jahre dar. Sie ist getragen von Anspruch des herausgebenden Schweizerischen Bibliotheksdienstes, die einzige Einrichtung in der Schweiz zu sein, welche Schulbibliotheken unterstützen und bewerten könne. Gleichzeitig ist die Publikation zu verorten in gesellschaftlichen Entwicklungen, die versuchten (und weiter versuchen), einen Ausgleich zwischen schweizerischer Identität, konservativer Grundhaltung und Fortschritt zu schaffen. Dieser Anspruch zeigt sich insbesondere auf den ersten Seiten des Heftes.

Wichtig ist, dass offenbar davon ausgegangen wurde, dass auf mehreren Wegen von Schulbibliotheken überzeugt werden musste: Mittels direkten Argumenten, mittels Richtzahlen, mittels zahlreichen Beispielen und mittels amtlich erlassener Richtlinien. Offenbar war es nicht möglich, allein auf eine Form der Argumentation zu vertrauen.

Die Grundsätze, die für Schulbibliotheken dargelegt werden, erscheinen in weiten Teilen, aber nicht zu hundert Prozent, die gleichen zu sein, wie sie auch heute vorgetragen werden. Das heisst nicht, dass sie falsch wären; aber offenbar überzeugten sie nicht vollständig. Immerhin gibt es auch heute in der Schweiz zahlreiche Schulen ohne Schulbibliothek (wobei es nur für einige Kantone Zahlen gibt und diese nicht unbedingt öffentlich zugänglich sind). Gleichzeitig ist auch eine Anlehnung an deutsche Debatten der frühen 1970er Jahre zu konstatieren.

Auffällig sind mehrere Dinge, die in der Publikation fehlen: der ländliche Raum wird nicht betrachtet, obwohl dies in der Schweiz immer relevant ist; es wird weder eine kontinuierliche Diskussion zwischen Schulbibliotheken über deren Ausrichtung erwähnt noch eine solche vorgeschlagen, vielmehr versteht sich der Bibliotheksdienst selber offenbar als ausreichend kompetent, um Aussagen zu treffen; es wird nur von Deutschschweizer Schulbibliotheken geredet und sich an bundesdeutsche Debatten angelehnt, die drei anderen Sprachräume kommen in der Publikation nicht vor (nicht einmal die Richtlinien aus Bern, die gewiss zweisprachig vorlagen, sind in französisch abgedruckt), ebenso werden Debatten in den anderen angrenzenden Statten nicht referenziert, auch nicht in der Literaturliste.

Es ist, wie gesagt, eine erstaunliche Publikation, sowohl als Vorläufer heutiger Richtlinien als auch als schweizerische Reaktion auf bundesdeutsche Debatten und Projekte.

Literatur

Anonym (1973a) / Verordnung über die Schulbibliotheken: Ein weiteres Beispiel aus der Schweiz. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1973) 3, 19–21

Anonym (1973b) / „Die Kantonalen Richtlinien für Schulbibliotheken“: Ein Beispiel aus der Schweiz. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1973) 3, 17–19

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung. (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970

Kirmse, Renate (2012) / Mission impossible : Oder: Vom Aufbau einer Schulbibliothek in 154 Tagen. In: Bibliotheksdienst 46 (2012) 11, 894–902

Lutz, Brigitte ; Schuldt, Karsten (2013) / Vergleich von Richtlinien für Schulbibliotheken. In: kjl&m. Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek 65 (2013) 4, 74–78

Müller, Hans A. (1974) / Eine schweizerische Schulbibliotheksverordnung und ihre Auswirkungen. In: Informationen für den Schulbibliothekar (1974) 5, 23–24

Schuldt, Karsten (2012a) / Doppelarbeit und Wiederholungen beim Versuch, Schulbibliotheksnetzwerke aufzubauen. In: LIBREAS. Library Ideas 8 (2012) 20, http://libreas.eu/ausgabe20/texte/03schuldt.htm

Schuldt, Karsten (2012b) / Schulbibliotheken in Der Berner Bibliothekar bzw. Berner Bibliotheken / Bibliothèques du canton de Berne (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, VI). Blog, 21.02.2012, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2012/02/21/schulbibliotheken-in-der-berner-bibliothekar-bzw-berner-bibliotheken-bibliotheques-du-canton-de-berne-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-vi-2/

Schuldt, Karsten (2011a) / Schülerbüchereien in der DDR. Die Artikel aus Der Bibliothekar (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, IV). Blog, 24.03.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/03/24/schulerbuchereien-in-der-ddr-die-artikel-aus-der-bibliothekar-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-iv/

Schuldt, Karsten (2011b) / Schulbibliotheksprojekt in Weinheim/Bergstraße, 1981-84 (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, III). Blog, 15.03.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/03/15/schulbibliotheksprojekt-in-weinheimbergstrase-1981-84-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-iii/

Schuldt, Karsten (2011c) / Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, II). Blog, 26.02.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/02/26/ein-schulbibliotheksbuch-aus-der-ddr-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-ii/

Schuldt, Karsten (2011d) / Schulbibliothekarische Arbeitsstellen, 1970-2000. Eine Literaturrecherche (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, I). Blog, 10.01.2011, https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/01/10/schulbibliothekarische-arbeitsstellen-1970-2000-eine-literaturrecherche-2/

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken (2014) / Richtlinien für Schulbibliotheken: Bibliotheken, Mediotheken, Informationszentren an Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe II ; Grundsätze, technische Daten und praktische Beispiele. Aarau: Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine, öffentliche Bibliotheken, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Schweizer Bibliotheksdienst (1973) / Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3

Zentrale Beratungsstelle für das Schulbibliothekswesen in der BRD (1972-1974) / Informationen für den Schulbibliothekar. Frankfurt am Main: Institut für Jugendbuchforschung

Eine kurze Geschichte zum Arbeiten in Bibliotheken (als Leser) im 21. Jahrhundert

Die Auseinandersetzungen zu der Frage, ob und wie die Bibliotheken heute einen besseren Zugang zu Medien bieten, sind bekanntlich noch lange nicht vorbei. Die Behauptung, Bibliotheken würden verschwinden und durch das Internet ersetzt, wird selten wirklich gemacht, aber beständig in bibliothekarischen Debattenbeiträgen widerlegt. Aus meiner Erfahrung würde ich dazu gerne eine kurze Geschichte beitragen, die aus der Sicht des Lesers berichtet. (Als einem priviligierten Leser, der in Chur und Berlin lebt, also die Bibliothekssysteme zweier Länder nutzen kann. Mit nur einem Bibliothekssystem könnte die Geschichte noch interessanter sein.)

Ausgangslage ist ein kurzer Text zur Geschichte der Freihandbibliothek, an dem ich schon eine Weile sitze und von dem auch nicht klar ist, ob er je fertig wird. Geschichte bedeutet immer, ältere Texte lesen. In einer Anzahl von ihnen (z.B. Volbehr, Lilli (1953) / Die Freihandbücherei : Wesen und Technik. Hamburg : Verlag Eberhard Stichnote, 1953 und de Bruyn, Günter (1957) / Über die Arbeit in Freihandbibliotheken. Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1957) findet sich eine wiederkehrende Angabe: im Jahrbuch der Deutschen Volksbüchereien sei eine Zahl von 25 Freihandbüchereien für Deutschland angeführt. Das ist von Interesse, zumal zu vermuten ist, dass die angeführte Quelle noch mehr hergeben wird, als die Zahl die 25 selber.

Auf der Suche nach dem 25 Büchereien

Die Recherche in meinem normalen Bibliothekskatalog – dem nebis, der viele, aber nicht alle Hochschulbibliotheken und viele Bibliotheken schweizerischer Forschungseinrichtungen umfasst – führt leider zu der Erkenntnis, dass in diesem System kein Exemplar des Jahrbuchs zu finden ist. Das ist nicht normal. Zumeist hat die Zentralbibliothek Zürich ältere (deutsche) Texte aus der Bibliotheksgeschichte. In vielen Fällen kann ich diese einfach nach Chur schicken lassen, manchmal muss ich sie vorbestellen und anderthalb Stunden (plus Weg durch die Stadt) fahren, um sie vor Ort zu nutzen. (Was mit den Arbeitszeiten konkurrenzieren kann, aber ich muss zum Glück öfter nach Zürich, oder halt am Samstag fahren.) Aber nicht immer funktioniert das. Das sind wohl Auswirkungen von Bestandsentscheidung die weit vor meiner Geburt getroffen wurden.

Die Idee, dass ein solches Medium gescannt und irgendwo angeboten würde, läge den Erzählungen von der Bibliothek im Internet nach nahe. Aber nein, ist es (noch immer) nicht. Wie übrigens die meisten Dokumente zur Bibliotheksgeschichte oder die älteren bibliothekarischen Zeitschriften noch lange nicht digital vorliegen.

Der swissbib als schweizerischer Metakatalog zeigt mir, dass das nächste Exemplar des besagten Jahrbuch in St. Gallen in der Vadiana, der Kantonsbibliothek, steht. Der swissbib hat allerdings den Nachteil, dass ich oft sehe, dass die Medien anderswo in der Schweiz stehen, aber doch nicht einfach an sie herankomme. Ein Medium aus der Westschweiz zu bestellen ist genauso viel Aufwand, wie aus dem Ausland. (Ich habe es schon ausprobiert, die wirklich grossartige Bibliothek der HTW Chur hat mir dann nicht das Exemplar aus Genf, sondern aus Bamberg besorgt, weil das einfacher ging. Heute nutze ich oft – wie damals als Student, wenn ich etwas aus der Staatsbibliothek Berlin benötigte, mir aber die Ausleihgebühr nicht leisten konnte oder wollte – private Kontakte für Medien aus der Westschweiz. Ich weiss, dass das sonicht gedacht ist, aber „alle tun es“.) An sich ist St. Gallen von mir aus gleich der nächste Kanton, aber „aus Gründen“ werden keine Medien zwischen Graubünden (also meinem Kanton) und St. Gallen ausgetauscht. Lokalpatriotismus per se, weil: Zürich und Graubünden, da klappt der Austausch super, St. Gallen und Graubünden – nie. (Es gibt offenbar auch einen historischen Beef zwischen St. Gallen und Graubünden, aber das sollte kein wirklicher Grund. Sollte.)

Nun liegt St. Gallen von Chur gesehen aus einigermassen am Rand (der Strecke zwischen Zürich und Chur). Zum Glück musste ich eh dort hin und konnte den Besuch in der Kantonsbibliothek mit anderem verbinden. Aber ansonsten sind dies – bislang, der Fahrplan wird gerade umgestellt – etwas mehr als anderthalb Stunden Fahrt (plus Weg durch die Stadt). Immerhin hat mir die elektronische Datenverarbeitung ermöglicht, zu wissen, dass es das Medium in St. Gallen gibt. Aber in der Kantonsbibliothek selber gibt es weiterhin einige, wenige Medien, die aus dem Magazin per Leihschein bestellt werden müssen – zum Beispiel das Jahrbuch der Deutschen Volksbüchereien, Ausgabe 1927. Also durfte ich einen Leihschein ausfüllen, immerhin im Jahre 2013.

Die Arbeit am Jahrbuch der Deutschen Volksbüchereien selber dauerte rund eine Stunde im wirklich herrlich altmodischen Lesesaal (der immer noch so aussieht, wie vor hundert Jahren). Neben den Namen der deutschen Bibliotheken mit Freihandsystem im Jahr 1927 lieferte es auch Angaben zur Verteilung anderer Ausleihverfahren. Selbstverständlich keine Angaben, die man einfach als Wahrheit übernehmen kann, aber wichtige Hinweise.

Auf der Suche nach den anderen Jahrbüchern

Doch damit nicht genug. Auf der Heimfahrt wuchs die an sich naheliegende Idee, zu schauen, ob es mehr Ausgaben des Jahrbuch gab und ob dort ähnliche Daten enthalten sind. Sicherlich wären die Zahlen alle prekär, aber doch immerhin Zahlen. Das Bild einer Tabelle entsteht: Im Jahr XYZ so und so viele Bibliotheken mit Buchkartensystem, mit Indikator, mit Freihand. Im Jahr darauf so und so viele Bibliotheken mit den jeweiligen Systemen. (Was ist ein Indikator als Ausleihsystem? Das hat dann eine weitere Recherche ausgelöst. Sagen wir so: Es ist umständlich; ein System, bei dem den Nutzerinnen und Nutzern durch Holzklötze angezeigt wurde, ob ein Medium vorhanden war oder nicht.) Wenn es genügend Ausgaben des Jahrbuch gab und in diesen genügend Zahlen gefunden werden können, bietet sich vielleicht sogar eine graphische Darstellung an, die zeigen müsste (These), wie sich die Freihand schon in der Weimarer Republik – und nicht erst, wie sonst angenommen im Dritten Reich – durchzusetzen beginnt. Das wäre doch eine Erkenntnis. Sicherlich: Wenn es so einfach ist, warum hat es noch niemand gemacht? Aber am Anfang ist noch Hoffnung.

Immerhin, nicht die schweizerischen Kataloge, aber die deutsche Zeitschriftendatenbank gibt Auskunft zur Erscheinungsweise des Jahrbuchs. Vier Ausgaben, über die Jahre 1926, 1927, 1928 und 1928/29-1929/30 verteilt. (Strange.) Danach fortgesetzt in einem Handbuch, auch mit sehr unterscheidlicher Erscheinungsweise. Aber bleiben wir beim Jahrbuch. So einfach ist das auch wieder nicht. Es steht laut swissbib in Luzern in der Zentral- und Hochschulbibliothek (etwas mehr als zwei Stunden Fahrt, offen zumeist in meinen Arbeitszeiten, dafür praktisch direkt am Bahnhof und dieser Standort in einem herrlich überholten 50er-Jahre Bibliotheksbau). Ich wohne weiterhin in Berlin, auch wenn ich leider nicht oft genug da bin. Laut KOBV stehen alle vier Bände im Grimm-Zentrum (Humboldt-Universität). Ich entscheide mich gegen die Fahrt nach Luzern, also merke ich mir den Bibliotheksbesuch für den nächsten Aufenthalt in Berlin, insbesondere für den Montag, der fürs Arbeiten reseviert ist, vor.

In Berlin finde ich dann heraus, dass die Medien da sind, aber es wieder so einfach nicht ist. Sie müssen aus dem Magazin bestellt werden, per Leihschein. Der Leihschein ist sehr interessant: Er ist noch ein Vordruck des alten Leihscheins, aber man muss nur noch wenige Angaben ausfüllen. (Historisch gewachsener vs. Entwicklung des Datenschutzes, wenn ich es richtig verstanden habe.) Allerdings darf man auch nicht zuviele Medien auf einmal mit einem Leihschein bestellen. Nachdem ich den Leihschein mit Hilfe der Kollegin ausgefüllt habe, verkündet sie mir, dass die Medien am nächsten Tag ab 15.30 Uhr bereitstehen werden. Das hilft mir wenig, sitze ich um die Zeit doch schon am Flughafen und warte auf dem Flug zurück nach Zürich. Also darf ich für den nächsten Berlinaufenthalt wieder zwei Besuche des Grimm-Zentrums einplanen. (Einmal bestellen, einmal nutzen. Ausleihe kann ich vergessen, die ist im Grimm-Zentrum zwei Wochen, da bin ich noch in der Schweiz, wenn jemand zufällig die Medien anfordert. Nur: Funktioniert die Ausleihe aus dem Magazin auch am Wochenenden?) Oder ich fahre doch noch nach Luzern.

Immerhin: Am Montag bin ich noch durch Berlin gefahren und eher zufällig an der Warschauer Strasse gewesen. Dort ein Blick auf die Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung geworfen und auf die Idee gekommen, nachzuschauen, ob das Jahrbuch vielleicht auch dort steht. (Darauf muss man auch mal kommen, wieso sollte in der alten „Schulbuchbibliothek“ ein Jahrbuch zu Öffentlichen Bibliotheken stehen? Aber irgendwie fühlt es sich richtig an.) Dank mobilem Internet gemerkt, dass die gesuchten Medien tatsächlich friedlich in dieser Bibliothek stehen, die Bibliothek (die ich wegen der Arbeitsatmosphäre mag und die mir schon in vielen anderen Fragen weiter geholfen hat) hat aber genau diesen Montag Nachmittags wegen einer Stiftungssitzung geschlossen. Hätte ich die Idee einfach mal ein paar Stunden früher gehabt.

Was bleibt also? Die Verabredung für den Dienstag Morgen verschieben, pünktlich zur Öffnung um zehn in die Bibliothek stürmen, und da steht es: Das Jahrbuch der Deutschen Volksbüchereien, alle vier Bände, friedlich im offenen Magazin. Was für ein Glück. Also konnte ich in gewisser Hektik (weil: Verabredung noch offen, Flieger für Nachmittag gebucht, Koffer noch zu Hause, da die Schliessfächer in der Bibliothek zu klein sind etc.) mit allen vier Bänden arbeiten.

Bibliotheken angucken

Ich will mich gar nicht beschweren, so ist die Arbeit nun mal in der Geisteswissenschaft. Es hat ja auch seinen Stil und es macht Spass, die unterschiedlichen Bibliotheken zu besuchen; es ist immer wieder ein Erfolgserlebnis, wenn man das eine Buch, für das man tagelang planen und stundenlang fahren musste, in den Händen hält. Immer wieder fühlt man sich ein wenig so, als hätte man das Schicksal ein wenig geschlagen. Und ja: Besser planen würde einige dieser Wege unnötig machen. (Aber die Idee, mit allen vier Bänden zu arbeiten muss zum Beispiel erstmal wachsen. Hätte ich sie sofort gehabt, hätte ich St. Gallen nicht aufsuchen müssen.) Zudem hat das Internet und die elektronischen Datenverarbeitung einiges verbessert. Die ganze Recherche nach Medien fand bei dieser Erzählung ja im Netz statt.

Aber dennoch hat es immer wieder sein erstaunlichen Seiten, wenn man – statt, wie schon lange angekündigt – alle notwendigen Medien als Scan zu finden, manchmal durch eine unbekannte Stadt irrt, eine noch unbekannte Bibliothek sucht, um dann dort per Hand und nach einigen Nachfragen einen Leihschein auszufüllen. Es ist einfach komisch.

Vielleicht auch interessant: Was verlangen die Bibliothekssysteme eigentlich alles von den Nutzerinnen und Nutzern zu kennen? Hier in dieser Erzählung waren es mehrere Bibliothekskataloge (nebis, swisslib, KOBV, nicht erwähnt, aber benutzt, auch der KVK), dazu Datenbanken (Zeitschriftendatenbank), das System der Leihscheine und das Vermögen, in mehrere Bibliotheken, mit ihren jeweils eigenen Systemen und Befindlichkeiten, zu nutzen oder zumindest in Ihnen das Personal zu fragen. Das scheint mir einiges zu sein.

PS.: Die anderen drei Ausgaben des Jahrbuch der Deutschen Volksbüchereien enthalten übrigens keine Angaben zur Verteilung der Ausleihverfahren. Es wird keine Tabelle geben. Das wird wohl auch der Grund sein, warum es bislang niemand gemacht hat.