Le Denier Cri pour les Bibliothèques?

Oder: Warum so viel „Bewegung‟ in den einen Bibliothekswesen und eher gemächliche Entwicklung in anderen?

Vor einer ganzen Zeit (irgendwann 2018?) machte ich auf Twitter einen mässigen Witz: Auf der Basis eines Artikels1 aus den USA behauptete ich, dass andere Trends in der Bibliothek jetzt „durch‟ seien und Yoga der neue Trend wäre. Von mehreren Seiten wurde ich dann darauf hingewiesen, dass auch im DACH-Raum eine Anzahl von Bibliotheken Yoga anbietet – fair enough. Seitdem habe ich den gleichen Witz trotzdem noch ein paar mal bei anderen Artikeln gemacht, in denen es zum Beispiel um Urban Gardening,2 Sammlungen von Pflanzensamen3 oder von Bibliotheken organisierten Wandergruppen4 ging. (Ich gebe: Der Witz ist verbraucht, ich muss ihn begraben.)

Letztens hielt ich wieder einen solchen Artikel aus den USA in der Hand.5 Es geht in ihm darum, dass Öffentliche Bibliotheken dazu beitragen sollen, das Erleben der Natur zu ermöglichen, beispielsweise durch organisierte Spaziergänge durch Parks und Wälder, unterstützt durch Erzählungen. Mir fiel beim Lesen des Textes einiges auf, dass die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen Öffentlichen Bibliothekswesen und denen im DACH-Raum etwas erklären könnte. Das mir das auffiel hat damit zu tun, dass ständig solche Texte in US-amerikanischen bibliothekarischen Publikationen erscheinen, wie der, den ich in den Händen hielt, während die über neue Angebote oder Themen, welche im DACH-Raum erscheinen, sehr anders sind. Diesen Unterschied will das hier erläutern.

Ungleichzeitigkeiten

Bibliotheken im DACH-Raum sind selbstverständlich auch immer auf der Suche nach neuen Themen, die sie irgendwie besetzen oder zu denen hin sie sich entwickeln können sowie nach neuen Angeboten, die sie machen können. Das unterscheidet sie nicht von denen in den USA. Die Suche danach bestimmt ganze Ausgaben bibliothekarischer Zeitschriften. Aber gleichzeitig erscheinen sie, vergleicht man sie mit dem, was in US-amerikanischen bibliothekarischen Zeitschriften erscheint, langsam und thematisch recht eingeschränkt. Im DACH-Raum geht es jetzt seit Jahren eigentlich immer wieder um den „3. Ort‟ (in bibliothekarischer Interpretation), um die „Stadtgesellschaft‟ (was auch immer das meint) und Makerspaces. In den USA hingegen, wie gesagt, um solche Themen wie Yoga, Wandern, Urban Gardening, Soziale Arbeit, Social Justice, Naturerleben und vielen mehr.

Es wäre leicht – darauf ging der Witz ja aus – diese Texte einfach als Suche nach dem «denier cri» zu lesen, die immer fehlgehen muss, da die Umsetzung jeder dieser Ideen in die tatsächliche bibliothekarische Praxis so lange dauern würde, dass sie dann schon längst wieder vom nächsten denier cri überholt wäre. Aber das hiesse, an der Oberfläche zu bleiben. Interessanter scheint mir, tiefer zu schauen, nämlich was die beiden «Geschwindigkeiten» bei neuen Themen in den Bibliothekssystemen im DACH-Raum und in den USA über die Strukturen dieser Bibliothekssysteme sagen. Und dabei vor allen darüber, was als bibliothekarische Arbeit verstanden wird.

Outreach oder die neueste Mode?

Schaut man sich die Artikel aus den USA, die solche jeweils neuesten Angebote, Trends und so weiter vorstellen, an, fallen einige Gemeinsamkeiten (die immer viele, aber nicht alle haben) auf:

  • Im Allgemeinen beginnen die Texte, indem ein Begründung gegeben wird, warum das jeweilige Thema wichtig sei. Nicht unbedingt, warum es für Bibliotheken wichtig wäre, sondern an sich wichtig – für die Menschen, die Gesellschaft und so weiter. Es werden dafür Studien, Statistiken und so weiter herangezogen. (Schaut man mehrere Texte an, ist der Eindruck schnell, dass man einfach alles begründen kann, wenn man nur will. Aber vielleicht ist das nur ein Eindruck, den man erstmal testen müsste. Wichtiger ist, dass zumindest dann, wenn die Texte geschrieben werden, sie nicht einfach als Trend oder Mode beschrieben werden, sondern ihnen jeweils eine gewisse Empirie unterlegt werden kann.)
  • Dann aber werden fast immer Kolleg*innen in Bibliotheken benannt, die pro-aktiv hinter dem Thema stehen. Man würde erwarten, dass sich immer auch Begründungen finden, warum das Thema für Bibliotheken wichtig wäre, aber eigentlich ist die Argumentation immer, dass es an sich wichtig sei und das Bibliotheken es deshalb auch anbieten sollten.
  • Eine Anzahl dieser Texte schildert Beispiele aus einzelnen Bibliotheken. Aber ein ganzer Teil dieser Text – insbesondere, wenn Angehörige von Hochschulen beteiligt sind, was öfter passiert, als man vielleicht erwarten würde – beinhaltet weitere Daten. Oft werden dann Umfragen gemacht und gezeigt, dass das jeweilige Thema sich schon weit verbreitet hat, also das jeweils in vielen Bibliotheken schon Angebote zum jeweiligen Thema gemacht werden. Die Autor*innen der Texte sind dann gar nicht Vorreiter*innen bei einem Thema, sondern decken eher jeweils einen Trend auf, der sich dann schon länger ankündigte. (Man sollte das nicht unterschätzen. Im Text zu Yoga in Bibliotheken gaben über 50% der antwortenden Bibliotheken – und das waren nicht wenige – an, dies schon anzubieten. Das ist nicht Nichts.)
  • Am Ende solcher Texte steht dann oft die Aussage, dass Bibliotheken sich dem Thema noch mehr annehmen sollten, als sie es schon tun, um die Bedeutung der Bibliotheken in der Gesellschaft zu stärken. Das liest sich dann oft als Floskel, weil ja oft gezeigt wurde, dass Bibliotheken das eh schon machen.

Wie werden solche Texte im DACH-Raum wahrgenommen? Oft gar nicht. Aber wenn, dann – so zumindest mein Eindruck – werden sie eher als Ideen verstanden, was man als Bibliothek auch machen könnte, als Ergänzung der eigentlichen Arbeit. Bei Strategieprozessen stehen die dann oft auf der Wunschliste, aber fallen dann zumeist wieder runter für Dinge, die einfacher umsetzbar sind oder die sich in Bibliotheken im DACH-Raum schon etabliert haben. Die Haltung scheint sehr zu sein, dass die Entwicklung der eigenen Bibliothek weniger experimentell sein sollte und vor allem aus der Fokus der Bibliothek als relevant wahrgenommen wird. Man will nicht unbedingt jeder neuen Mode hinterrennen.

Im US-amerikanischen Bibliothekswesen scheint etwas anderes vorzuliegen (im kanadischen auch, aber das kommt nur manchmal «mit vor» in solchen Texten, meistens wird nicht weiter beachtet). Dort scheint die unterliegende Haltung zu sein, dass Bibliothekar*innen mit solchen Angeboten nicht neue Ideen oder Moden generieren, sondern es scheint die Haltung zu geben, dass sie sich selber und die eigenen Interessen und / oder die Interessen anderer in die bibliothekarische Arbeit einbringen. Outreach – also das «Herausgehen» aus der Bibliothek mit Angeboten, die eher versuchen, möglichst breite Kreise anzusprechen, beispielsweise, indem man «zu ihnen geht» oder indem sie, wie Yoga, andere Themen ansprechen, die sich nicht wirklich auf Medien zurückbeziehen lassen – ist Teil normaler bibliothekarischer Arbeit, der eingeplant, in der Ausbildung unterrichtet und dann auch von den Bibliothekar*innen erwartet wird.

Das ist ein gewichtiger Unterschied: Während im DACH-Raum immer wieder einmal neu «entdeckt» wird, dass Bibliotheken nicht unbedingt im eigenen Haus bleiben müssen und dass sie auch Angebote machen können, die sich nicht auf den Bestand beziehen lassen (und das dann wieder vergessen und anschliessend neu entdeckt wird), ist es so sehr Teil bibliothekarischer Arbeit in den USA, dass es gar nicht mehr diskutiert werden muss. Nicht, dass Bibliotheken solchen Outreach machen, ist besonders. Die Frage ist immer nur, was genau sie machen. Deshalb ist es für sie nicht unbedingt notwendig, bei neuen Angeboten zu begründen, «was das mit der Bibliothek zu tun hat», sondern eher danach zu schauen, was es einer möglichst grossen Zahl von Menschen bringt.

Was macht die Bibliothek?

Bedenkt man das nicht, sieht es wohl schnell danach aus, als würden in den USA schneller als im DACH-Raum in Bibliotheken nach dem dernier cri gesucht. Aber es scheint eher ein strukturell anderes Verständnis davon zu sein, was als bibliothekarische Arbeit gilt und was nicht. Wenn im DACH-Raum ein Bibliothekar zum Beispiel einen Häkelkurs anbietet, selbst wenn er im Raum der Bibliothek stattfindet, wird er es schwer haben, dies als bibliothekarische Arbeit anerkennen zu lassen. Es gilt dann eher als Privatvergnügen. (Das ist auch sichtbar bei vielen Veranstaltungen, die tatsächlich in Bibliotheken im DACH-Raum heute angeboten werden: Eher werden die als Aufgabe von extra angestellten Medienpädagog*innen oder speziellen Abteilungen wie der «Bibliothekspädagogik» angesehen, denn als Arbeit von Bibliothekar*innen.) In den USA hingegen wird von Bibliothekar*innen eher erwartet, dass sie solche Aktivitäten anbieten und zwar als Teil ihrer bibliothekarischen Arbeit.

Wie ändert sich die Bibliothek?

Wenn das so ist, dann hat das aber auch Konsequenzen dafür, wie sich Bibliotheken verändern können. Dann kann es nicht darum gehen, das jeweils aktuelle Thema, zu dem man Angebote machen könnte, zu erkennen. Das hätte im DACH-Raum kaum eine Auswirkung, weil es nicht die Strukturen der Bibliotheken passt – und in den USA wäre es halt nur das nächste Thema, das man auch machen könnte. Wollte man tatsächlich – was nicht unbedingt anzustreben ist –, dass die Bibliotheken im DACH-Raum auch so flexibel und – sagen wir mal – innovativ werden, wie man das von US-amerikanischen wahrzunehmen meint, dann müsste man die unterliegende Struktur ändern: Outreach dieser Art müsste zum Teil bibliothekarischer Arbeit werden (also: als solche anerkannt, gefordert, mit Ressourcen ausgestattet und in der Ausbildung unterrichtet). Dann würden sich auch so schnell wie in den USA immer wieder neue Themen finden, die sich schnell durchsetzen (und nicht vereinzelt in einigen Bibliotheken bleiben, wie das heute im DACH-Bereich der Fall ist).

Ist das zu erwarten? Eher nicht. Es wird ja kaum über die unterliegende Struktur – also die Frage, was als bibliothekarische Arbeit anerkannt wird und was nicht – diskutiert. Eine Anzahl von Medienpädagog*innen, die an Bibliotheken angestellt sind, scheinen aktuell zumindest die Diskussion vorantreiben zu wollen, was genau ihre Aufgabe ist – was dann auch heissen würde, zu klären, was die Aufgabe der Bibliothekar*innen wäre. Aber sonst ist das weniger der Fall.

Eher gibt es immer wieder einmal Behauptungen, Bibliotheken im DACH-Raum hätten sich geändert und wären heute (zumindest vor der Pandemie) offener als früher, hätten mehr Veranstaltungen und so weiter. Aber so richtig gross scheint die Veränderung nicht zu sein. (Insbesonders, wenn man das historisch sieht: Das die Bibliotheken immer offener würde, wird jetzt auch schon einige Jahrzehnte über behauptet.) Es sind eher langsame Schritte und Veränderungen.

Ich denke oft, an die «Zone der nächsten Entwicklung», die bei Lew Wygotski wichtig ist – und die selbstverständlich eigentlich gerade nicht auf die Organisationsentwicklung bezogen ist. Bei Wygotski geht es darum, wie sich Kinder und Menschen entwickeln. Die Zone der nächsten Entwicklung ist dann die Zone der Fähigkeiten, die ein Mensch noch nicht ausgeprägt hat, aber die quasi als nächstes bevorsteht oder zumindest bevorstehen kann: Wo also die Potentiale vorhanden sind, sich in diese Richtung weiterzuentwickeln. Es geht dann darum, wenn man Lern- und Entwicklungsprozesse unterstützen will, nicht zu schnell vorzugehen oder Zonen zu überspringen, aber auch nicht davon auszugehen, dass es keine Entwicklung gibt. Und obwohl es nicht ganz stimmig ist, denke ich öfter, dass die Veränderung von Bibliotheken mit diesem Begriff der «Zone der nächsten Entwicklung» gut zu beschreiben ist. Bibliotheken im DACH-Raum entwickeln sich auf der Basis ihrer eigenen Voraussetzungen: Bestand als Mittelpunkt, über den man weniger spricht. Veranstaltungen, die sich auf den Bestand beziehen (zum Beispiel Lesungen). Zugänglicher Raum. Das ist die Basis, die Entwicklung baut immer darauf auf.

US-amerikanische Bibliotheken bauen auf ihren Voraussetzungen auf: Bestand, mittelmässig gute Räume, aber ein gewisses Verständnis von Outreach, bei dem es normal ist, die Bibliothek aus dem Raum hinauszutragen und darauf zu achten, möglichst viele Menschen anzusprechen.

Halt keine gegenseitigen Vorbilder

Um genau zu sein: Mir geht es nicht darum zu sagen, dass es so, wie es in den USA wäre, gut wäre oder das es so, wie es im DACH-Raum ist, schlecht wäre. Es gäbe genügend daran schlecht zu finden, wie es in den USA im Bibliothekswesen ist. Nicht umsonst wurde der Begriff des «vocational awe» im US-amerikanischen Bibliothekswesen geprägt: Kolleg*innen dort fühlen sich auch überfordert, mit zu vielen Aufgaben betraut, emotional und anders ausgebeutet.

Mit ging es hier darum, zu fragen, warum es diese auffälligen Unterschiede gibt: In den USA ständig neue Angebote, die dann auch noch offenbar weite Verbreitung in den Bibliotheken finden und nicht weiter erläutert werden müssen. Und im DACH-Raum eher eine gemächliche Entwicklung.$

Fussnoten

1 Lenstra, Noah (2017). Yoga at the Public Library: An Exploratory Survey of Canadian and American Librarians. In: Journal of Library Administration 57 (2017) 7: 758-775, https://doi.org/10.1080/01930826.2017.1360121

2 Overbey, Tracey A. (2020). Food Deserts, Libraries, and Urban Communities: What Is the Connection?. In: Public Library Quarterly 39 (2020) 1: 37-49, https://doi.org/10.1080/01616846.2019.1591156

3 Peekhaus, Wilhelm (2018). Seed Libraries: Sowing the Seeds for Community and Public Library Resilience. In: Library Quarterly 88 (2018) 3: 271-285, https://doi.org/10.1086/697706

4 Anonym (2019). Bartow County Public Library System Hiking Club. In: Georgia Library Quarterly 56 (2019) 3: 4-5

5 Lenstra, Noah ; Campana, Kathleen (2020). Spending Time in Nature: How Do Public Libraries Increase Access?. In: Public Library Quarterly [Latest Articles] https://doi.org/10.1080/01616846.2020.1805996

Wie kommt Neues in die Bibliothek? – Buchvorstellung

Ich habe ein neues Buch veröffentlicht. Es ist hier als OA bei E-LIS zu finden: http://eprints.rclis.org/40270/ und hier gedruckt zu bestellen: https://www.epubli.de/shop/buch/Wie-kommt-Neues-in-die-Bibliothek-Karsten-Schuldt-9783752983425/102025

Hier möchte ich es gerne kurz vorstellen.

Das Buch ist auf der einen Seite theoretisch, aber auf der anderen Seite gerade doch für die Bibliothekspraxis gedacht. Durch die Theoriebildung wird hier meiner Meinung nach nämlich etwas geklärt, was im Alltag von Bibliotheken sonst wohl oft untergeht.

Es geht darum, wie eigentlich Öffentliche Bibliotheken dazu kommen, etwas als Neu zu akzeptieren – sowohl als neues Thema für Bibliotheken als auch als mögliches neues Angebot oder auch als neues Ziel von Bibliotheken. Das ist nicht so einfach zu erklären, wie man sich das vielleicht denken würde. Ich habe schon mehrfach hier im Blog diskutiert, dass nicht immer von aussen nachzuvollziehen ist, wieso Bibliotheken bestimmte Themen, Behauptungen, Vorbild-Bibliotheken, Angebote besetzen und diskutieren, aber andere nicht. Sicherlich gibt es im Bibliothekswesen einige Behauptungen dazu (zum Beispiel Innovation, Nutzer*innenorientierung, Best Practice), aber die halten einer genaueren Prüfung oft nicht stand: Was als innovativ gilt ist oft nicht wirklich innovativ, zum Beispiel. Andere Themen als die, die allgemein in der bibliothekarischen Literatur diskutiert werden, wären auch immer möglich und sinnvoll.

Es muss, so die Vermutung hinter diesem Buch, andere Gründe dafür geben, wie Bibliotheken entscheiden, was sie als Neu gelten lassen oder gerade nicht gelten lassen. (Selbstverständlich hat das auch mit meiner Arbeit als Bibliothekswissenschaftler zu tun, der ja Bibliotheken helfen soll, sich zu entwickeln. Aber mir geht es im Buch nicht darum, Recht zu haben und den Bibliothek zu erzählen, was sie zu tun haben. Sondern vielmehr darum, zu verstehen, was hier passiert. Wissenschaft als Erkenntnisprozess.) In dem Buch trete ich ein wenig zurück und versuche, diese Struktur zu verstehen.

Hilft das der Praxis: Ich denke ja. Wenn klar wird – was ich hoffe, dass es das im Buch wird – wer Einfluss auf diese Entscheidungen hat, können diese Entscheidungen auch besser strukturiert und klarer gesteuert werden. Es kann wohl auch genutzt werden, um Themen erfolgreicher im Bibliothekswesen zu etablieren, wenn das gewünscht ist.

Grundsätzlich ist das Ergebnis im Buch, dass es die Bibliotheken – nicht das Bibliothekswesen als Ganzes, nicht die Wissenschaft, die Bibliotheksverbände oder andere Expert*innen, sondern eher die einzelnen Bibliotheken – selber sind, welche diese Entscheidungen treffen und ein Thema als neu und relevant bestimmen (oder gerade nicht). Aber auf dem Weg zu diesem Ergebnis hoffe ich, mehr dazu zu zeigen, wie das passiert und damit dann auch, wie man dies besser steuern, planen, durchführen kann. Zudem zeige ich am Ende des Buches, was dieses Ergebnis für die Bibliothekspraxis bedeuten könnte.

Was ich auch hoffe, dass das Buch zeigt, ist, was für Fragen man bearbeiten kann, wenn man etwas aus dem Bibliotheksalltag heraustritt und die Aktivitäten dort zum Gegenstand von Beobachtungen und Überlegungen macht.

Poster: Fünf Tests für Umfragen in (Öffentlichen) Bibliotheken

Im Rahmen meiner Arbeit komme ich immer wieder mit Öffentlichen Bibliotheken (vor allem, aber nicht nur in der Schweiz) in Kontakt, die Umfragen oder ähnliche Erhebungen durchführen wollen, vor allem um von ihren Nutzer*innen (oder Nicht-Nutzer*innen, was manchmal fälschlich als eine neue Idee wahrgenommen wird) etwas zu erfahren. Es gibt unterschiedliche Wege, wie das genau ausgedrückt wird, aber fast immer geht es darum, (a) das die jeweilige Bibliothek ihre Arbeit von den Nutzer*innen „spiegeln“ lassen will oder / und (b) das sie über Veränderungen nachdenkt, die sie gerne vorderhand bewerten möchte. Manchmal fragen die Bibliotheken, ob Studierende für sie diese Umfragen durchführen können, manchmal wollen sie beraten oder unterstützt werden. Das hängt von der Bibliothek, den konkreten Fragen und vorhandenen Finanzen ab.

Aber: Immer wieder geht es um ähnliche Fragen, immer wieder gehe ich mit Bibliotheken dabei ähnliche Punkte durch. Bibliotheken sind halt doch oft ähnlich und haben ähnliche Ideen. Es wird also auch in anderen Bibliotheken ähnlich sein. Ich habe diese Punkte hier einmal zusammengefasst und als Poster (DIN A0) gestaltet, damit man es ausdrucken / plotten und an die Wand hängen kann, wenn man eine solche Umfrage plant. Es nimmt keine Arbeit ab, sondern fordert auf, die jeweilige Umfrage noch mehrfach durchzugehen. Meine Erfahrung ist aber, das die auf dem Poster genannten „Tests“ helfen, solche Umfragen „sinnvoller“ (im Sinne von: Mehr Daten erzeugend, mit denen die Bibliotheken etwas anfangen können) zu gestalten.

Symbobild für das Poster "Tests für Umfragen und andere Erhebungen von Bibliotheken"

(Datei hier oder auch bei E-LIS unter http://hdl.handle.net/10760/39467.)

Begründungen für die Bibliotheksentwicklung: Wie stark sind sie mit der tatsächlichen Bibliotheksarbeit verbunden?

Eine Sache, die mich umtreibt, ist der Zusammenhang zwischen den Gründen, die dafür genannt werden, warum sich Bibliotheken ändern müssten (zum Beispiel in der bibliothekarischen Literatur, Konferenzbeiträgen oder Bibliotheksstrategien) auf der einen Seite und der Bibliotheksarbeit, die dann tatsächlich geleistet wird auf der anderen Seite. Mir scheint sehr einfach zu zeigen zu sein, dass es da ein Missverhältnis gibt: Das, was in den Bibliotheken tatsächlich gemacht, geändert, gearbeitet wird, scheint immer wieder nicht wirklich mit dem zusammenzubringen zu sein, wieso dafür argumentiert wurde, etwas zu ändern (oder, viel seltener, etwas zu lassen wie es ist).

Behauptungen über die PISA-Studien und die Digitalisierung

Aufgefallen ist mir das wieder einmal, als letztens (03.12.2019) die neue PISA-Studie erschien und im Bibliothekswesen darauf schnell reagiert wurde. Zum Beispiel wurde behauptet: „Schulbibliotheken spielen eine große Rolle in Sachen #Bildung und #Lesekompetenz, das zeigte die aktuelle #PISA-Studie.”1 Der Deutsche Bibliotheksverband postulierte in einer direkt einen Tag nach der Veröffentlichung der Ergebnisse publizierten Erklärung, die Studie hätte gezeigt, dass man Lesen früh fördern müsse und schliesst daraus, dass deshalb die Zusammenarbeit von Schulen und Bibliotheken gefördert werden müsse.2

Das steht alles in der Studie nicht drin. (Das lässt die Methodik gar nicht zu.) Es ist auch nur ein Reflex, der jedesmal nach dem Erscheinen der PISA-Studie, also alle drei Jahre, einmal angeregt wird. In früheren Runden war das alles viel massiver, die Behauptungen und Forderungen grösser, die Nachwirkung länger. Seit einigen Runde werden die PISA-Studien in der bibliothekarischen Diskussion (und nicht nur da) nach ein paar Wochen praktisch wieder vergessen.

Aber es erinnerte mich daran, wie es bei den ersten PISA-Studien war: Die Behauptungen waren die gleichen, aber Bibliotheken machten sich länger Gedanken dazu, was es den heisst, das Lesen langfristig zu fördern etc. Was dann aber in den Bibliotheken tatsächlich gemacht wurde, hatte wenig mit den Erkenntnissen aus den Studien selber zu tun. Mich hat damals schon irritiert, wie man eine Studie zitieren kann, die eindeutig zeigt, dass der Lernerfolg in der Schule (um den es in den PISA-Studien geht) sozialen Strukturen folgt, also mit der sozialen Herkunft der Kinder und Jugendlichen verbunden ist, und daraus dann zu schlussfolgern, dass man mehr Leseförderung für alle anbieten müsse. Und dann vor allem solche machte, die gerade nicht darauf abzielt, soziale Ungleichheiten zumindest auszugleichen, sondern stattdessen nicht mehr über diese Strukturen redet.3

Jetzt bin ich älter und habe mehr Erfahrungen mit dem Bibliothekswesen. Und während ich es immer noch falsch finde, sich auf die PISA-Studien zu berufen, ohne sie offenbar gelesen zu haben,4 erkenne ich eine Struktur: Das, was zur Begründung für Bibliotheken und Veränderungen von / in Bibliotheken angeführt wird und das, was dann passiert, ist nicht einfach aufeinander zu beziehen.

Ein anderes Beispiel ist das Phänomen, dass heute in vielen, vielen, vielen Bibliotheksstrategien steht, dass diese auf die Digitalisierung reagieren wollen. Und zwar mit dem, was Bibliotheken als „3. Ort” beschreiben: Veranstaltungen, „erhöhte Aufenthaltsqualität”, Bibliothekscafé usw. Manchmal Makerspaces. Das ist kein richtiger Zusammenhang. Was hat Digitalisierung mit Cafés und Aufenthaltsqualität zu tun? Gewiss, man kann Zusammenhänge konstruieren (Digitalisierung heisst das mehr Menschen mehr Einsam sind, deshalb müssen Bibliotheken Veranstaltungen machen, damit Menschen sich treffen können. So in etwa.), aber das wird in den Bibliotheksstrategien im Allgemeinen nicht gemacht.5

Bibliotheksgeschichte: Begründungen für Bibliotheksentwicklung in der DDR

Im Rahmen meines Quest, anhand zeitgenössischer Quellen in die moderne Geschichte der Bibliotheken im DACH-Raum einzutauchen, lese ich gerade die Reihe „Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit” (still ongoing) des Zentralinstitut für Bibliothekswesen, welches in der DDR für Forschung und „Anleitung” der allgemeinbildenden Bibliotheken (also der Öffentlichen Bibliotheken) zuständig war. Die Reihe erschien von Anfang der 1970er bis 1989.

In vielen Nummern dieser Reihe scheint mir eine ähnliche Struktur zu finden zu sein: Es wird erst ein Begründung für eine Veränderung angegeben, dann aber etwas gemacht, dass sich nicht ganz aus der Begründung selber ergibt. Zumindest nicht direkt. An diesen Beispielen kann man ganz gut sehen, wie diese Struktur aussieht. Das ist auch ungefährlicher, als über den 3. Ort oder die PISA-Studien zu diskutieren, weil die DDR und ihr Bibliothekswesen Geschichte ist und niemand (kaum jemand) mehr einen Einsatz in diesem Spiel hat.

Wer sich also die Struktur einmal ohne grosse Emotionen anschauen will, dem würde ich empfehlen, das in den im folgenden besprochenen Publikationen zu tun.

Strategie 1: Dialektik

1974 publizierte das Zentralinstitut den Vorschlag für die Gründung „Wissenschaftlicher Allgemeinbibliotheken in den Bezirken” [WAB(B)], die als – so die Behauptung – neuer, sozialistischer Bibliothekstyp das Bibliothekswesen verändern sollten. (WAB(B) 1974) Es ging also direkt um Veränderung des Bestehenden.

Die WAB(B) sollten an der Spitze des Öffentlichen Bibliothekswesens des jeweiligen Bezirkes (also der mittleren staatlichen Ebene) stehen, den sogenannten „Spitzenbedarf” an Bestand abdecken (beispielsweise die spezielle wissenschaftliche Literatur, die zur Verfügung stehen, aber nicht in den anderen Bibliotheken angeschafft werden sollte, weil sie so speziell sei) und fachliche Anleitung für die anderen Bibliotheken im Bezirk bieten. Ob das sinnvoll war, warum es angestrebt wurde, wie die Bibliotheken (die dann wirklich eingerichtet wurden) tatsächlich wirkten: Das ist hier erstmal egal. Was interessiert, ist, wie es begründet wurde.

Die WAB(B) würden „dialektisch die besten Traditionen […] der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken und der wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken [aufnehmen]” (WAB(B) 1974:10). Das ist eigentlich auch die Argumentation, die man in einer marxistisch orientierten Gesellschaft erwarten würde6: Die Dialektik ermöglicht den Fortschritt. Das ist bekanntlich das Denkmodell, welches von Marx und Engels von Hegel übernommen und auf die Gesellschaft übertragen wurde. Es entstehen durch ökonomischen und anderen Fortschritt gesellschaftliche Widersprüche, die werden dialektisch mit einer neuen Lösung in einer nächsten Ebene überwunden. (Und da entstehen neue Widersprüche, die wieder dialektisch gelöst werden müssen.) So ungefähr.

Ganz nachvollziehbar ist diese Argumentation am Ende nicht. Was ist das Problem beziehungsweise der Widerspruch, welcher durch die WAB(B) dialektisch gelöst wird? Das wird nicht klar. Was ist die nächste Ebene, die WAB(B) anzeigen? Auch das wird nicht diskutiert. Es wird behauptet, dass sie ein neuer Bibliothekstyp seien – und weil dieser in einer sozialistischen Gesellschaft eingerichtet würde, seien sie auch ein sozialistischer Bibliothekstyp. Haben die WAB(B) diesen Anspruch später eingelöst? Das lässt sich auch nicht so richtig sagen, weil dieser Anspruch nicht so richtig zu bestimmen ist. Sie fungierten als neue Zentren im Netz der Bibliotheken, dass immerhin.

Aber: Wir sehen hier eine der akzeptierten Begründungen für gesellschaftliche Veränderung, welche in der DDR akzeptiert war. Dialektik ist Teil des „wissenschaftlichen Sozialismus”, insoweit kann man mit ihm Veränderung begründen.

Strategie 2: Hinweise

In der zuerst 1970 zum 100. Geburtstag Lenins erschienen Arbeit zu „Sowjetischen Massenbibliotheken” zeigt Hanna Spiegel (Spiegel 1974) eine andere Argumentationsstrategie: Sie behauptet, dass sich das Sowjetische Bibliothekswesen aus „Hinweisen” und Anweisungen Lenins ergeben hätte.

Ganz explizit bespricht sie, wann Lenin was über Bibliotheken gesagt hätte und wie das dann später interpretiert wurde, damit daraus das Öffentliche Bibliothekswesen der Sowjetunion entstand. Es kommen die bekannten (?) positiven Äusserungen Lenins zur New York Public Library, zum britischen und schweizerischen Bibliothekswesen ebenso vor, wie seine Anweisungen bezüglich Bibliotheken gleich nach der Oktoberrevolution. Laut Spiegel hätte sich aus diesen, eher kurzen, Bemerkungen das System der Bibliotheken ergeben, wie sie 1970 in der Sowjetunion bestanden. (Das ist selbstverständlich absurd, weil sie unterstellt, Lenin hätte ein System bei diesen Äusserungen gehabt, obwohl es oft viel eher Gelegenheitsarbeiten waren oder kurze Äusserungen.7)

Sie beschreibt das als Schritte: Lenin hätte quasi schon in seinen Äusserungen in den 1910er und 1920er Jahren beschrieben, dass die Bibliotheken verbreitet, für die Bevölkerung offen, im System organisiert und so weiter sein müssten, die r;alen Bibliotheken hätten sich dem dann immer mehr angenähert. Das Buch liest sich als Beschreibung der Schritte. Immer wieder gehen die Bibliotheken daran, besser zu werden. Immer wieder entdeckt man, dass sie noch nicht genügend als gemeinsames Netz arbeiten. Immer wieder wird deshalb neu, besser, systematischer zentralisiert. Aber immer auf der Basis, dass Lenin einst erwähnte, dass es sinnvoll wäre, wenn sie als Netz organisiert werden.

Man könnte vermuten, dass diese Argumentation mit dem 100. Geburtstag zusammenhängt, aber sie ist in dieser Arbeit nur expliziter als sonst ausgebreitet. Sie war etabliert. Sühnhold und Schurzig (1971) zum Beispiel begründen die Notwendigkeit ihrer Arbeit zur „Rationalisierung der Arbeitsorganisation in zentralen Einarbeitungsstellen” damit, dass es im Rahmen des VIII. SED-Parteitages „Hinweise” gegeben und die Aufgabe „hervorgehoben wurde” (Sühnhold & Schurzig 1971:5) die Rationalisierung der gesellschaftlicher Produktion voranzutreiben. Auch hier wird der Verweis auf ein Proxy benutzt, um nicht selber dialektisch zu argumentieren, sondern praktisch Äusserungen derer, deren Aufgabe es sei, dialektisch voranzudenken (Lenin, SED) diese Arbeit machen zu lassen und dann diese Äusserungen „auszuwerten”, zu interpretieren und als Arbeitsanweisung zu verstehen.

Dies war eine zweite akzeptierte Möglichkeit, Veränderungen zu begründen: Das Berufen auf die richtigen Quellen (Personen, Institutionen) und die Interpretation ihrer Aussagen. Selbstverständlich ist das auch keine einfache Strategie – man muss trotzdem wählen, was eine akzeptierte Quelle ist und interpretieren, was deren Aussagen meinen. [Ist das überhaupt ein dialektisches Vorgehen? Selbstverständlich nicht. Aber es hat ja auch niemand gesagt, dass die DDR und das Argumentieren in ihr widerspruchsfrei war. Das ist nicht das Thema. Das Thema ist, dass diese Form von Begründung akzeptiert war.]8

Hat Lenin wirklich 1918 das Bibliothekssystem, wie es 1970 in der Sowjetunion bestand, vorhergesehen und in seinen Schriften Hinweise darauf versteckt? Bestimmt nicht. Aber die Arbeit von Spiegel (1974) zeigt, dass es möglich war, mit dieser Begründung bestimmte Entwicklungen durchzuführen.

Strategie 3: Erst begründen, dann ignorieren.

Eine dritte Strategie wählte Hans Boden in der Studie dazu, wie sich Nutzer*innen („Benutzer”) in der Freihandbibliothek verhalten. (Boden 1976. „Seine” Studie wäre falsch gesagt. Er leitet Studierende zu Forschungen an und fasste die Ergebnisse dann zusammen.) Die Publikation hat ihre 200 Seiten. In den ersten („Einleitung” und „Theoretische Grundlagen der Benutzerforschung”) leitet Boden den Zusammenhang von Nutzung und Bibliothek als Institution marxistisch – wieder so, wie das in der DDR verstanden wurde – her: Dialektisch, Beachtung der Wechselwirkung von gesellschaftlicher Entwicklung und Benutzung, Verhältnis von Selbstständigkeit und Lenkung, all das.

Und dann, nach diesen Abschnitten, setzt er nochmal an und stellt die „Kommunikationstheorie” vor, die sich bei ihm sehr wie die theoretischen Arbeiten der „bürgerlichen” Informationswissenschaft lesen. Nur mit anderen Grundlagenwerken, auf die verwiesen wird, und der Behauptung, dass die Theorie Teil der theoretischen Entwicklung im Marxismus sei, weil sie helfen würde, die Benutzung der Bibliothek zu erfassen, zu beschreiben und dann im grösseren theoretischen Modell – welches er gerade beschrieben hätte – einzuordnen. Anschliessend, im längsten Teil der Publikation, folgen empirische Ergebnisse, die am Ende mit Hilfe der „Kommunikationstheorie” interpretiert werden.

Müsste dann nicht noch ein Schritt folgen, also die Verortung der interpretieren Ergebnisse in die marxistische Analyse der Bibliotheksbenutzung? Die findet sich nirgends. Die Studie ignoriert diesen ganzen ersten Abschnitt einfach. Nicht nur am Ende, sondern in der gesamten Publikation findet sich keine Rückgriff mehr auf diese lange Darstellung. Wozu war sie dann da? (Sie war da, damit die Studie erscheinen konnte. Man darf nie die Umstände verkennen, unter denen solche Texte publiziert wurden. Heute wäre das aber eine richtige Frage an einen Text: Warum so ein lange Begründung schreiben, wenn am Ende eine zweite Theorie eingeführt und benutzt wird?)

Wo ist der Zusammenhang?

In einer logisch organisierten Welt wäre es so, dass aus den Begründungen für bestimmte Entwicklungen von Institutionen sich auch etwas ergibt, was sich auf diese Begründungen bezieht. Die Begründung sollte nachvollziehbar, begründet und logisch sein – und so überzeugen; aus ihnen sollten sich dann logisch nachvollziehbare Veränderungen ergeben. Das ist nicht der Fall. Die drei Strategien aus der DDR, Veränderungen zu begründen, zeigen dies. Solange man bei ihnen am Text bleibt, gilt: Es ist nicht nachvollziehbar, warum gerade WAB(B) sich dialektisch als Lösung anbieten. Es ist nicht klar, warum sich aus Lenins „Hinweisen” gerade das Bibliothekssystem ergab, das es dann gab (oder aus den „Hinweisen” vom SED-Parteitag gerade die eine Untersuchung von Rationalisierung bei der Buchbearbeitung). Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine theoretische Herleitung zur Benutzung von Bibliotheken geliefert wird, wenn sich später nicht mehr darauf zurück bezogen wird.

Zu vermuten ist, dass die Struktur ähnlich auch für heute genutzt Begründungen gilt. Sicherlich: Einiges an den Widersprüchen in den genannten Texten lässt sich aus den Zwängen in der DDR erklären – keine akzeptable Begründung hiess damals keine Publikation. Aber es ist Zufall, dass ich gerade diese drei Begründungsstrategien so schnell hintereinander gelesen habe. Das ist nur Ergebnis meines zumindest etwas strukturierten Vorgehens, Reihen nacheinander zu lesen. Es gibt ähnliche Phänomene die ganzen Jahre des modernen Bibliothekswesens hindurch.

Die Welt (des Bibliothekswesens) ist offenbar nicht logisch strukturiert. Die Begründungen und die dann tatsächlich durchgeführte Bibliotheksarbeit haben keinen direkten Zusammenhang, sondern entweder einen indirekten oder manchmal auch gar keinen. Was der Blick zurück in die Geschichte zu klären hilft, ist, darauf hinzuweisen, worauf man achten kann oder sollte, wenn man sich mit diesem Zusammenhang beschäftigt. (Was kein rein intellektuelles Spiel ist, sondern sich zum Beispiel immer wieder auch als Problem stellt, wenn Bibliotheken versuchen, aus den Begründungen, die in anderen bibliothekarischen Texten geliefert werden, konkrete Arbeitsschritte herzuleiten.)

  • Sollte man die Begründungen vor allem als Rhetorik begreifen? Wenn ja: Wozu werden sie dann eingesetzt? Wer will mit ihnen was erreichen? Und was wird erreicht? Nehmen auch alle anderen die nur als Rhetorik wahr? (Das würde zum Beispiel nicht erklären, warum sie sich zum Teil weitflächig durchsetzen.)

  • Oder sollte man an sie die Forderung stellen, dass Begründungen für Veränderungen nachvollziehbar, begründet und logisch sind – und wenn nicht, sie dann ablehnen? Sollten sie also „wahr” sein müssen? Sollte man zum Beispiel vom Bibliotheksverband fordern, Studien erst zu lesen, bevor sich zu ihnen inhaltlich geäussert wird? Oder von begeisterten Redner*innen auf Konferenzen und von Berater*innen fordern, dass sie zeigen, dass die behaupteten Entwicklungen überhaupt stattfinden? Wenn nicht, was sagt das dann über solche Begründungen?

  • Ist das eine Struktur, die man vielleicht hinnehmen – aber dann reflektiert – muss oder macht hier wer Fehler? Wer? Welche? Ist es zum Beispiel ein Fehler, dass die Begründungen nicht wahr sind – oder ist es ein Fehler, das zu fordern? Wissen die Personen, welche Begründungen für Bibliotheksentwicklung liefern, dass diese oft nicht mit der dann später geleisteten Arbeit, die sich diese Begründungen bezogen wird, übereinstimmen? Streben sie das an und scheitern daran?

  • Sollte man vielleicht aufgeben, diesen Begründungen zu glauben und sie als reines (vielleicht mal durch die Umstände erzwungen, mal zynisch eingesetztes) Spiel verstehen? Als wirkungslos? Was würde das dann heissen?

Für das Nachdenken über Bibliotheksentwicklung heisst das aber erstmal, dass man die Begründungen nicht direkt als Aussagen interpretieren kann, die direkt in der Bibliotheksarbeit umgesetzt werden. Man kann aus ihnen wohl eher ableiten, was Bibliotheken über sich selber und ihre Umwelt denken. (Eher als Diskurs, der eine Wirkung hat – wie jeder Diskurs – aber eben keine eins zu eins-Beziehung.)

Das macht es selbstverständlich schwieriger – nicht nur historisch, sondern auch in der „praxisorientierten Forschung”, die gerne gefordert wird – über Bibliotheksentwicklung nachzudenken. Es zeigt zum Beispiel, dass man nicht einfach Einfluss in der Bibliothek haben kann, nur weil man den Diskurs ändert / kritisiert. (Was dann zumindest Hoffnung macht, dass bestimmte, eher absonderliche Behauptungen, die als Begründung für Veränderungen genutzt werden, wenig oder keinen Einfluss auf die Bibliotheken hat, bevor er dann wieder durch neue Begründungen abgelöst wird.)

Literatur

Boden, Hans (1976). „Kommunikation in der Freihandausleihe. Eine theoretisch-empirische Studie zur Ausleihmethodik”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 21] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1976

Deutscher Bibliotheksverband (2019). „PISA-Studie 2018. Leseförderung muss höchste Priorität bekommen: Pressemitteilung des dbv”. https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2019/december/article/pisa-studie-2018-lesefoerderung-muss-hoechste-prioritaet-bekommen.html?tx_ttnews[day]=04&cHash=2f5c1a17a638c25aaa1477384e17c343

Krupskaja, Nadežda (1956). „Was Lenin über die Bibliotheken schrieb und sagte”. Leipzig : VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen, 1956

Spiegel, Hanna (1974). „Die Entwicklung der sowjetischen Massenbibliotheken unter besonderer Berücksichtigung der Neuordnung und Zentralisierung ihres Netzes”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 15] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1974

Sühnhold, Karl Heinz; Schurzig, Edith (1971). „Rationalisierung der Arbeitsorganisation in zentralen Einarbeitungsstellen: Ergebnisse einer Untersuchung in Stadt- und Kreisbibliotheken”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 8] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1971

[WAB(B) 1974] „Zur Entwicklung Wissenschaftlicher Allgemeinbibliotheken in den Bezirken – Empfehlungen”. – [Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit; 14] – Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1974

 

Fussnoten

2 „Das Potential der Partnerschaft zwischen Bibliotheken und den formalen Bildungsinstitutionen muss erkannt und systematisch gefördert werden. Für den Ausbau und die Intensivierung dieser Partnerschaft bedarf es bildungspolitischer Unterstützung über die Verankerung der Kooperation in den jeweiligen Bildungsplänen der Bundesländer.” (dbv 2019)

3 Was kommt dann wohl raus, wenn man eine soziale Ungleichheit hat, ein Angebot macht, dass das verändern soll, aber gleichzeitig nicht mehr über diese soziale Ungleichheit nachdenkt? Man reproduziert die soziale Ungleichheit. Mindestens. Vielleicht verstärkt man sie auch noch.

4 Mir kann niemand erzählen, im dbv hätte jemand innert eines Tages die Studie gelesen und dann auch gleich eine fundierte Meinung dazu formuliert. Und wie in einer Studie, in deren Ergebnisband (https://doi.org/10.1787/1da50379-de) noch nicht mal das Wort „Bibliothek” vorkommt, gezeigt werden sein soll, dass Schulbibliotheken notwendig wären, muss auch erstmal erklärt werden.

5 Aber sagen Sie sowas nicht in einem Bewerbungsgespräch. Man würde vermuten, Bibliotheken fänden es gut, wenn sie auf so einen Widerspruch aufmerksam macht, weil man damit zeigt, das man tatsächlich über die Begründungen nachdenkt; aber eigentlich schauen dann alle nur betroffen. Für Sie ausprobiert.

6 Zumindest in einer, die Marxismus als „historisch-dialektisch” begreift, was man in der DDR tat. Andere marxistische Traditionen, welche die Geschichtsphilosophie überdachten oder gar gestrichen haben, würden die Dialektik nicht unbedingt so hoch ansetzen. Aber wir sind nicht hier, um über die verschiedenen marxistischen Strömungen zu diskutieren.

7 Es ist wirklich nicht so viel, „was Lenin über die Bibliotheken schrieb und sagte”. Nadežda Krupskaja – die es wissen musste – hat unter diesem Titel eine Sammlung publiziert und die ist wirklich nicht umfangreich. (Krupskaja 1956) Vor allem enthält wenige längere Arbeiten.

8 Nebenbemerkung: Während meines Studiums las ich für ein Seminar zu Literatur in der DDR eine Reihe von in der DDR geschriebenen Promotionen zu Sagen. Sagen standen offenbar unter dem Verdacht, rückständige Literatur zu sein. Aber Engels hatte einmal drei-vier Sätze dazu geschrieben, wie sehr Sagen in Südamerika das Denken der dortigen Bevölkerung spiegel würde und wie wichtig es wäre, dieses Denken zu kennen. Deshalb wurden am Anfang jeder dieser Arbeiten diese Sätze zitiert und dann aus diesen abgeleitet, dass es sich lohnen würde, sich mit Sagen auseinanderzusetzen. Die Argumentationsstrategie war nicht nur in der bibliothekarischen Literatur zu finden.