Eine Umfrage zur Zukunft der ÖB von 2015 zeigt… keinen Dritten Ort

Im Rahmen einer anderen Recherche ist mir ein Dokument von 2015 untergekommen, welches ich damals wohl übersehen oder nur überflogen habe. Jetzt aber bin ich von ihm fasziniert: Im Auftrag der ekz führte das Institut für Demoskopie Allensbach damals eine «Repräsentativbefragung» zur «Zukunft der Bibliotheken in Deutschland» durch. (Institut für Demoskopie Allensbach 2015) Insgesamt wurden 1448 Interviews geführt. Das kann nicht billig gewesen sein. Andreas Mittrowan (2015), damals Bibliothekarischer Leiter der ekz, stellte in einem zeitnahen Text dar, dass die ekz zumindest damals regelmässig Umfragen durchführte, um zu wissen, welche Angebote sie entwickeln sollte. Ich vermute mal, dass diese Befragung in diesen Rahmen gehört.

Was mich fasziniert, ist nicht so sehr, dass diese Befragung durchgeführt wurde. Ich bin eher von den Ergebnissen irritiert. Sicherlich: Man darf Resultate solcher Befragungen nicht als letzte Wahrheit darüber, was Menschen denken und tun, nehmen. Aber diese wurde ja offenbar durchgeführt, um sie dann auch zu benutzen. (Und sie wurde auch benutzt für die Konferenz «Chancen 2016: Bibliotheken meistern den Wandel» (https://chancen2016.wordpress.com, Anonym 2016, ekz.bibliotheksservice 2016.)) Insoweit würde man erwarten, dass die Ergebnisse auch etwas bedeuten.

Aber mir scheint das gerade nicht der Fall zu sein. Zuerst liefert die Befragung einige erwartbare demographische Ergebnisse (S. 5) zur Nutzung oder Nicht-Nutzung von Bibliotheken. Anschliessend liefert die Frage danach, ob es in Zukunft wichtig wäre, dass Bibliotheken existieren, dass dies von den meisten Befragten bejaht wird. (S. 7, S. 8) Die Graphik ist so gehalten, als ob es 50/50 wäre, aber die Daten zeigen, dass die Antworten zu «wichtig / sehr wichtig» (ohne offenbar, dass man «ist mir egal» antworten konnte) überwiegen. Per se ist das nicht erstaunlich, da sich das eigentlich immer wieder zeigt, wenn Menschen direkt zu solchen Themen befragt werden: Die Bibliotheken haben einfach ein überwiegend grossen goodwil in der Bevölkerung, auf den sie bauen könnten, wenn sie wöllten. Erstaunlich ist eher, dass das in den Diskussion zwischen Bibliotheken so oft untergeht.

Die Daten, die mich mehr faszinieren, finden sich in den Graphiken, welche die Antworten auf die Frage: «Wie sollte eine öffentliche Bibliothek sein, die Sie gerne nutzen?» (mit Auswahl von Möglichkeiten aus einer Karte) zusammenfassen. (S. 11, S. 13, S. 16) Hier wurden nämlich (fast) all die Vorstellungen versammelt, die sich Öffentliche Bibliotheken damals von ihrer Zukunft gemacht haben (d.h. «Partizipation» und Demokratie standen noch nicht auf der Liste, dafür in Unterpunkte gepackt der «3. Ort»). Das Ergebnis ist, dass praktisch alle diese Vorstellungen von den Befragten zurückgewiesen wurden: Wichtig ist ihnen ein umfangreiches Medienangebot, eine angenehme Atmosphäre, gute Beratung und Angebote für Kinder. Sicherlich könnte man «angenehme Atmosphäre» als etwas bezeichnen was zum «3. Ort» passt, aber der Punkt ist so subjektiv, dass er zu allen möglichen Räumen passt, in denen man sich aufhält. Die Frage ist halt immer, was «angenehm» heissen soll. Aber «bequeme Sitzmöglichkeiten» (auch etwas, dass nicht nur zum «3. Ort» passt und sehr subjektiv ist) kommt erst in der Mitte der Liste. Der Wunsch nach einem Café in der Bibliothek steht weit unten in der nach Häufigkeit geordneten Liste (aber noch, notabene, vor dem Wunsch, dass die Bibliothek Sonntags geöffnet werden sollte, was kaum gewünscht wird). Die letzten drei Punkte sind der Wunsch, «mit anderen ins Gespräch kommen», Makerspaces und Computerspiele. Oder anders: Was in diese Befragung eigentlich zurückgemeldet wurde, war, dass die Befragten eher «traditionelle» Öffentliche Bibliotheken wollen, die ihren Fokus auf Medien haben.

Die Faszination kommt nun selbstverständlich davon, dass sich die bibliothekarische Diskussion und auch die Planungen von Bibliotheken genau in die andere Richtung entwickelten. Schon einige Zeit vor 2015, aber auch danach.

Sicherlich: Man muss Ergebnisse solche Befragungen nicht als Handlungsanweisung lesen. (Aber warum macht man sie dann überhaupt?) Mehrfach habe ich von Bibliothekar*innen zu dieser Frage immer wieder ein Zitat gehört (so oft, dass es danach klang, als hätten sie es alle von der gleichen Person, die als Berater*in tätig war, gehört), dass ich hier nicht wiederholen will (weil die zitierte Person auch bekannter Antisemit und Ausbeuter war). Aber was das Zitat sagt, ist, dass man nicht weiterkommt, wenn man darauf wartet, dass die Menschen ihre Meinung ändern und man stattdessen anfangen muss, etwas zu verändern, damit die Menschen nachher merken, das die Veränderung besser war. Oder anders gesagt: Die Leute wissen nicht, was sie wollen, bis sie es selber erleben.

Well. So eine Haltung passt selbstverständlich schwer mit dem aktuell in der bibliothekarischen Literatur oft vorgetragen Anspruch der Partizipation zusammen, bei dem ja den Menschen mehr vertraut werden soll, gute Entscheidungen zu treffen. Aber ignorieren wir das mal kurz. Dann müssten Bibliotheken nicht nur neue Angebote einrichten, sondern auch irgendwann zeigen, dass sie Recht damit hatten, diese Veränderungen durchzusetzen. Die Menschen müssten dann z.B. das Café tatsächlich so nutzen, wie sich das in der bibliothekarischen Planung vorgestellt wird. Aber: Solche Nachweise sind in der Literatur praktisch auch nicht vorhanden.

Was mich fasziniert ist, dass man mit dieser Befragung eigentlich etwas in der Hand hat, um selber zu sehen, dass die meisten Veränderungen in Bibliotheken in den letzten Jahren nicht etwa dadurch ausgelöst wurden, weil Menschen solche Veränderungen eingefordert hätten oder weil sie irgendwie von aussen als notwendig erschienen – sondern, weil Bibliotheken sie selber wollten.

Was mir dabei nicht klar ist, ist warum solche Befragungen überhaupt durchgeführt wurden. (So oft kommen sie auch nicht vor. Vielleicht ist das auch etwas, was nicht mehr gemacht wird.) Ich habe da keine Antwort, nur die Frage: Für wen werden die gemacht, wenn die Entscheidungen und Diskussionen im Bibliothekswesen gar nicht auf diesen Ergebnissen basieren?

Literatur

Anonym. (2016). Chancen 2016: Bibliotheken meistern den Wandel—Internationale Bibliothekskonferenz zeigte Herausforderungen und Lösungsansätze | Lesen in Deutschland. Lesen in Deutschland. https://www.lesen-in-deutschland.de/html/content.php?object=journal&lid=1360

ekz.bibliotheksservice. (2016, Juli 8). Chancen 2016—Ekz.bibliotheksservice GmbH. https://web.archive.org/web/20160708103739/http://www.ekz.de/seminare-veranstaltungen/veranstaltungen/chancen-2016/

Institut für Demoskopie Allensbach. (2015). Die Zukunft der Bibliotheken in Deutschland: Eine Repräsentativbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre (S. 43). Institut für Demoskopie Allensbach. http://www.ekz.at/fileadmin/ekz-media/unternehmen/Zukunftsstudie/2016_Studie_Zukunft_Bibliotheken_in_Deutschland.pdf

Mittrowan, A. (2015). ekz-Kundenbefragung 2014: Bibliotheken wählen ihre Zukunftsrollen. Bibliotheksdienst, 49(3–4), 393–400. https://doi.org/10.1515/bd-2015-0047

Marketingdenken statt Problembewusstsein? Eine kurze Polemik zur „Nichtnutzungsstudie“ des dbv.

Der Deutsche Bibliotheksverband dbv hat eine „Nichtnutzungsstudie“ erstellen lassen und wollte mit dieser Aufsehen erregen – zumindest ein bisschen. Mehrfach wurde die Veröffentlichung der Studie zum 27.04. angekündigt, mit Pressekonferenz am Tag zuvor, aber ohne davor irgendetwas über die Ergebnisse verlautbaren zu lassen. Offenbar sollte ein kleiner Hype aufgebaut werden, weil: Das klappt ja bei Apple auch (oder so). Während man bei Apple einfach den Kopf schüttelt über die Menschen, die den Unsinn noch immer mitmachen, aber immerhin versteht, warum das getan wird (es soll etwas verkauft werden), ist beim dbv überhaupt nicht klar geworden, was dieses Verhalten sollte. Steht irgendetwas erstaunlich Neues und Wichtiges in der Studie, dass das Warten lohnen würde? Bringt es den Bibliotheken nicht mehr, solche Studien möglichst schnell zu veröffentlichen, wenn sie einmal fertig sind? Ich zumindest war eher genervt und gerade nicht gehypt (aber mich hypt auch Apple nicht, zugegeben), was die folgende Kritik vielleicht etwas beeinflusst hat.

Zumindest: Hat dieses Verhalten Aufmerksamkeit gebracht? Sind die Massen erwartungsvoll gewesen? Ist die Presse drauf angesprungen? Hat sich die Blogosphäre überschlagen? Nö. Ein paar Meldungen in Online-Portalen, ein paar in teilweise eher obskuren Presseorganen, hier und da eine Erwähnung der Studie. Das hätte man auch so haben können.

Eine Telefonumfrage?

Allerdings: Nachdem die Studie „Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland“ (Presseerklärung: hier, Studie: hier) wie üblich gross aufgeblasen als erste Studie zu Gründen der Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland angekündigt wurde, ist sie ehrlich gesagt erst einmal enttäuschend. Zwar borgt sich die Studie den Titel „Studie“ und gibt damit eine gewisse Wissenschaftlichkeit vor. In Realität ist es aber nur eine Telefonumfrage gewesen und zudem noch eine relativ kleine (1.301 Befragte in ganz Deutschland). Einen theoretischen Rahmen, einen Hinweis, wieso welche Fragen gestellt wurden, eine differenzierte Auswertung findet sich in der Studie nicht. Es wurden einfach von einem Marktforschungsinstitut Menschen per Telefon befragt, relativ direkt auf den Kopf zu und mit den üblichen Problemen solcher Umfragen behaftet: Die Fragen enthalten Fachtermini, die erklärt werden müssten; sie sind so gestellt, dass sie eine soziale Erwünschtheit der Antworten provozieren (ohne das klar wird, ob das irgendwie mit beachtet wurde), dass die Befragten repräsentativ für die Bevölkerung sind muss man irgendwie glauben, weil gezeigt wird das nicht und so weiter.1

Solche Umfragen sind halt so ähnlich, wie die erstaunlicherweise beliebten SWOT-Analysen: Das hat nicht viel mit Forschung zu tun; aber am Ende kommen Daten raus, mit denen mit weiterarbeiten und die man in Graphiken packen kann. Nur: Die Daten erklären oft wenig und zumeist kann man eigentlich voraussagen, wie die Ergebnisse sein werden, wenn man sich ein wenig mit dem jeweiligen Thema auskennt.

So ist das auch mit dieser Studie: Das was als Ergebnis präsentiert wurde, hätte man auch so sagen können. (Beziehungsweise behauptet die Studie zwar, die erste zu sein, welche die Frage für ganz Deutschland bearbeitet hätte, aber praktisch sind wenig andere Ergebnisse produziert worden, als in Studien, die für einzelne Bibliotheken unternommen wurden. Wenn in der Studie also behauptet wird, man benötige Wissen über die Gründe, warum Menschen nicht in die Bibliothek kommen, dann kann man sagen: das Wissen war auch schon vorher da. Etwas Überraschendes ist nicht herausgekommen.) Aber immerhin haben wir jetzt was, worauf wir verweisen können, oder?

Mehr Werbung, keine wirkliche Veränderung

Was an der Studie wirklich verärgert, ist die Auswertung. Hier wird das Problem der Nichtnutzung hauptsächlich als Marketingproblem definiert.2 Nach einige statistischen Daten werden vor allem Empfindungen abgefragt: Welche Farbe würden Sie spontan mit Bibliotheken in Verbindung bringen? Sind Bibliotheken eher lebhaft oder eher ruhig? Passen Bibliotheken in unsere Zeit? Wenn die Bibliotheken länger auf hätte, würden Sie dann eher kommen? Und solche Fragen. Ich denke, das Problem wird schnell offenbar: Nicht danach, wozu Menschen Bibliotheken nutzen oder nicht nutzen könnten, nicht danach, welche Sinn sie Bibliotheken zuschreiben können, wird gefragt, sondern nach Empfindungen und Dingen, wo die soziale Erwünschtheit quasi hervorschreit.3

Das alles mag für ein Produkt ausreichen: Wenn Sie an Orangensaft denken, denken Sie eher an Sommer oder an Winter? Ist Orangensaft ein wichtiges Produkt auf Ihrem Frühstückstisch oder trinken sie es eher selten? Was verbinden Sie eher mit Orangensaft: Gesundheit, Urlaub oder Geborgenheit? … Danach kann man Marketingskampagnen gestalten. (75% der befragten Mütter sehen in Orangensaft vor allem Gesundheit, 68% der befragten Personen ohne Kinder eher Urlaub, also macht man ein Plakat mit Eltern, die ihren kranken Kindern Orangensaft geben „Gesund für uns und unsere Kinder“ und ein Plakat, wo Double Income No Kids-People am Strand im Sonnenaufgang eine Flasche Orangensaft teilen „Orangensaft für den Morgen nach der Nacht / mit Schuss und Ohne“ und so weiter. Und wenn die Zahlen nicht ganz stimmten reicht die ungefähre Richtung. So falsch wird die Werbung schon nicht sein.). Aber was bringt es im Bezug auf Bibliotheken, die ja kein Produkt verkaufen wollen? Wenig.

Sicherlich: Man kann immer Werbung machen für die Dinge, die man so anbietet. Und je genauer man Werbung für eine Zielgruppe machen kann, um so geringer sind hoffentlich die „Streuverluste“. Aber: Darum geht es gar nicht.

Die Studie stellt immerhin fest, dass es zwei Gruppen von Nichtnutzenden gibt: Ehemalige Nutzende und Nichtnutzenden (also Personen, die nie in Bibliotheken waren). Aber: Aus dieser Erkenntnis folgt nichts. Es wird konstatiert, dass Ehemalige Nutzende mit leichter Angebotsvariierung erreicht werden könnten, während Nichtnutzende schwieriger zu erreichen seien. Zudem wird festgestellt, dass sich ehemalige Nutzende eher daran erinnern können, früher mit ihren Eltern Bibliotheken besucht zu haben, als Nichtnutzende. Das mag so sein, aber man muss doch fragen, ob es für die Ergebnisse eine Studie gebraucht hat.4 Das hätte wohl jede und jeder, der oder die sich ein wenig mit der Welt (noch nicht mal Bibliotheken) auskennt, auch vorher sagen können.

Handlungsempfehlungen, die man immer macht

Obwohl die Qualität der Daten wirklich nicht berauschend ist, wagt es die Studie, Handlungsempfehlungen zu geben. Aber auch hier: Für die hätte es keine Studie bedurft, dass sind die gleichen, die immer irgendwie im Raum sind. Mehr elektronische Medien, Download-Möglichkeiten, mehr WLAN, längere Öffnungszeiten, mehr kulturelle Veranstaltungen, aktuelle Medien, mehr Zusammenarbeit mit Schulen. Kann man alles machen, aber… was wurde daran nicht in den letzten Jahren eh immer wieder gesagt? Neu ist vielleicht, dass die Studie „feststellt“, dass das Bild der Bibliotheken in der Öffentlichkeit gut ist und deshalb Marketing für Bibliotheken als Bibliothek nicht notwendig wäre. Auch das ist nicht überraschend, aber es stimmt schon, dass zumindest Teile des Bibliothekswesens das nicht so sahen und sich stattdessen in Gesprächen über das Bild der Bibliothek verloren – und im schlimmsten Fall die „21 Gründe für gute Bibliotheken“ herausgaben, die… was ist damit eigentlich passiert?

Man muss sich allerdings klar darüber sein, dass andere Empfehlungen schwerlich hätten herauskommen können. Was hätten den die Befragten antworten sollen, damit irgendetwas anderes herauskommt? „Ich gehe nie in Bibliotheken, wünsche mir da aber goldene Rehe im Eingangsbereich, Drogen in der Chemiesektion und Dubstep-Partys mit Darkroom“? Sicherlich sagt man brav „Ja“, wenn man gefragt wird, ob Bibliotheken längere Öffnungszeiten brauchen und so weiter. Immerhin wurde man das direkt gefragt.5

Den Vorschlag, noch mehr mit Schulen zusammenzuarbeiten, macht die Studie übrigens, weil die Nichtnutzenden mehrheitlich sagen, in ihrer Kindheit nicht in der Bibliothek gewesen zu sein, während die Nutzenden Gegenteiliges behaupten. Deshalb, so der Schluss, müssten alle Kinder in die Bibliothek gehen, um dann später zurückkehren zu können – halt das, was Bibliothekarinnen und Bibliothekare gerne hören. Auch ja: Es ist überhaupt nicht falsch, wenn Kinder Bibliotheken besuchen. (Ob dazu die armen Schulen genervt werden müssen, ist eine andere Frage.) Doch nur weil sich die Studie nicht um einen theoretischen Rahmen schert oder offenbart auch wenig von Testkonstruktion weiss, klingt dieser Zusammenhang so einleuchtend. Menschen, die sich heute nicht erinnern können, ob sie als Kinder in Bibliotheken waren, waren real früher in Bibliotheken oder auch nicht. Da hier bis zu 75jährige befragt wurden, sollte man die Macht der biographischen Konstruktion nicht unterschätzen: Was persönlich unwichtig war, wird als nicht erlebt erinnert. Und das funktioniert auch andersherum: Was als wichtig erlebt wird, wird „erinnert“, ohne dass es so stattgefunden haben muss. Aber selbst, wenn man das übergeht, bleibt die viel interessante Frage nach dem „Warum“ ungestellt. Warum gehen einige Kinder mit ihren Eltern in die Bibliothek und andere nicht? Auch da fallen schnell einfache Antworten ein, aber in dieser Studie wird die Frage noch nicht einmal gestellt.

Alle wollen in die Bibliothek

Ein anderes Problem der Studie: Es ist überhaupt nicht klar, ob sie notwendig ist. Sicherlich: Bibliothekarinnen und Bibliothekare (und auch einige Politikerinnen und Politiker) fühlen, dass zu wenig Menschen in die Bibliothek kommen. Nur: Was heisst eigentlich wenig? Was ist das Ziel? Auf Folie 4 wird die Zahl von 70 % der Menschen in Deutschland, die keine Bibliothek benutzen, genannt. Die Studie selber will von 37 % Nutzenden in den letzten 12 Monaten wissen. Ist das viel? Ist das wenig? Parteien überleben mit weit weniger Wählenden, Fernsehsender mit weit geringeren Marktanteilen. Sonst betont der dbv auch gerne, wie viele Menschen eigentlich Bibliotheken nutzen. Sicherlich: Bibliotheken sollen allen offen stehen, wenn Menschen nicht kommen, weil sie von Barrieren abgehalten werden, ist das ein Skandal, der verändert werden muss. Aber angesichts der Freiwilligkeit der Nutzung von Bibliotheken: Ist 30-40 % nicht vielleicht schon vollkommen okay? Das scheint doch ganz ordentlich zu sein. Oder muss man 100 % anstreben?

Man weiss es einfach nicht. Der dbv springt in der Argumentation: Mal sind Bibliotheken die „meistgenutzte Bildungs- und Kultureinrichtung“, mal geht es ihnen schlecht. Diskutiert wird über diese Frage nicht, nirgends.

Zudem beantwortet die Bibliothek eine wichtige Frage nicht: Was sollen die Menschen eigentlich in der Bibliothek? Auch hier gilt: Wäre es eine reine Marketingumfrage für ein Produkt, wäre das nicht schlimm. Die Leute sollen Orangensaft kaufen, möglichst viel. Fertig. Aber bei der Bibliotheksnutzung ist das nicht so einfach. Die Bibliothek kann sehr unterschiedlich genutzt werden. In der Studie wird auf einige Verwendungsweisen angespielt: Bildung, Kultur, Unterhaltung. Nur die Fragen, die gestellt werden, sind vollkommen unspezifisch: Haben Sie eine Bibliothek benutzt? „Ja“ bedeuten dann relativ viel: Kurz rein, Krimi ausleihen gilt genauso wie fünf Tage die Woche je vier Stunden gelernt oder jeden Samstag mit den Kindern zu Vorlesetante gegangen.

Aber gerade wenn die Studie dazu beitragen soll, mehr Menschen in die Bibliothek zu holen, stellt sich die Frage, was die eigentlich mit der Bibliothek anfangen sollen. Vielmehr geht die Studie davon aus, dass „Bibliothek nutzen“ an sich ein richtiger Wert ist und die Leute nur noch mit den richtigen Argumenten überredet werden müssen.

Die reale Welt

Und genau hier ist das Problem der Studie: Anstatt sich mit den realen Gründen für die Nutzung und Nichtnutzung von Bibliotheken zu beschäftigen, simuliert sie Meinungen. Wenn die Studie sich zum Beispiel damit beschäftigen wollte, warum manchen Menschen nie Bibliotheken genutzt haben, müsste sie sich mit Fragen beschäftigen wie: Was könnte die Bibliothek zum Leben dieser Menschen überhaupt beitragen? (Ohne einfach nur „Medien“ zu sagen.) Wie wirkt sich Armut aus? (Denn egal wie man darum schleicht: Was glaubt man denn, wer die Nichtnutzenden sind?) Müssen die Bibliotheken sich verändern? Aber um diese wichtigen Fragen wird sich gedrückt.

Stattdessen werden „Kampagnen und Maßnahmen“ (Folie 5) vorgeschlagen, die:

kurz-, mittel- und längerfristig bisherigen Nichtnutzern das kulturelle Bildungsangebot [sic!] der Bibliotheken vermitteln und nahebringen,

Nichtnutzer für Bibliotheken interessieren,

Vorstellungen von und Erwartungen an Bibliotheken bei Nichtnutzern positiv prägen,

Nichtnutzer damit im Sinne einer bildungs- und kulturpolitisch nachhaltigen Wirksamkeit motivieren, dass Angebot der Bibliothek zu nutzen [sollen]. (Folie 5)

Oder anders: Darüber, wie Bibliotheken sich ändern sollten und könnten, um relevant zu werden für Menschen, die Bibliotheken bisher nicht nutzen, wird nicht nachgedacht. Es wird nach den richtigen Werbeparolen gesucht, weil das Produkt offenbar schon funktioniert (es braucht ein bisschen längere Öffnungszeiten; aber das ist in dem Denken ungefähr so wie ein verbessertes Logo: Der Orangensaft bleibt gleich, es kommt nur eine aufgehende Sonne mit auf den Namen). Aber das stimmt nicht. Wenn über 50 % der Menschen offenbar die Bibliotheken nicht nutzen, sind Bibliotheken nicht wirklich für deren Leben relevant. Und zwar nicht, weil sie nicht richtig Werbung machen, sondern weil ihre Angebote nicht sinnvoll sind für diese Menschen. Das muss nicht schlimm sein, 30-40 % Menschen, die eine Einrichtung nutzen, ist vielleicht einfach das erreichbare Hoch. Aber wenn man das verändern will, dann müsste man darüber nachdenken, wie die Institutionen sich verändern können und sollen. Wir könnten über Bibliotheken reden, wir könnten über ihre gesellschaftlichen Funktionen reden, stattdessen lassen wir die Bibliotheken, wie sie sind und reden über Marketing.

Ich kann schon verstehen, dass die Situation gut klang: Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien erklärt sich bereit, Geld zu geben;6 die Stiftung Lesen (die immer noch einen duften Ruf hat, als wäre der Skandal mit der Schleichwerbung im letzten irgendwie… vergessen worden) verweist da auf dieses Institut, dass sie kennt und das schnell Studien erstellt. Aber: Nicht alles, was wie eine gute Möglichkeit aussieht, ist gut. (Man kennt das vom Orangensaft.) Diese Studie zumindest hilft dem Bibliothekswesen nicht weiter. Sie lenkt eher von den tatsächlich wichtigen Fragen ab, die da, wie gesagt lauten:

  • Wen wollen wir eigentlich womit erreichen? Wie viel ist für Bibliotheken viel?
  • Wie können Bibliotheken für Nichtnutzende relevant werden? Relevant, indem sie zu ihrem Leben positiv beitragen, nicht bekannt, weil sie eine dufte Werbung machen.

 

Fussnoten

1 Ganz abgesehen davon, dass jede und jeder, der oder die mal in einem Telefoncenter gearbeitet hat, wo solche Umfragen praktisch handgehabt werden, weiss, wie lasch mit den Umfragen und Daten umgegangen wird.

2 Erstaunlich ist übrigens auch, dass die Studie darauf beharrt „öffentliche Stadtbibliothek oder Gemeindebibliothek“ zu schreiben, als gäbe keinen Unterschied zwischen Öffentlicher Bibliothek als Bibliothekstyp und öffentlicher Bibliothek als Funktionszuschreibung und als würde nicht genau das in der bibliothekarischen Ausbildung immer wieder betont. Das mag für die Telefonierenden in den Telefoncentern egal gewesen sein, aber sollte der Bibliotheksverband nicht etwas genauer sein? Es ist zumindest auffällig.

3 Und das mit den Farben sollte man selber nachlesen, in der Langfassung der Studie auf Folie 25. Gewonnen hat „braun“ und das scheint niemand zu irritieren. Ernsthaft: braun… I don’t even want…

4 Die Studie selber haftet diesen Aussagen Zahlen an, aber man sollte denen wirklich nicht vertrauen. Ich möchte die Repräsentativität der Umfrage doch bezweifeln. Nicht nur, dass es keine Möglichkeit gibt, zu wissen, wie diese Repräsentativität festgelegt und überprüft wurde; es ist auch nicht so, dass Menschen bei Telefoninterviews dieser Art wirklich so ehrlich sind, wie man es benötigen würde, um daraus genaue Zahlen zu generieren. Eher sind sie gestresst. „[E]mpirisch fundierte und flächendeckende Erkenntnisse“ (Folie 5), welche die Studie liefern soll, sind das wirklich nicht.

5 Wie gesagt: Die Studie hält nicht viel davon, sich mit den Do’s und Don’ts von Interviews zu befassen. Es wird einfach drauf losgefragt, als würde das wirklich zu sinnvollen Antworten führen. Und als würde die Menschen auf der anderen Seite des Telefons nicht mitdenken können.

6 Nicht mein Geld übrigens. Har har. (Entschuldigung, aber ich wollte das schon seit Monaten einmal sagen können.)