Gesundheitsbildung, Gesundheitspädagogik

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Eine der aktuell beständig getroffenen Voraussagen über die Entwicklung des Bildungssystems lautet, dass die Gesundheitsbildung an Bedeutung zunehmen wird. Nicht nur in Schulen, sondern als Gesamtthema von formellem Bildungssystem, Weiterbildung und gesellschaftlicher Bildung. Selbstverständlich gibt es Gesundheitsbezogene Bildungsaktivitäten schon weit länger. Die „mach’s mit“-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Bildung ist dafür ein weithin bekanntes Beispiel. Die Vorhersage ist allerdings, dass die Bedeutung der Gesundheitsbildung – und damit auch der Umfang an Handelnden und Forschungen – weithin wachsen wird.

Bildung und Gesundheit

Dafür gibt es Gründe: Immer mehr wird Gesundheit – wie so vieles andere – als Bildungsthema definiert. Gesundes Handeln lässt sich, so die Vorstellung, zumindest zu großen Teilen erlernen. Eine ungesunde Lebensweise oder, im Bezug auf Kinder, eine ungesunde Erziehungsform, wird immer mehr als Problem mangelnder Bildung definiert. Das ist einerseits sinnvoll, weil den Individuen mehr Verantwortung zugestanden und damit zumindest theoretisch auch Macht gegeben wird. Andererseits ist es gefährlich, weil damit die Gefahr einhergeht, soziale Probleme und Strukturen zum Bildungsproblem und damit auch zum Fehlverhalten der Individuen zu erklären. Dabei ist weithin bekannt, dass Gesundheit und Krankheit auch eine gesellschaftliche Ebene hat. 2007, beim Streit mit und um Oswald Metzger, forderte Reinhard Bütikofer beispielsweise von Metzger, dass der zeigen solle, wie man mit 2,50 Euro pro Tag ein Kind gesund ernähren könne. Metzger hatte vorher impliziert, Hartz IV-Empfängerinnen und Empfänger seien einfach zu faul („antriebslos“) und nicht in der Lage, eine gesunde Ernährung für ihre Kinder sicherzustellen. Bütikofer – obgleich seine Partei Hartz IV mitzuverantworten hat – stellte ganz richtig klar, dass Armut einen Hauptgrund für eine ungesunde Lebensweise darstellt.

Dennoch gibt es unbestritten einen statistischen Zusammenhang zwischen Bildung, gesundem Leben und Gesundheitsempfinden. Liliya Leopold und Henriette Engelhardt stellen das in der aktuellen Ausgabe der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie anhand von Langzeitdaten aus den USA dar. (Leopold & Engelhardt, 2011) Bei diesen Daten zeigte sich, dass es, bezogen auf das erworbene Bildungsniveau, biographisch zu einer zunehmenden Divergenz zwischen Personen mit guter Bildung, einem relativ niedrigen Krankenstand und eine relativ hohem Gesundheitsempfinden auf der einen Seite und Personen mit einer relativ geringen Bildung, einen relativ hohen Krankenstand und einem niedrigen Gesundheitsempfinden auf der anderen Seite kommt. Oder anders gesagt: Personen mit einem hohen Bildungsstand – ausgedrückt in einer Bildungskarriere – sind länger und „mehr“ gesund, als Menschen mit niedrigem Bildungsstand. Und dies – so die Feststellung von Leopold und Engelhardt – nimmt mit der Lebenszeit sogar noch zu.

Geschichtslosigkeit

Sicherlich hat dies mehrere Ursachen. Trotz der verbreiteten Arbeitslosigkeit unter Akademikerinnen und Akademikern sind durchschnittlich Personen mit niedrigen oder keinen Bildungsabschlüssen auch ärmer, nur um daran zu erinnern. Dennoch liegt die Überlegung nahe, mit einer Gesundheitsbildung auch zu einem gesunderen – und damit auch besseren Leben – aller Menschen beizutragen. (Das eine gesundere Gesellschaft auch längerfristig weniger Kosten verursacht, ist richtig. Dies allerdings als einzigen Grund für den aktuellen Aufschwung und die Förderung von Gesundheitsbildung anzusehen, scheint mehr als zynisch.)

Auffällig ist dabei, dass die aktuelle Gesundheitsbildung erstaunlich unbeeindruckt von der Kritik an historischen Formen der Gesundheitsbildung – Stichwort Euthanasiedebatten im Kaiserreich und der Weimarer Republik – zu sein scheint. Insbesondere die Kritik der feministischen Bewegung an den unberechtigten Zugriffen von Ärzten, Ärztinnen und anderen Machtpersonen und Institutionen auf die Körper der Frauen, die beispielsweise in der Geschichte der Entwicklung von Verhütungsmitteln immer wieder nachzuweisen sind (siehe Nilsson, 2001, aber auch Heim & Schaz, 1996, insbesondere Seite 146-173), scheint die aktuelle Gesundheitsbildung, wenn, dann eher implizit aufgenommen zu haben. Bezugspunkte gibt es nicht, so dass die Gefahr, dass die Gesundheitsbildung sich wieder in Richtung Menschensteuerung entwickelt, nicht gänzlich auszuschließen ist.

Der pädagogische Blick

Dennoch: Das Thema Gesundheitsbildung nimmt Formen an. Die aktuelle Ausgabe von Der pädagogische Blick widmet sich mit seinem Schwerpunkt diesem Thema.

Heidrun Herzberg und Astrid Seltrecht beschäftigen sich im ersten Text des Heftes mit der Entwicklung der Gesundheitsbildung. (Herzberg & Seltrecht, 2011). Auch sie betonen, dass es schon längst eine Geschichte der Gesundheitsbildung gibt – obgleich sie die dunklen Seiten auszulassen scheinen –, dass allerdings die Bedeutung in den letzten Jahren zugenommen hätte. Insbesondere führen sie dies auf die Arbeit der Weltgesundheits-Organisation zurück. Interessanter als ihr historischer Ausflug ist allerdings die Übersicht der aktuellen Gesundheitsbildung. Der Begriff würde als Überbegriff für sehr verschiedene Ansätze und Ziele verwendet. Sie postulieren, dass eine Differenzierung in mindestens fünf Felder möglich wäre (S. 71):

  • Gesundheitsaufklärung (Bereitstellung von Informationen, beispielsweise die schon genannte „mach’s mit“-Kampagne)

  • Gesundheitsberatung (Direkte Beratung, beispielsweise die Gesundheitsberatung von Pro Familia)

  • Gesundheitsbildung (Bildungsangebote, die freiwillig besucht werden, beispielsweise an Volkshochschulen)

  • Gesundheitserziehung (Bildungsangebote in formalen Bildungseinrichtungen, also vor allem Kindergarten und Schule, an denen die Teilnahme obligatorisch ist)

  • Gesundheitsförderung (Aktionsprogramme, die explizit auf eine Verhaltensänderung abzielen, beispielsweise der „nationale Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten“ der Bundesministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie für Gesundheit (http://www.besseressenmehrbewegen.de/fileadmin/SITE_BEMB/content/grafiken/Nationaler-AktionsplanJuni08.pdf))

„Allein diese […] Ausführungen verdeutlichen, dass die gesundheitspädagogischen Angebote eine große Spannbreite an Interventionsmöglichkeiten aufweisen: von allgemeinen Informationen für die breite Öffentlichkeit bis zu konkreten Lösungen im Einzelfall; von einem freiwilligen Angebot zur Gesundheitserhaltung bis zu einer eher von außen erwarteten Veränderung des eigenen Handelns mit dem Ziel der Krankheitsvermeidung.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 71)

Diese Differenzierung impliziert, wie Herzberg und Seltrecht bemerken, unterschiedliche Zugriffe auf die jeweils zu Bildenden, aber auch auf die zu vermittelnden Themen. Zudem bemerken die Autorinnen, dass Gesundheitsbildung sich beständig an der Biographie als normativem Paradigma orientiert. Dies funktioniere in zwei Richtungen. Erstens wird Krankheit und Gesundheit (auch) als Ergebnis biographischer Prozesse begriffen und bearbeitet. Zweitens „wird davon ausgegangen, dass Gesundungsprozesse nur dann gelingen können, wenn an die biographischen Erfahrungen der Einzelnen angeknüpft wird.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 73) Das zu bildende oder zu beratende Individuum wird in den Mittelpunkt der Bildungsprozesse gestellt und es wird versucht, am Wissen der einzelnen Individuen anzuschließen. Somit schließt die Gesundheitsbildung am Paradigma der Kompetenzen an, trägt aber selbstverständlich auch deren Schwachpunkte mit: Das Individuum biographisch zu begleiten, übergibt die letztliche Entscheidung, was wie gelernt und an Wissen umgesetzt wird und was nicht, den Individuen selber. Zudem erhöht es den Anspruch an das pädagogische Personal:

„Grundvoraussetzung für die Anleitung von Biographiearbeit ist auf Seiten der professionellen Gesundheits- und PflegepädagogInnen eine verstehende Haltung gegenüber den biographischen Konstruktionen der KlientInnen. Eine solche Haltung setzt ein Zuhörenkönnen, eine Interaktion auf Augenhöhe sowie die Anerkennung des Anderen als Experten seiner Lebensgeschichte voraus.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 75)

Das pädagogische Personal kann also beratend tätig werden, aber nicht wirklich vorschreibend (obgleich das zum Teil bei der Gesundheitsförderung impliziert ist). Insbesondere dann, wenn Gesundheitsbildung nicht als Grundlagenunterricht in Kindertagesstätten und Grundschulen verstanden wird, sondern als Teil des Lebenslangen Lernens, kann Bildungs- (und Gesundheits-)Erfolg nur bei den einzelnen Individuen bemerkt werden. So wird zum Beispiel der Nachweis einer Wirksamkeit von Gesundheitsbildung relativ schwer, zumal bekannt ist, dass vorhandenes Wissen über ein gesundes Leben nicht unbedingt auch in eine gesunde Lebensweise umgesetzt wird. (Vgl. u.a. die Beiträge in der Zeitschrift Prävention und Gesundheitsförderung)

Dieter Nittel reflektiert in seinem Text, der eine Forschungsprojekt vorstellt, lerntheoretische Fragen in der Gesundheitsbildung. (Nittel, 2011) Bezogen auf Gesundheit erinnert er an die auch anderswo angeführten vier Formen des Lernens: Neulernen, Umlernen, Verlernen und Nichtlernen. Während die ersten beiden Formen selbsterklärend sind, überraschen die anderen beiden unter Umständen. Verlernen heißt hier, die Situations- und Zeitgebundheit von Wissen zu akzeptieren und zu benennen. Dass heißt auch, dass Veränderungen immer einen Vergessen oder Verlernen von Handlungsroutinen und Einstellungen bedeutet. Nittel verweist auf Patientinnen und Patienten, die einen vor ihrer jeweils schweren Krankheit gewohnten Umgang mit Familie, Freundinnen und Freunden überwinden und gleichzeitig neu lernen mussten. Nichtlernen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Individuen selber die Entscheidung treffen, dass sie bestimmte Dinge nicht wissen wollen oder auch nicht benötigen. Dies sind aktive Entscheidungen, die selbstverständlich nur sinnvoll zu benennen sind, wenn überhaupt Lernmöglichkeiten bestehen. Des Weiteren differenziert Nittel die Aufgaben der Individuen im Bezug auf die Gesundheitsbildung: a.) Wissensaneignung, b.) Veränderung im Alltagsverhalten, c.) Identitätslernen. (Nittel, 2011, S. 85) Auch hier ist wieder sichtbar, dass sich bei der Gesundheitsbildung auf das einzelne Individuum konzentriert sowie eine biografische Perspektive eingenommen wird und zudem bemerkt wird, dass es um einen vielschichtigen Prozess geht, bei dem nicht die Vermittlung von Wissen sofort mit einer Verhaltens- und Identitätsänderung gleichgesetzt werden kann.

Weiterhin thematisiert Christian Hoppe die Veränderung im Arzt/Ärztin-Patientin/Patient-Verhältnis und in der selbstorganisierten Gesundheitsbildung, die durch das Web 2.0 zu beachten sind. Anhand von existierenden Netzangeboten, die unter dem Containerbegriff eHealth zusammengefasst werden, geht er auf die grundsätzlichen Fragen (Datenschutz, Beratungsmöglichkeiten, elektronische Kommunikation in der medizinischen Ausbildung und Praxis, Serious Games als pädagogisches Werkzeug) ein. Hauptsächlich interessant ist die Entstehung der „Souveränen Patienten und Patientinnen“, die sich über Netzangebote selber beraten und mit diesem Wissen über ihre jeweiligen Beschwerden und eigenen, mit Informationen unterfütterten, Gesundheitsstrategien, dem medizinischen Personal, insbesondere Ärztinnen und Ärzten, gegenübertreten. Diese Patientinnen und Patienten treten offenbar gehäuft auf. Sie haben den Anspruch der Gesundheitsbildung ernst genommen. Selbstverständlich besteht immer die Gefahr, dass sie mit halbrichtigen oder gar falschen Angaben und subjektiven Theorien hantieren. Wichtiger ist aber, dass sie mit dem Anspruch antreten, dem medizinischen Personal ebenbürtig zu sein.

Die traditionelle Rolle von Patientinnen und Patienten, nämlich passiv Handelnde bzw. Leidende in einem System mit hoher und in großen Teilen unhinterfragbarer Abhängigkeit gegenüber ‚health professionals‘ zu sein, hat sich n den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren geradezu rasant geändert. Der früher noch klar über die Ausbildung geregelte Zugang zu relevantem medizinischen Wissen wird durch das Web scheinbar immer offener. […] Die Zahl an ‚Gesundheitssurfern‘, die sich mit über das Internet in Eigeninitiative beschafften Informationen z.B. in die ärztliche Sprechstunde begeben, wächst stetig.“ (Hoppe, 2011, S. 93)

Dies ist allerdings ein, wenn auch vielleicht nicht intendierter, Effekt von verstärkter Gesundheitsbildung: Bestimmte Machthierarchien, die durch Wissen aufrecht erhalten werden, werden angegriffen. Das heißt nicht unbedingt, dass sie verschwinden werden – schon weil diese „Gesundheitssurfen“ nicht von allen Menschen betrieben wird –; aber sie führen zu einer Änderung des Verhaltens und des Argumentierens des medizinischen Personals. Diese gesundheitssurfenden Menschen leben nicht unbedingt gesünder, aber sie werden eigensinniger.

Der bibliothekarische Blick

Eine hier interessante Frage ist nun, ob und wenn wie Bibliotheken auf diesen Trend zur Gesundheitsbildung reagieren sollen und können. Das sie es tun werden müssen, sollte klar sein: Es geht gar nicht darum, wieder einmal ein neues Arbeitsfeld zu benennen, wie dies zum Beispiel mit der Teaching Library versucht wurde. Vielmehr handelt es sich bei der Gesundheitsbildung um einen gesellschaftlichen Trend, der zudem breit gefördert wird. Er wird auch eingefordert. Bibliotheken werden gar herum kommen, auf diesen Trend zu reagieren, da sie beispielsweise neben dem Internet als eine Quelle für die Gesundheitsbildung wahrgenommen werden. Sicherlich kann man hierauf versuchen, mit einer entsprechenden Bestandspolitik zu reagieren. Gleichzeitig ist die Einbindung von Bibliotheken in Kampagnen der Gesundheitsbildung ebenso möglich, wie das Aufstellen eigener Angebote.

Relevant scheint vielmehr zu sein, dass die Gesundheitsbildung an das pädagogische Beratungspersonal sehr hohe Anforderungen stellt, bei denen Empathie, Reflexionsfähigkeiten, medizinisches, gesundheitsbezogenes und pädagogisches Wissen verbunden werden sollen. Die Frage – auch im Blick darauf, dass es sich bei Gesundheitsbildung um einen direkten Einfluss auf das Alltagshandeln von Individuen handelt – ist, ob Bibliotheken eine solche Beratung leisten können (angefordert werden wird sie), bis zu welchem Punkt und wie auf weiter gehende Anforderungen reagiert werden soll. Das ist keine triviale Frage: Wohl niemand wird Bibliothekarin oder Bibliothekar, um Gesundheitsberatung zu betreiben; aber wenn die Voraussagen stimmen, dann wird es zumindest den gesellschaftlichen und individuellen Wunsch geben, in Bibliotheken Unterstützung für Gesundheitsbildung zu finden. Zumindest wäre eine Diskussion darüber, welche Felder abgedeckt und welche Bildungsprozesse von Individuen wie unterstützt werden können, sinnvoll. Die Differenzierungen, welche von Herzberg & Engelhardt (2011) vorgelegt wurden, könnten dafür eine gute Diskussionsgrundlage bieten.

Literatur

Heim, Susanne & Schaz, Ulrike (1996). Berechnung und Beschwörung : Überbevölkerung – Kritik einer Debatte. Berlin ; Göttingen : Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Straße.

Herzberg, Heidrun & Seltrecht, Astrid (2011). Von der Gesundheitsbildung zur Gesundheitspädagogik. In: Der pädagogische Blick 19(2), 68-79.

Hoppe, Christian (2011). Lernende Patienten und Ärzte im Web: Gesundheitspädagogische und mediendidaktische Betrachtungen. In: Der pädagogische Blick 19(2), 91-102

Leopold, Liliya & Engelhardt, Henriette (2011). Bildung und Gesundheitsungleichheit im Alter: Divergenz, Konvergenz oder Kontinuität? : Eine Längsschnittuntersuchung mit SHARE. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63(2), 207-236.

Nilsson, June (2001). Männer forschen, Frauen schlucken : moderne Empfängnisverhütung ; Tor zur Emanzipation oder Waffe des Patriarchats?. In: Penkwitt, Meike (Hrsg.). Perspektiven Feministischer Naturwissenschaftskritik (Freiburger Frauenstudien, Zeitschrift für Interdisziplinäre Frauenforschung, 11). Freiburg im Breisgau: jos fritz, 143-165.

Nittel, Dieter (2011). Die Aneignung von Krankheit: Bearbeitung lebensgeschichtlicher Krisen im Modus des Lernens. In: Der pädagogische Blick 19(2), 80-90.

Nadeshda Krupskaja: Die Bibliothek im Dienst der Revolution

[Wegen der Länge: Der Beitrag als PDF hier.]

Bild von Nadeshda Krupskaja
[Nadeshda Krupskaja in jungen Jahren. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:NadezhdaKrupskaya.jpg]

„Und dann wird unser Land der Sowjets nicht nur ein schriftkundiges Land werden, sondern es wird ein lesendes Land sein, das alle Errungenschaften der Wissenschaft ausnutzt, das alles, was in Jahrhunderten von der Menschheit auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Technik und der Kunst erreicht worden ist, nutzt, das in sich die gesamte Erfahrung der Anwendung des Wissens und der Praxis aufnimmt. Die Masse wird lernen, richtig zu lernen.“ [Krupskaja (1956) [1933], S. 67]

„Um klug, überlegt und erfolgreich an der Revolution teilnehmen zu können, muß man lernen.“ [Lenin. In: Krupskaja (1956), S. 27]

Mit einiger Überraschung habe ich letzter Zeit festgestellt, dass der Name Nadeshda Krupskaja auch unter Bibliothekarinnen und Bibliothekaren nicht mehr bekannt ist. Das ist erstaunlich, teilweise auch falsch. Insbesondere dann, wenn sich mehr oder minder positiv auf das Bibliothekswesen der DDR oder zumindest einiger Teilaspekte bezogen wird, kann man dies nicht tun, ohne Krupskaja und deren Arbeit zu beachten. [1]
Nadeshda Krupskaja legte sowohl organisatorisch als auch in ihren Publikationen direkt nach der Oktober-Revolution und Bolschewistischen Machtübernahme 1917 die Grundlinien des sowjetischen Bibliothekswesens fest. Dies tat sie auf der Grundlage einer festen Überzeugung von der Richtigkeit des bolschewistischen Weges zur Befreiung der Menschheit. Schon vor der Revolution hatte sie die Grundzüge des Bildungs- und Bibliothekswesens in einer sozialistischen und daran anschließend kommunistischen Gesellschaft skizziert. [2] Obgleich die Durchsetzung ihrer Vorstellungen nie vollständig gelang und insbesondere unter Stalin auch schon Erreichtes zurückgenommen wurde, ist das Bibliothekswesen in der Sowjetunion und der Staaten, die sich – auf der Grundlage ihrer jeweiligen Bibliotheksgeschichte – an der Sowjetunion orientierten, nicht zu verstehen, wenn man die Arbeit von Krupskaja nicht mit einbezieht. [3]
Für Krupskaja war die Bibliothek integraler Bestandteil des sozialistischen Bildungssystems, wobei dieses System sich über das ganze Leben der Individuen erstreckte und zwei Hauptziele verfolgte: den sozialistischen Menschen auszubilden und den Aufbau des Sozialismus bzw. späterhin des Kommunismus zu unterstützen. Diese Funktionsgebundenheit des gesamten Bildungssystems erklärt sich aus der Annahme, dass jeder gebildete Mensch selbstständig erkennen würde, dass (1) die Dreiheit Marx-Engels-Lenin die einzig richtige Interpretation der Gesellschaft geliefert hätte, dass (2) die Gesellschaft sich notwendig auf die Befreiung der Menschen hin entwickeln würde und dass (3) gebildete Menschen sich auf die Seite dieser Form der Befreiung stellen würden. Insbesondere in den Jahren vor und kurz nach der Oktober-Revolution war Krupskaja fest davon überzeugt, dass jeder gebildete Mensch notwendig, freiwillig und aus eigener Erkenntnis Sozialist werden würde.
Bibliotheken waren dabei ein Teil eines Bildungssystems, dass genau die Aufgabe hatte, die Menschen zu Sozialisten und Sozialistinnen zu bilden. Dies war die explizite ideologische Grundlage des gesamten Bibliothekssystems. Jede Bewertung und jeder Bezug auf das Bibliothekssystem in der DDR – oder auch der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten – muss dies mit beachten. Obgleich man nicht von einer einfachen Propagandafunktion von Bibliotheken oder einer direkten Ursache/Wirkung-Umsetzung der ideologischen Vorgaben ausgehen kann, kann man die bibliothekarische Arbeit ebenso wenig von diesem Grundziel lösen. Bezieht man sich beispielsweise positiv auf die Arbeit der Kinderbibliotheken in der DDR oder der Schulbibliotheken der Sowjetunion, kann man nicht ausblenden, dass diese Arbeit – von der man fraglos trotzdem lernen kann – auch immer eine gesellschaftliche Bedeutung hatte. Lesenlernen war ein Lesenlernen für eine sozialistische Gesellschaft, genauso wie heute das Lesenlernen eigentlich ein Lesenlernen für eine demokratische Gesellschaft darstellt. [4]
Über diese historische Bedeutung hinaus lässt sich anhand der Vorstellungen Krupskajas über das Bibliothekswesen weiterhin viel lernen. Obgleich sie in vielem falsch lag und teilweise Prinzipien vertrat, die dem demokratischen Ethos im heutigen Bibliothekswesen (aber auch dem damaligen zeitgenössischen bibliothekarischen Ethos in den „bürgerlichen“ Staaten) entgegenstehen, gehört sie doch zu den wichtigen Persönlichkeiten der Bibliotheksgeschichte. Darüber hinaus ist sie eine der starken Frauen der Geschichte. [5] Ein kurzer Überblick zur Arbeit von Nadeshda Krupskaja soll hier erfolgen. Es wäre allerdings zu wünschen, wenn dies kein Einzelfall bleibt, sondern Krupskaja allgemein wieder ins Bewusstsein der bibliothekarischen Zunft gehoben wird. [6]
Dass es möglich war, ein Bibliothekssystem zu entwerfen und zum Teil auch aufzubauen, welches vollkommen ideologisch grundiert war, welches zur Unterdrückung von Meinungen und Wissenserwerb genutzt wurde, dies allerdings immer vor dem Hintergrund des Glaubens an eine bessere Zukunft und dass dieses System in vielem durchdachter und besser ausgestatteter war, als das heutige Bibliothekswesen in Deutschland, sollte eine ständige Erinnerung daran sein, dass jedes Bibliothekswesen aktiv entwickelt (oder halt nicht entwickelt) wird und nicht einfach da ist. Wie das Bibliothekswesen aussieht, ist immer auch das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es sollte auch eine ständige Beunruhigung sein: Bibliotheken wirken nicht einfach positiv. Ihre Wirkung lässt sich offenbar steuern. Weiterhin sollte beunruhigen, dass zahlreiche Motti Krupskajas heute verbreiteten Motti und Thesen zum Lernen und zur Aufgaben der Bibliotheken gleichen, obgleich es um andere Ziele ging. Offenbar ist die Arbeit von Bibliotheken und Bildungseinrichtungen nicht per se richtig, sondern ebenso politisch. Man sollte sie zumindest nicht einfach verwenden weil sie richtig klingen, sondern sich immer auch über den impliziten Inhalt im Klaren sein.
Dabei sollte man aber auch nicht in zu einfach Dichotomien verfallen: Das von Krupskaja geprägte Bibliothekswesen hatte – im Zusammenhang mit dem restlichen Bildungssektor – sehr wohl beachtenswerte Erfolge aufzuweisen, insbesondere gegenüber der Situation im zaristischen Russland. Es wurde von ihr als Weiterentwicklung „bürgerlicher“ Bibliothekssysteme – insbesondere des schwitzer und des US-amerikanischen – angesehen und nicht als vollständig gegensätzliche Alternative.
Um Krupskajas Konzeption des Bildungs- und des Bibliothekswesens zu verstehen, muss man sich mit ihrer Biographie und ihrem Denken auseinandersetzen, was im nächsten Teil des Textes getan werden soll.

Krupskaja: Ein Leben für die Revolution, an der Seite eines Revolutionärs
Krupskaja, geboren 1869, wurde in den ersten Jahren ihres Lebens hauptsächlich in ihrer Familie unterrichtet, mit 10 Jahren besucht sie Gymnasien, wobei ihr Vater es ihr ermöglicht, von einer konservativen auf eine eher demokratisch gesinnte Schule zu wechseln. Mit 14 Jahren beginnt Krupskaja selber Stunden zu geben, um nach dem Tod des Vaters zum Unterhalt der Familie beizutragen und vor allem ihren Schulbesuch zu finanzieren. Mit 18 erwirbt sie mit dem Abschluss der Schule das Recht, als Hauslehrerin zu arbeiten, erhält aber keine Stellung. Vielmehr beginnt sie 1891 für insgesamt fünf Jahre als Lehrerin an einer Arbeiterabend- und Sonntagsschule in einen Vorort von Petrograd zu arbeiten. [7] Krupskaja hat also pädagogische Praxis, die sie in ihre Politik einbringt.
Ihre Familie stammt aus dem verarmten Landadel Russlands, ihr Vater ist zeitweise in Polen eingesetzt und wird wegen demokratischer Bestrebungen aus dem Dienst entlassen. Insbesondere die sowjetischen Quellen, welche Krupskaja selber in gewisser Weise zur Heiligen erklären, beschreiben die Familie als äußerst fortschrittlich. [8] Aber auch Literatur, die in der BRD und den USA publiziert wird, betont immer wieder, dass die Erziehung Krupskajas für ihre Zeit äußerst fortschrittlich und die Familie überaus bildungsbeflissen war. [9] Wichtig ist dies, um zu verstehen, warum Krupskaja Bildung zeitlebens als veränderbar begriffen hat.
In ihrer Zeit als Lehrerin der Arbeiterabend- und Sonntagsschule versteht sie sich schon als Marxistin. Bis dato hat sie offenbar unterschiedliche andere politische Richtungen bedacht, um, wie sie dies darstellt, einen Weg zu finden, den unterdrückten Massen zu helfen, schildert aber die „Entdeckung“ von Marx und Engels als Erweckungserlebnis. [10] Auch hier ist eine große Vorsicht bei der Wertung der Quellen angebracht. So taucht in den Quellen aus der DDR immer wieder ein Gespräch auf, dass sie mit einem „alten Narodniki“ geführt haben will, welcher ihr erzählt hätte, dass der Weg der Narodniki („Volkstümler“) – den sie auf terroristische Akte beschränkt – nicht der richtige Weg zur Befreiung des Volkes sei. Vielleicht gab es dieses Gespräch, aber ist auch auffällig, das ihr Mann sich als Jugendlicher für politische Aktivitäten zu interessierten begann, nachdem dessen Bruder Alexander Uljanow als Narodniki für ein geplantes Attentat auf Zar Alexander III – nachdem Alexander II einem solchen schon zum Opfer gefallen war – gehenkt wurde. Es ist auffällig, das die Narodniki weit besser als alle anderen konkurrierenden Strömungen dargestellt werden.
Unumstritten ist allerdings, dass Krupskaja in den Schriften von Marx und Engels den allein gangbaren Weg zur Befreiung der Menschheit erblickt. Für sie galt offenbar, dass die von Marx und Engels dargelegten Analysen eine exakte wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen würden, der – hätte man einmal Einsicht in sie gewonnen – zu folgen wäre, wie man auch Naturgesetzen nicht widersprechen kann. In ihrer Hochschätzung der Wissenschaft galt für sie als ausgemacht, dass es nicht nur eine Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit geben müsste, sondern das diese, wenn sie einmal niedergelegt wurde, auch umgesetzt werden müsse. Dieser Punkt kann nicht überbetont werden: Krupskaja war lange davon überzeugt, dass es keines wirklichen Zwanges bedurfte, um Menschen zur Einsicht in diese, ihre Wahrheit zu bewegen, sondern vor allem Geduld und die Kraft des besseren Arguments. Die Frage, ob es nicht auch möglich wäre, gebildet zu sein und dennoch zu einem anderen Argument zu kommen, stellte sich ihr offenbar nicht. [11] Wenn, dann wäre es wohl vor allem ein Problem der mangelnden Aufklärung.
Als Krupskaja 1891 begann, als Lehrerin zu arbeiten, war sie schon an der illegalen Arbeit der russischen Sozialdemokratie – die Trennung von Sozialdemokratie, sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Bewegungen hatte damals noch nicht stattgefunden – beteiligt. Wieder sind die Quellen mit Vorsicht zu genießen, die Krupskaja zum Beispiel zuschreiben, dass es ihr Verdienst gewesen sei, die Schule in der sie arbeitete – und die immerhin von Fabrikbesitzern finanziert wurde – mit einem sozialdemokratischen Lehrkörper zu besetzen. Dennoch ist es richtig, dass sie politisch aktiv war und auch versuchte, ihre Schüler mit sozialdemokratischen Gedanken vertraut zu machen.

Lenin
Zudem, und das ist für die Weltgeschichte nicht unwichtig, lernte sie in diesen Jahren ihren zukünftigen Mann, Wladimir Iljitsch Uljanow bzw. Lenin, kennen. Dies tat sie zuvorderst als politische Person, die mit Lenin zusammenarbeitete und zwar zu einer Zeit, als dieser sich noch mit dem Aufbau von sozialdemokratischen Zirkeln beschäftigte und nicht mit der Staatsführung der Sowjetunion. Krupskaja übernahm die Rolle des Stellvertreters, der bei einer Verhaftung Lenins die Leitung des sozialdemokratischen Zirkels „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ in St. Petersburg übernehmen sollte. Diese Aufgabe erfüllte Krupskaja dann auch als Lenin 1895 verhaftet wurde. Bis zur Revolution 1917 hatte Krupskaja, so die Möglichkeit bestand, beständig ähnlich verantwortungsvolle Posten in der Bewegung, die späterhin zur bolschewistischen wurde, inne. So war sie beispielsweise Sekretärin der Zeitschrift „Iskra“, die von Lenin geleitet wurde, und organisierte das Netz der Informatinnen und Informaten in Russland. Nach der „bürgerlichen Revolution“ von 1905 koordinierte sie ebenso die legalen und später illegalen Aktivitäten der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands“ (SDAPR), der Vorgängerpartei der KPdSU. Obgleich die Ehe mit Lenin Krupskaja einen Zugang zur Macht verschaffte, den andere nicht hatten, wäre es dennoch vollkommen falsch, sie als Anhängsel zu betrachten. Sie arbeitete eng mit Lenin zusammen, trug aber auch selber Verantwortung und prägte vor allem den Bildungsbereich in der Sowjetunion und zuvor der sozialistischen Bewegung selbstständig mit.
Wieder ist die Geschichte der Heirat von Lenin und Krupskaja aus den Quellen mit Vorsicht zu genießen. Richtig ist aber wieder, dass sowohl Krupskaja als auch Lenin – und das auch folgerichtig in Anlehnung an Friedrich Engels – die Ehe als Institution ansahen, die in einer sozialistischen Gesellschaft nicht unbedingt notwendig wäre. Ob sie dennoch geheiratet hätten und in welcher Form, ist spekulativ. 1898 mussten sie dazu aber erst quasi polizeilich gezwungen werden. Ab 1897 wurde Lenin für drei Jahre in das sibirische Dorf Schuschenskoje verbannt. 1898 wurde auch Krupskaja für drei Jahre verbannt, allerdings in das Gouvernement Ufa (südliches Uralgebirge). Eine Möglichkeit, ebenfalls nach Schuschenskoje zu gelangen, war die Heirat mit Lenin, die polizeilich beantragt und kirchlich vollzogen werden musste.
Trotz der Überhöhung in den Quellen aus der DDR und der Sowjetunion kann man die Beziehung zwischen Krupskaja und Lenin zu Recht als produktive Arbeitsbeziehung betrachten, die, soweit es ersichtlich ist, einem modernen Verständnis von gleichberechtigter Partnerschaft erstaunlich nahe kam.

Arbeit in der Emigration
1901 befinden sich Krupskaja, Lenin und zahlreiche andere potentielle russische Revolutionärinnen und Revolutionäre im Ausland. Lenin und seine Gruppe arbeiten daran, die SDAPR vom Ausland aus zu leiten. In der Literatur der DDR und der Sowjetunion wird dies später als genialer Plan zum Aufbau des Sozialismus gefeiert, aber letztlich geht diese Gruppe einen Weg, den auch zahlreiche andere, ähnliche Gruppen gehen: sie gründen eine Zeitschrift, die Iskra, und versuchen von dieser ausgehend, eine größere Organisation aufzubauen. Dabei sind Krupskaja, Lenin und der Rest der Gruppe schon damals von einer Avantgardefunktion der Partei überzeugt. Diese stellt sich ungefähr wie folgt dar: Die Partei weiß den Weg zur Revolution, weil sie die größte Kompetenz zu der Frage versammelt, wie die Wissenschaft von Marx und Engels richtig auf die jeweilige Situation angewendet werden muss. Deshalb müssen die Massen auf die Partei hören. Aufgrund dieses Denkens sind die Texte der SDAPR auch durchzogen von einem Gestus des: „die Massen müssen jetzt“, „es ist jetzt die Aufgabe, dass“, „das nächste Ziel der Massen besteht darin, dass“ etc. Das Ziel der Befreiung der Menschen gibt diese Aufgaben vor, die Partei interpretiert sie, die Massen sollen auf die Partei hören.
Allerdings bildet die Iskra, etabliert als Zeitschrift der SDAPR, tatsächlich ein Netzwerk an verbundenen Gruppen aus. Krupskaja organisiert die Kontakte zu diesen Gruppen, insbesondere zu denen nach Russland, mit denen nur codiert kommuniziert werden kann. Die Gruppen liefern Informationen und erhalten in gewisser Weise eine systematisierte Sicht auf die Lage der Dinge von der Iskra zurück. Aus diesem Zusammenhang und anderen Gruppen, die in der Emigration arbeiten, formiert sich die SDAPR. Wieder wird Lenin die Initiative zum ersten Parteitag zugeschrieben, obgleich die Realität komplexer gewesen sein wird. [12]
In diese Arbeit hinein zählt auch, dass Krupskaja beginnt, selber publizistisch tätig zu sein. Die ersten Artikel hat sie noch in der Verbannung veröffentlicht, ebenso hat sie dort ihre erste Broschüre „Die Arbeiterin“ bzw. „Die arbeitende Frau“ geschrieben, die 1901 veröffentlicht wird. [13] Die meisten ihrer Arbeiten beschäftigen sich mit pädagogischen Fragen.
Nach dem Ende ihrer Verbannungszeit reist Krupskaja aus, trifft sich mit Lenin und ist ab diesem Zeitpunkt fast immer dort, wo ihr Mann ist. Aber auch das darf nicht missverstanden werden: sie ist weiterhin eine eigenständige Persönlichkeit, die eigenständig für die Partei – und damit, wie sie meint, für die Revolution und die Befreiung der Menschheit – tätig ist und sich in Themengebiete einarbeitet, die von Lenin nicht oder nur nebenher berührt werden, insbesondere dem gesamten pädagogischen Feld. Gleichzeitig übernimmt Krupskaja wichtige Posten in der Partei, wobei wieder die sowjetische und DDR-Geschichtsschreibung, die praktisch nur einen richtigen Weg zur Revolution anerkennt, diese Posten jeweils als elementar beschreibt, während die Realität mit den Einflüssen der unterschiedlichen Gruppen in der Emigration, der unterschiedlichen linken Strömungen außerhalb und innerhalb der SDAPR selbstverständlich komplexer gewesen sein wird. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass Krupskaja die gesamte Zeit über Parteiarbeit betreibt, fast immer – aber auch nicht widerspruchslos – Lenins Linie folgt und ebenso wie er persönliche Risiken auf sich nimmt, als die beiden zusammen mit dem größten Teil der SDAPR nach der bürgerlichen Revolution 1905 nach Russland zurückkehren, bis sie nach Monaten in der Illegalität 1907 wieder ausreisen.
Neben ihrer Parteiarbeit publiziert Krupskaja immer wieder zu pädagogischen Fragen. Man darf keine wissenschaftlichen Abhandlungen erwarten, sondern vielmehr situationsbezogene kurze Texte, Besprechungen, Artikel, Aufrufe. Diese Form der Kommunikation – die man ebenfalls bei Lenin findet, von dem ja auch weit mehr kurze Texte veröffentlicht wurden, als die allerdings bekannteren Broschüren – wird Krupskaja bis zu ihrem Tod beibehalten. Deshalb ist es auch nicht ganz richtig, sie – wie das in der Literatur teilweise geschah – als pädagogische Theoretikerin zu bezeichnen. Dazu hatte sie gar keine Zeit. Sie hat vielmehr grundlegende Leitlinien vorgegeben und sich für zahlreiche Debatten und Ansätze von Pädagogik interessiert. Im Exil in der Schweiz besichtigte sie beispielsweise etliche Schulen, um diese mit den Schulen in Russland zu vergleichen. Sie beschäftigte sich auch mit anderen Schulprojekten, insbesondere der Reformpädagogik und arbeitet die Leitlinien einer polytechnischen Erziehung aus. Nicht zuletzt waren sie und Lenin eifrige Nutzerinnnen der Bibliotheken in der Schweiz, in Großbritanninen und überall anders, wo sie sich im Exil befanden. Sie beide lernten relativ gut funktionierende Bibliothekssysteme in demokratischen Staaten kennen, die sie für ihre regelmäßige Arbeit – und das war nun mal die Revolution und die Organisation des Proletariats – benutzten. (In dem Maße, wie die beiden die Bibliotheken inklusive der Fernleihe nutzen, würde man sie heute beide als äußerst Bibliotheks- oder auch Informationskompetent beschreiben. Was wieder die Frage aufwirft, ob man Kompetenz wirklich ohne Inhalt vermitteln kann und will.)

Parteilichkeit
Spätestens während dieser Zeit eignete sich Krupskaja aber auch eine Denkweise an, die der bolschewistischen Bewegungen an sich eigenen war und späterhin auch das gesamte Bildungswesen der Sowjetunion prägte: die Idee der Parteilichkeit.
Dadurch, dass die feministische Frauenforschung in den 1960er und 1970er Jahren den gleichen Begriff einführte, allerdings mit einer anderen Bedeutung, hat er eventuell heute an Schärfe verloren. Aber zu Zeiten Krupskajas war er eine Waffe im polemischen Kampf: eine Möglichkeit, Recht zu behalten. An sich ist die Idee sehr simpel: Da der Marxismus als Wissenschaft angesehen wurde und Krupskaja ebenso wie die restlichen (späteren) Bolschewiki, aber auch ein Großteil anderer fortschrittlicher Menschen, Wissenschaft immer als widerspruchsfrei begriff, konnte es immer auch nur einen richtigen Weg geben, der zur Befreiung der Menschheit notwendig war. Wer immer der Marxismus richtig anwendete, musste auch immer zum richtigen Ergebnis kommen. Dieses Ergebnis war keine Frage der Meinung, sondern immer nur der richtigen Anwendung des Marxismus im Bezug auf die jeweilige Situation. Krupskaja dachte Lenin (und auch sich) als beständig auf der richtigen Seite stehend.
Parteilichkeit hieß nun von diesem Denken ausgehend immer die eigene Gruppierung und Position durchzusetzen, auch taktische Bündnisse immer nur dann einzugehen, wenn man damit für die eigene Gruppe und Auslegung des Marxismus Macht gewinnen könnte.
Das ist selbstverständlich mehrfach falsch. Zum einen ist Wissenschaft nicht widerspruchsfrei, sondern immer ein Diskussions- und Forschungsprozess, der Widersprüche produziert. Zum anderen liefern die Schriften von Marx und Engels keine vollständige Analyse der Gesellschaft. Sicherlich machten sie große Fortschritte bei der Beschreibung der Gesellschaft und gelten nicht umsonst als Mitbegründer der Soziologie. Aber gibt auch bei ihnen keine widerspruchsfreie Analyse der Gesellschaft und erst Recht keine unwidersprechbare Anleitung zur Befreiung der Menschheit. [14] Das ist die inhaltliche Seite. Im Denken der Parteilichkeit kann es eigentlich nur zwei entschuldbare Fehler geben: entweder hat man eine Sache falsch verstanden und deshalb nicht richtig marxistisch interpretiert. (Deshalb legt die Propaganda in der Sowjetunion und der DDR auch immer wieder so viel Wert darauf, Entschlüsse und Dinge zu erklären. Sind sie genügend erklärt, müssten sie allen Menschen, die den Marxismus verstehen, auch einsichtig werden.) Oder aber man hat nicht alle notwendigen Informationen und Fakten zur Verfügung, um die richtige Entscheidung zu treffen. Wer ansonsten widerspricht tut dies entweder weil er oder sie a.) unreif oder b.) böswillig falsch ist.
Dieses Denken der Parteilichkeit ist aber auch aus anderen Gründen falsch: es verhindert ganz praktisch jeden demokratischen Diskurs. Nicht nur, dass es in diesem Denken eigentlich nur richtige oder falsche Meinungen geben kann. Es ist innerhalb dieses Denkens auch unvorstellbar, dass es aus unterschiedlichen Sichtwinkeln zu einem Thema unterschiedliche richtige Meinungen geben könnte. Einzig, wenn man davon ausgeht, dass eine Person oder Gruppe weiter fortgeschritten ist auf dem Weg der Erkenntnis und Befreiung als die andere, lassen sich solche Unterschiede in das Denken der Parteilichkeit einbauen. Aber ansonsten führt dieses Denken dazu, dass Politik grundsätzlich zum Kampf und zum Krieg erklärt wird: es geht nicht darum, gemeinsam mit anderen in einem demokratischen Diskurs temporäre Lösungen für Probleme und Themen zu finden, sondern einzig darum, die einmal als richtige erkannte Lösung durchzusetzen. Dabei wird auch leicht die Person oder Gruppe gegenüber zum persönlichen Feind erklärt, obwohl es eigentlich um inhaltliche Themen geht.
Nicht zuletzt ist dieses Denken in eine Auffassung von einer Gesetzmäßigkeit der Geschichte eingelassen. Für Krupskaja wie auch für die anderen späteren Bolschewiki (und zahlreiche andere sozialistische / sozialdemokratische / anarchistische / anarchosyndikalistische / kommunistische Gruppen) galt und gilt, dass es eine direkte Entwicklung des Klassenkampfes gäbe: von der Sklavenhaltergesellschaft über den Feudalismus in die bürgerliche Gesellschaft und von dort, über die Phase der Diktatur des Proletariats und dem Sozialismus, in den Kommunismus. Dass dieser Kommunismus kommen wird, ist für Krupskaja in dieser Phase ihres Lebens schon keine Frage mehr. [15] Ein Problem dabei ist, dass jede Entwicklung, auch die kleinteiligste, deshalb immer nur als fortschreitend zum Positiven verstanden werden kann.
Lenin übertrug die Idee der Parteilichkeit auf die Politik. Das tat er nicht allein, aber er war derjenige Vertreter, welcher diese Form der Politik nicht nur propagierte, sondern letztlich auch damit Erfolg hatte. Krupskaja war davon nicht unbeeinflusst, vielmehr war sie aktiv daran beteiligt dieses Denken mit umzusetzen. Insbesondere der zweite Parteitag der SDAPR, durchgeführt 1903 in London, auf welchem die Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki vorgenommen wurden, zeigten die Auswirkungen dieser Vorstellung. Für Lenin und seine Fraktion hatten die Teile der SDAPR, welche den Sozialismus im Rahmen einer repräsentativen Demokratie umsetzen wollten, den Marxismus nicht verstanden. Obgleich Lenin ansonsten die Parteieinigkeit als Ziel betonte, entschied seine Fraktion praktisch, die Ergebnisse und Beschlüsse des zweiten Parteitags zu ignorieren und die Menschewiki auszuschließen. Auch Krupskaja war an diesem Beschluss und vor allem der Umsetzung – die mit der Gründung einer neuen Zeitschrift einherging – aktiv beteiligt.
Selbstverständlich kann ein solches Denken sich sehr schnell auch als Waffe gegen einen erweisen. Lenin hat dies nicht mehr erlebt, aber Krupskaja musste miterleben, wie sich genau dieses Denken nicht nur gegen ehemalige Mitstreiter – am Bekanntesten wohl Leo Trotzki und Nikolai Bucharin – richtete, sondern auch gegen sie selber.
Was Krupskaja allerdings auch lernte, war, mit Widerspüchen zu dieser Idee der Parteilichkeit umzugehen. Eigentlich sollte es keine Fehler bei der Anwendung des Marxismus als Theorie geben und eigentlich sollte es einen kontinuierlichen Fortschritt geben. Lenins Politik ist allerdings dafür bekannt, dass genau das nicht passierte. Immer wieder änderte Lenin und seine Fraktion aus taktischen Gründen die eigene politische Meinung. Im Denken von Fortschritt und Parteilichkeit konnte man dann nicht anders, als dies entweder einfach als richtig zu akzeptieren – bzw. als nächste Stufe des Kampfes zu sehen – oder aber zu verzweifeln. Krupskaja akzeptierte, wie auch andere, ziemlich viel.
Sehr bekannt sind drei radikale Wechsel der Politik der Bolschewiki unter Lenin, die Krupskaja auch mittrug und publizistisch verteidigte. (Es gab noch zahlreiche andere.)

  1. 1.) Die Aprilthesen. Im April 1917 hielt Lenin ein Referat („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“), das als „Aprilthesen“ bekannt wurde. In diesem legte er quasi dar, wie die Revolution abzulaufen hätte und welche Parolen benutzt werden sollten. Dabei war Russland schon im Aufruhr, in zahlreichen Betrieben, Truppenteilen etc. hatten Räte faktisch die Macht übernommen. Bis dato war die Position der Bolschewiki ziemlich klar: Die Partei führt und sagt den Massen, was zu tun ist, die Massen folgen. Die Realität war aber einen andere: Die Massen folgten nicht den Vorgaben der Bolschewiki, vielmehr gab es sehr unterschiedliche Interessen, Bewegungen, andere Parteien und Gruppen und gleichzeitig die mehr oder minder autonom agierenden Räte. Jetzt trat Lenin auf einmal mit der Parole: „Alle macht der Sowjets“, d.h. den Räten auf. Statt einer zentralistischen Lenkung durch die Partei der Avantgarde sollte es jetzt heißen, dass die lokalen Räte die Revolution machen würden. Ein radikaler Politikwechsel, der erstaunlich schnell von den restlichen Bolschewiki geschluckt wurde (und später wieder umgedreht wurde, als die Sowjets der Partei untergeordnet wurden).
  2. 2.) Die Konstituante. Die Verfassungsgebende Versammlung in Russland (Konstituante), die im November 1917 gewählt wurde, wurde von den Bolschewiki mit erkämpft. Wie zahlreiche andere bürgerliche und linke Parteien, hatten auch die Bolschewiki auf dieser Versammlung bestanden. Am 5. Januar 1918 – die Bolschewiki hatten gerade die Macht übernommen – wurde die Konstituante aufgelöst und zum Bollwerk der Bourgeoisie und anti-revolutionärer Kräfte erklärt. Quasi von einem Tag auf den anderen. Noch als Monate später, am 30. August 1918, ein Attentat auf Lenin verübt wurde, behauptet die Politische Polizei (Tschekisten), dass die angebliche Attentäterin Fanny Kaplan, sich positiv auf die – einst von den Bolschewiki mit geforderte – Konstituante bezogen und damit bewiesen hätte, dass sie eine Konterrevolutionärin sei. [16]
  3. 3.) Die Neue Ökonomische Politik. 1921, der Bürgerkrieg war gerade vorbei, aber die Wirtschaft funktionierte nicht so, wie sie funktionieren sollte, verkündete Lenin den Ausstieg aus dem Kriegskommunismus mit seinen Zwangsabgaben und der gesteuerten Verteilung von Lebensmitteln und die Einführung der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik. Zu erwarten wäre die direkte Einführung der Planwirtschaft und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft gewesen, aber vor allem Lenin und Trotzki setzen eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaft durch. [17] Diese wurde als Übergangsphase bezeichnet, aber realistisch betrachtet war es ein Rückschritt, wenn man davon ausgeht, dass eine vollständige Planwirtschaft das Ziel war.

Krupskaja hat nicht nur gelernt, diese Widersprüche zu verarbeiten. Sie hat es immer auch als Aufgabe der Propaganda-Einheiten und des Bildungswesens – und hier neben den Schulen vor allem die Bibliotheken – gesehen, diese Beschlüsse den Massen zu erklären, also als richtig und notwendig darzustellen. Sie schrieb zu fast jede dieser Kehrtwenden Texte, die praktisch Anweisungen gaben, wie diese Propaganda auszusehen hätte.
Auch dies hat später gegen sie zurückgeschlagen. Als Stalin die Macht übernommen und sie sich unterworfen hatte, musste sie auch immer damit umgehen, Texte zu veröffentlichen, welche beispielsweise die Propagierung des „Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B)“ zur Aufgabe des Bildungswesens erklärte. [18] Der „Kurze Lehrgang“ ist einer der bekanntesten Texte dieser Zeit, welcher die Macht Stalins untermauerte. Er stellte die Geschichte der Partei, die dann ab 1939 KPdSU (B) hieß, und der Revolution so dar, als ob diese direkt auf Stalin als Führer der Revolution hinausgelaufen wäre. Gegenteilige Meinungen werden geleugnet, herabgewürdigt oder kommen einfach gar nicht vor. Letztlich diente dieser Text als Lehrtext und als amtliche Geschichtsschreibung, der zu folgen war. Selbstverständlich ist er voller Falschdarstellungen, Interpretationen und vor allem Auslassungen. Krupskaja wusste dies, sie war ja an der gesamten dargestellten Geschichte weit mehr direkt beteiligt als Stalin selber. Aber sie hatte offenbar gelernt, mit solchen Kursänderungen im Namen der Parteilichkeit zu leben.

Die Revolution 1917

„Mit beiden Händen das Gute aus dem Ausland übernehmen: Sowjetmacht + preußische Eisenbahnordnung + amerikanische Technik und Organisation der Trusts + amerikanische Volksbildung usw. ++ = ∑ x = Sozialismus“ [Lenin. Zitiert nach: Baumann (1974), S. 103]

„In einem Land, das den Sozialismus aufbaut, muß die polytechnische Bildung ein Bestandteil der Allgemeinbildung sein. Jeder Bürger des Sowjetlandes muß verstehen, was Planwirtschaft, was Planung ist. Die staatliche Planung der Volkswirtschaft, das ist es, was die sozialistische Wirtschaft von der kapitalistischen grundlegend unterscheidet.“ [Krupskaja (1959), S. 143: „Entwurf eines Memorandums an das ZK der KPdSU (B) über den polytechnischen Unterricht“]

Krupskaja war an der Revolution 1917 selbstverständlich beteiligt. Sie war damals in der Duma eines St. Petersburgers Stadtbezirk Abgeordnete, leitet dort die „Kommission für Kultur und Aufklärung“ (Bildungsausschuss wäre wohl das heutige Wort) und war in gewisser Weise Leiterin des dortigen bolschewistischen Zirkels. Sie hatte sich mit anderen darauf vorbereitet, in diesem Bezirk Verwundete des Aufstands zu pflegen, aber diese kamen – da der Aufstand in St. Petersburg erstaunlich unblutig ablief – gar nicht erst dort an. Zuvor hatte sie den Kontakt zwischen der Parteiführung und Lenin aufrechterhalten, der im Juni wieder einmal untertauchen musste.
Wichtiger für das Bildungs- und das Bibliothekswesen war, dass sie sofort nach der Machtübernahme ins Volkskommissariat für Bildungswesen (Narodny Kommissariat Prosweschtschenija) abgeordnet wurde und dort praktisch die Kontrolle über die gesamte außerschulische Bildung übernahm. Sie ist praktisch stellvertretende Bildungsministerin Sowjetrusslands. Nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch die Bibliotheken sind ihr, zumindest theoretisch, untergeordnet. Das bleibt sie bis zum Tod Lenins 1924 auch so. Krupskaja und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es nun, welche das Bildungswesen in Sowjetrussland und dann der Sowjetunion planen, strukturieren und anleiten.
Mehr oder weniger ist sie auch für die außerschulische Bildung von Kinder und Jugendlichen zuständig, wobei für sie insbesondere der Komsomol (der Pionierorganisation) und das Problem der durch den Bürgerkrieg 1971-1921 elternlos gewordenen Kinder, die teilweise Banden gebildet hatten und zumeist auf der Straße lebten, relevant war. Nicht zuletzt hatte sie auch Einfluss auf die Gestaltung des Schulwesens.
Das Krupskaja dieser Posten zugeteilt wurde hatte seine Gründe: Sie war eine der wenigen Bolschewiki, die sich tiefergehend mit Fragen der Pädagogik auseinandergesetzt hatten. Zudem war sie keine Bürokratin in einer Bildungsverwaltung, sondern tatsächlich immer wieder mit pädagogischen Debatten beschäftigt. Regelmäßig besprach sie pädagogische Literatur, initiierte Debatten und auch Projekte. [19] Nicht zuletzt wird ihr die Gründung oder Hilfe bei der Gründung mehrerer Zeitschriften nachgesagt, in denen sie zum Teil auch publizierte, unter anderem: [20]

  • Na putjach k nowoj schkole (Auf dem Weg zu einer neuen Schule), die Ulrich Baumann als Krupskajas „Hauszeitschrift“ bezeichnet [21]
  • Krasnyi bibliothekar (Roter Bibliothekar), quasi die Fachzeitschrift für Bibliothekarinnen und Bibliothekar
  • Isba citalnja (Lesehütte), eine Zeitschrift für ländliche Bibliotheken und Lesehütten
  • Čto citat‘? (Was soll man lesen?), offenbar eine Referatezeitschrift für Belletristik
  • V pomošč‘ selskomm bibliotekarja i čitatelja (Zur Unterstützung des Dorfbibliothekars und des Lesers auf dem Lande)
  • Škola veroslych (Schule der Erwachsenen)

Auch hier darf man wieder keine wissenschaftlichen Texte erwarten. Das wäre beim Arbeitspensum Krupskajas nicht zu schaffen gewesen. Es sind vor allem kurze, programmatische Texte und Besprechungen, welche von Krupskaja in dieser Zeit veröffentlicht werden. Viel wichtiger ist ihre Arbeit beim Auf- und Umbau des Bildungssektors (wobei eher von Aufbau gesprochen werden muss), bei der Steuerung dieses Aufbaus, beim Anstoßen von Entwicklungen und Diskussionen sowie bei der Initiierung und Durchführung der Kampagnen zur Alphabetisierung der Bevölkerung. Sicherlich darf man nicht, wie das in der Literatur teilweise getan wird, Krupskaja alleine die Erfolge und Misserfolge auf all diesen Gebieten zuschreiben. Auch hier haben immer genügend andere Menschen ihren Anteil gehabt.
Allerdings war der bolschewistische Staat ein zentralistischer und Krupskaja befand sich ganz oben, an der Spitze. Es ist ihr Verdienst, dass sie immer wieder die Bedeutung der Bildung in den obersten Gremien betonte und Beschlüsse anstieß. Dabei war es sicherlich nicht von Nachteil, dass Lenin sie dabei immer wieder unterstützte, indem er beispielsweise Beschlussvorlagen selber übernahm oder sich explizit für sie aussprach. Aber darauf lässt sich der Einfluss von Krupskaja nicht beschränken. Sie schaffte es, Bildungsthemen beständig neu anzusprechen und Diskussionen um die Gestaltung des Bildungswesens zu führen. Dabei war sie immer wieder von der Überzeugung getrieben, dass nur eine gebildete Bevölkerung sich auch zum Marxismus bekennen könnte. Gleichzeitig sah sie eine möglichst breite Bildung als Grundlage des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus an.
Man muss sich verdeutlichen, dass es die Überzeugung der Bolschewiki war – zumindest der sogenannten „alten“ Bolschewiki, quasi der Stammbesatzung der Revolution –, dass die Planwirtschaft alle gesellschaftlich notwendigen Aufgaben soweit planbar machen würde, dass sie von allen normal gebildeten Menschen übernommen werden könnten. Die Regierung beziehungsweise Steuerung der Gesellschaft sollte soweit planbar werden, dass es relativ egal wäre, wer diese Planung vornimmt. Im Kommunismus, so die Vorhersage von Marx und Engels, würde der Staat absterben oder auch aufgehoben werden, da er nicht mehr als Instrument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der anderen Klassen dienen müsse. Es wäre eine Aufgabe des Proletariats, dieses Absterben zu ermöglichen. Nun blieb es bei Marx und Engels einigermaßen unklar, wie genau sich das vorgestellt werden sollte – zumal die Anarchisten in der ersten Internationale um Bakunin und Proudhon einiges mehr zu diesem Thema zu sagen hatten –, aber es galt für Lenin, Krupskaja und die anderen Bolschewiki doch als ausgemacht, dass der Staat tendenziell aufgelöst und in etwas anderes überführt werden müsste. Alles andere wäre eine Übergangsphase. Für Lenin war es klar, dass Planung das Regieren ersetzen müsste. Sicherlich ist diese Vorstellung angesichts des dann übermächtigen Staats- und Parteiapparats in der Sowjetunion erstaunlich.[22] Folgt man jedoch einmal dieser Logik, der ja Krupskaja auch gefolgt ist, dann ist es folgerichtig, den Sozialismus als eine Gesellschaft mit einem möglichst hohen allgemeinen Bildungsniveau zu konzipieren. Nicht nur, dass die Menschen lesen lernen müssen – was nach der Revolution tatsächlich einen wichtigen Aufgabenbereich darstellte –, sie müssen auch in die Lage versetzt werden, selber zu planen, sich für neue gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten und auch selbstständig einzusehen, dass die jeweiligen Pläne der Partei für die Gesamtgesellschaft sinnvoll sind. Auch diese Vorstellung ist immer wieder angesichts der tatsächlichen Geschichte erstaunlich, aber sowohl Krupskaja als auch der Großteil der Bolschewiki setzte letztlich darauf, dass die Massen freiwillig dem bolschewistischen Kurs folgen würden, wenn er nur einmal richtig dargelegt würde. [23]

Pädagogische Grundsätze
In dieser Zeit werden auch die Grundzüge von Krupskajas pädagogischen Verständnis klar. Grundsätzlich galt bei ihr folgendes: [24]

  • Bildung (inklusive der Bibliotheken) hat dem Ziel zu dienen, den sozialistischen Menschen zu bilden. Das heißt zumindest bei Krupskaja nicht unbedingt, den Menschen ein bestimmtes Denken aufzuzwingen, sondern vielmehr sie zu der einzig richtigen Erkenntnis zu befähigen. Für Krupskaja gilt, dass jeder gebildete Mensch – in ihrer Phase der Gesellschaftsentwicklung, also für sie am Ende des bürgerlichen Zeitalters – sich zum Marxismus bekennen würde, so wie sich jeder gebildete Mensch beispielsweise auch gegen jeden religiösen Glauben entscheiden oder die Grundkenntnisse der Naturwissenschaft anerkennen würde. Selbstverständlich ist hier ein großer Widerspruch vorprogrammiert: gebildete Menschen können sich auch anders entscheiden. Für diesen Widerspruch hatte Krupskaja offenbar keine Überlegung parat.
  • Bildung hat aus diesem Grund auch immer parteilich zu sein. Da der Marxismus in der Auslegung der Bolschewiki die einzig richtige Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit darstellte, war für Krupskaja klar, dass auch das Bildungswesen dies grundsätzlich anerkennen und darauf eingehen müsste. Auch hier gibt es einen schmalen Pfad zwischen grundsätzlicher Parteilichkeit, wie es Krupskaja verstand, nämlich als Leitlinie und Parteilichkeit als einziger zu folgender Vorgabe, wie sie unter Stalin verstanden und umgesetzt wurde. Antidemokratisch sind beide Vorstellungen, aber es ist ein großer und relevanter Unterschied zwischen den Überzeugungen bei Krupskaja und dem Erzwingen von Zustimmung bei Stalin festzustellen.
  • Bildung muss grundsätzlich polytechnisch sein. Krupskaja ging davon aus, dass die Ausbildung möglichst spät spezialisiert werden dürfte, dass vielmehr alle Menschen dazu befähigt werden müssten, alle Arbeiten übernehmen zu können oder sich zumindest in sie einzuarbeiten. Eine sozialistische Gesellschaft müsse eine Gesellschaft sein, in der nicht nur die Menschen schnell zwischen Arbeitsbereichen wechseln können, sondern in der die Menschen immer auch Vorstellungen davon haben, wie die anderen arbeiten. Nur so würden sie auch Achtung vor der Arbeit der anderen entwickeln können. Krupskaja sah es, wie auch andere Marxistinnen und Marxisten, als eines der ideologischen Probleme der vorhergehenden Klassengesellschaften an, dass die unterschiedlichen Klassen möglichst voneinander getrennt wurden und deshalb kein wirkliches Wissen über das Leben der anderen Klassen hatten. So erklärte sich zum Beispiel für Krupskaja auch, warum fortschrittliche bürgerliche Pädagogen sich Gedanken über die Erziehung von Kindern und Jugendlichen machen konnten, die Krupskaja prinzipiell schätzte, aber die nicht auf die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen aus dem Proletariat und dem Bauernstand zutrafen. Das beispielsweise reformpädagogische Experimente immer wieder Lehranstalten konzipierten, die möglichst von der restlichen Gesellschaft abgegrenzt waren, galt Krupskaja als Problem, welches durch die Klassengesellschaft entstanden sei. Wirklich freie Bildung sei nur in einer wirklich freien Gesellschaft möglich, in der die Bildung im Rahmen der freien Gesellschaft stattfinden würde. Diese Bildung müsste die Kinder und Jugendlichen dazu ermächtigen, gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten zu übernehmen. [25] (Interessant ist, dass gerade bei den Ausführungen zur polytechnischen Schule bei Krupskaja immer wieder Formulierungen zu finden sind, die sich heute bei Debatten zum Lebenslangen Lernen zu wiederholen scheinen, wie im Anfangszitat dieses Textes ersichtlich ist.)
  • Bildung muss möglichst allgemein sein. Krupskaja ging, und das nicht zu unrecht, davon aus, dass das Bildungssystem bürgerlicher Staaten und erst Recht im Zarenreich, nicht für alle Menschen gleich war. Einerseits war sie davon begeistert, wie demokratisch der Schulbesuch in den USA organisiert war, insbesondere im Gegensatz zu ihrer eigenen Erfahrung im zaristischen Russland. Gleichzeitig kritisierte sie, dass die Bildungsergebnisse letztlich doch die gesellschaftliche Stellung der Eltern reproduzierten. Auch die demokratische Schule, so schloss sie, war eine, die vom Aufbau, der Inhalte sowie der Pädagogik der bürgerlichen Klasse zugute kommen würde. (Inklusive einer Elite der Arbeiterschaft, die verbürgerlicht und damit vom Klassenkampf abgehalten würde.) Für Krupskaja war es folgerichtig, dass ein Bildungswesen, welches zu einer klassenlosen Gesellschaft führen sollte, auch klassenlos zu sein habe. Dies bedeutet nicht nur einen allgemein gleichen Zugang (der auch bei Bibliotheken gelten sollte), sondern auch eine gemeinsame Bildung aller Kinder und Jugendlichen. [26] Allerdings, so schloss sie aus den Erfahrungen aus „bürgerlichen“ Staaten, müsste dies mehr bedeuten, als einfach nur einen gleichen Zugang zu schaffen. Auch die Bildungsinhalte, die Pädagogik und Didaktik habe auf eine klassenlose Gesellschaft abzuzielen.
  • Bildung muss atheistisch und wissenschaftlich sein. Die Bolschewiki waren – ebenso wie viele andere linke Bewegungen der damaligen Zeit – explizit atheistisch. Religionsfreiheit war als Übergangsziel akzeptabel – so wurde ja auch der Antisemitismus als Antijudaismus abgelehnt –, aber grundsätzlich galt jede Religion und jede religiöse Äußerung als falsch. Aberglaube habe in der sozialistischen Gesellschaft nichts zu suchen. Er ist unwissenschaftlich. Für Krupskaja war eine atheistische – und eben nicht nur säkulare – Erziehung eine Selbstverständlichkeit.
  • Bildung muss koedukativ sein. Krupskaja ist sehr eindeutig für eine grundsätzliche Gleichheit der Geschlechter und verteidigte diese Position auch mehrfach explizit. Hierbei stimmte sie mit dem größten Teil der zeitgenössischen linken und bürgerlichen Bewegungen im Bildungsbereich überein.

Lenins Witwe
1923 wurde Lenin nach einem (weiteren) Schlaganfall für rund ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und war auch nicht mehr in der Lage, zu sprechen. In dieser Zeit pflegte Krupskaja ihn und erhielt von ihm auch das sogenannte Testament (in fünf Exemplare, wovon eines ans ZK der KPdSU (B), eines ans Parteiarchiv und drei an sie persönlich gingen). Diese Monate entschieden über den weiteren Verlauf der Geschichte und letztlich muss man hier – auch wenn man ihr Alter und die fortgeschrittene Basedowsche Krankheit, an der sie litt, mit in Betracht zieht – von einem expliziten Versagen Krupskajas, aber auch der restlichen Bolschewiki sprechen. In diesem Testament wies Lenin sehr explizit darauf hin, dass der Genosse Stalin, welcher in diesen Monaten daran arbeitete, seine Macht zu sichern, nicht dafür geeignet sei, die Revolution zum Abschluss zu führen. Sicherlich: das hätte Lenin auch früher auffallen können. Letztlich hat er auch selber genügend Grundziele der Revolution verraten, bevor er starb. Es ist auch nicht klar, was Trotzki, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Macht in der Partei übernommen hätte, wäre Stalin zurückgedrängt worden, für eine Politik betrieben hätte. [27] (Ob er seine Theorie der permanenten Revolution hätte durchführen können, darf man schon aufgrund der unter Lenin gewachsenen Bürokratie bezweifeln.) Aber die Geschichte wäre anders abgelaufen, hätte Krupskaja es in Zusammenarbeit mit anderen geschafft, dieses Testament umzusetzen. Stalin setzte durch, dass dieses Testament nicht veröffentlicht wurde und begann mit den Kampagnen gegen die tatsächliche und vermeintliche Opposition in der KPdSU (B). Späterhin, als das Testament in den USA bekannt wurde, bestritt Krupskaja dann sogar öffentlich dessen Existenz.
Nachdem Lenin im Januar 1924 starb, trat Krupskaja offenbar noch einige Male oppositionell zu Stalin auf, stellt sich einige Monate auf die Seite Trotzkis. Auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (B) im Januar 1925, auf dem die „linke Opposition“ um Trotzki praktisch ausgeschaltet wurde, musste auch Krupskaja eine Niederlage einstecken. Sie wurde nicht gehört und bejubelt, wie bei den Parteitagen zuvor, sondern als Gegnerin der Revolution abgestempelt. Hatte die „Parteilichkeit“ bislang für sie immer positive Ergebnisse, schlug dieses Prinzip nun gegen sie um. Anders aber, als andere Mitglieder der Opposition, scheint sie gänzlich aufgegeben zu haben. Sie ordnete sich unter und schrieb in der Zukunft teilweise Lobeshymnen auf Stalin.
Auf dem Gebiet der Pädagogik musste sie mehrere Rückschläge hinnehmen. Das Bildungssystem wurde quasi zu einem bürgerlichen umgebaut, ohne die gewissen Freiheiten, die sie beibehalten wollte. Die polytechnische Schule wurde von der auf bestimmte Ausbildungen ausgerichteten Schule ersetzt, Kollektiverziehung und „Schülerselbstverwaltung“ wurden nicht mehr, wie bei Krupskaja, als Mittel zur angeleiteten Selbsterziehung der Kinder und Jugendlichen – was auch immer schon eine schwierige Position war – angesehen, sondern als Mittel der gegenseitigen Kontrolle und Bestrafung. Aus den Bibliotheken mit ideologischer Ausrichtung wurden explizit zensierte Einrichtungen. Das Bildungswesen wurde, wie auch die Gesamtgesellschaft, mittels direkten Befehlen und Zwangsmaßnahmen – die dann auch ausgeführt wurden, was immer wieder betont werden muss, um nicht den Eindruck zu erwecken, Stalin allein wäre Schuld am Stalinismus gewesen – gesteuert. Hatte Lenin beispielsweise mit der Neuen Ökonomischen Politik noch darauf gesetzt, dass die Bauern sich mit der Zeit für den Zusammenschluss in Kollektiven entscheiden würden, gab es nun eine Phase der expliziten Zwangskollektivierungen. Für die Zeit nach 1925 ist kaum Widerstand von Krupskaja gegen diese Entwicklungen nachzuweisen. Baumann (1974) trug Hinweise darauf zusammen, dass sie zumindest versucht hätte, Erreichtes zu retten und ihren Widerspruch indirekt in ihren Schriften auftauchen zu lassen. Aber dies sind kurze Hinweise. Im Gegensatz zu anderen Oppositionellen, die Spielräume ausnutzten und späterhin aus dem Ausland versuchten, Einfluss auf die Entwicklungen in der Sowjetunion zunehmen, blieb Krupskaja im Kreml wohnen und unterstützte das Regime.
Obgleich sie weiterhin zu pädagogischen Themen publizierte, änderte sich ihr Auftreten. Zum einen sprach sie nun eher von nicht-schulischen Themen, insbesondere dem Komsomol. Zum anderen aber begann eine Phase, in der sie beständig Lenin zitierte. Dies war vor seinem Tod sehr selten vorgekommen, nun publizierte sie ganze Sammlungen von Aussagen, die Lenin getroffen hatte. Sie redete immer öfter nicht als Nadeshda Krupskaja, Revolutionärin, sondern als Witwe Lenins, die vor allem Lenins Werk rezipierte. „Sie wird zum lebendigen Lenin-Zitatbuch.“ [28] Auch das Buch „Was Lenin über Bibliotheken schrieb und sagte“, welches uns noch interessieren wird, stammt auch dieser Zeit.
Im Rahmen dieser Veröffentlichungen werden auch die meisten ihrer Widerstandsakte verortet, wenn sie beispielsweise zu einer Zeit, als Trotzki als persona non grata gilt, an eine Notiz Lenins zu einem Treffen mit eben diesem Trotzki erinnert oder aber wenn sie bei ihren Berichten von der Revolution Stalin gar nicht erst erwähnt (der auch in der Oktoberrevolution keine aktive Rolle spielte). An der Einführung der Lenin-Ecken kann man aber auch sehen, dass sie mit der Zeit Positionen akzeptierte, die sie zuvor ablehnte. Sie, die überzeugte Atheistin, die wusste, dass Lenin kein Freund von zu großer persönlicher Verehrung war, musste nicht nur sehen, wie nach dessen Tod angefangen wurde, für öffentliche Einrichtungen und Wohnungen Heiligenaltare-ähnliche Ecken zu propagieren, in denen neben Leninbildern und Devotionalien wie roten Fahnen, zum Teil auch revolutionäre Schriften aufgestellt und verehrt wurden. Sie übernahm es sogar, Texte zu diesen Ecken zu schreiben, in welchem sie immerhin versuchte, die Verehrung umzulenken. [29] Letztlich aber akzeptierte sie Lenin-Ecken und ihre Rolle als die Verkünderin und Biographin Lenins. Als solche wird sie auch für Stalin bis zu ihrem Tode 1939 wichtig sein. [30] Obgleich sie immer wieder als potentielle Oppositionelle galt, war es letztlich Stalin selbst, der nach ihrem Tod die letzte Nachtwache bei ihrer Leiche übernahm und auch ihre Urne mit beisetzte. Aus der eigenständigen Revolutionärin, die das Bildungswesen der Sowjetunion aufgebaut und zuvor die Revolution mit vorbereitet hatte, war eine Person geworden, die Stalin zur Ikone erheben lassen konnte. Dazu trug auch bei, dass es genügend Schriften von Krupskaja über Lenin gab, um ihre pädagogische Arbeit größtenteils vergessen zu machen und sie vor allem als Witwe Lenins darzustellen.

Nachleben
Im Gegensatz zu anderen alten Bolschewiki – auch solche, die eines natürlichen Todes starben –, wurde Krupskaja nach ihrem Tod nicht „vergessen“ gemacht, wie das im Stalinismus oft vorkam. Vielmehr wurde sie als Witwe Lenins weiterhin zitiert und angeführt. Das eine der erfolgreichsten Schokoladenmarken in Russland heute Krupskaja heißt, hat damit zu tun, dass diese Fabrik – neben zahlreicher anderer Einrichtungen, Kollektive etc. – nach ihr benannt wurde.
Das heißt allerdings nicht, dass ihre Schriften und Gedanken allesamt weiter verfolgt wurden. Vielmehr wurden sehr explizite Auswahlen getroffen. Zu viele Schriften widersprachen einfach der Realität in Schulen, der Volksbildung und den Bibliotheken. Allerdings erging es fast allen anderen Persönlichkeiten, die in der frühen Sowjetunion auf dem pädagogischen Feld gearbeitet hatten, viel schlimmer (wie auch auf anderen Feldern), was dazu führte, dass nach Stalins Tod nur sehr wenige Persönlichkeiten überhaupt bekannt waren, an die beim Umbau der Bildungswesen wieder angeknüpft werden konnte. [31]
Gleichwohl lebten zahlreiche der Strukturen, die sie aufgebaut hatte, auch über die Zeit des Stalinismus hindurch weiter. Beispielsweise hatte sie für ein Wachstum des Bibliothekswesens gesorgt, welches nicht vollständig einging. Die von ihr begründete Zeitschrift krasnyi bibliothekar fungierte weiter als Diskussionsforum im Bibliothekswesen. Einige Grundzüge ihrer Bildungspolitik wurden weitergeführt. Das ist keine Kleinigkeit: Wichtige Leitlinien Krupskajas pflanzten sich auch nach ihrem Tod fort, beispielsweise die allgemeine Schulpflicht und das Ziel, die gesamte Bevölkerung bibliothekarisch zu erreichen.
Als mit der beginnenden Entstalinisierung nach Vorbildern für ein sowjetisches Bildungssystem gesucht wurde, begann man wieder weitere pädagogische Schriften Krupskajas zu veröffentlichen. [32] Ein Beispiel ist der Aufbau des polytechnischen Schulsystems in der DDR, bei dem explizit auf Krupskaja Bezug genommen wurde. [33] Gleichwohl passierte mit ihren Texten die erstaunliche Transformation, die sich auch in anderen Texten der damaligen Zeit in der Sowjetunion und der DDR fanden: auf einmal gab es einen Menschen namens Stalin praktisch nicht mehr. Es gab eine „Zeit des Personenkultes“, aber so genau sprach man nicht mehr darüber. Einige Namen, die während dieser „Zeit des Personenkultes“ verschwunden waren, tauchten wieder auf. Andere – namentlich Trotzki – blieben weiter „Feinde des Sozialismus“. An den beiden Textsammlungen pädagogischer Texte, die von Krupskaja in der DDR erschienen, lässt sich dies nachzeichnen. In „Ausgewählte pädagogische Schriften“ von 1955, die in einem Band erschienen, kommen fünf Texte vor, die sich explizit auf Stalin beziehen, neben weiteren Erwähnungen in den anderen Texten. [34] In der vierbändigen Ausgabe, die 1971 und 1972 erschien, findet sich der Name Stalin fast gar nicht und nie mit einem wirklich positiven Bezug. [35] Selbstverständlich ist das verlogen (bzw., um es netter auszudrücken, sehr gezielt ausgewählt und zum Teil umgeschrieben). Man muss allerdings bedenken, dass mit genau diesen unvollständigen Werken – neben den 12-bändigen, ebenfalls ausgewählten Schriften, die nur in Russisch veröffentlicht wurden – dann auch in der DDR-Pädagogik und dem Bibliothekswesen in der DDR gearbeitet wurde.
Man muss sich klar sein, dass die Leitlinien Krupskajas auf zwei Wegen Einfluss in der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatten. Zum einen durch das Vorbild des sowjetischen Bildungswesens und Bibliothekssystems. Zum anderen, aber später, durch die Veröffentlichung ihrer Schriften selber, die gleichwohl niemals vollständig geschah.
Daneben wurde aber, wie in der Sowjetunion, eine große Anzahl von Einrichtungen, auch pädagogischen, nach Krupskaja benannt. Bei der großen Anzahl der an diesen Einrichtungen Tätigen kann man davon ausgehen, dass sich diese nicht weiter mit Krupskaja auseinandersetzten oder aber mit dem Fakt, dass sie eine wichtige Revolutionärin war, begnügten. Eine Anzahl der Einrichtungen allerdings setzte sich tiefergehend auseinander. Insbesondere die Pädagogische Hochschule in Halle, die sich 1969 nach Krupskaja benannte – und dann auch ein Krupskaja-Heft herausgab – ist als eine solche Einrichtung zu nennen. An dieser Hochschule wurden sowohl Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet als auch Forschungen zu Krupskaja durchgeführt. [36]
Gleichzeitig wurde allerdings eine teilweise groteske Überhöhung Krupskajas vorgenommen. Hält sich beispielsweise Irmgard Dreßler noch sehr an die Fakten, als sie 1969 Krupskaja in einem Artikel in Der Bibliothekar bespricht, [37] zeigt ein erst 1986 in der DDR veröffentlichtes Werk (das zuvor in Russisch als „wissenschaftliche Biographie“ angepriesenen wurde) einen unglaublichen Rückfall nicht nur in eine kultische Verehrung von Krupskaja (und Lenin), sondern auch in der stellenweisen Reduzierung von Krupskaja auf die Rolle als Frau und Witwe Lenins:

„Der Name Nadeshda Konstantinowa Krupskaja ist für immer in die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, ja der ganzen internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung eingeschrieben. Nicht allein bei den Völkern der Sowjetunion, sondern in allen Ländern der Erde hat er einen guten Klang. […] Schon in jungen Jahren reihte sich Nadeshda Krupskaja unter die Kämpfer gegen Zarismus und Kapitalismus ein; sie verbreitete die Ideen des Marxismus bei den Arbeitern, setzte all ihre Kräfte und Kenntnisse für die Befreiung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen von Unterdrückung und Ausbeutung ein. […] Für Wladimir Iljitsch Lenin war Nadeshda Krupskaja als seine Ehefrau zugleich auch der engste Freund und Kampfgefährte. Seite an Seite mit ihm ging sie seinen schwierigen und ruhmvollen Weg. Tapfer ertrug sie alle Verfolgungen durch das Zarenregime, nahm sie Gefängnishaft, Verbannung und lange Jahre unfreiwilliger Emigration auf sich. Clara Zetkin sagte von ihr: ‚Die innigste Gemeinschaft des Lebensweges und Lebenswerkes vereinigte sie mit Lenin … Sie war >Lenins rechte Hand< , sein oberster und bester Sekretär, seine überzeugteste Ideengenossin.' […] Besonders bedeutsam ist, was Nadeshda Krupskaja für den Sieg der Kulturrevolution im Sowjetland getan hat, das heißt für das Volksbildungswesen, die politische Bildungsarbeit und die kommunistische Erziehung. Sie war eine hervorragende Theoretikerin der marxistischen Pädagogik. Daher erwarb sie sich große Verdienste um die Entwicklung der pädagogischen Wissenschaft wie auch um den Aufbau des Schulwesens und des Systems der Erwachsenenbildung in der Sowjetunion. Nadeshda Krupskaja hat ihr ganzes Leben der Partei Lenins und dem Wohl der Werktätigen gewidmet. Wer für den Sozialismus kämpft, wer sich den Sieg des Kommunismus zum Ziel setzt, dem wird sie stets ein leuchtendes Vorbild sein.“ [38]

Zwischen diesen Extremen bewegte sich die Rezeption Krupskajas in der DDR.

Krupskaja (und Lenin) über Bibliothen
Für das Bibliothekswesen bedeutsam waren zwei Veröffentlichungen. Zum einen erschien 1956 eine der ersten Sammlungen, die Krupskaja von Lenins Zitaten publiziert hatte, auch in deutsch: „Was Lenin über Bibliotheken schrieb und sagte“ ist tatsächlich erst einmal eine Sammlung von kurzen Texten Lenins, allerdings ergänzt durch Vorworte Krupskajas und ihrem Text „Ein wichtiger Sektor des sozialistischen Aufbaus“ [1933], in welchem sie die Grundlagen ihrer Auffassungen vom Bibliothekswesens darlegte. [39]
Das erscheint erst einmal ein absurdes Unterfangen: Eine Zitatensammlung. [40] Allerdings hatte Lenin tatsächlich einige interessante Aussagen zur Bedeutung des Bibliothekswesens gemacht, die auch inhaltlich weit über die, welche heute gerne von Goethe etc. in einigen bibliothekarischen Publikationen immer noch angebracht werden, hinausgingen. Er sah den Vorteil von ausgebildeten Bibliothekssystemen. Bemerkenswert ist wohl immer noch der Text „Über die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen“ [1921], [41] in dem Lenin klarstellt, dass aufgrund der Armut Sowjetrusslands die Verteilung von Zeitungen auf die Bibliotheken Vorrang gegenüber jeder anderen Form von Bezug (Abonnement, Verkauf) haben müsse, weil so mehr Menschen mit den Zeitungen erreicht würden. Immer wieder gerne angeführt wird auch der Artikel „Was kann man für die Volksbildung tun“ [1913], [42] in welchem Lenin sich vor der Revolution äußerst positiv auf das Bibliothekssystem der USA und vor allem New Yorks bezieht und es gegenüber dem zaritistischen Bibliothekswesen als beispielhaft darstellt:

In den westlichen Staaten sind nicht wenig verderbliche Vorurteile verbreitet, von denen das heilige Mütterchen Rußland frei ist. So ist man zum Beispiel der Meinung, daß die riesigen öffentlichen Bibliotheken, mit ihren Hundertausenden und Millionen Bänden, durchaus nicht nur einem Häufchen sich dieser Bibliotheken bedienender Gelehrter und Pseudogelehrter erreichbar sein sollen. Dort steckt man sich das sonderbare, unverständliche, sinnlose Ziel, diese riesigen unermeßlichen Bibliotheken nicht nur der Zunft der Gelehrten, Professoren und ähnlichen Spezialisten zugänglich zu machen, sondern den Massen, der Menge, der Straße (hervorgehoben von mir. – N.K.).
Welche Profanierung des Bibliothekwesens! Welches Fehlen jener „Ordnung“, auf die wir mit Recht stolz sein können! Anstatt der von einem Dutzend Beamtenkommissionen erörterten und ausgearbeiteten Regeln mit ihren Hunderten ausgetüftelter Formalitäten und Einschränkungen für die Benutzung der Bücher – die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß sogar K i n d e r die reichen Büchersammlungen benutzen können; sich darum zu sorgen, daß die Leser bei sich zu Hause Bücher aus öffentlichen Bibliotheken lesen können; den Stolz und den Ruhm einer öffentlichen Bibliothek nicht darin zu sehen, wieviel Seltenheiten, wieviel an irgendwelchen Ausgaben des 16. Jahrhunderts oder Handschriften des 10. Jahrhunderts sie in ihrem Besitze hat, sondern darin, w i e w e i t die Bücher i n s V o l k dringen, wieviel neue Leser herangezogen werden, wie schnell eine beliebige Forderung nach einem Buche befriedigt wird, wieviele Bücher nach Hause ausgeliehen, wieviele Kinder ans Lesen und an die Benutzung der Bibliothek gewöhnt werden… (hervorgehoben von mir, N.K.) Sonderbare Vorurteile sind in den westlichen Staaten verbreitet, und man kann nicht anders als sich freuen, daß unsere fürsorgliche Obrigkeit uns liebevoll vor dem Einfluss dieser Vorurteile bewahrt, daß sie unsere reichen öffentlichen Bibliotheken vor der Straße, vor dem Pöbel hütet!“ [43]

Interessanter als das Zitat selber ist die Einordnung des Textes, die Krupskaja in einer Fußnote vornimmt:

„[…] zeigte Wladimir Iljitsch, welche enge Verbindung zwischen der Gesellschaftsordnung und der Kultur besteht, und in einer Reihe von Artikeln stellte er die Kultur Amerikas, das nach dem Bürgerkrieg während des Kampfes gegen die Sklaverei, gewaltige Fortschritte an der kulturellen Front machte, der Kultur des zaristischen Rußland gegenüber. Er hat diese Gegenüberstellung auch auf dem Gebiet des Bibliothekswesens durchgeführt und dabei gezeigt, was man für die Volksbildung tun kann, was man tun muß und was unter dem Zarismus nicht getan werden kann.“ [44]

Die Geschichte ist bei Krupskaja eine beständige Bewegung vom Schlechteren zum Besseren und geht, wie schon gesagt, über die Feudalgesellschaft (Zarismus) und die bürgerliche Klassengesellschaft („Amerika“) zur Diktatur des Proletariats und dann zum Kommunismus. Das bezieht sich auf alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche und alle diese Bereiche beziehen sich auf diese Entwicklung. So lässt sich für Krupskaja auch dieser Artikel und der positive Bezug Lenins auf die USA einordnen. Dies ist auch kein Trick, um den Text an der Zensur, die unter Stalin auch Krupskaja und Texte von Lenin traf, vorbei zu schmuggeln. Es ist eine der wichtigsten Überzeugungen Krupskajas im Bezug auf das Bibliothekswesen, dass dieses direkt mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sei. Deshalb muss das sozialistische Bibliothekssystem auch besser sein als das bürgerliche; so wie das bürgerliche Bibliothekssystem besser ist als das feudale und so, wie die proletarische Gesellschaft besser ist als die bürgerliche. Dies funktioniert für Krupskaja, indem man die Vorteile der „bürgerlichen“ Bibliothekssysteme mit den spezifisch sozialistischen Werkzeugen und Zielen verbindet. [45]

Leitlinien für das Bibliothekswesen

„Das Bibliothekswesen im Lande der Sowjets muß so aufgebaut werden, daß ein dichtes Netz von Bibliotheken verschiedenen Typs die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme zur richtigen Zeit mit dem notwendigen Buch versorgt, das immer mehr anwachsende Verlangen der Massen nach Wissen befriedigt, ihren Horizont erweitert und ihren Bedürfnissen entspricht – das ist das Vermächtnis Lenins.“ [Krupkaja (1956), S. 61]

Nach einem Artikel in Der Bibliothekar 1969, der Krupskaja sehr klar als Vorreiterin des Bibliothekswesens in der Sowjetunion und über Umwege auch in der DDR in Erinnerung brachte, [46] arbeitete Irmgard Dreßler in einer 1975 veröffentlichten Broschüre Krupskajas Aussagen zur Ausbildung des bibliothekarischen Personals auf. [47] Beide Texte müssen wohl gemeinsam betrachtet werden, da die Broschüre den Faden aus dem Artikel, auf den sie auch berechtigt verweist, wieder aufgreift.
Dreßler stellt die wichtigsten Leitlinien Krupskajas im Bezug auf das Bibiothekswesen dar, die allerdings kritisch gelesen werden müssen, was mit Hilfe der Arbeit von Boris Raymond zu „Krupskaia and Soviet Russian Librarianship“ auch gut zu realisieren ist. [48]

Das Bibliothekswesen muss zentral organisiert sein und theoretisch müssen alle Bibliotheken für alle offen stehen.
Krupskaja war selbstverständlich davon überzeugt, dass das Bibliothekswesen genauso geplant und gesteuert werden müsse, wie alle anderen Institutionen der Gesellschaft, um sinnvoll und effektiv zu sein. Sie war eine Vertreterin der Planwirtschaft, alles andere wäre inkonsequent gewesen. Diese angestrebte Zentralisierung und Planung hatte allerdings interessante Effekte: Bibliotheken erhielten einen breiten Rahmen, an den sie sich in ihrer Arbeit zu halten hatten, auf den sie sich aber auch beziehen konnten. Sie erhielten klarer definierte Aufgabenbereiche und konnten sich auch auf die Aufgabe beziehen, die Versorgung der Bevölkerung mit bibliothekarischen Dienstleistungen sehr engmaschig gewährleisten zu müssen. Die bibliothekarischen Dienste konnten untereinander und mit anderen Institutionen anders verzahnt werden. Dazu kamen den Bibliotheken auch solche Dokumente wie das Dekret „Über die Zentralisierung des Bibliothekswesens der RSFSR“, welches 1920 vom Rat der Volkskommissare (d.h. der Regierung) zugute, welches Krupskaja offenbar angestoßen hatte.
Gleichzeitig wurde die Bibliothekswissenschaft schneller in die Verantwortung genommen, zur gesellschaftlichen Nützlichkeit von Bibliotheken zu forschen, beispielsweise dazu, wie Bibliotheksnetze zu organisieren seien oder wie die Leseinteressen von Leserinnen und Lesern gesteuert werden könnten. Gleichzeitig wollte Krupskaja die Trennung von Öffentlichen Bibliotheken und Wissenschaftlichen Bibliotheken in gewisser Weise aufheben. Für sie galt, dass Wissenschaftliche Bibliotheken ebenso zugänglich zu sein hätte, wie Öffentliche Bibliotheken (bzw. wie sie in der DDR-Literatur heißen: Massenbibliotheken). Weiterhin wollte sie Einschränkungen der Zugänglichkeit zu Öffentlichen Bibliotheken aufheben. Hier zeigt sich auch ihre Erfahrung des Bibliothekssystems vor der Revolution in Russland und den Bibliotheken in „bürgerlichen“ Staaten. In zaristischen Russland gab es zahlreiche Bibliotheken, die nur für Mitglieder von Vereinen und Institutionen zugänglich waren (wobei diese Mitgliedschaft oft schwierig zu erlangen und zudem teuer war). Das Öffentliche Bibliotheken in London, der Schweiz und anderswo praktisch frei zugänglich waren, galt Krupskaja als nachahmenswertes Vorbild. Allerdings gelingt ihr beides nie vollständig. Insbesondere die Gewerkschaftsbibliotheken verweigern sich diesem Ansinnen direkt und verlangen, nur für die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft zugänglich sein zu dürfen. [49]

Bibliotheken sind Einrichtungen, um das Buch unter den Massen zu verbreiten.
Für Krupskaja stand die Effektivität der Bibliotheken bei der Verbreitung von Büchern, Zeitschriften und dem Erreichen von Leserinnen und Lesern im Vordergrund. Dies waren die Werte, an denen die Leistung der Bibliotheken gemessen wurden. Insbesondere in den Jahren der großen Alphabetisierungskampagnen in der frühen Sowjetunion galten die Bibliotheken und Lesehütten – und nicht der Buchhandel – als die Einrichtungen, welche die weitflächige Verteilung von Büchern in die Bevölkerung am effektivsten organisieren könnten.

Die Bibliotheken sind explizite Bildungseinrichtungen im Gesamtsystem der Erwachsenenbildung und außerschulischen Erziehung.
Bibliotheken haben bei Krupskaja einen expliziten Bildungsauftrag. [50] Andere Funktionen von Bibliotheken werden von ihr kaum erwähnt. Dabei wird bei Krupskaja nicht einfach Bildung vermittelt, sondern der Bildungsauftrag auf zwei Ziele – deren Verhältnis zueinander sich mit der Zeit wandelt – ausgerichtet: erstens Menschen zu Sozialistinnen und Sozialisten erziehen und zweitens den Auf- und Umbau der Wirtschaft und Landwirtschaft in der Sowjetunion unterstützen. Man darf sich das nicht als nebenher laufende Aufgabenbereiche vorstellen. Vielmehr wurde ganz ungeniert davon geredet, die Leseinteressen der Nutzenden durch das bibliothekarische Personal zu lenken. Es wurden beispielsweise Karteien angelegt und die Methodik dafür diskutiert, in der die entliehenen Bücher der einzelnen Nutzenden verzeichnet wurden, um deren Lese- und Lernweg nachzuvollziehen und anzuleiten. [51] Bibliotheken hatten auch die Aufgabe, Veranstaltungen zu organisieren, auf denen beispielsweise die Beschlüsse der Bolschewistischen Partei diskutiert und erklärt werden sollten (wobei klar ist, dass diskutieren hieß, dass am Ende alle – quasi aus eigener Einsicht – den Beschlüssen zustimmen sollten). Gerade im ländlichen Raum wurden in der frühen Sowjetunion bzw. Sowjetrussland tatsächlich ein regelmäßiges Vorlesen aus Zeitungen organisiert, um die politische Bildung zu steuern. Gleichzeitig standen die Bibliotheken nicht alleine, sondern bildeten einen expliziten Bestandteil eines geplanten Bildungssystems. Das ist auch ein Grund, warum die Zusammenarbeit mit anderen Bildungseinrichtungen einfacher und methodischer möglich war, als diese heute zu sein scheint. Erkauft wurde dies selbstverständlich mit einer relativen Unflexibilität aller beteiligten Einrichtungen.

Dorfbibliotheken und Lesehütten auf dem Dorf sind die wichtigsten Organisationen bei der Verbreitung des Sozialismus auf dem Lande.
Krupskaja richtete das Augenmerk immer wieder explizit auf die Situation der Bibliotheken im ländlichen Raum. Dieses Thema war für sie elementar. Grundsätzlich wollte sie ein Bibliotheksnetz, welches alle Menschen erreichen sollte, nicht nur die Stadtbevölkerung. Da die Befreiung der Menschen für Krupskaja nur geschehen konnte, wenn sich die Menschen zu Sozialistinnen und Sozialisten bildeten, mussten ganz folgerichtig auch alle Menschen erreicht werden. Angesichts dessen, dass es bis zur Revolution fast keine Bibliotheken im ländlichen Raum in Russland gegeben hatte, war dies eine grundlegende Entscheidung. Zu den ersten Aufgaben dieser neuen Bibliotheken gehörte die Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung. [52] Dazu zählte auch die Organisierung von Lesehütten, Einrichtungen mit einem sehr kleinen Buchbestand, die vor allem politische Aufklärungsarbeit (also Propaganda) auf dem Land betreiben sollten. Ebenso gab es Versuche, die Krupskaja mit iniitierte – und die interessanterweise auch in der frühen DDR wiederholt wurden – bei den Maschinen-Traktoren-Stationen (Einrichtungen, aus denen landwirtschaftliche Gerätschaften ausgeliehen werden konnten), Bibliotheken einzurichten. Diese Stationen stellten oft die ersten staatlichen Einrichtungen dar, die in den Dörfern eingerichtet wurden. Sie sollten der Bevölkerung auf dem Land zugute kommen und die Landwirtschaft produktiver machen. Mit den Bibliotheken, die diesen Einrichtungen zugeordnet waren, sollte die ländliche Bevölkerung erreicht werden, so es keine Dorfbibliothek gab.

Jedes Buch, jede Publikation ist politisch und muss deshalb auch politisch bewertet werden.
Insbesondere Boris Raymond betont, dass es im Denken Krupskajas – was auch folgerichtig aus der Theorie von Basis und Überbau abgeleitet ist – nur Publikationen gibt, die aus einem spezifischen Klassenstandpunkt geschrieben sind. So etwas wie rein objektive Werke gibt es in diesem Denken nicht. Vielmehr ist die Vorstellung, dass es eine vom Klassenstandpunkt und der jeweiligen Gesellschaftsform losgelöste Literatur und Wissenschaft geben könne für Krupskaja und andere Marxistinnen und Marxisten im besten Falle eine Selbstverblendung der Autorinnen und Autoren, im schlimmsten Falle eine bewusste Lüge. Texte, die angeblich rein objektiv wären, gelten Krupskaja (zumeist) als solche, die das Vorhandensein von Klassen und Klassenkampf als weltgeschichtlicher Bewegung leugnen würden. Das mag eine große Vereinfachung darstellen – und insbesondere die Avantgarde in der Literatur in der Sowjetunion und der DDR hat dieser Position ja auch implizit und explizit späterhin widersprochen –, aber es ist eine relevante Grundlage des Denkens Krupskajas.
Dabei darf man diese Position auch nicht vereinfachen: Die Erfahrung Krupskajas aus den Bibliotheken im Zarenreich waren genau die, dass die meisten Bibliotheken von der Kirche und staatlichen Organen unterhalten wurden und dann explizit einen Bestand enthielten, der von kirchlicher und zaristischer Literatur dominiert war. Oder aber es gab Bibliotheken, die von demokratisch gesinnten „Bürgerlichen“ eingerichtet wurden, dann aber neben freiheitlicher Literatur dennoch einen Bestand enthielten, der – so Krupskajas Interpretation – einen spezifisch bürgerlichen Fokus hatte. Die Idee, dass eine Bibliothek, deren Bestand und die einzelnen Werke als Teil des Ausdrucks spezifischer politischer Ansichten zu werten wäre, war also nicht einfach von der Hand zu weisen.
Gleichwohl ist auffällig, dass Krupskaja diese Meinung auch beibehält, als sie (und Lenin) in Bibliotheken in der Schweiz und anderen demokratischen Ländern arbeiten. So sehr sie diese für ihre Effizienz und Ausrichtung auf die Interessen der Leserinnen und Leser lobten, die Bibliotheken galten ihnen dennoch als Einrichtungen, welche in letzter Konsequenz auf die Reproduktion der bürgerlichen Klassengesellschaft abzielen würden. Dies hatte Konsequenzen für die Bibliotheken in der Sowjetunion. Erstens wurden Bibliotheken dazu angehalten, Bücher explizit zu bewerten und zwar nicht nach literarischer Qualität, sondern hinsichtlich ihres „Klassencharakters“. Zweitens sollten sie in Bestand und Arbeit darauf achten, dass sie dazu beitrugen, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen und sozialistische Menschen zu erziehen.
Da Krupskaja bei aller „Volksnähe“ doch davon ausging, dass nicht alle Menschen das eigentlich notwendige Klassenbewusstsein schon erreicht hätten, initiierte sie um 1923 eine Differenzierung der Bibliotheken in

  • a) solche, die nur zuvor geprüfte Medien zur Verfügung stellten und somit auch für die ideologisch (noch) nicht gefestigten Massen zugänglich waren,
  • b) solche, bei denen der Zugang zu den Einrichtungen stärker kontrolliert wurde, dafür aber die Bestände nicht ganz so stark und
  • c) Forschungsbibliotheken, zu denen der Zugang vollständig kontrolliert wurde und quasi nur ideologisch gefestigten Personen zugänglich war (meist durch
    Parteizugehörigkeit ausgedrückt), dafür aber die Bestände praktisch universal waren. [53]

Während die Zugänglichkeit zu den Bibliotheken aufgrund des Standes bzw. der Klasse abgeschafft wurde, wurde also eine neue Differenzierung eingeführt, die sich an der „ideologischen Festigkeit“ einer Person, also praktisch deren Grad der Unterwerfung unter den Parteiwillen der KPdSU (B), orientierte. In gewisser Weise war es die Überzeugung Krupskajas, dass schlussendlich einmal alle Menschen ideologisch gefestigt sein würden, um alle Bücher selbstständig bewerten zu können. Insoweit mag sie solche Regelungen als Übergangsphase betrachtet haben. Es ist aber offensichtlich, dass spätestens bei einer solchen Einteilung eine anti-demokratische Form der Bibliotheksarbeit etabliert wurde, genauer: eine explizite Zensur eingeführt wurde.
Wieder kann man mehrere Gründe dafür finden, warum Krupskaja dies als sinnvoll, gerechtfertigt und vor allem gegenüber den bürgerlichen Bibliothekssystemen fortschrittlicher ansah. Im Endeffekt ersetzte aber eine Form der (praktischen) Zensur von Bibliotheken die vorhergehende Form der Zensur, wie sie im Zarenreich umgesetzt wurden.
Unter Krupskaja etablierte sich in der Bibliotheksverwaltung auch die Praxis, Titellisten für Bibliotheken herauszugeben. Diese wurden quasi als Standardbestand für bestimmte Bereiche verstanden, welche in allen Bibliotheken vorhanden sein sollten. Formal waren es Vorschlagslisten für den Bestand, die von der Verwaltung herausgegeben wurden, praktisch wurde erwartet, dass beispielsweise alle Schulbibliotheken die Publikationen anschafften, die in den Titellisten für Schulbibliotheken standen. Selbstverständlich wurde so direkt ein staatlicher Einfluss auf die Ausrichtung des Bestandes der Bibliotheken genommen, da quasi mit der Auswahl der Titel auch eine Richtung für den weiteren Bestandsaufbau vorgegeben war. [54] Die Anzahl der Titellisten scheint mit der Zeit gewachsen zu sein.

Der Bibliothekar und die Bibliothekarin sind verantwortlich für die bibliothekarische Arbeit und die Umsetzung des Bildungsauftrags, deshalb muss auch auf die bibliothekarische Ausbildung Wert gelegt werden.
Es gab für Krupskajas Pläne, ein weitflächiges Bibliothekssystem aufzubauen ihre gesamte Lebenszeit über das Problem, dass nicht annähernd genügend ausgebildete Bibliothekarinnen und Bibliothekare vorhanden waren, um diese Bibliotheken überhaupt zu bestücken. Die wenigen, die es gab, waren zudem kaum dazu zu bewegen in den von Krupskaja als besonders wichtig angesehenen Bibliotheken im ländlichen Raum zu arbeiten. Insoweit mahnte Krupskaja sehr folgerichtig den Aufbau von Ausbildungseinrichtungen (ob nun Kursen an Universitäten oder andere Lösungen) an. Gleichzeitig galt ihr das Bibliothekspersonal als der Schlüssel zur erfolgreichen bibliothekarischen Arbeit. Dreßler fasst die Anforderungen Krupskajas an das bibliothekarische Personal sechs Punkten zusammen: [55]

  • Der Bibliothekar / die Bibliothekarin muss praktisch Teil der Umgebung werden (beispielsweise auf dem Dorf und der Kolchose / Sowchose), um die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser zu erkennen und an diesen anzuschließen.
  • „Der Bibliothekar muß sich aktiv und in enger Verbindung mit dem Volke für den Aufbau des Sozialismus einsetzen.“ [56] Es ging also immer darum, dass das bibliothekarische Personal sich aktiv für die Gestaltung der Gesellschaft hin zu einer sozialistischen einsetzen musste. Nicht Berufsethos, Humanität oder andere Ziele sollten – obgleich sie nicht abgelehnt wurden – das Hauptziel bibliothekarischer Arbeit darstellen, sondern der Umbau der Gesellschaft.
  • „Der Bibliothekar muß vielseitig gebildet sein.“ [57]
  • „Der Bibliothekar muß über pädagogische Meisterschaft verfügen.“ [58] Da Krupskaja die Bibliothek als Einrichtung mit einem klaren Bildungsauftrag verstand, setzte sie folgerichtig voraus, dass bei der bibliothekarischen Arbeit pädagogische und didaktische Fähigkeiten benötigt würden. Diese müssten in der Ausbildung vermittelt werden.
  • „Der Bibliothekar muß über eine umfassende bibliothekarische Fachbildung verfügen, zu der auch die technische Seite der Bibliotheksarbeit gehört.“ [59]
  • „Der Bibliothekar muß seinen Beruf lieben, er muß ein Enthusiast des Bibliothekswesens sein.“ [60]

Krupskaja wandte sich mehrfach dagegen, die Bibliothek als einen Ort anzusehen, der quasi von allen Menschen geleitet werden könnte. Zwar setzte sie lange darauf, dass sich die Massen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, auch selbstständig Bildungswege organisieren würden, [61] aber dennoch betrachtet sie die Bibliothek in längerfristiger Hinsicht als zu elementar für die Selbstbildung der Massen, als das sie einfach jemand überlassen werden könnte, der oder die anderweitig vielleicht nicht arbeiten könnte. Sie beklagte mehrfach, dass die Arbeit in Bibliotheken unterbezahlt wäre und insbesondere die Menschen mit einer Ausbildung, wie sie diese skizzierte, deshalb nicht für die Arbeit in Bibliotheken gewonnen werden könnten.

Alle Kinder müssen von der Bibliothek erreicht werden.
Krupskaja legte Wert darauf, dass Bibliotheken anstreben müssten, ohne Ausnahme alle Kinder zu erreichen. Dazu initiierte sie mehrere Projekte, publizierte zu dieser Frage und legte damit die Grundlage für die bibliothekarische Arbeit mit Kindern, die in den Bibliotheken in der Sowjetunion und später der DDR sehr intensiv betrieben wurde. Die Erfolge auf diesem Gebiet müssen auch heute noch, wieder ungeachtet alle politischen Vorbehalte, Respekt verdienen. In einem Land, in welchem es bis zur Revolution fast überhaupt keine Öffentlichen Bibliotheken gab, wurde innerhalb weniger Jahre nicht nur Bibliotheken, sondern ganz die explizite Sparte der Kinderbibliotheken beziehungsweise Kinder- und Jugendbibliotheken begründet, die teilweise als Teil von Öffentlichen Bibliotheken, teilweise als eigenständige Einrichtungen funktionierten. Selbstverständlich wurde dabei auf die Arbeit einiger „bürgerlicher“ Bibliothekssysteme zurückgegriffen – weiter oben wurde schon Lenin zitiert, der für die New York Public Library deren Arbeit für Kinder herausstellte –, aber dennoch ist die Intensität, mit welcher auf Kinder und Jugendliche eingegangen sowie diese Arbeit dann später explizit finanziert wurde, bemerkenswert.
Dennoch: auch diese Konzentration hatte einen guten Grund. Kinder sollten nicht nur möglichst früh lesen lernen, sie sollten damit auch möglichst früh in die Lage versetzt werden, sich zu bilden und dann zum Sozialismus zu bekennen. [62] (Das ist die nettere Formulierung, die aber dem Denken Krupskajas auch näher kommt. Man könnte selbstverständlich auch sagen, dass alle Kinder möglichst früh indoktriniert werden sollten.)
Dafür versucht Krupskaja auch, Kinder und Jugendliche – insbesondere im Komsomol – für die Bibliotheken in die Pflicht zu nehmen. So forderte sie beispielsweise mehrfach die Gründung von Gruppen „Freunde der Bibliothek“ ein, deren Aufgabe sie wie folgt skizzierte:

„Was müssen die ‚Jungen Freunde der Bibliothek‘ tun? Vor allem müssen sie die neuen Leser der Bibliothek unter ihre Obhut nehmen. Sie müssen ihnen erklären, wieviel Arbeit, Mühe und Nachdenken in jedem Buch stecken. Über die interessantesten Bibliotheksbücher müssen sie mit ihnen sprechen. Sie müssen ihnen sagen, daß man ein Bibliotheksbuch schonen und rechtzeitig zurückgeben muß, und darauf achten, daß auch die neuen Leser diese Regeln einhalten.“ [63]

Der Fokus auf diese Aufgabe führte auch dazu, dass Krupskaja selber einen Plan für die – wie wir heute sagen würden – Bibliothekseinführung für Schülerinnen und Schüler veröffentlichte. Der Text dazu hieß tatsächlich „Bibliotheksunterricht“ und beschrieb kurz eine didaktische Planung mit dem Ziel der Bibliotheksnutzung. [64] Auch dieser ließt sich zwar in der Terminologie, aber nicht im Inhalt, viel anders als heute:

Erste Stunde: Bibliotheken als gesellschaftliches Eigentum (warum die Sowjetmacht sie unterhält und wie man sich deshalb in ihnen verhält) [Das ist allerdings ein Thema – auch wenn man statt Sowjetmacht den demokratischen Staat einsetzt –, welches heute wenig besprochen wird.]
Zweite Stunde: Aufgaben des Bibliothekars, der Bibliothekarin (Um die Wertschätzung für deren Arbeit zu fördern.)
Dritte Stunde: „Bekanntmachung mit dem Buch.“
Vierte Stunde: „Der Lesesaal. Die Lesesaalordnung.“
Fünfte Stunde: „Auswahl der Bücher“
Sechste Stunde: „Das Buch über Bücher“ (Kataloge, Rezensionen etc.)
Siebente Stunde: „Nachschlagewerke“
Achte – Zehnte Stunde: „Wie man liest“

Die Bibliothek als Waffe der Revolution (Fazit)
Krupskajas Vorstellung davon, was Bibliotheken sein und wie sie funktionieren sollten, waren geprägt (1) von ihren Erfahrungen mit dem immensen Unterschied zwischen den Bibliotheken im russischen Zarenreich und den Bibliotheken in den demokratischen Staaten, (2) von ihrer Überzeugung, dass der Marxismus eine Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit sei, dem sie und der Rest der Gesellschaft zu folgen hätte, (3) der Aufgabe von Bildungseinrichtungen im Rahmen des gesellschaftlichen Prozesses hin zum Kommunismus, den sie meinte, mit Marx und Engels (und später Lenin) verstanden zu haben, (4) von der Überzeugung, dass Bibliotheken der effektivste und wirksamste Weg wären, den Massen Bildung, welche zum Sozialismus und dann Kommunismus führen würde, zur Verfügung zu stellen. Die Bibliotheken waren für sie also eine Waffe im Klassenkampf die von der jeweiligen herrschenden Klasse auch benutzt wurden, aber gleichzeitig immer auch von den jeweils unterdrückten Klassen für ihre Position im Klassenkampf benutzt werden konnten. Das also – in der marxistischen Terminologie – bürgerlich (demokratische) Kräfte sich im feudalen Russland für öffentlich zugängliche Bibliotheken einsetzten, war für Krupskaja auch ein Ausdruck des Klassenkampfes zwischen feudaler Klasse und Bourgeoisie. Ebenso war es für sie selbstverständlich, dass die bürgerlichen Gesellschaften auch bessere Bibliotheken hatten als die feudalen, die sie deshalb auch oft für ihre Arbeit lobte. Und letztlich ist es für sie konsequent, dass die Bibliotheken auch in der Diktatur des Proletariats als Einrichtungen im Klassenkampf eingesetzt werden müssen.
Ausgehend von diesen Überlegungen – die Krupskaja auch auf andere Bereiche des Bildungswesens anwandte – begründete sie Strukturen eines Bibliothekswesens, dass in seinen Ergebnissen tatsächlich erstaunlich war, aber eben auch nicht demokratisierend (zumindest nicht in der Intention). All die Vernetzung, Aufbauarbeit, Orientierung auf Kinder und auf Nutzerinnen und Nutzer im Allgemeinen hatte einen Grund: es ging um die Erziehung von Sozialistinnen und Sozialisten, und letztlich um den Kommunismus. Durch ihre Position im Volkskommissariat für Bildungswesen und ihre erstaunliche produktive Publizität konnte sie zumindest Leitlinien für das Bibliothekswesen durchsetzen, die auch die explizit stalinistische Phase der Sowjetunion überlebten und späterhin verstärkt aufgenommen wurden. Diese Leitlinien prägten über das Vorbild Sowjetunion auch den Aufbau des Bibliothekswesens in der DDR.
Peter Vodosek besprach 1972 in der BuB ein weiteres Buch mit Texten von Lenin zum Bibliothekswesen – wobei er auch auf Krupskajas Sammlung zurück verwies – und traf folgende Aussage:

„Angesichts der Bedeutung, die das Bibliothekswesen der sozialistischen Länder in der Welt hat, angesichts der Tatsache, daß die theoretische Begründung der gesamten bibliothekarischen Tätigkeiten in diesen Ländern auf die Leninschen Prinzipien der Bibliotheksarbeit zurückgeführt wird und schließlich angesichts der Diskussion, die bei uns über die gesellschaftliche Aufgabe der Bibliotheken geführt wird, sollte jeder Bibliothekar (und der es werden will), dieses Buch lesen; Bibliothekare, die Lenins Thesen ablehnen ebenso wie solche, die sie gerne in den Mund nehmen. Denn ‚Lenin zitieren heißt den ganzen Lenin zitieren‘.“ [Vodosek (1972) S. 983]

Wir können hier für Lenin ruhig Krupskaja und für „dieses Buch“ die Texte von Krupskaja einsetzen. Praktisch ist das, was Lenin über Bibliotheken sagte auch das, was Krupskaja über Bibliotheken sagte, nur nicht so ausdifferenziert und auf die Praxis orientiert. Aber der Hinweis ist immer noch der richtige: Wer immer sich auf das Bibliothekswesen in der Sowjetunion, der DDR oder den anderen Staaten des Ostblocks beziehen will – egal ob im positiven oder im negativen Sinne –, kann von Krupskaja nicht schweigen. Ohne Krupskaja hätte es diese Bibliothekssysteme wohl nicht gegeben. Man kann Krupskaja aber nicht ohne ihre Überzeugungen vom Marxismus und der Notwendigkeit von Parteilichkeit denken. Insoweit kann man diese Bibliothekssysteme auch nicht ohne ihre Funktion als Teil eines expliziten sozialistischen Bildungssystems verstehen.

Nachschrift: Nadeshda Krupskaja, eine emanzipierte Frau

„Alles Geschwätz darüber, daß die Frau ‚von Natur aus‘ zur Führung des Haushalts ‚vorherbestimmt‘ sei, ist ebenso sinnlos wie seinerzeit das Gerede der Sklavenhalter, daß die Sklaven ‚von Natur aus vorherbestimmt‘ seien, Sklaven zu sein.“ [Krupskaja (1955), 31: „Sollen Jungen in ‚Weiberarbeit‘ unterrichtet werden?“ (29-32)]

Krupskaja gehört nicht nur in die Ahnenreihe des Bibliothekswesens, sie gehört auch in der Riege der Frauen, die selbstbewusst Geschichte gemacht haben. Vielleicht wurde in diesem Text nicht richtig klar, welche Ausnahmestellung Krupskaja in ihrer Zeit einnahm. Aber wir reden von einer Frau, die von 1869 bis 1939 lebte, einer Zeit, in der die erste Frauenbewegung sich formierte und noch radikal dafür eintreten musste, dass Wahlrecht für Frauen zu erkämpfen.
Krupskaja war als Revolutionärin selbstverständlich mit der Frauenbewegung, zumindest dem proletarischen Zweig, nicht nur bekannt, sondern engagierte sich auch publizistisch und anders in dieser, obgleich dies für sie nicht den Hauptkampfplatz darstellte. (Aber es zeichnete die proletarische Frauenbewegung an sich gegenüber der bürgerlichen aus, dass sie darauf beharte, die „Frauenfrage“ mit der sozialen Revolution zu verbinden.) Nicht nur widmete Krupskaja ihre erste eigenständige Veröffentlichung dem Leben der proletarischen Frau, sie trat auch danach für die Gleichheit der Geschlechter ein. [65]
Auch ihr eigenes Leben war ein emanzipiertes in einer Zeit, in der sie zwar nicht die einzige Frau war, die so lebte – nicht umsonst wird in der Literatur mehrfach darauf verwiesen, dass sie mit Clara Zetkin bekannt gewesen wäre –, aber doch eine der wenigen. Ihr Lebensziel war nicht die Heirat, sondern die Befreiung der Menschheit. Zu ihrer Heirat musste sie offenbar erst durch äußere Umstände gezwungen werden. Der Idee, sich einer Frauenrolle zu unterwerfen, setzte sie ein aktives politisches Leben entgegen. Es ist kein Zufall, dass sie uns unter dem Namen Krupskaja bekannt ist und nicht unter ihrem Ehenamen Uljanowa (den sie in Berichten der zaristischen Polizei sehr wohl trug) oder Leninia, der ihr auch von Zeit zu Zeit angetragen wurde. Sicherlich hatte Krupskaja in vielem Unrecht, es ist ihr auch anzukreiden, dass sie sich Stalin irgendwann direkt unterworfen zu haben scheint. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Leben dieser Frau bemerkenswert war und bleibt.

Literatur
Abramow, K. I. (1985). Geschichte des Bibliothekswesens der UdSSR. Leipzig: Bibliographisches Institut.  
Baumann, U. (1974). Krupskaja zwischen Bildungstheorie und Revolution: Biographische und geistesgeschichtliche Formkräfte der Pädagogik N.K. Krupskajas und ihre Einheitsarbeitsschulkonzeption. Erziehungswissenschaftliche Forschungen. Weinheim ; Basel: Beltz.  
Chruščev, N. S. (1956). Rede des Ersten Sekretärs des CK der KPSS, N. S. Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPSS [„Geheimrede“] und der Beschluß des Parteitages „Über den Personenkult und seine Folgen“, 25. Februar 1956. Abgerufen von http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0014_ent&object=translation&st=&l=de
Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut Berlin, Sektion IV – Abteilung Dokumentation und Information (Hrsg.). (1969). Kolloquium anläßlich des 100. Geburtstages von N.K. Krupskaja veranstaltet vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut Berlin am 20. Februar 1969. Beilage zum Informations-Bulletin Pädagogik. [Berlin]: [Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut].  
Dreßler, I. (1969). Nadeshda K. Krupskaja (1869-1939). Der Bibliothekar, 23(2), 138-145.  
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Fußnoten
[1] Beispielsweise in Lachmann (2010) aber auch in genügend unpublizierten Äußerungen.
[2] Im Marxismus, zumindest dem, welchem Krupskaja folgte, galt, das es erst eine sozialistische Gesellschaft (angeführt vom Proletariat) geben müsste, aus der heraus die kommunistische Gesellschaft entstehen würde (in welcher die Klassen verschwunden wären, weil die ökonomische Grundlage der Klassenherrschaft überwunden und in welcher auch der Staat abgestorben wäre). Dieser Idee muss man nicht folgen, aber man sollte sie im Hinterkopf behalten, um Krupskajas Denken nachvollziehen zu können: Der Sozialismus galt als Übergangphase zum Kommunismus.
[3] Raymond (1979).
[4] Wenn im Folgenden von sozialistischer und kommunistischer Gesellschaft gesprochen wird, dann immer in dem Verständnis Krupskajas. Es ist selbstverständlich richtig, dass es auch immer andere Vorstellungen davon, was Sozialismus oder Kommunismus ist oder sein soll, gab und weiterhin gibt. Dem Verdikt, dass sozialistische Gesellschaften nicht auch demokratische sein können, soll hier nicht gefolgt werden. (Das muss in einer Zeit, in der ernsthaft auf ministrieller Ebene eine intellektuell dürftige Form von Totalitarismustheorie vertreten wird, in welcher praktisch Sozialismus und Faschismus gleichgesetzt sind, und gleichzeitig Vorsitzende von linken Partei als antidemokratisch angegriffen werden, nur weil sie von der Möglichkeit des Kommunismus reden [und nicht dafür, dass sie es im Bezug auf einen Kongress voller Antisemitinnen und Antisemiten tun], offenbar klargestellt werden.) Dieses Verdikt ist nicht logisch zu begründen, es ist aber auch eine Beleidigung gegenüber all den Personen, die – ob nun in anderen Strömungen der russischen Revolution, in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegungen, in Gruppen wie der Charta 77 und zahlreichen weiteren Zusammenhängen – über eine gleichzeitig demokratische und sozialistische Gesellschaft nachgedacht haben. Unbestreitbar ist allerdings, dass die Gesellschaften in der Sowjetunion und der DDR nicht demokratisch waren. Aber es soll hier auf einem klaren Unterschied zwischen der schrecklichen Realität und den grundlegenden Zielen beharrt werden.
[5] Zurecht finden sich in Beiträgen zu starken Frauen der Geschichte auch Beiträge zu Krupskaja, beispielsweise in Gretter / Putsch (2000).
[6] Für diesen Text wurde auf die Texte von und zu Krupskaja zurückgegriffen, in Berlin relativ einfach greifbar waren. Dies ist also keine vollständige Darstellung, man kann weit mehr Texte finden, welche ihre Bedeutung für das Bildungswesen in der Sowjetunion und – vermittelt – der DDR beleuchten. Außerdem – und das ist einer der großen Defizite dieses Textes – spricht der Autor kein Wort russisch und konnte deshalb auch nicht auf die Originaltexte Krupskajas, sondern nur auf die Übersetzungen zurückgreifen. Angesichts dessen, dass hingegen in der DDR-Pädagogik und der Bibliothekswesen der DDR ohne größere Probleme auf dieses Originale zurückgegriffen werden konnte, ist dies problematisch. Insoweit ist dieser Text nur eine erste Erkundung des Themas.
[7] Vgl. Krupskaja (1972a), S. 145-157: „Fünf Jahre Arbeit in den Smolenskojer Abendklassen“. Dort berichtet sie auch darüber, dass sie Bücher für ihre Schüler aus den Bibliotheken der Petersburger Innenstadt besorgt hätte sowie über eine Bibliothekarin, welche ihren Arbeitsplatz in der Smolensker Lesehalle zum Treffpunkt von sozialdemokratischen Arbeiterzirkeln umfunktionierte.
[8] Allen voran das aufgrund seiner Sprache, der Darstellung der Erlebnisse Krupskajas als Heiligengeschichten, der beständigen Überhöhung Lenins und auch der vollkommen unzureichenden Auswahl der Fakten vollkommen unlesbare Obitschkin et al. (1986).
[9] Vgl. Baumann (1974).
[10] Vgl. Krupskaja (1972a), S. 123-137: „Mein Leben“.
[11] Vgl. Baumann (1974).
[12] Das hält allerdings leninistische und trotzkistische Keinstgruppen nicht davon ab, diesen Weg – 1.) Eine kleine Gruppe gründen, welche angeblich die Theorie der Revolution beherrscht, 2.) Eine Zeitschrift gründen, die den Massen erklärt, was sie zu tun haben und gleichzeitig die Massen an die Gruppe binden soll, 3.) Wachsen und eine Partei gründen, 4.) Den Massen zeigen, wie die Revolution zu machen ist, 5.) Die Macht übernehmen und den Sozialismus aufbauen – als Taktik zu sehen, der auch heute noch gefolgt werden müsse. Dies ist auch ein Grund, warum solche Kleingruppen und politischen Sekten eigentlich alle eine oder gar mehrere Zeitschriften unterhalten, obgleich sie selber oft erstaunlich klein sind.
[13] Die unterschiedliche Benennung hat selbstverständlich damit zu tun, dass die Broschüre in russisch erschien. Bei Baumann (1974) heißt es „Die arbeitende Frau“, bei Dreßler (1969, 1975) „Die Arbeiterin“.
[14] Das es eine solche geben müsste, haben Marx und Engels als gute Hegelianer selbstverständlich angenommen und damit den radikalen Strömungen ihrer Zeit auch eine Möglichkeit gegeben, die Utopie einer klassenlosen oder auch einer machtfreien, gerechten Gesellschaft als umsetzbar anzusehen. Aber auch das setzt voraus, dass Hegel mit seiner Ideengeschichte Recht gehabt hätte. Und dies wird heute kaum noch so vertreten. Vgl. Eßbach (1988).
[15] Dieses Denken prägte weite Teile der kommunistischen und anderer radikal linker Bewegungen. In den 1983 zensiert in der DDR und dann 1997 unzensiert erschienen Memoiren von Jürgen Kuczynski, Dialog mit meinem Urenkel (Kuczynski, 1997), findet sich beispielsweise immer wieder die Formulierung, dass es für Kommunisten – und Kuczynski war ein überzeugter Kommunist – nicht die Frage ist, ob der Kommunismus einmal siegen werden würde, sondern nur wann und wie. Die DDR, aber auch zahlreiche Kommunistinnen und Kommunisten, ließen sich auch durch die Shoa nicht von diesem Fortschrittsgedanken abbringen. Anders die Frankfurter Schule. Gerade der Widerspruch der Aufklärung einerseits die einzige Möglichkeit der Menschen zur Selbstbefreiung darzustellen, andererseits immer die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei zu enthalten, die in der Shoa sichtbar wurde, war es ja, was Adorno und Horkheimer als Dialektik der Aufklärung fassten (Horkheimer & Adorno, 2001).
[16] Vgl. Lyandres (1989).
[17] Systematische Zwangskollektivierungen auf dem Land gab es, im Gegensatz zu manchen Vorstellungen von der frühen Sowjetunion, eigentlich erst nach dem Tode Lenins. Zuvor gab es zwar Kolchosen und Sowchosen, aber in gewisser Weise auch die Vorstellung, dass diese durch ihre wirtschaftliche Überlegenheit die restlichen Bauern dazu bringen würden, über kurz oder lang freiwillig den Kollektivformen freiwillig beizutreten. In Makarenkos „Ein pädagogisches Poem“ (1933-35 veröffentlicht) findet sich diese Überzeugung noch ganz explizit in einer Geschichte, in welcher dessen Gorki-Kolonie eine junge Frau, die bis dato Mitglied der Kolonie war, auch deshalb mit einem großzügigen Brautgeschenk bedenkt, um den umliegenden Bauern klar zu machen, dass eine agronomisch geplante und kollektiv betriebene Landwirtschaft produktiv genug ist, um Brautgeschenke zu produzieren, die vom Wert her weit über die üblichen Brautgeschenke hinausgehen. (Makarenko (1988)
[18] Krupskaja (1955), Seite 371-384: Der Beschluß des ZK der KPdSU (B) ‚Über die Organisation der Parteipropaganda im Zusammenhang mit dem Erscheinen des >kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU (B)< ' und unsere Aufgaben“ [1939].
[19] Baumann (1974) verweist zum Beispiel darauf, dass in der Privatbibliothek in der Wohnung Lenins und Krupskajas im Kreml nach dem Tod Krupskajas mehrere tausend pädagogische Werke zu finden waren, die wohl größtenteils von Krupskaja – die allerdings ebenso wie Lenin auch andere Bibliotheken nutzte – angeschafft wurden.
[20] Vgl. Dreßler (1969, 1975), Baumann (1974), Raymond (1979).
[21] Vgl. Baumann (1974).
[22] Gerade an diesem Widerspruch zwischen emanzipatorischen Anspruch und totalitärer Realität linker Bewegungen setzte ja die eigentliche Totalitarismustheorie an und eben nicht, wie Bundesministerin Schröder oder andere Vertreterinnen und Vertreter der heutigen Totalitarismustheorie behauptet, bei einer Gleichsetzung von rechten und linken Bewegungen. Vgl. Schwan (2011).
[23] Vgl. Krupskaja (1971b), S. 13-19: „Die gesellschaftliche Erziehung“ [1923]. Es gab selbstverständlich immer wieder die paternalistische Ausflucht, darauf zu verweisen, dass die Massen insbesondere in Russland vor der Revolution kaum auch nur eine Grundbildung erhielten und deshalb zumindest für eine Übergangzeit geführt, quasi zu ihrem Glück gezwungen werden müssten.
[24] Baumann (1974) ergänzt als Grundprinzipien Krupskajas im Bezug auf eine kommunistische Moral, zu der eine kommunistische Schule zu erziehen hätte folgende sechs: (1) „Die Erziehung zu kommunistischer Moral und Atheismus“ [ebenda, S. 140], (2) „Die Kollektiverziehung“ [ebenda, S. 143], (3) „Die Erziehung zum proletarischen Internationalismus“ [ebenda, S. 147], (4) „Die militärische Erziehung“ [ebenda, S. 148] (Allerdings der Notwendigkeit der Landesverteidigung untergeordnet, nicht als Ziel in einer zukünftigen, weltweiten kommunistischen Gesellschaft), (5) „ Die Körpererziehung“ [ebenda, S. 149] (Sowohl als Teil der Gesundheits- als auch der Kollektiverziehung), „Die künstlerisch-ästhetische Erziehung“ [ebenda, S. 150].
[25] Vgl. insbesondere die Auszüge aus „Volksbildung und Demokratie“, die in Krupskaja (1955), S. 44-89 und in Krupskaja (1972a), S. 239-338 veröffentlicht sind. Siehe auch die Ausführungen zur Haltung Krupskajas zur Frage des potentiellen Absterbens der Schule, die in Baumann (1974), Seite 163-168 dargelegt werden. Diese Debatte, die schließlich einfach mit einem Beschluss des von Stalin geleiteten ZK abgebrochen wurde, stellte die interessante Frage, ob nicht in einer Gesellschaft, in welcher der Staat absterben soll, auch die Schule absterben bzw. transformiert werden müsse.
[26] Bemerkenswert hier Krupskajas klare Haltung zur Behandlung von Kindern unterschiedlicher Schichten in Krupskaja (1971a), S. 104-108: „Der Klassenkampf in den Bildungseinrichtungen“: „[…] Immer wieder werden in der Schule Kinder dieser Personen [„denen die Bürgerrechte aberkannt wurden“, hier eine Umschreibung für politische Gefangene, K.S.] oder Popenkinder verfolgt – kleine Kinder! Das ist ja auch viel einfacher als der Kampf gegen Erwachsene! Wenn ein Ausflug gemacht wird, nimmt man sie nicht mit: ‚Dein Großvater ist ein Pope; die andern werden einen Ausflug machen, aber du bleibst hier.‘ Oder in den oberen Klassen: ‚Du bist die Tochter eines Mannes, dem die Bürgerrechte genommen wurden. Was kümmert es uns, daß du eine gute Schülerin bist, daß du ein prächtiger Kamerad bist, daß du gesellschaftliche Arbeit leistet [sic!], daß du geschickte Hände, ein glühendes Herz, vielseitige Initiative und einen festen Willen hast … was geht es uns an, daß du in einem Jahr die Schule beendest und dem Land von großem Nutzen sein kannst … du bist die Tochter eines Mannes ohne Bürgerrechte – scher dich aus der Schule!‘
Das Programm der Partei sagt, daß die Schule alle Kind in kommunistischem Geist umerziehen, auf sie einwirken, sie für den Aufbau des Sozialismus gewinnen muß. […]
In der Regel sind die Schulen, die nicht schnell genug mit den Kindern wegen ihrer Herkunft abrechnen können, gerade solche Schulen, in denen noch der alte Geist herrscht; die Ideen der sowjetischen Schule sind dort am allerwenigsten eingedrungen, dort herrschen bürgerliche Erziehungsmethoden, besteht nicht die geringste Verbindung mit dem Leben, denken die Schulleiter am allerwenigsten daran, in den Kindern den Grundstein einer kommunistischen Erziehung zu legen.“ (Krupskaja (1971a), S. 105f.)
Alle Kinder sollen nach Krupskaja gleich behandelt werden, aber nicht zwecklos weil sie Kinder wären (Krupskaja warf der Position von Ellen Key gerade vor, Kindern ohne jeden gesellschaftlichen Bezug zu verstehen), sondern weil sie als nächste Generation den Kommunismus aufbauen sollten. Der Humanismus Krupskajas ist immer auch an die Idee des Kommunismus als (relativ nahes) Fernziel gebunden.
[27] Als Fußnote soll angemerkt werden, dass Trotzki an der Macht tatsächlich auch eine interessante Konstellation ergeben hätte, da die Sowjetunion dann noch weit mehr zum Feindbild des Antisemitismus geworden wäre. Trotzki selber war durch und durch Atheist und Revolutionär, aber das interessiert den Antisemitismus nicht: die Herkunft Trotzkis aus einer jüdischen Familie hätte zu einem anderen, noch radikaleren Verhalten antisemitischer Bewegungen geführt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso zu einer anderen Auseinandersetzung linker Bewegungen mit diesem Denken geführt hätte. Bekanntlich lehnten linke Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, unter ihnen die Bolschewiki, den Antisemitismus als eines der Vorurteile gegenüber Minderheiten ab, beschäftigte sich aber kaum damit, dass gerade der Antisemitismus auf Vernichtung von Menschen abzielt und nicht „nur“ auf die Unterdrückung und Assimilation.
[28] Baumann (1974), S. 46.
[29] Vgl. Krupskaja (1972b), S. 142-144: „Was die Leninecken sein sollen“. In diesem Text ist zu bemerken, wie sehr Krupskaja noch versucht, die „Heiligsprechung“ Lenins abzumildern und gleichzeitig genau zu dieser „Heiligsprechung“ beiträgt: „[…] Sie [Die Leninecken, K.S.] sollen nicht bezwecken, Lenins Namen zu verherrlichen, vielmehr sollen sie die Volksmassen mit seinen Anschauungen vertraut machen.
Die Leninecken sollen unbedingt mit kleinen Bibliotheken ausgestattet sein, die möglichst viele Werke Wladimir Iljitschs in solchen Ausgaben enthalten, die für die Verbreitung besonders geeignet sind: zu einzelnen Problemen ausgewählte Artikel und Reden – sowie Werke anderer Autoren, die eine Zusammenfassung der Anschauungen Wladimir Iljitschs über diese oder jene Frage bringen und gewissermaßen Empfehlungen und Anweisungen für die Lektüre der Artikel Wladimir Iljitschs geben. […]
In der Ecke müssen unbedingt Listen mit den Artikeln und Reden Wladimir Iljitschs über einzelne Fragen aushängen – wenn möglich mit einer kurzen Darlegung ihrer Hauptgedanken und mit Zitaten. Diese Listen können sich auf mit Abbildungen versehenen Plakaten befinden. […]
Von den Bildern Wladimir Iljitschs werden am besten solche ausgewählt, die ihn bei irgendeiner Tätigkeit darstellen: wie er die ‚Prawda‘ liest, eine Rede hält, Notizen macht oder einem Redner zuhört. […]
Bilder wie das nichtssagende Bild ‚Iljitsch beim Schachspiel‘ oder ‚Die Sozialrevolutionärin, die den Schuß auf Iljitsch abgibt‘ dürfen auf keinen Fall in den Leninecken aufgehängt werden.“ (Krupskaja (1972b), S. 143f.).
[30] Krupskaja starb genau einen Tag nach ihrem 70. Geburtstag, was – immerhin geht es um Stalin, dem Morde nicht nur zuzutrauen waren – zu Verschwörungstheorien um ihren Tod führte. Baumann (1974) trug allerdings auch hier mehrere Indizien zusammen, warum die chronisch überarbeitete Krupskaja mit hoher Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes gestorben ist.
[31] Vgl. Hillig (1993), der eine Debatte aus den 1960er Jahren rezipiert, bei der Oskar Antweiler (Lüneburg / Bochum) auf einem bemerkenswerten Effekt dieses „Streichens“ von Personen im Stalinsmus und des anschließenden weiteren Verschweigens in der Sowjetunion (und auch der DDR) aufmerksam machte: die wenigen Pädagoginnen und Pädagogen, die noch übrig geblieben waren, wurden nicht nur in ihrer Wirkung vollkommen überzeichnet. Es war auch nicht wirklich zu erklären, warum die wenigen Personen, die ja eigentlich gemeinsam eine an sich widerspruchslose sowjetische Pädagogik aufgebaut haben sollten, sich quasi nicht aufeinander bezogen. Antweiler zeigte damals auf, dass gerade Krupskaja und Makarenko – der als zweiter Begründer der Sowjetpädagogik galt – nicht nur nicht miteinander zusammengearbeitet hatten, sondern das Krupskaja sogar einen Anteil daran hatte, das Makarenko von seinem Posten als Leiter der Gorki-Kolonie, die ihm als pädagogisches Experimentierfeld gedient hatte und in welcher er die von ihm vertretene Kollektiverziehung ausgearbeitet hatte, entlassen wurde. Die Geschichte ist nicht ohne Ironie: Makarenko arbeitete in der Kinderkolonie vor allem mit Kindern, die zuvor jahrelang auf der Straße gelebt und dabei auch kriminell geworden waren. Das war ein nach dem Bürgerkrieg verbreitetes Problem. Während dieser Arbeit kam er nicht nur zu der Überzeugung, dass eine Kollektiverziehung, bei der Kinder Verantwortung übernehmen und zusammen arbeiten, erfolgreich neue Menschen erziehen würde. Er kam auch zu der Überzeugung, dass es Situationen gab, in denen körperliche Strafen sinnvoll sein konnten. Allerdings macht er es sich damit auch nicht einfach und wies in den wenigen Stellen des Pädagogischen Manifestes, in denen es um dieses Thema geht auch auf die Widersprüche dieser Maßnahmen hin. (Makarenko, 1988). Krupskaja allerdings suchte offenbar für eine Rede auf dem VIII. Gesamtrussischen Komsolmolkogress (1928) ein Beispiel für, wie sie es ansah, „den alten Geist“, der noch immer in einigen pädagogischen Einrichtungen herrschte. Dabei verwies sie ausgerechnet auf die Gorki-Kolonie als ein Beispiel für ein quasi-militärisches Strafregiment, wie es in zaristischen Kinderheimen geherrscht hätte. (Sie sprach sich mehrfach auch an anderen Stellen gegen jede Form körperlicher Strafen aus. (Vgl. Krupskaja (1971b), 55-57. „Über körperliche Züchtigung der Kinder“, Krupskaja (1955), S. 110-112. „Zum Problem der moralisch defekten Kinder.“ [1923])) Ob Krupskaja sich später, als sie das Pädagogische Manifest in einer Schrift anführte, überhaupt im Klaren war, dass sie gerade einen Pädagogen herausgegriffen hatte, der körperliche Strafen nur in begründeten Ausnahmefällen als gerechtfertigt ansah – was heute fraglos auch keine haltbare Position mehr ist –, ist nicht klar. Der Witz, den Antweiler nun in den 60ern aufdeckte, war, dass die Sowjetpädagogik angeblich auf zwei Personen beruhte, die sich inhaltlich widersprachen, ohne dass dies in der pädagogischen Debatte überhaupt thematisiert wurde.
[32] Der Umgang Stalins mit Krupskaja wurde von Nikita Chruschtschow in dessen bekannter „Geheimrede“ explizit als Beispiel herangezogen, um die Person Stalin in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Vgl. Chruščev (1956).
[33] Vgl. Krupskaja (1959).
[34] Krupskaja (1955), Seite 257-266: „Aufsätze von Marx, Engels, Lenin und Stalin, die jeder Lehrer kennen muss“ [1938]. Seite 293-295: „Die Stalinsche Verfassung in den Schulen“ [1937]. Seite 371-384: „Der Beschluß des ZK der KPdSU (B) ‚Über die Organisation der Parteipropaganda im Zusammenhang mit dem Erscheinen des >kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU (B)< ' und unsere Aufgaben“ [1939]. Seite 385-393: „Über die Erziehung zu Leninisten und Stalinisten“ [1939]. Seite 394-397: „Der Name Lenins und der Name Stalins sind unser Banner“ [1939].
[35] Krupskaja (1971a, 1971b, 1972a, 1972b).
[36] Vgl. Schilzow (1978), Pelinkan (1978). Der Antrag, diesen Namen tragen zu dürfen, wurde in der leicht absurden Sprache damaliger Veröffentlichungen von einem Vertreter der Studierendenschaft bei einem Symposium in Berlin zum 100. Geburtstag Krupskajas vorgebracht: „Die Mitarbeiter und Studenten des Pädagogischen Institutes Halle haben mich beauftragt, auf der heutigen Konferenz dem Ministerium für Volksbildung die Bitte zu unterbreiten, unserer Lehrerbildungsstätte den verpfichtenden Namen dieser große revolutionären Pädagogin zu verleihen.“ (Kleinschmidt (1969), S. 99).
[37] Dreßler (1969). „Nadeshda Krupskaja hat wesentliche Verdienste am Aufbau des sowjetischen Bildungswesens, der schulischen Erziehung, der Erwachsenenbildung, der Vorschulerziehung, der außerschulischen Erziehung und Bildung, einschließlich des Bibliothekswesens. Ihre gesamte Tätigkeit war unmittelbar mit dem Aufbau der sowjetischen Gesellschaft, mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung verbunden.“ (S. 138) Das liesst sich, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten der damaligen Zeit auch in Der Bibliothekar, erstaunlich faktenorientiert.
[38] Obitschkin et al. (1986), S. 5ff.
[39] Vgl. Krupskaja (1956).
[40] Wirklich absurd ist dagegen der Band „Lenin and Library Organisation“ (The Lenin State Library of the USSR (1983)), in dem nicht nur Photos einer Anzahl der Bibliotheken, in denen Lenin gearbeitet hat, abgebildet werden, einfach nur, weil Lenin einst dort war. Der Band enthält auch solche Absonderlichkeiten wie kurze Anmerkungen, die Lenin an Zeitungsartikeln über Bibliotheken machte. Sicherlich sind auch solche Textsorten für die historische Forschung relevant, aber das Buch ist keine wissenschaftliche Veröffentlichung, sondern eine der Veröffentlichungen des Progress Publishers Verlags, welcher Schriften aus der UDSSR im Westen populär machen sollte. (Vgl. auch Vodosek (1972), der einen ähnlichen Band bespricht, allerdings zu einer anderen Einschätzung kommt.)
[41] In: Krupskaja (1956), S. 40-42.
[42] In: Krupskaja (1956), S. 24-26.
[43] In: Krupskaja (1956), S. 24f.
[44] In: Krupskaja (1956), S. 24.
[45] Dieser Text soll keine Einführung in den Marxismus darstellen, deshalb soll es nicht weiter ausgeführt werden, aber diese Position ist selbstverständlich eine perfekte Anwendung des berühmten Basis/Überbau-Theorems von Marx in Reinform (und noch ungetrübt von den Problematisierungen dieses Theorems, die spätestens in den 1920er Jahren einsetzten).
[46] Dreßler (1969). Elf Jahre später, anlässlich Krupskajas 110. Geburtstag, erschien in der gleichen Zeitschrift ein viel kürzerer Artikel (Schmidmaier, 1980), der realistisch gesehen keine neuen Aussagen traf, sondern die Texte von Dreßler zusammenzufassen schien, ohne dies explizit anzugeben.
[47] Dreßler (1975). Vgl. auch Frankenstein (1976).
[48] Vgl. Raymond (1979).
[49] Gewerkschaftsbibliotheken waren eine wichtige Bibliotheksform in der Sowjetunion und auch der DDR. Sie wurden in den meisten Großbetrieben unterhalten, teilweise mit mehreren Zweigstellen auf größeren Werksgeländen. Man sollte sie nicht unterschätzen, nur weil sie heute abgeschafft sind. Gewerkschaften hatten in sozialistischen Staaten bekanntlich nicht die Aufgabe, als Interessensverbände der Arbeiterinnen und Arbeiter aufzutreten. Bildungs- und Kulturangebote, wie Gewerkschaftbibliotheken – die auch zur Produktivität der Wirtschaft durch das Motivieren einer arbeitsplatznahen Selbstbildung der Arbeitenden beitragen sollten – wurden deshalb mit einem weit größeren Engagement verfolgt, dass dies heute Gewerkschaften möglich wäre.
[50] Und nicht wie heute in Deutschland einen, den Bibliotheken für sich selber herleiten. Vgl. für eine Position aus der frühen DDR Rückl (1957). Dieser Text ist gerade deshalb interessant, weil er – ohne Krupskaja zu nennen – die gleiche Position vertritt: die Bibliothek gilt als Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft, die Volksbücherei wird als Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft gedacht: „Die moderne öffentliche Bibliothek […] entstand und entwickelte sich als eine den Interessen der sich als Klasse formierenden Bourgeoisie und dem bürgerlichen Staat dienende Institution. So ist es nicht zufällig, daß vor allem in den Ländern, in denen sich die Bourgeoisie frühzeitig die Macht erobert hatte, die allgemeinbildenden Bibliotheken – beispielsweise die Public Libraries in England und Amerika – als bürgerlich-demokratische Erziehungs- und Bildungseinrichtungen einen raschen Aufschwung nahmen.“ (Rückl (1957), S. 14) Rückl geht als guter Marxist davon aus, dass es Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung gäbe und das die Bibliothek – als Teil der Überbaus – als Institution sich auch gesetzmäßig entwickeln würde. Die Aufgaben der Bibliotheken (und der Bibliothekswissenschaft) würden sich aus diesen Gesetzmäßigkeiten herleiten lassen: „Die Bibliothekswissenschaft ist entsprechend ihrem Gegenstand eine unmittelbar klassengebundene Wissenschaft und unterscheidet sich nicht nur in ihrer Funktion und Methodologie, sondern auch in der Auffassung ihres Gegenstandes grundsätzlich von allen bürgerlichen Bibliothekstheorien. […] Die Bibliothekswissenschaft muß sich von der Grundlage der Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, ausgehend von den spezifischen Merkmalen ihres Fachgegenstandes, seinen Besonderheiten und eigenen Gesetzmäßigkeiten zuwenden. Sie gewinnt ihre Erkenntnisse auf dem Wege der Verallgemeinerung der reichen Erfahrungen, einer sich lebendig entwickelnden Praxis und wirkt richtungsweisend auf sie zurück.“ (Rückl (1957), S. 22). Vgl. auch für ein ähnliches Verständnis der Bibliotheksgeschichte Abramow (1985).
[51] Vgl. für in der DDR verbreitete Text, die genau dies taten: Wendel (1957), Mawritschewa (1958).
[52] Das es der frühen Sowjetunion gelang, innerhalb relativ kurzer Zeit die bis dato vernachlässigte Alphabetisierung fast vollständig nachzuholen und zu einer Gesellschaft zu werden, in der die Analphabetismus-Rate nahe 0% betrug, muss – unabhängig aller politischen Bewertungen – immer noch großen Respekt abnötigen. Krupskaja trug mit dem Organisieren von Alphabetisierungskampagnen ebenso dazu bei, wie mit der Propagierung bibliothekarischer Arbeit auf dem Land.
[53] Raymond (1923), S. 73-104: „Chapter 10: Soviet Librarianship and the Tasks of Adult Education during the reconstruction Period, 1921-1927“.
[54] Selbstverständlich wohnt allen zentral herausgegeben Vorschlaglisten die Gefahr inne, die Bestände von Bibliotheken zu vereinheitlichen und auch – bewusst oder unbewusst – in bestimmte Richtungen zu lenken. Da ist die ekz-standing order beispielsweise auch nicht vor gefeilt, nur das hinter dieser keine politischen Entscheidungen stehen sollten.
[55] Dreßler (1975), S. 20-34: „6. Zu den Forderungen N. K. Krupskajas an den Bibliothekar“.
[56] Dreßler (1975), S. 29.
[57] Dreßler (1975), S. 30.
[58] Dreßler (1975), S. 32.
[59] Dreßler (1975), S. 33.
[60] Dreßler (1975), S. 34.
[61] Beispielsweise wird sie in folgendem Zitat aus dem Jahr 1918, als noch nicht einmal der Bürgerkrieg beendet war, sehr deutlich: „Sobald die Selbstherrschaft gestürzt war, drängten die Arbeit nach Wissen. Es ist vollkommen verständlich, daß die Tätigkeit der Arbeiter vor allem auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung gerichtet war. Jedes Werk, jede Fabrik richtete sich eine eigene Bibliothek ein, stellte einen eigenen Bibliothekar ein, eröffnete eine eigene Schule und einen eigenen Klub. Diese ganze Kultur- und Bildungsarbeit wurde mit großer Energie von den Arbeitern selbst geleistet. Das gleiche war auch im Dorf zu beobachten. Aus dem Gouvernement Twer wurde beispielsweise berichtet, daß dort überall in den Dörfern besondere Bauernhäuser zur Verfügung gestellt werden, in denen Frauen, Greise und andere abends zusammenkommen, um lesen und schreiben zu lernen. Sie werden nicht von Lehrern unterrichtet, sondern von Bauern wie sie selber, die aber mehr Bildung besitzen.“ (Krupskaja (1971a), S. 18f.: „Wie das Volksbildungswesen im Lande organisiert werden muß“ [1918]). Selbstverständlich übertreibt Krupskaja hier maßlos, aber es wird doch offensichtlich, dass sie daran glaubte, dass die unterdrückten Massen nach Bildung streben würden und nur von den unterdrückenden Strukturen des Feudalismus (in Russland) und des Kapitalismus davon abgehalten würden, diese zu erwerben.
[62] Vgl. Dreßler (1975), S.35-51: „7. Zu einigen spezifischen Forderungen an die Bibliothekare in den verschiedenen Bibliothekstypen und –bereichen“. Siehe auch Krupskaja (1972b), S. 263-272: „Über die Kinderbücherei und das Kinderbuch [Referat und Schlußwort auf einer Konferenz der Mitarbeiter von Kinderbüchereien]“ [1927]. Dort stellt Krupskaja vier Forderungen auf: (1) Alle Kinder müssen möglichst früh lernen, Bücher und Bibliotheken zum Lernen zu benutzten, (2) Wann immer möglich sollen Kinderabteilungen in den Bibliotheken und Lesestuben eingerichtet werden, (3) Ein enger Kontakt zwischen Schule und Bibliothek ist notwendig (Wobei Krupskaja hier davon auszugehen scheint, dass sich Schule und Bibliothek sogar über einzelne Schülerinnen und Schüler austauschen könnten.), (4) Bilbiotheken dürfen die Lenkung der Lektüre der Kinder nicht übertreiben.
[63] Krupskaja (1972b), S. 214: „Schone das Buch!: Schaffen wir Brigarden ‚Junge Freunde der Bibliothek‘!“ [1933] (S. 212-214).
[64] Krupskaja (1971b), S. 230-232: „Bibliotheksunterricht“ [1934]. Krupskaja lieferte auch zahlreiche methodische Anleitungen. Vgl. beispielsweise Krupskaja (1971b), S. 282-298: „Wie man selbstständig an einem Buch arbeitet: Über das selbstständige Lernen.“
[65] Beispielsweise in Krupskaja (1955) 23-29: „Die Frau und die Kindererziehung“, wo Krupskaja explizit die Auffassung vertritt, dass die Gesellschaft der proletarischen Frau einen Großteil der Erziehung abnehmen muss.

Vorstellungen vom Lesen-Lernen in Öffentlichen Bibliotheken

Öffentliche Bibliotheken sehen als eine ihrer wichtigsten Aufgaben die Leseförderung an. Obgleich auch viele andere Akteure mit diesem Thema in die Öffentlichkeit treten, allen voran die Schulen, welchen einen expliziten Auftrag für diese Arbeit haben, über Lesevereine bis hin zu Lesepatinnen und Lesepaten, wird den Bibliotheken auch in der breiten Öffentlichkeit eine wichtige Rolle bei der Förderung des Lesen-Lernens von Kindern und Jugendlichen zugeschrieben. (Bei der Alphabetisierung von Erwachsenen ist dies nicht ganz so, allerdings wird diese, fraglos ebenfalls wichtige Arbeit, in der Öffentlichkeit auch weit seltener debattiert.)
Unbestritten ist, dass Öffentliche Bibliotheken sich der Aufgabe, das Lesen zu fördern, annehmen und hierfür eine breite Palette von speziellen Beständen, von Veranstaltungen und Projekten – in Kooperation mit anderen Einrichtungen oder auch ohne sie – ausgearbeitet haben. Niemand würde die Bedeutung dieser Arbeit bestreiten.
Dennoch: auch diese Arbeit ist nicht frei von Problemen. Einerseits haben Bibliotheken auch bei der Leseförderung mit den bekannten Problemen des Erreichens von bestimmten Zielgruppen zu tun: Wie schafft man es, dass gerade diejenigen Kinder und Jugendlichen, die von den Angeboten der Bibliotheken am Besten profitieren könnten, diese Angebote auch wahrnehmen (ohne die anderen von der Nutzung derselben auszuschließen)? Oder fördert man wiederum verstärkt die Kinder und Jugendlichen aus den bildungsstarken Haushalten, wenn man die Veranstaltungen einfach „für alle“ anbietet? Sind die Angebote der Bibliotheken für Kinder und Jugendliche aus bildungsschwächeren Haushalten überhaupt passend oder repräsentieren sie nicht eher einen der Lebenswelt dieser jungen Menschen unbekannten und dort auch nicht sinnvollen Habitus? Diese Fragestellungen beziehen sich aber bekanntlich nicht nur auf die Leseförderung, sondern weit darüber hinaus auf alle Angebote von Öffentlichen Bibliotheken.
Ein anderes Problemfeld allerdings scheinen die in Öffentlichen Bibliotheken vorherrschenden Vorstellungen vom Lesen-Lernen selber zu sein.

Leseanstoß oder Lesekarriere?
Wie funktioniert das Lesen-Lernen? Die Antwort auf diese Frage ist für die Arbeit von Öffentlichen Bibliotheken relevant. Aus der Vorstellung, wie Lernen funktioniert, also wie z.B. das Wissen, dass Lernende aufnehmen, von diesen aufgenommen wird (bzw. ob man überhaupt vom Aufnehmen sprechen kann oder eher von memorieren, verarbeiten, interpretieren, re-/konstruieren etc.), ergibt sich, wie man Bildungsangebote und -aktivitäten konzipiert und durchführt. Ein einfaches, allerdings konstruiertes Beispiel aus dem Schulunterricht: wenn man davon ausgeht, dass Vokabeln als Entitäten von den Lernenden memoriert werden müssen, bis sie im Langzeitgedächtnis haften bleiben und dann immer wieder richtig abrufbar sind, ist es folgerichtig, immer und immer wieder Vokabeln vorzustellen, erinnern zu lassen, abzufragen und dann wiederholt erinnern zu lassen. Geht man allerdings davon aus, dass Vokabeln als Teil der einer lebendigen Sprache verstanden werden und deren Bedeutung im Zusammenhang von den Lernenden selber rekonstruiert werden muss, um verstanden und memoriert zu werden, dann ist ein komplexeres Vorgehen notwendig, in welchem die Lernenden die Vokabeln vor allem selber anwenden, beispielsweise in freier Rede und beim Schreiben von Texten. Insoweit ist die Frage: Wie wird gelernt, bzw. wie nehmen Lernende ein Wissen oder eine Fähigkeit auf? – nicht trivial.
Es gibt keine Lerntheorie oder gar Leselerntheorie, die sich als vollständig richtig herausgestellt oder aber in der Erziehungswissenschaft bzw. Bildungspraxis durchgesetzt hätte. Ein Großteil der Theorien über das Lernen, egal ob sie als solche schriftlich niedergelegt wurden oder rein subjektive Theorien darstellen, welche sich von Lehrenden gemacht werden, kann eine gewisse Plausibilität beanspruchen. (Dem widerspricht nicht, dass sich aktuell der Konstruktivismus als eine Art Leittheorie in den Erziehungswissenschaften zu etabliert haben scheint.)
Aber beziehen wir das einmal auf das Lesen-Lernen in Bibliotheken bzw. die Unterstützung des Lesen-Lernens. Das kann selbstverständlich erst einmal nur oberflächlich geschehen, da es nur wenig Empirie zu diesem Thema und so gut wie keine theoretische Aufarbeitung der Praxis in den Bibliotheken gibt.

  • Festzuhalten ist, dass sich Bibliotheken (in Deutschland, aber auch in vielen anderen „westlichen“ Ländern) darauf beziehen, Kinder beim Lesen-Lernen zu unterstützen. Die Aufgabe, nicht-Lesende in anderen Lebensaltern zu unterstützen, stellen sich Bibliotheken eigentlich nicht. Das hat auch mit der, bei allen Einschränkungen, erfreulich hohen Alphabetisierungsquote in Deutschland zu tun. Aber es lohnt sich festzuhalten: Bibliotheken verstehen Lesen-Lernen als das Tätigkeit der Kindheit und frühen Jugend.
  • Schaut man sich die dokumentierten Beispiele der Leseförderung in und durch Bibliotheken an, kann man zwar feststellen, dass es in den letzten Jahren verstärkt Versuche gibt, diese längerfristig anzulegen und Kinder ein Stück ihrer Lesekarriere lang zu begleiten. Aber dennoch scheinen die meisten Angebote implizit von einer Defizit-orientierten Sicht auf das Lesen auszugehen. (Also ein Idealbild von lesenden Kindern und Jugendlichen zu haben, auf das die jeweiligen Angebote ausgerichtet sind. Es wird weniger von den tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten der Kindern und Jugendlichen ausgegangen als beispielsweise in der sozialpädagogischen Arbeit.) Außerdem scheint in den Bibliotheken oft von einer Anfangsbarriere ausgegangen zu werden, die überwunden werden müsste: Also (wieder implizit) als bestände das Problem darin, dass die Kinder und Jugendlichen nicht an das Lesen und die Bücher herangeführt wären. Würden sie erst einmal in die Nähe des Lesens geführt und würden sie dabei diese Anfangsbarriere einmal überwinden, würde der Rest des Lesen-Lernens quasi automatisch ablaufen. Sicherlich stellt sich das in den dokumentierten Programmen, aus denen diese Aussage abgeleitet ist, anders dar, als es in der tatsächlichen bibliothekarischen Praxis gehandhabt wird. Nicht zuletzt gibt es, wie erwähnt, immer wieder Ansätze, die Leseförderung kontinuierlicher zu gestalten. Aber dennoch gibt es erstaunlich viele Veranstaltungen, die auf den Beginn einer Lesekarriere zielen und erstaunlich wenige, die Kinder und Jugendliche auf dem langen Weg des Lesen-Lernens, der ja immer auch mit Rückschritten, Demotivationen und der Konkurrenz durch andere (Lern-)Angebote gespickt ist, begleiten. Konzepte für eine tatsächlich nachhaltige Unterstützung des Lesen-Lernens gibt es in Bibliotheken kaum.
  • Wiederum eher implizit ist zu bemerken, dass Bibliotheken fast immer von einem sehr literarischen Leseverständnis ausgehen: das Lesen wird in den Programmen zumeist mit dem Lesen von literarischen Monographien gleichgesetzt. Allerdings ist das nicht das einzige Leseverständnis, welches in der Gesellschaft vertreten wird. Die großen internationalen Schulleistungs-Vergleichstudien wie PISA und IGLU, auf die sich Bibliotheken ja immer noch berufen wenn sie Leseförderung betreiben, gehen z.B. von einem funktionalen, an einzelnen Aufgaben und Texten orientierten Lesen aus. Der Umgang mit Literatur oder Monographien ist für diese funktionale Lesen nicht notwendig. Zudem ist gerade die Mediennutzung von Jugendlichen in den letzten Jahren (wieder) stark textuell geworden: das Internet inklusive der erweiterten Kommunikationsdienste ist ja selber sehr textlastig. Für die alltägliche Kommunikation ist dieses Textverständnis ebenfalls wichtiger als das literarische. Öffentliche Bibliotheken fördern also ein bestimmtes Textverständnis und nicht „das Lesen“ in allen seinen Facetten. Das muss nicht unbedingt falsch sein, schließlich basiert die Bibliothek zum großen Teil auf diesem literarischen Leseverständnis. Allerdings ist die Gleichsetzung von literarischem Leseverständnis mit funktionalem, kommunikations-orientiertem und weiteren Leseverständnissen nicht korrekt.
  • Ein weiteres Problemfeld, wieder vor allem auf die dokumentierten Programme bezogen und mangels Empirie nicht auf die dann real umgesetzte Praxis, scheint die relativ geringe Differenzierung der Programme und Veranstaltungen für das Lesen-Lernen zu sein. Die sehr breit gestreuten (und auch vom sozialen Umfeld bzw. der Schicht/Milieu-Zugehörigkeit der Kinder und Jugendlichen massiv beeinflussten) Leseinteressen scheinen sehr oft auf beiden Ebenen Alter und Migrationshintergrund reduziert zu werden. Anders gesprochen: es werden Programme für unterschiedliche Altersstufen und spezielle Angebote für junge Menschen mit Migrationshintergrund aufgelegt, was fraglos wichtig ist. Aber weder Alter noch Migrationshintergrund stellen eine ausreichend tiefe Differenzierung dar, um die tatsächlichen Leseinteressen der potentiellen Leserinnen und Leser abzubilden. Allerdings: um ein nachhaltiges Lerninteresse auszulösen (und das ist ja das Ziel der Veranstaltungen zum Lesen-Lernen) ist es notwendig, an den Interessen von Menschen (hier Kindern und Jugendlichen) anzuschließen und ihnen gleichzeitig vermitteln zu können, dass ihnen die jeweilige Lernanstrengung einen „Gewinn“ bringt. Diese Forderung ist nicht einfach zu erfüllen, zumal Veranstaltungen dieser Art immer für Gruppen geplant werden und nicht für einzelne Kinder und Jugendliche. Dennoch: eine Differenzierung nach Alter und Migrationsstatus alleine konstituiert noch keine ausreichend einheitlichen Gruppen mit gleichen Interessen und Erfahrungen.
  • Ein gewisses Phänomen stellt weiterhin der „Leseknick“ mit Einsetzen des Jugendalters da. Das Jugendliche erst einmal aufhören zu lesen (mit den immer vorhandenen Ausnahmen einiger Jugendlicher, die das Lesen von Bücher, um dies es hier ja vor allem geht, zu einer ihrer Hauptbeschäftigungen machen) und nur ein Teil von ihnen später wieder anfängt, viel zu lesen (wieder bezogen auf Bücher, nicht so sehr z.B. auf das kommunikative Lesen) ist auch in Bibliotheken bekannt. Dies scheint zur Jugend in der Moderne (und offenbar auch der Postmoderne) dazu zu gehören. Interessant ist aber, dass die Lese-Lernveranstaltungen in Bibliotheken darauf kaum wirklich reagieren. Sie versuchen zumeist die Jugendlichen wieder an Medien heranzuführen, so wie sie es bei Kindern auch tun; obgleich diese Jugendlichen ja meist Bücher schon längst kennen (es also nicht mehr um eine Anfangsbarriere geht) und obwohl sie selbstverständlich andere Interessen und Wissensstände haben und auch andere Erfahrungen und „Gewinne“ aus Monographien ziehen können. Zumal hinter den Veranstaltungen immer wieder das Ziel zu stehen scheint, alle Jugendliche (wieder) zum Lesen zu führen, ohne das über dieses Ziel verhandelt wird. Gerade in einem Land wie Deutschland, dass ja durch ein – teilweise durch massiven Elternprotest gegen Modernisierung geschütztes – streng gegliedertes Schulsystem gekennzeichnet ist, ist dies zumindest nicht selbsterklärend: Wenn die Gesellschaft aktiv großen Teilen der Jugendlichen Bildungswege und somit auch Karrierewege verbaut, warum sollte dann ein Hauptaugenmerk von Bibliotheken auf die literarische Bildung aller Jugendlichen gelegt werden. (Um dies klar zu sagen: es gibt gute Gründe dafür und ich persönlich würde auch immer dafür argumentieren, dass literarische und andere Bildung allen Kindern und Jugendlichen als Menschenrecht zusteht. Aber die Frage ist doch: Kann man das gesellschaftlichen Konsens annehmen? Ich denke nicht. Gerade die Eliten, wie in den letzten Wochen die Hamburger Eltern sehr klar gezeigt haben, wollen eine Gliederung der Bildungschancen. Dieser Widerspruch muss wahrgenommen werden, auch und gerade wenn man anderer Meinung ist.) Zurück zum Leseknick: Die bibliothekarische Leseförderung für Jugendliche thematisiert zwar teilweise den Fakt, dass es diesen Knick gibt, aber sie thematisiert nicht die Gründe für diesen, die ja wohl in der Lebenssituation der Adoleszenz zu suchen sind. Eine Auseinandersetzung darüber, warum es den Leseknick gibt und was (und ob man überhaupt etwas) dagegen tun sollte, findet nicht wirklich statt. Die meisten Veranstaltungen für Jugendliche sind Fortschreibungen der Veranstaltungskonzepte für Kinder.
  • Ein letzter kritischer Punkt: Implizit gehen bibliothekarische Leseveranstaltungen von einer Transferthese aus. Das Lesen-Lernen von einer Medienform soll das Lesen-Lernen in anderen Medienformen verstärken. Es ginge darum, die Jugendlichen „überhaupt an das Lesen heranzuführen“ bzw. sei es wichtig, dass „sie überhaupt lesen“. So einfach ist das allerdings nicht. Ob zum Beispiel das Lesen von Roman sich auch positiv auf das Lesen von Essays, Zeitschriften und Lyrik auswirkt, ist nicht klar. Sicherlich: wer viel liest, liest auch oft unterschiedliche Genres. Aber welche, wieso, mit welcher Intention, das ist nicht bekannt. Und auch der Schluss, dass das Lesen eines Genres, beispielsweise von Comics, sich in letzter Konsequenz auch auf das Lesen von anderen Genres, beispielsweise Erzählungen und Sachmedien auswirkt, ist sehr prekär. (Womit nichts gegen Comics gesagt sein soll.) Eventuell wäre es notwendig, auch das Lesen von speziellen Genres gezielt zu fördern, wenn man Kinder und Jugendliche dazu bringen möchte, dass sie diese lesen. Außerdem gibt es eine gewisse Unstimmigkeit: wenn tatsächlich das Lesen an sich jede Form des Lesens fördern würde, dann wäre auch anzunehmen, dass z.B. das intensive Kommunizieren über Instant Messenger, Chats und Mails zu einem verstärkten Lesen von Literatur führen würde. Oder dass das funktionale Lesen, wie es in den PISA- und IGLU-Studien propagiert wurde, das literarische Lesen befördern würde. Dann allerdings stellt sich die Frage, warum Bibliotheken in Lese-Lernveranstaltungen, aber auch der Darstellung des Lesens in Publikationen, vor allem auf das literarische Lesen abheben. Der Widerspruch lässt sich hier nicht auflösen und sicherlich ist es auch richtig, dass man immer „irgendwie anfangen“ muss. Aber es wäre zu überlegen, ob man nicht die einfach Ansicht, dass alles Lesen alles andere Lesen befördern würde, differenzieren und daraus auch für bibliothekarische Angebote Schlüsse ziehen sollte.

Einige Leitlinien
Die Praxis der Leseförderung in Bibliotheken hat sich über eine lange Zeit hin entwickelt und als immerhin so sinnvoll erwiesen, dass sie sich als Aufgabe etabliert hat. Auch wenn manche Veröffentlichungen mit Begriffen wie „neu“ oder „innovativ“ einen anderen Eindruck erwecken wollen, ist die Praxis eher aus gesammelten Erfahrungen und Überlegungen in den Bibliotheken vor Ort entstanden, als das sie als Gesamtkonzept erst in den letzten Jahren entwickelt worden wäre. Deshalb sind obenstehende Überlegungen auch nicht als Fundamentalkritik, sondern als Schlaglichter aus einer systematisierenden Ebene, quasi als Beobachtung zweiter Ordnung (wenn wir diesen kybernetischen bzw. luhmannschen Begriff verwenden wollen), zu verstehen.
Nimmt man allerdings die gesamte Leseförderung in den Blick und versteht die bibliothekarische nur als einen Teil dieser, dann lassen sich einige Leitlinien ableiten, die eigentlich als notwendig angesehen, aber in der bibliothekarischen Leseförderung nicht wirklich beachtet werden. Warum dem so ist, ist eine interessante Frage, die man nicht mit einfachen Antworten wie: Kein Geld, keine Zeit, keine Möglichkeit, Nutzer und Nutzerinnen zu binden – beantworten sollte. Vielmehr sollte man die institutionellen Voraussetzungen, die dazu führen, dass Lese-Förderung in Bibliothek einige Leitlinien nicht wirklich beachtet, näher untersuchen und sich erst dann, wenn man sie ausreichend beschreiben kann, darüber Gedanken machen, ob man dies ändern kann und sollte, ob es vielleicht in dieser Form auch Aufgaben erfüllt oder sogar Vorteile bietet.
Diese Leitlinien lassen sich kurz wie folgt fassen:

  • Notwendig für eine erfolgreiche Lese-Förderung ist die Nachhaltigkeit derselben. Diese Nachhaltigkeit wird nur durch eine langfristig geplante und durchgeführte (wenn auch flexible) Förderung gelingen.
  • Das erfolgreiche Lesen-Lernen funktioniert niemals linear aufsteigend. Vielmehr ist es mit ständigen Wiederholungen, mit „Sackgassen“ und Rückschlägen verbunden, zudem – wie jedes Lernen – mit zahlreichen „Umwegen“. Über diese Probleme hinwegzukommen bedarf nicht nur einer Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Lernenden, sondern auch einer Bestätigung und Ermunterung derselben, die auf die schon bewältigten Lernbestände verweist.
  • Eine erfolgreiche Lese-Förderung bedarf einer pädagogischen und didaktischen Planung und kann nicht dem Zufall überlassen werden. Insbesondere muss sich klar gemacht werden, wie das Lernen von Lesen bei den Kindern und Jugendlichen funktioniert.
  • Eine erfolgreiche Lese-Förderung setzt zumindest zum Teil bei den aktuellen Leseinteressen und Mediennutzungsformen der Lernenden an. (Dieser Punkt wird zum Teil auch in den bibliothekarischen Planungen versucht einzubeziehen. Die Frage ist allerdings, wie tiefgehende dieser Bezug auf die Mediennutzungsformen der Kinder und Jugendlichen wirklich ist, bzw. wie angemessen diese Nutzungsformen repräsentiert werden.)

Lese-Förderung im Erwachsenenalter
Ein letzter Punkt wurde jetzt schon mehrfach angerissen, soll aber noch einmal betont werden: Es gibt im deutschen Bibliothekswesen praktisch keine Auseinandersetzung mit der Aufgabe, das Lesen und die Alphabetisierung von Erwachsenen zu fördern. Das ist tatsächlich ein kritischer Punkt, der überwunden werden sollte.
Sicherlich hat Deutschland, aller Kritik am Bildungssystem zum Trotz, einen im historischen Verlauf und auch im Vergleich zu anderen Staaten erfreulich hohen Alphabetisierungsgrad. Wir reden von fast 100% der erwachsenen Bevölkerung, die primär Alphabetisiert sind, also Grundkenntnisse im Schreiben und Lesen aufweisen. Wie gesagt: historisch gesehen wurde ein weiter Weg zurückgelegt von der „Geheimwissenschaft“ Schreiben und Lesen in früh-mittelalterlichen Klöstern hin zur allgemeinen Kulturtechnik Schreiben und Lesen im Industriezeitalter.
Aber das darf den Blick nicht darauf verstellen, dass man von – je nach Messmethode – vier bis zehn Millionen funktionaler Analphabeten und Analphabetinnen in Deutschland ausgeht, also von Menschen, die zwar Lesen können, aber dies nicht als alltägliche Aufgabe, sondern nur unter großer Anstrengung. Insbesondere da das Lesen und Schreiben eine Kommunikationstechnik ist, die nicht nur in der netzbasierten Kommunikation, sondern auch in der Kommunikation mit Behörden, bei der Formulierung von Interessen im demokratischen Diskurs und als Grundlage weiterer Lernprozesse angesehen werden kann, ist das eine nicht zu vernachlässigende Problematik.
Bibliotheken sind, auch wenn sie zum Teil davon loskommen wollen, Orte, die in der Öffentlichkeit mit dem Lesen in Verbindung gebracht werden. Es wäre zu hoffen, dass sich darum Gedanken gemacht werden kann, wie man nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene beim Lesen-(Wieder-)Lernen unterstützen kann.

Zur Angst vor dem Web 2.0

Gerade bei den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren außerhalb der Blogosphere gibt es bekanntlich auch erhebliche Vorbehalte gegen das Web 2.0. Dabei geht es zumeist noch nicht einmal darum, diesen Begriff als Hype zu beschreiben oder als unscharf, wie das anderswo geschieht; zumeist geht es einfach darum, dass nicht nachvollzogen werden kann, wie Jugendliche (und Kinder) im Netz kommunizieren. Das ist zumeist der Hauptpunkt, an dem – nun ja – Kritik geäußert wird. Jugendliche seien nicht in der Lage, zu verstehen, was sie da eigentlich mit ihren persönlichen Daten tun. Sie würden sich exhibitionieren, sie würden ohne jede Not ihre Privatsphäre aufgeben und seien nicht (mehr) in der Lage, zu verstehen, dass sie sich mit ihrer Internetnutzung in Gefahr begeben. Und Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind nicht die Einzigen, welche diese Meinung vertreten, vielmehr wird diese Anschauung auch in führenden deutschen Medien oder beim Bäcker um die Ecke vertreten.
Es wäre leicht, diese Vorbehalte als weiteren Ausdruck der kaschierten Verachtung älterer Generationen gegenüber der jeweiligen Jugend zu interpretieren – und das wäre gewiss noch nicht einmal vollständig falsch. Es wäre auch möglich, dem Großteil der Menschen, welche diese Meinung vertreten, nachzuweisen, dass sie selber so gut wie keine Ahnung von der tatsächlichen Kommunikation im Internet, den dort geltenden Codes und Verhaltensweisen haben, sondern sich auf Einzelfälle und Horrormeldungen als Informationsquelle zu beschränken – also, sie als die prototypischen Anhängerinnen und Anhänger Ursula von der Leyens darzustellen. Auch das mag teilweise nicht ganz falsch sein, wenn es auch etwas überspitzt wäre.
Es scheint aber daneben einen weiteren Kern dieses Miß-/Verständnisses zwischen den Nutzerinnen und Nutzern des Web 2.0 (die sich zumeist ja noch nicht einmal als solche bezeichnen würden, sondern einfach nur die Kommunikationsspähren nutzen, an denen sie Interesse haben) und den Warnenden zu geben, nämlich Themenkomplex Privatheit und informationelle Selbstbestimmung im Internetzeitalter. Auch auf diesem Gebiet wurden in den letzten Monaten und Jahren Debattenbeiträge ausgetauscht, obgleich es teilweise so schien, als würde die eine Seite die Argumente der anderen Seite nicht wahrnehmen wollen – was unter Umständen auch daran lag, dass die Debatten am Lautesten in der Politik ausgetragen wurden und sich mit von der Leyen eine Symbolfigur etablierte, die sowohl (für ihrer Anhängerinnen und Anhänger) als hartnäckige Vertreterin ihrer Position als auch als realitätsfremde und absichtlich mit falschen Informationen an einer Zensur arbeitende Hassfigur interpretiert werden kann.
Aber zum eigentlichen Anlass dieses Postings: die neue Ausgabe der merz (medien + erziehung, zeitschrift für medienpädagogik, August 2009) hat gerade das Thema informationelle Selbstbestimmung als Schwerpunktthema. Und zwei der vier Hauptbeiträge liefern gute Argumente gegen eine Verdammung der heutigen Jugend, wie sie so gerne (wenn auch nicht immer offen) in der öffentlichen Diskussion betrieben wird.

Ist die Jugend dumm?

Dabei [bei den Debatten um die Nutzung des Internets durch Jugendliche, K.S.] wird meist […] unterstellt, dass es der mediale Wandel sei, insbesondere also das Internet, das diese Veränderungen [beim Umgang mit den eigenen Daten, K.S.] bewirkt habe. Derartigen Ansichten sollten immer misstrauisch stimmen, denn sie siedeln sozialen Wandel in technischen Gegebenheiten an, was in der Regel nicht stimmt, wie alle historischen Untersuchungen zeigen: Medientechniken sind Potenziale und es kommt in einem ersten Schritt zunächst einmal darauf an, ob und wie diese Techniken sozial und kulturell von den Menschen verwendet werden. Erst auf der Basis dieser Grundlage stellt sich die Frage, wie die Techniken, um die es geht, genau funktionieren und wie sie ausgelegt sind. Dass und wie spezifische mediale Potenziale verwendet werden, hat soziale und kulturelle Gründe, erst, was dann daraus wird, ist auch von den technischen Bedingungen und Realisierungen abhängig. [Krotz, Friedrich (2009) / Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft. – In: merz 53 (2009) 4, S. 12-21]

Der eben zitierte Text von Friedrich Krotz geht auf eine grundsätzliche Frage ein: hat das Internet das Kommunikationsverhalten und das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit grundlegend verändert, insbesondere bei Jugendlichen? Er bespricht hierzu vier Perspektiven auf das genannte Verhältnis.

  1. Die politische Perspektive, bei welcher – an Jürgen Habermas angelehnt – Privatheit als individuelles Menschenrecht in der Moderne und Öffentlichkeit als Ort der Aushandlung demokratischer Prozesse verstanden wird.
  2. Eine medienbezogen Perspektive, in welcher Medien als „vierter Gewalt“ eine immanente Funktion in der demokratischen Gesellschaft zugeschrieben wird, weil sie die Aufgabe hätten, über reine Berichterstattung hinauszugehen.
  3. Eine medienpraktische Perspektive, die nicht fragt, welche Aufgabe Medien in der Demokratie theoretisch hätten, sondern welche Rolle sie tatsächlich spielen. Hier kommt Krotz zu dem Ergebnis, dass es gerade die Medien sind (wenn man auch nicht alle verallgemeinern darf), die „immer wieder die Menschenwürde Einzelner [verletzen], indem sie ganz private Informationen mit oder ohne Einwilligung der Betroffenen veröffentlichen, um damit Publikum zu gewinnen.“ [Krotz (2009), S. 15]
  4. Eine Perspektive, die einbezieht, dass Medien und Dienste im Web 2.0 mit den (privaten) Daten der Nutzerinnen und Nutzer Geld verdienen wollen (müssen).

Diese Unterteilung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit zeigt nach Krotz, dass es keine einfache Antwort auf die Frage geben kann, wie dieses Verhältnis heute aussieht. Es ist aber klar, dass nicht allein das Internet dazu geführt haben kann, dass es eine Veränderung gibt, wenn es den eine Veränderung gibt.
Allerdings weist er in seinem Artikel die Vorstellung, dass Jugendliche heute bedenkenlos mit ihrer Daten umgehen würden und sie deshalb dazu erzogen werden müssten, dies nicht zu tun, entschieden zurück. Vielmehr betont er, dass es eine lebenspraktische Aufgabe im Jugendalter wäre, sich vom seiner / ihrer Familie zu trennen und dies gerade über die Darstellung seiner / ihrer Selbst:

Es ist eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben Heranwachsender, aus dem Schutz der engeren Familie herauszutreten, sich selbst mit den je eigenen Stärken und Schwächen zu präsentieren und zu erleben, darüber Anerkennung, Freunde und Freundinnen zu gewinnen und so auch ein realistisches Selbstbild zu entwickeln. Das tun Jugendliche schon immer in ihren Peergroups oder in der Schule, und heute tun sie das eben auch in den sozialen Vergemeinschaftungsformen, die das Internet anbietet, weil das Internet zu ihrem normalen Lebensumfeld gehört. [Krotz (2009), S. 13]

Auf die mögliche Frage, ob diese Selbstdarstellung nicht dennoch in hohem Maße gefährlich ist, antwortet Krotz, dass es nicht die Aufgabe der Jugendlichen (allein) sein kann, sich darum zu kümmern, wie mit ihren privaten Daten umgegangen wird. Es sind Firmen und Medienunternehmen, welche den größten Missbrauch mit diesen Daten betrieben. Die Gesellschaft als Ganzes hätte deshalb die Pflicht, diesen Missbrauch zu unterbinden, was mit einer aktiven Datenschutzpolitik zu bewerkstelligen sei. Das Problem seine nicht die Jugendlichen, die Daten veröffentlichen, sondern die Firmen, die diese Daten (falsch) nutzen würden. Dabei geht es nicht nur um direkten Datenmissbrauch, sondern auch um die Praxis von Firmen, sich die Rechte an Daten, die sie beispielsweise als social network hosten, zuzuschreiben und per Einverständniserklärung zuschreiben zu lassen, obwohl diese Daten von den Nutzerinnen und Nutzern aus privaten Gründen erstellt wurden.

Das geht euch nichts an, obwohl es im Netz steht
Ein weiteres Problem bei der Bewertung des Verhältnisses Öffentlichkeit versus Privatheit thematisiert Niels Brüggen in einem Text, welche die Ergebnisse eines Forschungsprojektes des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis darstellt. [Brüggen, Niels (2009) / „Privatsachen im Internet“ oder „Mein Privatleben geht nur mich was an“ : Auf den Online-Spuren Jugendlicher und ihrer Vorstellungen von Privatsphäre. – In: merz 53 (2009) 4, S. 27-33] Die Auffassung davon, was privat und was öffentlich ist, könnte einfach sehr differenzieren.
Im Allgemeinen wird in der Debatte um Privatheit davon ausgegangen, dass einfach alles, was ins Internet gestellt und nicht explizit durch Passwörter et cetera geschützt wird, öffentlich wäre. Privat sei, was explizit privat gehalten würde. Das beschriebene Forschungsprojekt wollte untersuchen, wie Jugendliche mit ihren privaten Daten umgehen und stieß dabei auf ein die Forschenden irritierendes Problem: die Jugendlichen sahen das überhaupt nicht so, dass die ihre Daten einfach so für Forschungen genutzt werden dürften.
Vielmehr scheint es, das Jugendliche bestimmte Bereiche des Internets, gerade soziale Netzwerke, nicht als öffentlich verstehen, sondern als privat. Zwar hätte jede und jeder die Möglichkeit, die dort eingestellten Daten einzusehen, aber das sei nicht der Sinn des Ganzen: es geht darum, mit Freundinnen und Freunden zu kommunizieren, eventuell auch neue Menschen kennen zu lernen – aber nicht darum, alles allen mitzuteilen. [1]
Dies widerspricht zwar der intuitiven Auffassung der Forschenden, die – wie auch andere – davon ausgingen, dass Dinge, die im Netz stehen, dort stehen, damit sie jede und jeder sehen kann (oder mit ihnen forschen kann). Aber wenn man ehrlich ist, muss man sich fragen, woher eigentlich diese Überzeugung kommt. Gesellschaftlich ist es etabliert, dass es bestimmte Schamgrenzen gibt, die man nicht überschreitet; dass es Situationen und Räume gibt, die man absichtlich nicht wahrnimmt, obwohl man es vielleicht könnte. Und Ähnliches scheint sich für Jugendliche auch im Netz etabliert zu haben: ein Beitrag in einer Online-Community ist für die da, die ein berechtigtes Interesse haben, diese Informationen zu erhalten – wobei berechtigt nicht heißt, dass sie damit Geld machen wollen, sondern dass es Freundinnen und Freunde sind oder Menschen, die bestimmte Interessen teilen. Jeder Vergleich hinkt, aber vielleicht ist diese Auffassung gut mit einen Gespräch in einem Café zu vergleichen: dass kann zwar jede und jeder am Nebentisch hören, aber es ist erstmal nur für die Personen am gleichen Tisch bestimmt. Wer teilhaben will, soll sich mit an den Tisch setzen und wenn er oder sie dort akzeptiert wird, ist das okay. Ansonsten geht der Inhalt des Gespräches niemand etwas an. In dieser Situation ist es im Allgemeinen sozial eintrainiert, diese Gespräche am Nebentisch „nicht zu hören“. Ähnliches scheint von Jugendlichen im Netz auch vorausgesetzt zu werden.
Sie fordern also, wie Brüggen das formuliert, eine „Privatsphäre in Online-Communities“ [Brüggen (2009), S. 32]. Zwar lässt sich die Frage stellen, ob diese Forderung realistisch ist, aber wie Krotz im vorher besprochen Text schon andeutete, wäre es falsch, die Verantwortung an der Nutzung von Daten nur denen zuzuschreiben, welche die Daten einstellen. Es geht offenbar auch um eine Frage des gesellschaftlichen Moral: muss man und soll man alles wahrnehmen, was ins Web 2.0 eingestellt wird?

Fußnote:
[1] Dies deckt sich auch mit der Erkenntnis, dass die Kommunikation Jugendlicher im Internet zumeist gerade nicht „mit allen“ stattfindet, sondern mit denjenigen Menschen, mit denen sie auch in ihrem Alltag außerhalb des Netzes (im Reallife) kommunizieren. Das Netz ist für die Meisten zuvörderst eine weitere Kommunikationssphäre innerhalb der eigenen Peergroups.

XO: Computer, Bildungsgerät, Gutmenschendings

Nahezu die gesamte aktuelle Ausgabe der LOG IN: informatische Bildung und Computer in der Schule ist dem XO, jenem auch als One Laptop Per Child-Gerät (OLPC) bekannten Rechner des OLPC-Projektes sowie dem zwischenzeitlich auch für andere Rechner entwickelten Oberfläche / Quasi-Betriebssystems Sugar des XO gewidmet. Das ist keine falsche Wahl, immerhin handelt es sich bei XO und Sugar um zwei der im globalen Rahmen herausragendsten Hard- und Softwareprodukte für Bildungsarbeit mit Kinder und Jugendlichen, die aktuell vorhanden sind. Und zudem tangieren sie den Themenbereich der LOG IN direkt. Fraglos ist der Rechner, die Software und die „mitgelieferte“ Bildungstheorie für alle Bildungseinrichtungen ein zu diskutierendes Thema. Viel diskutiert wird in der LOG IN allerdings nicht.

Einführung und Beispiele
Den Anfang macht Christoph Derndorfer mit einem schon ziemlich übertrieben positiven Einführungsartikel [Derndorfer, Christoph (2009) / One Laptop per Child : Von einer Vision zur globalen Initiative. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 12-17]. Das ist insoweit verständlich, als das man dies von einem Co-Editor der Website olpcnews wie es Derndorfer einer ist, auch erwarten kann. [http://www.olpcnews.com/mt/mt-cp.cgi?__mode=view&blog_id=4&username=Christoph] Allerdings kann man die LOG IN fragen, ob sie einen Schwerpunkt unbedingt mit einem der sicherlich kompetenten, aber doch sehr klar positionierten Förderer der Projektes aufmachen muss. Ist das nicht in gewisser Weise schon eine zu klare Positionierung der Redaktion? Oder gibt es einfach niemand, der sich näher mit dem OLPC-Projekt befasst hat und dennoch nicht direkt dazu gehört?
Wie dem auch sei: etwas zu unkritisch und glatt, aber ansonsten kenntnisreich, stellt der Text von Derndorfer die Geschichte des Projektes dar, welche man auch schon anderswo schon lesen konnte. Er bespricht nochmal die Grundgedanken und ersten Planungen von 2004/2005. Jedes Kind solle einen eigenen Laptop erhalten, welcher als Bildungswerkzeug konzipiert sei und sowohl das eigene kreative als auch das partnerschaftliche Arbeiten ermöglichen würde. Dieser Rechner sei billig, robust und auf seine Aufgabe zugeschnitten zu konzipieren und mit einer Bildungstheorie zu verbinden. Rechner alleine würden – so die Überzeugung des Leiters des Projektes, Nicholas Negroponte – nicht zur Umgestaltung des Unterrichts und zur Überwindung des digital divides beitragen, aber eine Verbindung von Bildungstheorie, Bildungspraxis und richtiger Hardware könnte dies. Dabei konnten Negroponte und das Team des OLPC-Projektes auf Bildungsforschungen des MIT (Massachusetts Institute of Technology) aus den vergangen Jahrzehnten zurückgreifen, welche vornehmlich in den USA – was für das MIT ja auch nicht anders zu erwarten ist – den Einsatz von Rechnern in Bildungseinrichtungen und unterschiedlichen Ansätzen eines Programmierunterrichts untersucht hatten. Nicht umsonst ist Negroponte am MIT als Professor angestellt und war das OLPC-Project auch lange Zeit vollständig dieser Institution angegliedert.
Daneben, so berichtet Derndorfer, war der Rechner XO von Anfang an darauf ausgelegt, möglichst „grün“ und robust zu sein. So wurde seine Energiebilanz möglichst niedrig gehalten und darauf geachtet, dass er langlebig ist, mit wenig Strom auskommt und auch unter extremsten Bedingungen durch die Gegend geschleppt werden kann. Zudem sollte er einst 100 Dollar kosten. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aktuell wird er für 188 Dollar produziert.
Dernhofer geht auf den Umstand ein, dass der XO zu Beginn auch Aufsehen erregte, weil er sehr stringent das Konzept der Freien Software nutzte. Die mit einigen neuen Konzepten ausgestattete Benutzeroberfläche des XO, Sugar, setzte direkt auf einem Linuxkernel auf und wurde auch ansonsten als Open Source projektioniert. Allerdings wurde dies vor einiger Zeit geändert. Als Microsoft aufhörte, über den 100-Dollar-Laptop zu spotten, versuchte diese Firma – wie auch auf dem Netbookmarkt – Fuß zu fassen, wohl bevor sich Linux oder andere freie Betriebssysteme zu sehr durchsetzten. Mit dem OLPC-Projekt wurden Vereinbarungen getroffen, dass eigentlich veraltete Windows XP zu einer niedrigen Preis auf den Rechnern einzusetzen. Als Begründung, warum sich auf dieses Angebot eingelassen wurde, gab das Projekt an, dass eine Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern dies eingefordert hätten, weil sie mit Windows XP bekannt wären. Allerdings war dies eine ziemliche radikale Abkehr vom Open Source Gedanken, der vom OLPC-Projekt lange Zeit vertreten wurde, aber auch von der Idee, hauptsächlich Software zu nutzen, die pädagogisch sinnvoll sei. Ein Ergebnis dieses Entscheidung, auf das auch Dernhofer eingeht, ist die Trennung der beiden Projekte XO und Sugar. Sugar, die Oberfläche, wird heute als Open Source Produkt, dass sowohl auf Linux als auch auf Windows [1] aufgesetzt werden kann und heute auch auf anderen Rechnern als dem XO läuft, weiter entwicklet; wenn dadurch auch gewisse Vorteile, die sich aus der Zusammenarbeit der Hard- und Software beim XO ergaben, eingebüßt wurden.
Zuletzt verteidigt Dernhofer das OLPC-Project noch einmal gegen den Vorwurf, die Computerisierung wichtiger zu finden, als eine praktischen Hilfe für Menschen in den Entwicklungsländern. Er argumentiert, dass das OLPC-Projekt hauptsächlich ein Bildungsprojekt und Bildung eine der Hauptinhalte einer nachhaltigen Entwicklungshilfe sei.
Diesem Text folgt eine Projektbeschreibung aus Äthopien [Härtel, Hermann (2009) / Das OLPC-Pilotprojekt in Äthopien. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 18-22], wo der XO zuerst in zwei zweiten Klassen und dann, durch eine Spende ermöglicht, an alle Schülerinnen und Schüler von zwei städtischen und zwei ländlichen Schulen verteilt wurde. Der Projektverlauf selber wird wieder sehr positiv dargestellt. So hätte sich die Situation der Lehrmittelversorgung durch die Möglichkeit, mit elektronischen Dokumenten und nicht mit den oft zu spät gedruckten und zu wenig vorhandenen Schulbüchern zu arbeiten stark verbessert. Auch der Musikunterricht wäre durch die Möglichkeiten des Rechners qualitativ besser geworden. Richtig merkt der Artikel an, dass sich auch die weiter berichteten positiven Ergebnisse des Projektes in Äthopien nicht einfach auf Industrieländer übertragen lassen, schon da die Verbreitung von Computern und anderer Informationstechnologie in diesen Ländern unterschiedlich sei und somit ganz andere Voraussetzungen vorliegen würden.

Sugar
Die Hardware und der Grundgedanke des XO sind für sich alleine genommen schon interessant. [2] Aber spätestens durch die Trennung des Sugar-Projekts vom OLPC-Projekt haben sich auch Möglichkeiten für den Einsatz der in diesem Projekt entwickelten Konzepte für Einrichtungen ergeben, die Bildung außerhalb der Schule vermitteln wollen, also auch – aber nicht nur – Bibliotheken.
Sugar ist eigentlich eine Oberfläche, die auf ein Betriebssystem aufgesetzt werden kann und dabei nicht nur das Aussehen, sondern teilweise auch die Funktionen der Rechnernutzung verändern. Das ist für Menschen, die mit freien Betriebssystemen arbeiten, wohl kaum überraschend, für Windows- und Mac-OS-Nutzerinnen und Nutzer aber vielleicht schon. Kurz: ein Betriebssystem muss nicht so aussehen, wie es aussieht und es muss nicht so reagieren, wie es reagiert. Dass es eine Taskleiste gibt oder das der Bildschirm als Müllhalde für alle möglichen Dateien und Verknüpfungen genutzt wird, wie bei Windows oder das es am unteren Bildschirmrand ein Dock geben muss, wie bei Mac-OS, ist eine Entscheidung der anbietenden Firmen, die man jeweils gut oder schlecht finden kann. Aber an sich ist es egal, wie genau die Benutzeroberfläche aussieht und reagiert und mit welchen Konzepten von den Nutzenden Funktionen gestartet werden. Das interessiert den Kernel eines Betriebssystems, also des Programms, welches jeweils die Hauptarbeit leistet, im Grund nicht. Und bei freien Betriebssystemen ist es normal, dass es einfach sehr unterschiedlich konzipierte Benutzeroberflächen gibt, die sich nicht nur im angepassten Layout, sondern auch in ihren Funktionen und im Handling teilweise grundlegend unterscheiden. Diese werden auf den Kernel und die Daten gewissermaßen aufgesetzt, sie können sogar nebeneinander laufen und der Nutzer / die Nutzerin kann bei jeder Sitzung wählen, welcher dieser Windowmanager benutzt werden soll. [3] Zu erklären ist das schwieriger, aber man kann das mal ausprobieren, indem man sich beispielsweise eine Ubuntu, eine Kunbuntu und eine Xubuntu-Live-CD besorgt und diese hintereinander ausprobiert. Das ist grundlegend alles das gleiche Betriebssystem mit einem angepassten Linuxkernel und einer Auswahl gebündelter Programme. Der Hauptunterschied ist tatsächlich die Benutzeroberfläche, aber dieser Unterschied bestimmt das Handling.
Okay, nach diesem Vorwort: auch Sugar funktioniert ähnlich und setzt erst einmal auf das vorhandene Betriebssystem auf. Dies kann man auch selber mit einer Live-CD von Sugar ausprobieren, welche beispielsweise in der aktuell LOG IN beiliegt oder von der Homepage des Projektes unter http://wiki.sugarlabs.org/go/Downloads herunter geladen werden kann. Man kann dafür auch einen USB-Stick einsetzen und Sugar direkt vom USB-Stick aus betreiben. Ich hab nicht Wirklich Ahnung, wie dies genau auf Windows oder Mac-OS (dort mit Virtual Box) funktioniert. Aber auf meinem Linuxsystem (OpenSuse 11.1) erschien, nachdem ich Sugar aus den Repositories geladen hatte, beim Anmeldebildschirm neben den schon installierten Windowmanagern einfach ein weiterer Manager, eben Sugar. Fertig ist die Umsetzung von Sugar für andere Distributionen aber noch nicht wirklich, d.h. es gab zumindest bei mir noch einige Stellen, an denen es hakte. Aber das heißt ja gerade bei OpenSource nicht, dass das nicht alles bald ganz anders ist.
Der Witz ist, dass sich Sugar, auch wenn es eigentlich „nur“ die Schicht zwischen Kernel und Nutzenden darstellt, anfühlt wie ein eigenständiges Betriebssystem. Das gesamte Handling und die Programme sind anders, als bei jedem anderen Betriebssystem. Das stellt Rita Freudenberg in ihrem Text in der LOG IN länger dar. [Freudenberg, Rita (2009) / SUGAR – ein Betriebssystem zum Lernen. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 40-44] Grundsätzlich ist Sugar der Aufgabe, konstruktivistisch orientiertes Lernen zu ermöglichen, angepasst. Die Idee ist, in Sugar das Selber-tun und das entdeckende Lernen miteinander zu verbinden. Auffällig sind folgende Konzepte:

  • Zusammenarbeit. Sugar versucht, ein lokales Mesh-Netzwerk herzustellen, d.h. mit anderen Rechnern nicht unbedingt ins Internet zu gehen – was angesichts der Netzabdeckung in anderen Teilen der Welt nicht immer sinnvoll oder schmerzfrei zu haben wäre –, sondern die Rechner „drumherum“ zu einem Netz zu verbinden. Selbstverständlich müssen dann zum Kommunizieren die Nutzenden der jeweiligen Rechner zustimmen. Aber die Idee ist, in Klassen- und Lernräumen ad hoc Arbeitsgruppen bilden und in diesen über den Rechner kommunizieren und zusammen arbeiten zu können. Deshalb werden Rechner in Sugar auch durchgängig als symbolisierte Menschen (schräg stehende Kreuze mit Punkt drauf, wie auf der Homepage des Sugar Projects mehrfach zu sehen ist) dargestellt, weil sich hinter diesen Rechnern für die Lernenden halt keine anderen Rechner, sondern andere Lernende befinden. Sobald ein Netzwerk errichtet ist, kann mit einigen Mausklicken zwischen diesen kommuniziert werden, wie sonst auch per VOIP oder Instant Messaging, gleichzeitig können Rechner gruppiert werden.
  • Aktiviäten statt Programme öffnen und Dateien laden. Sugar orientiert sich eher an der real erlebten Welt, indem Malen auch nicht unbedingt in Stifte rausholen („Programm starten“), altes Bild holen („Laden“), malen („bearbeiten“) und Speichern unterteilt wird, sondern eher als gesamte Aktivität gilt. So speichert Sugar ständig alle bearbeiteten Dokumente mit den geöffneten Programmen sofort nach jeder Veränderung und behält sie bei Schließen in diesem letzten Zustand offen. Jederzeit kann ein Dokument geschlossen werden und steht dann wieder so zur Verfügung, wie es beim Schließen aussah. Das hört sich nicht so neu an, ist aber tatsächlich eher so, als würde ich nie aufräumen, sondern meine Texte einfach auf dem Schreibtisch liegen lassen, wenn ich zum Socializen losgehe und mich dann sofort wieder an den Schreibtisch setzen. (Hier wäre es wirklich gut, selber ein bisschen mit Sugar zu spielen, um den Unterschied nachvollziehen zu können.) Der Sinn dahinter ist, sich eher an der Lebenswelt der Lernenden und nicht so sehr an den Konzepten analytisch ausgebildeter Informatiker und Informatikerinnen – die unsere Wahrnehmung des Computers geprägt haben – zu orientieren. Deshalb ist die ganze Struktur mit Ordnern, Programmen und einzelnen Dateien – welche ja auch eine Abstraktion des Speicherinhalts und Funktionsumfangs darstellt und eben nicht „natürlich“ ist – bei Sugar aufgehoben und als „Aktivitäten“ zusammengefasst.
  • Schichtweise Erweiterung. Sugar wächst – zumindest theoretisch – mit dem Wissen und Können der Nutzenden. Die Grundeinstellung ist für Menschen ausgelegt, für die der XO unter Umständen das erste elektronische Gerät ist, d.h. die Bedienungen sind möglichst einfach und an der Lebenswelt von Menschen orientiert und nicht an einem Vorwissen aus anderen Betriebssystemen oder technischen Apparaturen. Gleichzeitig lassen sich mit wachsendem Wissen weitere Programme zuschalten und somit die Komplexität des Systems erhöhen, wenn auch keines der anderen Betriebssysteme vollständig ersetzt werden kann (was aber auch nicht das Ziel von Sugar ist). [Zudem lässt sich in Sugar auch immer die Kommandozeile ansteuern und somit eigentlich auch mit Sugar alles machen, was man mit einem anderem Windowmanager machen kann.]

Eines der Steckenpferde des MIT war bei der Entwicklung des XO und von Sugar das Programmieren. Kinder sollten unbedingt ordentlich programmieren lernen, weil sie dies in die Lage versetzen würde, einerseits eigene Programme zu schreiben, andere zu manipulieren oder Geräte zu steuern und anderseits ihr kreatives und planendes Denken elementar zu verbessern. Diese Grundidee, die schon weit vor dem XO am MIT vertreten wurde und beispielsweise mit dem intensiven Einsatz der Lern-Programmiersprache LOGO einher ging, hat sich auch auf Sugar niedergeschlagen. Gleich zwei Artikel der LOG IN berichten über die verschiedenen Programme und ihre Anwendungsmöglichkeiten. Dabei zeichnen sich die Programm dadurch aus, dass sie Quellcode anders als nur als reiner Text darstellen, beispielsweise als Bausteine, und damit das Programmieren als Spiel und Plan begreifbar machen. [Wedekind, Joachim ; Kohls, Christian (2009) / Programmieren mit dem XO-Laptop. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 45-50 und Baumann, Rüdeger (2009) / Sprechende Katze und Zeichenschildkröte. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 51-58]

Bildungstheorie?
Weitere Artikel der hier besprochenen Ausgabe der LOG IN beschäftigen sich beispielsweise mit der Hardware des XO oder der Unterrichtsplanung. Heraus stechen allerdings zwei andere Texte, die sich nicht so sehr mit dem Rechner und dem System auseinander setzen, als vielmehr mit pädagogischen Fragen.
Carmen Zahn [Zahn, Carmen (2009) / Gestaltendes Lernen : „Learning by design“ im Schulunterricht? – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 27-35] stellt sehr richtig die Frage, welche Vorstellung von Bildung eigentlich hinter dem OLPC-Projekt steht. Aber auch das nicht wirklich kritisch, obwohl sie immerhin bemerkt, dass die empirische Basis der verwendeten Bildungstheorie nicht wirklich breit ist. Aber das scheint auch ihre einzige kritische Anmerkung zu sein.
Grundsätzlich beruft sich das OLPC-Projekt beständig auf den Konstruktivistischen Lernansatz, dem heutzutage eigentlich – zumindest rhetorisch – auch fast alle anderen Bildungsinitiativen und -einrichtungen folgen. Die grundlegende Vorstellung des Konstruktivismus – als Bildungstheorie, nicht als philosophische, mathematische, künstlerische oder sozialwissenschaftliche Richtung – lautet, dass es zuallererst die Lernenden selber sind, die das Wissen konstruieren, welches sie lernen oder nicht lernen. Es gäbe keine direkte Vermittlung von Wissenden (z.B. Lehrer / Lehrerin) zu Lerndenden (z.B. Schülerinnen / Schüler), sondern „nur“ die Möglichkeit, Lernprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen. Dies impliziert eine Abkehr von der Vorstellung der Wissensvermittlung hin zur Vorstellung einer Unterstützung und Steuerung von Lernprozessen. Die Hauptarbeit beim Lernen haben die Lernenden selber zu tragen; die Lehrenden hätten nicht die Aufgabe, Informationen vorzustellen und zu wiederholen, sondern die Bildungsarbeit der Lernenden zu ermöglichen. Soweit die Theorie.
Dem Konstruktivismus inhärent ist die Vorstellung, dass es immer sehr unterschiedliche Möglichkeiten gäbe, ein Lernergebnis zu erreichen und deshalb auch eine möglichst breite Palette von Lernmöglichkeiten unterstützt werden müsse. Dabei wird angenommen, dass ein Lernprozess, der im Alltag verortet und möglichst mit dem eigenen Ausprobieren verbunden ist, zumeist erfolgreicher ist, als ein zu sehr gelenkter. An diesen Grundsätzen orientieren sich die Bildungsprojekte des MIT und damit auch das OLPC-Projekt. Hinzu kommt, dass der Konstruktivismus den Wert einer Zusammenarbeit von Lernenden an einem Thema betont, weil so der Prozess der Konstruktion von Wissen vorangetrieben wird. Gerade dieser Aspekt wurde beim XO und bei Sugar beständig hervorgehoben.
Zahn diskutiert die Grundideen des Konstruktivismus – beziehungsweise konstatiert sie eine Weiterentwicklung zu einem Konstruktionismus, wobei sie den Unterschied zwischen beiden nicht wirklich darlegt [4] – , stellt mit Jean Piaget und Saymour Papert – wieder einmal – Gründungsfiguren dieser Richtung vor. Und ebenso wieder holt sie die grundsätzliche Kritik, dass der Konstruktivismus eher ein Lernansatz und weniger eine eigenständige Theorie sei, ohne daraus aber irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Anschließend stellt sie eine Reihe von Forschungen zum Einsatz von Computern in der Schule dar, die mit diesem Ansatz arbeiteten. Ein Großteil dieser Studien, aber nicht alle, stammen aus dem MIT und kommen eigentlich allesamt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Computern bei geeigneten Lehrkräften und einem passenden Bildungskonzept für die Lehre in der Schule Vorteile bringt. Zahn scheint davon nicht ganz überzeugt, weil sie richtig sieht, dass die Aussagekraft aller dieser Studien beschränkt ist. Nichtsdestotrotz schließt sie mit der Überzeugung, dass ein Lernen mit Rechnern und konstruktivistischen Lehransätzen ein hohes Potential hat, welches allerdings nur durch ein Verbindung von Technik und Kompetenz bei den Lehrkräften nutzbar würde.
Ebenso gedämpft positiv äußern sich Richard Heine von Schulen ans Netz e.V. und Joachim Wedekind, der für die hier besprochene Ausgabe der LOG IN verantwortlich war, in einem Gespräch über die Möglichkeiten des Ansatzes des OLPC-Projekt in Deutschland. [Heinen, Richard ; Wedekind, Joachim (2009) / Pädagogische Konzepte versus Hardware. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 36-39]
Heinen betont – im Gegensatz zu Einigem, was sein Verein früher einmal erzählte –, dass Computer erst dann wirklich zur Veränderung des Schulalltags beitragen würden, wenn sie als normales Lern-, Arbeits- und Spielemittel im alltäglichen Gebrauch wären. Solange sie hauptsächlich als Teil eines besonderen Lernraumes angesehen werden, würden sie auch kaum einen Auswirkung auf die Medienkompetenz der Lernenden haben – wieder etwas, was sein Verein Ende der 1990er noch gänzlich anders gesehen hat. Er möchte Laptops als Ergänzung zum „Werkzeug“ der Lernenden machen und nicht zum Lernmaschine für bestimmte Fälle, also – dieser Vergleich ist direkt aus dem Text – eher zum Stift und Hefter hinzufügen als zum Bestand der Klassensätze einer Schule.
Als herausragenden Ansatz beschreibt Heinen die Entwicklung einer eigens auf die Aufgaben des XO als Bildungswerkzeug ausgerichtete Softwareplattform, die große Freiheiten zulässt, aber eben nicht ein „vollständiges“ Realweltsystem darstellt. Hervor hebt er gerade die auch hier schon beschriebenen Besonderheiten von Sugar, wie die Orientierung an den Fähigkeiten der Lernenden und die Betonung von Zusammenarbeit.
Widersprochen wird sich in diesem Gespräch nicht. Wedekind postuliert am Ende unter Zustimmung von Heinen einige Punkte, die er als notwendig für ein erfolgreiches OLPC-mäßiges Projekt ansieht [ebenda, S. 39]:

  • Ein Rechner für jedes Kind
  • Lernplanbezogene Werkzeuge und Materialien
  • Inhaltliche Begleitung aller Beteiligten
  • Finanzielle Entlastung der Eltern durch die Schulträger
  • Intensive Lehrerfortbildung
  • Eine Vorlaufphase für die Entwicklung lehrplanbezogener Materialien
  • Ein mindestens vierjähriges, wissenschaftliche evaluiertes Projekt im Grundschulbereich

Bibliotheken?
Heißt das etwas für Bibliotheken? Bestimmt – zumindest in den Ländern, in denen große OLPC-Projekte durchgeführt werden. Aber für Bibliotheken in Deutschland? Vielleicht.
Nicht zu unterschätzen ist wohl der sowohl rhetorische als auch der ernst gemeinte Bezug auf konstruktivistische Lerntheorien. Diese sind nicht wirklich neu, aber es scheint doch aktuell im Bildungsbereich eine absurde Doppelbewegung zu geben. Auf der einen Seite – um es als sehr vereinfachtes Bild zu zeichnen – die Bildungspolitik und Bildungsökonomie, welche Bildung immer mehr als standardisierbare und abrechenbare Aktivität ansieht und Begrifflichkeiten wie Standard, Qualitätssicherung, Best Practice und Monitoring popularisiert. Auf der anderen Seite die Erziehungswissenschaft und andere an Bildung interessierte Wissenschaftsbereiche, die sich fast durchgängig an konstruktivistischen Theorien orientieren – wenn dies auch nicht immer so offen gesagt wird – und nicht die Qualität und Standards, sondern die individuellen Lernenden und die Organisation von Lernumgebungen und Lernaktivitäten in den Blick nehmen. Beide Seiten versuchen oft sich gegenseitig nicht so recht wahrzunehmen, aber das ergibt letztlich nur eine absurde Situation, in deren Mitte sich Lernende und Lehrende (oder Lernumgebungsorganisierende) befinden. Das OLPC-Projekt ist da ein sehr explizites Projekt, das sich auf eine Seite bezieht und die andere mit einigen, wenig aussagekräftigen Schlagworten abspeist.
Sobald sich Bibliotheken als Teil eines formellen Bildungssystems oder gar als Bildungsort begreifen, werden sie sich mit in dieses Feld begeben. Das ist deshalb interessant, weil die offiziellen Bibliotheksorganisationen sich offenbar zur Zeit hauptsächlich auf die bildungspolitische Richtung beziehen, während sie eigentlich bessere Voraussetzungen für eine konstruktivistisch orientierte Bildungsarbeit haben, als für eine standardisierbare Bildungsarbeit, auf die sich aber indirekt in bibliothekarischen Texten und Projekten immer wieder bezogen wird.
Daneben wird sich, falls sich die Forderung durchsetzt, dass Computer in Schulen als allägliche Lernmittel und Werkzeuge verwendet werden sollen, sich dies auch auf Bibliotheken durchschlagen. Dann geht es nämlich nicht mehr darum, für eine Gesellschaft, in der einige Menschen viel mit ihrem Rechner machen, andere aber nicht, zu arbeiten; sondern dann werden immer mehr computerliterate Jugendliche – normale Jugendliche, nicht nur einige wenige, eigentlich immer nette „Nerds“ – als Nutzende in den Bibliotheken stehen oder aber nicht in Bibliotheken gehen. Was macht man dann? Selbstverständlich sind heute eine immer größere Zahl von Öffentlichen Bibliotheken mit HotSpots und Computerarbeitsplätzen ausgestattet, aber wird das reichen? Eher nicht. Und wenn Lehrerinnen und Lehrer nachgebildet werden müssen, um kompetent zu blieben beim Lernwerkzeug Computer, werden auch Bibliothekarinnen und Bibliothekare sich das notwendige Wissen, um solcher Lernende verstehen und bei Lernprozessen unterstützen zu können, nicht (immer) nur selber beibringen können. Aber wie sollte das dann geschehen und um welches Wissen geht es eigentlich genau?
Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob solche Rechner wie der XO auch in die Bibliothek gehören, wenn ja, in welche Bibliothek und wofür? Diese Frage hat sich auch schon bei vielen anderen Techniken gestellt und nicht immer waren die von Bibliotheken getroffenen Entscheidungen im Nachhinein als die bestmöglichen zu beschreiben. Aber stellen wird sich die Frage spätestens wieder, wenn der XO – oder ähnliche Rechner oder auch „nur“ die Sugar-Oberfläche – in deutschen Schulen zur Standardausstattung wird. Denn dann wird es nicht mehr um Trends im Web handeln, die vielleicht schon wieder vorbei sind, wenn sie im bibliothekarischen Diskurs auftauchen.

Gutmenschendings?
Der Nachgeschmack zu der aktuellen Nummer der LOG IN ist eher bitter. Das ganze Projekt mag ja vorzeigbare Ergebnisse haben, aber irgendwie schleicht sich das Gefühl ein, als wäre letztlich im Großen und Ganzen alles richtig und zu unterstützen, was das OLPC-Projekt betrifft. Kritik wird nur sehr sanft geäußert und zielt niemals darauf, mehr als nur Kleinigkeiten zu verändern. Ist das wirklich so? Ist der XO so was wie der Umweltschutz: eigentlich sind alle dafür, insbesondere Menschen, die wollen, dass die Welt irgendwie besser wird, ohne selber dafür zu viel tun zu müssen? Irgendwie sind alle der Meinung, dass das alles richtig und wichtig ist, aber jede und jeder weiß, dass es so einfach auch nicht sein kann. Bisher scheinen der XO und Sugar aber tatsächlich hauptsächlich positive Ergebnisse hervorzubringen. Wo ist der Hacken?

Fußnoten
[1] Auf Mac-OS kann Sugar offenbar indirekt laufen, andere Betriebssysteme sind offenbar angedacht, auch wenn der Status dieser Umsetzungen nicht ganz klar ist.
[2] Wie schon schon einmal anderswo ausführte, hat die Entwicklung dieses 100-Dollar-Laptops einen großen Anteil an den Netbooks, die ja den Computermarkt ziemlich aufgemischt haben.
[3] It’s all about having a choice, isn’t it?
[4] Selbstverständlich könnte man Unterschiede zwischen Konstruktivismus und Konstruktionismus aus anderen Quellen anführen, allerdings scheint diese Unterscheidung von den Vertreterinnen und Vertretern des XO und des Sugar-Projekts so gut wie nie gemacht zu werden. Deshalb soll das hier auch nicht weiter ausgeführt werden.

Biographisches Lernen im Alter oder Humankapital weiter nutzen?

Die Publikation Weiterbildung – Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends, die früher einmal GdWZ (Grundlagen der Weiterbildung) hieß und vielleicht noch unter diesem Namen bekannt ist, ist schon länger durch zwei widerstreitende Tendenzen geprägt. Einerseits versucht die Zeitschrift Hinweise aus und für die Praxis der Weiterbildung zu veröffentlichen. Diese Praxis ist aktuell von einem Diskurs geprägt, der Lernende zu Kundinnen und Kunden von Bildungsangeboten erklärt, Bildungsangebote deshalb auch vorrangig als Produkte begreift – mit den gesamten Problemen der Standardisierbarkeit, Abrechenbarkeit, Reproduzierbarkeit und Eingrenzung, die mit einem solchen Fokus auf soziale Prozesse einhergehen – und als Hauptgrund, teilweise auch einzigen Grund für die Teilnahme an Bildungsaktivitäten ein direkten oder indirekten finanziellen Gewinn der Teilnehmenden antizipiert. Andererseits versucht die Zeitschrift Weiterbildung immer, wissenschaftliche Beiträge, also hauptsächlich erziehungswissenschaftliche, zum jeweiligen Heftthema einzuwerben. Diese wissenschaftlichen Beiträge sind im allgemeinen ziemlich interessant und von gestandenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschrieben. Allerdings widersprechen sie als erziehungswissenschaftliche Texte beständig den oftmals fast schon naiven Praxisbeiträgen.
Man würde vielleicht das Gegenteil erwarten, also das die wissenschaftlichen Texte viel Theorie und wenig Empirie liefern würden, während die praktischen Beiträge die Realität darstellten. Aber zumindest bei den meisten praktischen Texten in der Weiterbildung drängt sich der Eindruck auf, dass die jeweiligen Schreibenden eine relativ a-gesellschaftliche Sicht auf die Welt haben, die sich um ihr jeweiliges Projekt beziehungsweise ihre jeweilige Firma dreht und das sie mit Vorstellungen über das Lernen und die Aneignung von Wissen arbeiten, die wenig mit dem zu tun haben, was die Erziehungswissenschaft – die allerdings auch oft darauf hinweist, dass sie selber bislang wenig Ahnung davon hat – über die Gründe für den Erfolg und Misserfolg von Lernaktivitäten, über die Formen der Aneignung von Wissen und die Gründe für die Teilnahme und Nichtteilnahme von Lernenden weiß. Vielmehr ist diese „praktische Sicht“ eher betriebswirtschaftlich und wenig pädagogisch und / oder didaktisch orientiert. (Das hat sein Gründe, insbesondere bei freiberuflich Arbeitenden, die sich schließlich beständig Gedanken machen müssen, wie sie sich finanzieren können. Aber es ist doch fragwürdig, wie sie dies erfolgreich im Weiterbildungssektor tun können, wenn sie kaum sagen können, wie und wieso Menschen überhaupt etwas lernen. Vielleicht sagt das auch etwas über die Qualität der Weiterbildung aus.)
Diese auffällige Ungleichzeitigkeit der Zeitschrift prägt auch das aktuelle Heft der Weiterbildung zum Themenbereich „Lernen im Alter“. (Es heißt zwar „Übergang Beruf – Ruhestand“, aber das ist im Heft nur ein – wichtiger – Punkt.)

Nutzung von Humanressourcen
Da gibt es beispielsweise die beiden Texte von Hans-Jürgen und Brigitte Mathias und von Dr. Christiana Lütkes [Mathias, Hans-Jürgen ; Mathias, Brigitte (2009) / Ohne Ruhe, ohne Stand : Beispiel: Seminare zur Gestaltung der dritten Lebensphase. – In: Weiterbildung 20 (2009) 3, S. 18-20 und Lütkes, Christiana (2009) / Freiwillige engagiert bleiben : Beispiel: Agentur für gesellschaftliches Engagement. – In: Weiterbildung 20 (2009) 3, S. 21-23]. Im ersten Text werden Seminare für aus dem Dienst ausgeschiedene Berufssoldaten beschrieben (Die offenbar unter sich bleiben wollen, aber vielleicht ist das auch nur mein Eindruck. [1] ), die von den beiden AutorInnen organsiert werden. Der Text selber beschreibt wenig Spannendes. Es werden Seminare angeboten, die helfen sollen, die Situation nach dem Dienst (also „in Rente“, aber offenbar wird das nicht in dieser Terminologie benutzt, vielleicht klingt es zu zivil) besser durchzustehen. Es wird konstatiert, dass es offenbar ein Problem gibt, den notwendigen (neuen) Sinn im Leben zu finden. Immerhin waren die Seminare schnell ausgebucht, obwohl sie inhaltlich wenig Neues vermittelten, sondern einen Überblick zu Themen wie Kunst, „Fragen, die unser Leben begleiten“ [2] und den Leistungen des Sozialdienstes der Bundeswehr boten. Letztlich treffen sich hauptsächlich katholische Zeitsoldaten im Ruhestand mit ihren Ehefrauen [3] und versuchen, sich auf die folgende Lebenszeit vorzubereiten. Wichtig ist den AutorInnen des Textes, darauf zu verweisen, das Zeitsoldaten auch nach ihrem Berufsleben ihre vollen Fähigkeiten nutzen können sollen.
Der zweite Text beschreibt – geschrieben von der Leiterin – die Agentur für gesellschaftliches Engagement in Hamm. Diese Agentur versucht quasi zwischen sozialen Aufgaben und Seniorinnen und Senioren, die sich für diese Aufgaben ehrenamtlich engagieren sollen, zu vermitteln. Es werden Projekte gesucht, die ehrenamtliche Hilfe gebrauchen können und gleichzeitig Ehrenamtliche für Projekte geworben. Die Ehrenamtlichen werden in diesen Projekten unter anderem pädagogisch unterstützt. Sie lehren aus ihrer Erfahrung, arbeiten und lernen gleichzeitig etwas. Ist das schlecht? Nicht wirklich. Wer ehrenamtlich aktiv sein will, sollte dabei unterstützt werden, auch pädagogisch. Und wer sich nicht selbstständig eine ehrenamtlich Tätigkeit suchen will oder kann, sollte dabei auch unterstützt werden. Das sollte in einer reichen Gesellschaft, wie der deutschen, die gleichzeitig eh zu wenig Arbeitsplätze hat, für alle normal sein. Irritierend ist allerdings, wie selbstverständlich der Text davon ausgeht, dass Menschen nach ihrer Berufstätigkeit weiter in dem Bereich, in welchem sie zuvor arbeiteten, tätig sein wollen, auch ehrenamtlich. Man fragt sich beim Lesen des Textes willkürlich, warum sie früher überhaupt dafür bezahlt wurden, wenn sie jetzt im Ruhestand so begeistert weiterarbeiten. Das ist relevant, weil auch die Bildungsangebote für diese Ehrenamtlichen auf diese Tätigkeiten im Ehrenamt zugeschnitten sind, nicht etwa auf die direkten Interessen der Seniorinnen und Senioren. [4]
Es gibt noch einige dieser Texte, wichtig ist der Trend in ihnen: der Ruhestand wird als eine Phase beschrieben, die als sinnlos erlebt wird und als größter Wunsch der Seniorinnen und Senioren wird angenommen, das, was sie schon vorher getan haben, auch weiter tun zu wollen. Es geht um das Denken in Humanressourcen, welches Wissen und Fähigkeiten vor allem als Items begreift, welche beständig im gesellschaftlich-produktiven Sinne angewandt werden müssten. Die gesamten Bildungsangebote, die in diesen Texten beschrieben sind, zielen darauf ab, dies zu unterstützen, also entweder Menschen dabei zu helfen, ihr Leben „sinnvoll“, dass heißt hauptsächlich weiterhin produktiv, zu gestalten und / oder das vorhandene Wissen auch nach der Berufstätigkeit so weit zu updaten, wie es für das Ehrenamt gebraucht wird.
Gewiss gibt es Menschen, die von einem solchen Ansatz profitieren. Aber es ist dennoch eine relevante Einschränkung der möglichen Bildungsgründe von Menschen im Ruhestand. (Es ist auch eine ziemliche Einschränkung der Gründe für ein ehrenamtliches Engagement, wenn man behauptet, dies würde vor allem deshalb praktiziert, weil man quasi nach der Arbeit weiterarbeiten wollte.) Der Witz am Ruhestand ist ja, dass man dann nicht mehr der Arbeitsroutine und den Anforderungen des Arbeitsverhältnisses unterworfen ist. Vielmehr kann man im Ruhestand, wenn man dazu Lust hat, auch einfach immer im Bett liegen bleiben und Fernsehen gucken oder, wenn die Rente reicht, auch ständig auf Reisen sein oder nochmal Programmieren lernen und einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung Freier Software leisten. Das ist die Entscheidung einzelner Menschen, nicht der Weiterbildungseinrichtungen, nicht der Gesellschaft und auch nicht der informellen Bildungsorte wie Bibliotheken. Alles andere ist eine Einschränkung des Blickwinkels von gesellschaftlichen Einrichtungen, die Menschen im Ruhestand einfach nur als Träger ihres Berufswissens definieren. Daraus resultiert dann auch folgerichtig eine Einschränkung der Bildungs- und Betätigungsmöglichkeiten dieser Menschen.

Warum lernen die Alten nicht, was sie lernen sollten?

Wenn kein Sinn (mehr) gesehen wir in weiterer Bildungsakkumulation, dann braucht es allerdings Seminare, die ihren Sinn erst einmal finden lernen lassen, die den Alten, die in die erwerbsarbeitsfreie Lebensphase übergehen, aufzeigen, was sie dann noch „Sinnvolles“ tun können – um dies schließlich als Ergebnis eines autonomen Erkenntnis- und selbstgesteuerten Entscheidungsprozesses verstehen zu können. […] Wäre es nicht angemessener, die Alten selbst entscheiden zu lassen, was sie tun wollen und was nicht, anstatt ihnen das Gefühl zu suggerieren, ohne entsprechende Aktivitäten nur noch „altes Eisen“ zu sein? [Bolder, Axel (2009) / Suggerierter Bildungsbedarf? : Gegenrede: Von Pädagogik und Andragogik zur Geragogik. – In: Weiterbildung 20 (2009) 3, S. 24-26, Seite 26]

Nur einige Seiten weiter steht im gleichen Heft das gerade zitierte Fazit. (Okay, das ist etwas getrickst, weil die Rubrik, in der der Text steht, nicht umsonst Gegenrede heißt. [5] ) Axel Bolder kritisiert in seinem Text gerade die Vorstellung, die in den beiden besprochenen Texten so explizit geäußert wird: dass die Seniorinnen und Senioren lernen müssten, in ihrem Leben nach der Karriere einen Sinn zu finden und dass sie dafür viel lernen müssten. Er konstatiert vielmehr, dass ein Großteil der Bildungsangebote für diese Zielgruppe vollkommen an deren Interessen vorbei geplant ist und diese deshalb auch nicht funktionieren.
Als einen wichtigen Grund für dieses Zustand beschreibt er (wieder einmal) die in der Bildungsplanung verbreitete Vorstellung von Bildung, als eine Tätigkeit, die „sich lohnen müsse“ (und wenn es „ideeller“ Art sei). Diese Unterstellung findet sich in den Konzepten von Bildungsangeboten und Bildungseinrichtungen tatsächlich beständig wieder, sobald sich diese stark am betriebswirtschaftlichen Denken orientieren. Gerade in seiner platten Form außerhalb der Universitäten operiert dieses Denken heutzutage zumeist mit einem sehr sehr simplen Modell um zu erklären, warum Menschen Kaufentscheidungen treffen. Die Idee ist, dass Menschen nur dann Dinge kaufen, wenn sie darin einen Sinn sehen können. Es wird unterstellt, dass dieser Sinn immer rekonstruierbar sei und deshalb die Kaufentscheidungen immer in gewisser Weise rational wären. Als Hauptgrund für eine solche rationale Entscheidung wird der Preis angenommen, aber das ist nur ein erster Ansatz. Die tatsächlichen Gründe für Kaufentscheidungen sind selbstverständlich komplexer, deshalb wird zu dieser Theorie auch immer wieder einmal eine neue Kategorie an „rationalen Gründen“ hinzugefügt (beispielsweise Wohlbefinden, langfristige Kostenanalyse, Wissen / Nicht-Wissen um Alternativen, Vertrautheit mit einem Produkt etc.). Gleichzeitig betonen die intellektuellen Vertreterinnen und Vertreter immer wieder, dass dies nur ein Modell sei, dass selbstverständlich nicht das gesamte Handeln von Menschen erklären könnte. Das scheint aber oft nicht bei denen anzukommen, welche diesen Denkansatz popularisieren. Nimmt man diesen Ansatz aber her und definiert auch Bildungsaktivitäten als Produkt, dann ist es nur folgerichtig, davon auszugehen, dass die Entscheidung von Menschen für eine Bildungsaktivität immer einen Sinn haben muss und nicht einfach so oder aus reinem Interesse gefällt wird. Es ist auch folgerichtig anzunehmen, dass Menschen, die bestimmte Bildungsangebote nicht wahrnehmen, einfach den Sinn dieser Angebote für ihr Leben nicht begriffen haben und das sie deshalb vor allem diesen Sinn begreifen müssen, um dann selbstmotiviert zu lernen. Bolder meint zu Recht, dass das so nicht funktioniert, insbesondere nicht im Leben im Ruhestand und unter dem modernen Paradigma vom Lebenslangen Lernen als Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit durch Bildung. Er führt die Thematisierung von quasi-arbeitsmarktähnlichem Lernen für das Ehrenamt nach der Berufstätigkeit auch auf die Interessen der Bildungsanbieter zurück, die zuvorderst daran interessiert seien, zu überleben und nicht, die Interessen der Rentnerinnen und Rentner zu berücksichtigen.
Aber es geht nicht nur um diese ökonomische Perspektive. Prof. Dr. Peter Faulstich postuliert in seinem Text [Faulstich, Peter (2009) / Lebensentfaltende Bildung : Zielsetzung von Lernen im Alter. – In: Weiterbildung 20 (2009) 3, S. 8-11], dass es weit mehr Barrieren und Gründe dafür gibt, dass Rentnerinnen und Rentner nicht so lernen, wie sich das im Praxisteil der gleichen Zeitschrift (oder auch aktuell in Broschüren des Bundesministerium für Bildung und Forschung) vorgestellt wird. Zum einen zeigt er, dass die Vorstellungen davon, was im Alter gelernt wird und werden soll, vom Bild einer Gesellschaft über dieses Lebensalter abhängt. Das scheint keine große Erkenntnis zu sein, zeigt aber noch, dass die Vorstellung, dass sich Bildungsinhalte quasi „natürlich“ aus der Entwicklung der Gesellschaft und der Menschen ergäben, gerade für das „dritte Lebensalter“ Unsinn ist. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel aus individuellen Faktoren, gesellschaftlichen Rahmendingungen, Altersbildern der Gesellschaft, das bestimmt, ob und wenn ja, wie im Alter was gelernt wird. Der Text selber ist zu kurz, um über einige Hinweise hinausgehend diesen Zusammenhang gründlicher darzustellen. Faulstich verweist aber weiterhin darauf, dass auch eine zu naive Lerntheorie dazu beitragen kann, dass Bildungsaktivitäten oder die Unterstützung selbstmotivierter Lernaktivitäten vollkommen falsch geplant werden. Wenn Lernen als ein Wissen-einimpfen (oder upleveln) verstanden wird und nicht als produktiver Prozess, in dem die Lernenden hauptsächlich selber Wissen generieren oder auch nicht generieren und der auch andere Gründe haben kann, als die reine Wissensaneignung, dann ist eine Planung von Bildungsaktivitäten, die hauptsächlich von der Frage ausgeht, was für Wissen die Teilnehmenden am Ende haben sollen, kontraproduktiv. Weitergehend kritisiert Faulstich das Modell, Bildung hauptsächlich als Verringerung eines Defizits anzusehen. Er plädiert vielmehr dafür, von einem Prozess auszugehen, der die Persönlichkeit der Lernenden „entfalten“ hilft.

Bibliotheken
Bibliothekarinnen und Bibliothekare machen sich ja gerne einen Spaß daraus, nach zu schauen, ob in irgendwelchen Texten Bibliotheken erwähnt werden. In der Weiterbildung (zumindest in der aktuellen Ausgabe) können sie sich wieder einmal aufregen: sie werden nicht erwähnt.
Das heißt wieder einmal nicht, dass die Texte für die Arbeit in Bibliotheken sinnlos wären. Vielmehr gab es in den letzten Monaten einige publizierte Überlegungen zur bibliothekarischen Arbeit für und mit Menschen im Ruhestand. Nicht alle diese Arbeiten waren gleich sinnvoll, vielmehr scheinen sie zum Teil auch die Defizite aufzuweisen, die weiter oben für den praktischen Teil der aktuellen Ausgabe der Weiterbildung benannt wurden und den Ruhestand hauptsächlich als einen Zeitraum wahrzunehmen, in welchem Leute ihr Arbeitsleben weiter fortsetzen wollen, nur halt mit einem anderen Finanzierungsmodell. Gerade deshalb wären die erziehungswissenschaftlichen Texte der Weiterbildung auch für bibliothekarische Diskussionen sinnvoll, weil sie zeigen, dass es so einfach nun auch nicht ist. Schließlich, um das nochmal zu sagen, hat man als Rentnerin oder Rentner auch das Recht, die ganze Zeit nur Fernsehen zu schauen und sich um jedes Buch, jede Zeitschrift und jede weitere Lernaktivität zu drücken, egal wie gut die Bibliothek um die Ecke arbeitet oder wie viele Freiwilligenagenturen im Kiez aktiv sind. Das ist ja der Witz an der Rente – man hat lange genug gearbeitet, um endlich von den Zumutungen der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes frei zu sein, wenn man das möchte. Muss man sich als Bibliothek deshalb ärgern, wenn nicht allzu viele Rentnerinnen und Rentner zum Publikum zählen? Nein, vielleicht haben sie einfach kein Interesse. Aber für die, die ein Interesse haben, sollte man da sein und zwar nicht mit der Zumutung, jetzt weiter zu lernen, als gälte es nochmal einen Arbeitsplatz zu ergattern.

Fußnoten:
[1] Aber ich war ja aus guten Gründen auch nicht beim Bund.
[2] Das wäre anderswo wohl „angewandte Ethik“ oder auch „Alltagsphilosophie“, allerdings werden die Seminare unter der Schirmherrschaft des Katholischen Militärbischofs organisiert, deshalb ist das Lernziel, dass den Teilnehmenden deutlich wird „,dass Gott ein zuverlässiger Begleiter auf den jeweiligen Lebenswegen ist.“ Nun ja. Da kann man auch anderer Meinung sein, zum Glück.
[3] Okay, der Text hat mich doch schon einigermaßen genervt. Ehefrauen werden offenbar vorausgesetzt. Mag sein, dass das bei den katholischen Zeitsoldaten, die aktuell in Rente gehen, noch normal ist, aber wieso muss das so absolut gesetzt werden? Muss man erstens heterosexuell sein, wenn man Zeitsoldat wird, zweitens ein Mann und drittens auch noch heiraten wollen? Im 21. Jahrhundert?
[4] Es wird nicht überall so sein, aber in Berlin-Neukölln, wo ich wohne, tauchten auch schon Aushänge für eine Ehrenamtlichen-Börse auf, die suggerierten, dass es quasi die Pflicht der Seniorinnen und Senioren sei, sich zu melden, weil einige – bestimmt wichtige und inhaltlich zu unterstützende – Vereine und Institutionen Bedarf an Ehrenamtlichen hätten. Es gab dann Termine, bei denen die potentiellen Ehrenamtlichen sich vorstellen durften und – so zumindest die Terminologie die Aushänge – zugewiesen wurden. Vielleicht wächst man irgendwann in so ein Denken hinein, wenn man in solchen Ehrenamtsagenturen arbeitet, wo bestimmt die Zahl der Vermittlung in „freie Ehrenamtsstellen“ eine Kennziffer für die weitergehende Finanzierung darstellt und meint es noch nicht mal schlecht. Sichtbar wird in diesem Beispiel aber neben dem unverschämten Anspruch, alle müssten quasi solange sie noch gehen können irgendwie arbeiten, auch, dass bei einer zu starken Institutionalisierung dieser Ehrenamtlichen-Hilfe die Gefahr besteht, dass man nicht mehr von den Interessen der potentiellen Helfenden ausgeht, sondern von den Anforderungen „der Gemeinschaft“.
[5] Diese Rubrik gibt es übrigens in jeder Ausgabe der Weiterbildung. Man stelle sich mal vor, in der BuB gäbe es eine solche Rubrik, in der beständig dem, was im Heftschwerpunkt besprochen würde, widersprochen wird. Grund dafür gäbe es oft, aber es scheint nicht so zu sein, dass eine solche Kritik im Bibliothekswesen so sehr gewünscht ist, wie sie in den meisten pädagogischen Zeitschriften explizit gefördert wird.

Wer erzieht Kinder zur Medienkompetenz?

Bibliothekarinnen und Bibliothekare haben andere Aufgaben und Zielstellungen, als Erzieherinnen von Kindergärten. Dennoch gibt es im Bezug auf Angebote für Kinder große Übereinstimmungen. Insbesondere seitdem an Kinderbetreuungseinrichtungen verstärkt die Anforderung gestellt wird, selber als Bildungseinrichtung zu agieren und nicht, wie dies oft wahrgenommen wurde, als vorrangige Bewahrungsanstalt für Kinder. Insbesondere im Bereich der Medienpädagogik und der Vermittlung von Medienkompetenz lassen sich große Überschneidungen zwischen den Aufgabenzuschreibungen an Kindergärten und Bibliotheken finden. Deshalb kann die von Ulrike Six und Roland Gimmler vorgelegte Studie zur Medienkompetenzvermittlung in nordrhein-westfälischen Kindergärten zum Teil auf die Arbeit von Bibliotheken mit Kindern übertragen werden. [Six, Ulrike ; Gimmler, Roland ; Aehling, Kathrin (Mitarb.) ; Frey, Christoph (Mitarb.) ; Vogel, Ines (Mitarb.); Schmied, Wolfram (Mitarb.) / Die Förderung von Medienkompetenz im Kindergarten : Eine empirische Studie zu Bedingungen und Handlungsformen der Medienerziehung. – Berlin : Vistas Verlag, 2007. – (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen ; 57)]

Grundfragen der Studie
Die Studie sollte im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen ermitteln, wie die Voraussetzungen der Medienpädagogik in den Kindergärten des Bundeslandes sind, mit welchen Kompetenzen die Vermittlung von Medienkompetenzen durch die Erzieherinnen erfolgt und welchen Stellenwert diese Aufgabe in der täglichen Arbeit im Kindergarten einnimmt. 1997 wurde von der Landesanstalt für Medien eine ähnliche Studie veröffentlicht, auf die sich Six und Gimmler beziehen konnten. Methodisch wurden unterschiedliche Befragungsformen kombiniert. So wurden zur quantitativen Datensammlung kürzere Telefoninterviews eingesetzt, zur Gewinnung vom qualitativen Aussagen hauptsächlich längere face-to-face-Interviews. Die Studie von 1997 ermöglichte Wiederholungsinterviews mit Erzieherinnen, die schon einmal vor 10 Jahren befragt wurden. Zudem analysierte die Studie die Inhalte der Ausbildung und Weiterbildung der Erzieherinnen.
Allgemein sind die Ergebnisse eher ernüchternd, obwohl sie differenzierter betrachtet werden müssen. Einerseits scheinen die Veränderungen des gesellschaftlichen und des kindlichen Medienkonsums, aber auch die Anstrengungen von staatlicher Seite, die Vermittlung von Medienkompetenzen in der Arbeit der Kindergärten zu verankern, nur geringe Auswirkungen auf die tatsächliche Praxis gezeitigt zu haben. [1] Andererseits ist doch die noch in der Vorgängerstudie zu verzeichnende relative Technikfeindlichkeit und die Ablehnung von modernen Medien in der Erziehung von Kindern vollständig verschwunden. Die „bewahrpädagogische“ Position, dass Kinder von allen neuen Medien fern gehalten werden müssen, scheint obsolet geworden zu sein. [2]

Abweichende Mediennutzung und Vorstellungen
Erzieherinnen sind nicht technikfeindliche und nutzen sehr wohl selber moderne Medien, doch weicht ihre Mediennutzung relevant von der durchschnittlichen Mediennutzung innerhalb der Gesellschaft ab. So schauen sie durchschnittlich 106 Minuten pro Tag fern, während es in der Gesellschaft 226 Minuten pro Tag sind, sie nutzen das Internet rund 23 Minuten am Tag und nicht, wie durchschnittlich in der Gesellschaft 108. Diese Mediennutzung, die eindeutig das Buch als Medium für die Gestaltung der Freizeit bevorzugt, schlägt sich auch auf ihre Wahrnehmung der kindlichen Mediennutzung nieder. Allgemein überschätzen Erzieherinnen die Nutzungsdauer moderner Medien durch Kinder relevant. Einzig zur Nutzungsdauer des Fernsehens können sie einigermaßen „richtige“ Schätzungen abgeben. Dabei gehen sie allerdings entgegen den Ergebnissen der Medienforschung, die eine relative Stabilität in der Nutzungszeit der Fernsehens in den letzten Jahren konstatiert, davon aus, dass Kinder heute mehr Fernsehen schauen würden, als vor zehn Jahren.
Gleichzeitig schätzen sich Erzieherinnen selbst als wenig vertraut mit den bevorzugten Medien der Kinder, die sie betreuen, ein. So sagen die bei den in 45 face-to-face-Interviews befragten Erzieherinnen, dass sie zu 20% sehr gut und zu 53,3% gut mit den Lieblingsbüchern der Kinder vertraut seien (befriedigend 17,8%, ausreichend 4,4%, mangelhaft 4,4%, ungenügend 0,0%). Die Vertrautheit mit den Lieblingsfernsehsendungen schätzen nur noch 22,2% als gut und 0,0% als sehr gut ein (befriedigend 33,3%, ausreichend 26,7%, mangelhaft 17,8%, ungenügend 0,0%). Bei den von den Kindern bevorzugten Computerspielen bezeichnen ihre Kompetenz nur noch 2,2% der Befragten als jeweils sehr gut und gut und stattdessen 31,1% als mangelhaft (befriedigend 22,2%, ausreichend 26,7%, ungenügend 15,6%).
Auffallend ist, dass die meist negativen Bewertungen der Mediennutzung von Computerspielen, Handys oder des Internets als Gesamtheit, welche durch die Erzieherinnen für Kinder angenommen werden, zumeist auf Vermutungen beruhen und argumentativ sehr schwach sind. Zumeist beschäftigen sich Erzieherinnen nicht mit den Medien, die Kinder nutzen, sehen die übermäßige Benutzung dieser Medien aber als negativ an. Wirklich begründen können sie diese Haltung selten. Dennoch verdammen sie nicht jedes Medium an sich, sondern fordern vor allem einen pädagogischen Hintergrund ein. So würden die meisten Erzieherinnen offenbar Edutainment-Software, also Programme, die das Spielen mit der Vermittlung von Bildungsinhalten verbinden [3] als gut akzeptieren, aber Software, die hauptsächlich dem Spielen dient ablehnen. Diese Haltung gilt allerdings tendenziell. Die Studie von Six und Gimmler zeigt auch auf, dass es immer wieder einzelne Erzieherinnen gibt, die differenziertere Meinungen haben und sich beispielsweise selber mit den Spielen beschäftigen, die von den jeweils betreuten Kindern erwähnt werden.

Inhalt der Medienpädagogik
Medienpädagogik – und damit auch die Vermittlung von Medienkompetenzen – findet im Kindergarten vorrangig reaktiv statt, dass heißt zumeist wird von der Erzieherinnen darauf eingegangen, wenn Kinder von ihren Medienerfahrungen berichten. Dann finden Gespräche über Medieninhalte statt, es werden Figuren nachgebastelt oder Geschichten nachgestellt, um auf diese Weise den vielfältigen Umgang mit den genutzten Medien zu erhöhen. Dies ist nicht unbedingt negativ zu sehen, da gerade ein solches kindzentriertes Vorgehen, welches von den Interessen, die durch die Kinder formuliert werden, ausgeht, heute als notwendig angesehen wird. Gleichwohl findet eine proaktive und geplante Beschäftigung mit Medien fast nie statt. Das eigenständige Erstellen von Medien, welches im Jugendbereich oft eingesetzt wird, um ein Verständnis davon, wie Medien funktionieren und was ihre Möglichkeiten und Grenzen sind, zu fördern, wird in Kindergarten nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Zudem führt die wachsende Medienvielfalt offenbar dazu, dass Kinder heute mit sehr unterschiedlichen Medienerfahrungen in den Kindergarten gehen und deshalb von sich aus auch seltener von dieser berichten. Das früher bekannte diskutieren einer Sendung, die alle gesehen hatten, ist heute offenbar nicht mehr möglich, weil es keinen Sendung mehr zu geben scheint, die alle gesehen haben. Deshalb entwickeln sich aber auch weniger Gespräche zwischen den Kindern über die gleichen Sendungen oder Spiele, an die angeknüpft werden könnte. Dies ist allerdings eine Grenze reaktiven Handelns. Wenn Kinder ihre Medienerfahrungen nicht berichten, kann an sie nicht angeschlossen werden, obwohl sie dennoch vorhanden sind. Dem könnte nur mit proaktiven Handeln begegnet werden.
Als ein großes Problem beschreibt die Studie das Verständnis vom Medienpädagogik, welches sich bei den interviewten Erzieherinnen zeigte. Zumeist würde der Einsatz von Medien für andere pädagogische Zwecke als Medienpädagogik missverstanden. Problematisch daran ist, dass Erzieherinnen offenbar die Vorstellung entwickeln können, medienpädagogisch ausreichend zu arbeiten, weil sie beispielsweise Filme und Dias für die Verkehrserziehung einsetzen. Dabei solle, so die Studie, die Medienpädagogik die Vermittlung von Medienkompetenzen zum Ziel haben, was mit einem einfach Einsatz von Medien für andere Zwecke nicht zu erreichen sei. Zudem steht bei den Erzieherinnen offenbar, wenn sie nach den Zielen von Medienpädagogik befragt werden, die Prävention vor schädlichen Medieninhalten im Vordergrund und weniger die Vermittlung von Kompetenzen, die eine eigenständigen und selbstverantwortlichen Umgang der Kinder mit Medien zum Ziel hätten. Ihre eigene Medienkompetenz schätzen die Erzieherinnen hingegen relativ gut ein, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie Kinder eher in der Gefahr sehen, durch Mediennutzung negativen Auswirkungen ausgesetzt zu sein, während sie Erwachsene (oder auch nur sich selbst) eher in der Lage sehen, kritisch mit Medien umgehen zu können.

„Deutlich wurde […], dass es den Erzieherinnen mehrheitlich an hinreichenden Grundlagen für einen angemessene, realistische Problemwahrnehmung im Hinblick auf Medien und den kindlichen Medienumgang mangelt: Mit den von den Kindern genutzten Fernsehsendungen und Computerspielen sind sie zumeist recht wenig vertraut, die Mehrheit kann sich nur auf vage Kenntnisse und Annahmen zu Medienwirkungen stützen, und nur wenige verfügen über differenzierte und begründete Kriterien zur Bewertung von Fernsehsendungen und Computerspielen. Schließlich erwiesen sich auch ihre Kenntnisse darüber, welche altersspezifischen Kompetenzen bzw. Kompetenzdefizite für den Medienumgang bei Kindern im Kindergartenalter vorauszusetzen sind, bei einem erheblichen Teil der Befragten als zu wenig fundiert.“ [S. 192]

Bedeutung des Elternhauses
Eine weitere Tendenz scheint zu sein, die Hauptverantwortung für die Mediennutzung und die Entwicklung von Medienkompetenzen dem jeweiligen Elternhaus zuzuordnen. Dies geht oft einher mit einer differenzierten Betrachtung der Schwierigkeiten, mit denen Eltern konfrontiert sind, insbesondere mit der Annahme, dass Eltern aus sozial schwächeren Haushalten mehr Schwierigkeiten hätten, ihre Kinder zu erziehen, als Eltern aus Haushalten mit höheren Sozialstatus. Allerdings scheint diese Betrachtung zumindest tendenziell die Wirksamkeit von Medienpädagogik im Kindergarten zu negieren und unter Umständen dazu führen zu können, Probleme auf die Elternhäuser abzuschieben. Offensichtlich wird in der Studie, dass dieses Problem komplexer ist, als oft angenommen wird. Einerseits gilt das Primat, dass Eltern einen Vorrang in der Erziehung ihrer Kinder eingeräumt bekommen. Zudem ist allgemein bekannt, dass die ökonomische und soziale Lage des Elternhauses die Chancen von Kindern übermäßig stark bestimmt. Andererseits werden an das gesamte Bildungssystem verstärkt Anforderungen gestellt, diese Ungleichheit zu überwinden, was logisch nur mit einer verstärkten Förderung der Kinder zu erreichen wäre, die aus schwierigen sozialen Elternhäusern stammen.
Zudem geht die allgemeine Haltung, die Hauptverantwortung für die Medienkompetenz den Elternhäusern zuzuschreiben in Kindergärten offenbar nicht mit einer Verstärkung der Elternarbeit in diesem Bereich einher. Dies wäre allerdings zu erwarten. Schließlich ist auch nicht nicht zu erklären, woher Eltern die notwendigen Kenntnisse zur Vermittlung von Medienkompetenzen haben sollen, wenn diese bei pädagogisch ausgebildeten Personal nicht ausreichend zu sein scheinen. Gerade wenn der Vorwurf an Eltern oft lautet, dass sie das Fernsehen und andere Medien zu sehr als Babysitter einsetzen würden, ist es nicht logisch zu begründen, woher diese dann mehr Überblick über die Medienerfahrungen ihrer Kinder haben sollten, als die Erzieherinnen der jeweils besuchten Kinderbetreuungseinrichtungen.

Bibliotheken
Es ist selbstverständlich nicht möglich, eine direkte Parallelität zwischen Kindergärten und der Arbeit von Bibliotheken für Kinder zu behaupten. Es ist gewiss auch nicht möglich, aus den Ergebnissen der Befragungen von Erzieherinnen direkte Schlüsse auf die Kompetenzen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zu ziehen. Doch kann man beispielsweise vermuten, dass die von der durchschnittlichen Bevölkerung relevant abweichenden Mediennutzung inklusive der Bevorzugung des Buches als Hauptmedium, die bei Erzieherinnen festgestellt wurde, auch bei bibliothekarischem Personal zu finden sein könnte. Insoweit werfen die Ergebnisse einige Fragen auf, die auf den Bereich der bibliothekarischen Arbeit für Kinder bezogen werden müssen.

  1. Wie ist es eigentlich mit der Medienkompetenz der Menschen bestellt, die Medienkompetenz vermitteln wollen? Wie und woher stammen eigentlich deren Kenntnisse über die Mediennutzung ihrer Klientel? Welchen Einfluss hat deren eigene Mediennutzung? Können beispielsweise Menschen, die sich selber nicht mit Computerspielen oder der erweiterten Nutzung von Handys beschäftigt, in diesen Bereichen effektiv Medienkompetenzen vermitteln? Dieses Missverhältnis sollte zumindest problematisiert werden.
  2. Welche Vorstellungen von der Notwendigkeit der Medienkompetenz haben Menschen, die sich an die Vermittlung derselben machen? Sehen sie die kritische Nutzung von Medien oder Warnung vor (meist angeblichen) Gefahren von Medien als Hauptthema ihrer medienpädagogischen Arbeit an? Welches Verhältnis zwischen diesem beiden Möglichen wäre (für welche Altersgruppe) angemessen?
  3. Das Problem, mit der Betonung der Verantwortung des Elternhauses für die Mediennutzung tendenziell die Gestaltungsmöglichkeiten der Medienkompetenz außerhalb der Elternhauses zu verneinen und dabei das Problem an die Eltern „abzuschieben“ besteht auch bei Bibliotheken. Wie ist damit umzugehen? Müssten nicht, ähnlich wie bei Kindergärten, Öffentliche Bibliotheken eine stärke Rolle dabei spielen, die Effekte unterschiedlicher sozialer Hintergründe auszugleichen? Wie steht tatsächlich, neben den wenigen bekannten Projekten, mit der „Elternarbeit“ in Bibliotheken? Ist sie möglich? Wird sie überhaupt durchgeführt? Ist diese auf Medienkompetenzen ausgelegt oder auf die Förderung des Bücherlesens?
  4. Falls man – wie es in der Studie getan wird – davon ausgeht, dass es notwendig ist, den Menschen, die Medienkompetenz vermitteln sollen/wollen, selber die Bedeutung von Medienkompetenz klar zu machen und mit beständig neuen Fakten zur realen Mediennutzung ihrer Klientel bekannt zu machen, dann stellt sich die Frage, wie dies geschehen soll. Offensichtlich haben bei den Erzieherinnen das Angebot von Fortbildungsveranstaltungen, Broschüren und speziellen Onlineportalen wenig Einfluss auf die Praxis der Medienpädagogik gehabt. Als ein Problem wird von der Studie die mangelhafte Finanzausstattung der Kindergärten und übermäßige Belastung des Personals genannt, aber betont, dass dies nicht der einzige Grund sein kann.

[1] So wurde seit 1997 einige Weiterbildungen zu diesem Thema angeboten und mehrere Broschüren für Kindergärtenerinnen veröffentlicht. Allerdings sind diese offenbar kaum in der Praxis bekannt geworden. Ähnlich ist dies mit den explizit zum Thema Medienkompetenz eingerichteten Portalen www.medienkompetenz-portal-nrw.de und www.kita-nrw.de.
[2] Bezeichnende Ausnahme sind zwei Erzieherinnen aus waldorfpädagogischen Einrichtungen.
[3] Und zumeist unglaublich langweilig sind. Dies hat auch damit zu tun, dass unter Edutainment solche Spiele verstanden werden, in denen der erzieherischer Effekt im eindeutigen Vordergrund steht. Andere Möglichkeiten, die in der Spielebranche ausprobiert wurden, beispielsweise Spiele, die durch ihre Einbindung in einen historischen Kontext, Wissen über die jeweilige Zeit vermitteln soll, aber gleichzeitig den Spieleffekt in den Vordergrund stellen, scheinen bei Erzieherinnen nicht bekannt zu sein. Dabei scheint bei deren Bewertung oft übersehen zu werden, dass die Popularität von Computerspielen darauf beruht, dass man mit ihnen spielen kann. Die Popularität von Bausteinen und Lego-Produkten bei Kindern basiert ja auch darauf, dass mit ihnen gespielt werden kann und nicht, dass mit ihnen auch Grundregeln der Architektur und Mechanik erlernt werden können.

Unterstützung von Alphabetisierung

Das Werk The Library als Literacy Classroom [Weibel, Marguerite Crowley / The Library as Literacy Classroom : A Program for Teaching. – Chicago ; London : American Library Association, 1992], in dem es um die Frage geht, wie Erwachsene durch beim Lesenlernen unterstützt werden können, ist zwar schon etwas älter. Allerdings wird dies in Deutschland auch selten thematisiert. Das letzte Kapitel bietet eine Zusammenfassung für Bibliothekarinnen und Bibliothekare.

What library staff can do

  • Explain the nee readers collection [to the adult new raders]
  • Identify material from the general collection that are approbiate for literacy students
  • Read stories/poems, talk to students about specific books
  • Poll students interests
  • Invite students to read and review
  • Distribute library-card applications
  • Place rotating deposit collections
  • Collection of resource materials for tutors
  • Participate in tutor training sessions by preparing information packets, giving library tours, and discussing the various library resources
  • Conduct short, welcoming library orientation
  • Maintain an accessible file of reviews of books for new readers
  • Periodic bibliographies to the new readers‘ collection
  • Label books
  • Display easy-to-read pamphlets
  • Develop a picture ffile for literacy teachers
  • Refer potential students to the literacy program
  • Make space available for classes
  • Invite authors of books popular to new readers
  • Serve as a clearing house for literacy information

Die Spiralcurricula Bibliothek/Schule: vor allem uneinheitlich

Neben den Kooperationsverträgen zwischen Bibliotheken und Schulen, sind es aktuell die sogenannten Spiralcurricula, welche als Mittel zur Gestaltung der Zusammenarbeit von Bibliotheken und Schulen propagiert werden. Ein Spiralcurriculum [1] soll aus aufeinander aufbauenden Modulen bestehen, die für Schülerinnen und Schüler in der Bibliothek angeboten werden. Diese Module ergänzen sich und sollen über die Schulzeit verteilt werden können, beispielsweise ein Modul pro Schuljahr. Die Schulen sollen dann mit ihren Klassen zu einem selbst gewählten Zeitpunkt die Bibliothek besuchen können. Ziel dieser Zusammenarbeit sei einerseits, den Schülerinnen und Schülern die Nutzung einer Bibliothek beizubringen und sie gleichzeitig bei der Entwicklung von Lese-, Medien- und Recherchekompetenzen zu unterstützen. Die Organisationsform als Curriculum soll dabei helfen, die Zusammenarbeit von Bibliotheken und Schulen kontinuierlicher gestalten und beiden Seiten eine größere Planungssicherheit zu geben. Zudem – auch wenn das nicht unbedingt ausgesprochen wird – scheint eine solche Zusammenarbeit die Bibliotheken etwas von dem faktischen Druck befreien zu können, jede Bibliotheksführung auch als direkte Werbung von neuen Nutzerinnen und Nutzern verstehen zu müssen.
Insbesondere auf dem Portal schulmediothek.de (das eigentlich als Portal für Schulbibliotheken gedacht ist) wird mit dem Text Wenn Bibliothek Bildungspartner wird : Leseförderung mit dem Spiralcurriculum in Schule und Vorschule und der Broschüre Wenn Bibliothek Bildungspartner wird … : Leseförderung mit dem Spiralcurriculum in Schule und Vorschule von Ute Hachmann und Helga Hofmann für dieses Konzept geworben. [Aber auch hier, hier, hier, hier oder hier]
Auf schulmediothek.de werden auch die in der Broschüre angeführten Beispiele von Spiralcurricula aufgelistet. In einer Tabelle habe ich versucht, diese Beispiele systematischer zu erfassen.




Tabelle als PDF hier

Das Ergebnis dieser Systematisierung ist einigermaßen verwirrend. Jedes Konzept eines Spiralcurriculum scheint für sich alleine zu stehen. Die angesprochenen Alterstufen erstrecken sich von Kindergartenkinder bis zu Schülerinnen und Schüler der 12. und 13.Klasse. Dies aber nicht einheitlich. Die Lernziele sind vollkommen unterschiedlich. Mal wird der Hauptschwerrpunkt auf die Bibliotheksnutzung gelegt – dann erscheinen die Curricula als längerfristig geplante Bibliothekseinführungen – mal liegt der Schwerpunkt auf der Lesekompetenz, mal auf dem Recherchetraining. Ebenso ist die Periodisierung der einzelnen Module uneinheitlich. Mal gelten sie jeweils für ein Schuljahr, mal für die gesamte Grundstufe, die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II. Ebenso ist die Ausformulierung der Konzepte nicht gleich. Einmal sind es genaue Beschreibungen der Angebote an Schulen, ein anderes Mal werden eher umfassende Termini benutzt. Sogar die Namen der einzelnen Konzepte sind relativ unterschiedlich. So werden noch nicht einmal alle Spiralcurriculum genannt, obwohl sie sich auf diese Konzept beziehen sollen.
Das Spiralcurriculum ist ein relativ neues Konzept und zumindest zur Zeit scheint es oft als Fortführung schon längerer betriebener Bibliotheksangebote verstanden zu werden. Von einer Orientierung an den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler, welche einst in dem Projekt „Öffentliche Bibliothek und Schule – neue Formen der Partnerschaft“ der Bertelsmann-Stiftung, in deren Rahmen Spiralcurricula für Bibliotheken erstmals als Konzept mit diesem Namen vorgeschlagen wurden, ist bislang wenig zu sehen. Eventuell wird sich dies mit der Zeit entwickeln, wie auch die Curricula sich vereinheitlichen könnten.

Fußnote:
[1] Auch wenn es in den Dokumenten zu den bibliothekarischen Spiralcurricula nicht erwähnt wird, hat auch diese Vorstellung einen längere Geschichte. Vgl. beispielsweise den Beitrag auf www.learn-line.nrw.de

IGLU / PISA / die nächsten Wochen (Vorhersage)

Ja, ja: es geht weiter. Heute Gestern die IGLU-Studie, demnächst die neue PISA-Studie. „Grundschule wird besser und bleibt unfair“ titelt beispielsweise die Finanical Times Deutschland und schreibt vollkommen richtig weiter:

Die Ergebnisse dürften die zuletzt eingeschlafene Diskussion über die Schul- und Bildungspolitik in Deutschland neu beleben. Kommende Woche wird in Berlin zudem die zweite große internationale Vergleichsstudie über Schülerleistungen, die Pisa-Studie, vorgestellt. [Quelle]

Oder anders gesagt: die Ergebnisse ähneln denen der vorherigen Studien. Insgesamt sind die Ergebnisse leicht besser geworden. Aber insgesamt ist das deutschen Bildungssystem trotzdem sozial ungerechter, als fast alle anderen untersuchten Schulsysteme. Unter anderem, wie Jutta Allmendinger schon auf mehreren Veranstaltungen festgestellt hat, das einzige mit den PISA-Studien untersucht Schulsystem, dass es schafft, Kinder der zweiten und dritten Migrationsgeneration – also solche, die ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht haben – tendenziell zu schlechteren Bildungsergebnissen zu führen, als solche aus der ersten Migrationsgeneration.

Und irgendwo wird schon der Text quasi oder tatsächlich vorgefertigt in der Schublade liegen, in dem sinngemäß steht: „Auch die dritte PISA-Studie zeigte letztlich auf, dass die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schüler in Deutschland im Allgemeinen schlecht sind und deshalb Bibliotheken gefördert werden müssen.“ Ich wollte bloß der erste sein, der ihn schreibt.
Und er ist nicht richtig. Auch ich habe die neuen IGLU und PISA-Studien noch nicht gelesen, doch schon die letzten haben über Bibliotheken praktisch nichts gesagt. Sondern, wenn, dann etwas über die Schulen, das gesamte Bildungssystem und die gesamte Gesellschaft. Zudem steht bislang für Deutschland immer noch der Beweis aus, dass Bibliotheken Lesekompetenz (nicht Lesefähigkeit) wirklich in solch einem Umfang fördern würden, wie es oft postuliert wird. Das ist auch bei den des Öfteren angepriesenen Netzwerken oder Kooperationen von Schulen und Bibliotheken nicht anders. Aber, wie Hans-Dieter Kübler 2004 und Detlef Gaus 2005 in der BuB (Heft 7/8, 2004 und 4, 2005) schrieben, eignet sich vor allem PISA offenbar als Argument für jedes Leseprojekt, auch wenn die Studien das selber nicht hergeben (werden).
Immer noch war das Hauptproblem, dass in den Studien aufgezeigt wurde, nicht etwa, dass Kinder und Jugendliche an sich keinen Zugang zu Medien hätten, sondern 1.) dass ihr messbarer Bildungserfolg [und ihr beispielsweise der Zugang zu Büchern] über aller Maßen von ihrer gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Lage abhängt und 2.) dass das Bildungssystem nicht hier und da mal versagt, sondern strukturell nicht die Ergebnisse hervorbringt, die es – zumindest nach Ansicht der PISA-Studien-Betreibenden – haben sollte. Wenn man mit diesen Studien für Bibliotheken argumentieren möchte – was berechtigt ist -, dann sollte man auch etwas zu diesen beiden Punkten zu sagen haben. Und zwar etwas, was über die Erkenntnis hinausgeht, dass Bibliotheken für alle Menschen offen sind. Das sind Schulen auch – und trotzdem arbeiten diese offenbar, bei allem Engagement der Lehrkräfte und anderer Menschen, sozial ausgrenzend.

Aus diesem Anlass ein immer noch richtiges Zitat aus dem Kommentar von Hans-Dieter Kübler [Kübler, Hans-Dieter (2004) / PISA – nur ein bibliothekspolitischer Vorwand?. – In: BuB, 56 (2004) 7/8, S.459]:

„Ich weiß, pädagogische Anforderungen sind verpönt und nicht die Aufgaben von Bibliothekaren, zumal sie dafür nicht qualifiziert sind. Aber dann lässt sich schwerlich behaupten, man wolle die PISA-Defizite beheben. Mit ein paar neuen Angeboten und Medien, vielleicht sogar noch einer Sitzecke für Jugendliche und einigen (PC-)Spielen ist die von PISA aufgedeckte Misere im Lern- und Leseverhalten von Jugendlichen jedenfalls nicht zu bewältigen, geschweige denn zu beheben. Pisa ernst genommen hätte enorme Kraftanstrengungen aller an der Sozialisation und Bildung beteiligten Einrichtungen verlangt. Die derzeit überwiegende, probate Instrumentalisierung ihrer Befunde ist allzu offenkundig, mitunter sogar zynisch und lässt keine ernsthaft Besserung erwarten.“

Schön wäre, wenn darüber nachgedacht würde, bevor die ersten Äußerungen zu den PISA-Studien von bibliothekarischer Seite erscheinen.
Zumal schon die leichten Verbesserungen in der Lesekompetenzen der Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, die in der IGLU-Studie aufgezeigt wurden, die bibliothekarische Diskussion vor ein Problem stelle könnte. Ist es denn anzunehmen, dass diese Verbesserung durch eine flächendeckende Zusammenarbeit von Bibliotheken und Schulen oder durch eine flächendeckende bibliothekarische Arbeit befördert wurde? Fand eine solche flächendeckende Anstrengung wirklich statt? Vielleicht, schließlich scheinen Öffentliche Bibliotheken in Deutschland dazu zu neigen, Dinge, die sie tun, nicht gerade publik zu machen. Aber eventuell fand diese Anstrengung nicht flächendeckend statt. Und dann? Wenn Schülerinnen und Schüler sich auch ohne Bibliotheken nachweisbar bei ihrer Lesekompetenz verbessern können, was sind dann die Behauptungen über die besondere Funktion von Bibliotheken beim Lesenlernen wert, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden? Hat man sich dann nicht in eine Argumentation begeben, die letztlich kontraproduktiv wirken könnte? Waren denn Leseprojekte, Lesekisten, Zusammenarbeit mit Schulen nicht für sich allein schon wichtig genug? Ich weiß es nicht, aber vorstellen könnte ich es mir doch.

[Selbstverständlich kann man dem Ganzen auch Gutes abgewinnen – in einer historischen Perspektive. Dass es ein bildungs- und gesellschaftspolitischer Skandal ist, wenn der Bildungserfolg nicht von den Fähigkeiten und Anstrengungen der Kinder und Jugendlichen abhängt, sondern von deren gesellschaftlicher Lage, ist das Ergebnis langer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Es gab Zeiten, da war es weithin akzeptiert, dass der Bildungserfolg – und der Zugang zur gesellschaftlichen Elite – durch rassistische, geschlechtliche, religiöse Strukturen oder den sozialen und räumlichen Ort der Familie vorgezeichnet. Das heute das Ziel einer Chancengleichheit allgemein vorzuherrschen scheint und man mit diesem Ziel gegen das Bildungssystem argumentieren kann, ist dagegen ein großer Fortschritt.]

PS.: Bibliotheken leisten unverzichtbaren Beitrag zur Leseförderung – Stellungnahme des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) zu den Ergebnissen der IGLU und PISA Studien [05.12.2007]