Bourdieu für die Bibliothekswissenschaft

Die Le Monde veröffentlichte am gestrigen Dienstag, 24.01., (eigentlich einen Tag zu spät) ein vierseitiges Dossier anlässlich des zehnjährigen Todestages von Pierre Bourdieu. Reflektiert wurde, wie es sich zu solchen Jahrestagen gehört, über die Bedeutung Bourdieus für die aktuelle Soziologie und Politik, sowie zu der Frage, was er wohl heute zu sagen hätte, beziehungsweise: wie er seine Arbeiten heute fortgeführt hätte, wäre er nicht gestorben. Getan wurde das, neben einem einleitenden Artikel, von Fachkolleginnen und Fachkollegen Borudieus. Axel Honneth verortet ihn beispielsweise im Kontext zwischen Marx, Kritischer Theorie und Max Weber, Nancy Fraser diskutiert die Forschung Bourdieus zur Frauenfrage und post-industrieller Gesellschaft. Diskutiert wird eigentlich alles wichtige aus Bourdieus Werk, außer vielleicht seine frühen ethnologischen Arbeiten in Algerien.

In der Schweiz und in Deutschland bekannt ist Bourdieu wohl vor allem mit „Das Elend der Welt“ [Bourdieu, Pierre et al. (1997) / Das Elend der Welt : Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. – Konstanz : UTB. franz.: La misère du monde (1993)], einer Studie über das Leben in den Banlieus (was aber eben auch als potentielle Zukunft des Lebens im Kapitalismus verstanden wird). Das Buch ist vor allem im Le monde diplomatique Milieu bekannt und wurde gerade während der Occupy-Proteste und der Berichterstattung über diese immer wieder referenziert. Auch in der Le Monde wurde es in diesem Zusammenhang noch einmal besprochen.

Aber: Bezogen auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft scheint mir das nicht das relevanteste Werk Bourdieus zu sein. Da allerdings diese, unsere Wissenschaft erstaunlich unsoziologisch ist (ganze Zweige kommen ja damit aus, nicht über die Gesellschaft zu reden, wenn sie über Information forschen), ist Bourdieu auch nicht wirklich bekannt.

Allerdings: Gerade bezogen auf die Forschungen zu Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken und Nutzungsweisen von Bibliotheken sind zwei andere seiner Werke relevant: Die feinen Unterschiede [Bourdieu, Pierre (1982) / Die feinen Unterschiede : Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. franz.: La distinction : Critique sociale du jugement] und (zusammen mit Jean-Claude Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit [Bourdieu, Pierre ; Passeron, Jean-Claude (1971) / Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. – Stuttgart : Klett, 1971. franz.: Les étudiants et la culture und La reproduction : Eléments pour une Théorie du Systéme d’Enseigenement]. Der zehnte Todestag scheint ein guter Zeitpunkt, auf diese beiden Werke noch einmal dezidiert hinzuweisen. Ich würde argumentieren, dass man beide gelesen haben sollte, bevor man versucht, etwas über Bildungswirkungen, Habitus oder gesellschaftlichen Barrieren auszusagen.

In Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu, zusammen mit einem Team an weiteren Forschenden, eine grundlegend einfache These empirisch: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung einer Person, deren Alltagsgestaltung, kultureller und sozialer Aktivitäten. Oder anders: Die Reichen leben auf die eine Weise, die Armen auf eine andere – und das weder vollständig selbst gewählt, noch erzwungen. Es lassen sich unterschiedliche Subgruppen ausmachen; aber allen ist gemein, dass sie ihren eigenen Lebensstil als quasi natürlich ansehen. Ins Museum gehen oder nicht ins Museum gehen, gebrauchte Möbel kaufen oder handgefertigte, viel reden und aushandeln oder lieber viel schweigen: was wie eine individuelle Disposition wirkt, ist immer eine Wahl innerhalb eines sozial verorteten Rahmens.

Das ist die Grundthese, die bei Bourdieu mittels mehrere tausend Interviews (und dabei Beobachtungen der Wohnungen der Befragten) untersucht wird. Dabei geht es nicht nur darum, die These zu testen, sondern auch darum, die Befunde in einer Theorie zu erklären. Hierbei führen Bourdieu et al. die Konzepte soziales Kapital und Bildungskapital ein. Diese Konzepte sind anschließend trivalisiert worden. In der heutigen Verwendung fehlt ihnen eine wichtige Grundtendenz, nämlich die Überlegungen zur Akkumulation, Reproduktion und Transformation dieser Kapitalarten. Deshalb sollte man, neben der empirischen Herleitung, die Herleitung der Kapitalarten bei Bourdieu direkt nachlesen. Dann wird nämlich klar, dass es nicht einfach möglich ist, Kapital „nachzuschießen“, also beispielsweise einige Unterstützungsangebote für sozial Schwache anzubieten und damit Chanchengleichheit im sozialen Rahmen herzustellen. Ebenso wird klar, dass es bei sozialen Ungleichheiten größtenteils um systemische Probleme geht und nicht um individuelles Fehlverhalten.

Bezogen auf Bibliotheken bietet dieses Konzept eine viel bessere Möglichkeit, die unterschiedlichen Nutzungswiese oder Nicht-Nutzungsweisen von Bibliothek und bibliothekarischen Angeboten zu verstehen, als die zumeist aus dem Marketing geborgten Methoden.

In der Illusion der Chancengleichheit gehen Passeron und Bourdieu dem Phänomen nach, dass das (hier französische) Bildungssystem auf der einen Seite Chancengleichheit bieten soll und anstrebt, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Gleichheit der Chancen auch einigermaßen hergestellt wäre – und gleichzeitig doch Ungleichheit produziert, die sich zudem auf soziale Strukturen zurückführen lassen. Heutzutage ist zumindest der Fakt anerkannt, dass Bildungssysteme diese Ungleichheiten systematisch produzieren und dass dies eine Skandal ist. Allerdings gilt auch hier wieder: Die Erklärungsansätze sind relativ theorielos und verbleiben oft bei der Annahme, dass sozial Schwachen etwas nachgeholfen werden, gleichzeitig individuelle Aufmerksamkeit geschult werden müsse und dann würde sich das Skandalon lösen. So einfach ist das leider nicht (obgleich nichts gegen solche Unternehmungen nichts gesagt sein soll).

Passeron und Bourdieu kommen letztlich zu dem einfachen Grundsatz: Auch ein chancengerechtes System, dass in einer sozial ungleichen Gesellschaft funktioniert, produziert – weil eben keine Chancengleichheit am Beginn steht und zudem das System nicht unabhängig von der Gesellschaft agiert – Ungleichheit. Vielmehr: Durch die potentielle Blindheit (wenn diese Fakten vom System verleugnet werden und beispielsweise behauptet wird, die Schulzensuren wären für alle Schülerinnen und Schüler gleich und würden die gleichen Anforderungen stellen) verstärkt das vorgeblich gerechte Bildungssystem die bestehenden Ungleichheiten noch – ohne böse Absicht einzelner Individuen. Passeron und Bourdieu führen das schöne Beispiel des Bauernjungen an, für den in der Abschlussprüfung Nachsicht geübt wird, weil niemand der Prüfenden es ihm schwerer machen will, als unbedingt notwendig; aber gleichzeitig nicht gefragt wird, wo und wie sich dieser Bauernjunge überhaupt auf dem Weg zu dieser Prüfung in den zahlreichen Jahren zuvor durchsetzen musste.

Die Illusion der Chancengleichheit öffnet die Augen für solche unintendierten Effekte gutgemeinter Bildungsanstrengungen und Annahmen über das Lernen. Was für Schulen gilt, gilt für Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken und die dort (implizit) genutzten Annahmen über das Lernen und die vorgebliche Herstellung von Chancengleichheit bei der Nutzung von Bibliotheken, noch verstärkt.

Sichtbar ist: Beide Bücher wurden vor Jahrzehnten geschrieben, der Bezug ist Frankreich, nicht die Schweiz oder Deutschland. Und selbst in Frankreich hat sich die Situation gewandelt. (Siehe Das Elend der Welt) Zudem ist Bourdieu seit 10 Jahren tot, kann also auch nichts mehr fortschreiben. Dennoch sind die beiden Werke als Grundlage für das Weiterdenken weiterhin geeignet. Sie sind große Entwürfe, welche das Nachdenken anregen. Nicolas Truong und Nicolas Weill schreiben in ihrem Essay über Bourdieu in Le Monde, dass er in Frankreich quasi eine Soziologie zurückgelassen hätte, die jetzt wie ein Orchester ohne Dirigent funktioniert, obgleich diese Orchesterfunktion von Bourdieu nicht angestrebt war. Eben eine solche Wirkung kann man den beiden Werken für ein gesellschaftspolitisch interessiertes Nachdenken und Forschen über Bibliotheken zuschreiben. (Zumal das Leben Bourdieus gleich die Frage aufwirft, ob man als Nachdenkender über soziale Strukturen gesellschaftlich inaktiv bleiben darf., wobei er selbstverständlich in der Tradition engagierter Intellektueller – Zola, Satre, Foucault etc. – steht, was für die Bibliothekswissenschaft in der Schweiz und Deutschland, bei allem Respekt, nicht gesagt werden kann.)

Forschungen zur Schulsozialarbeit als Vorbild für Schulbibliotheksforschung

Die Forschungen über die Schulsozialarbeit können unter anderem als Vorbild für Forschungen über Schulbibliotheken dienen. Es scheint im Bibliothekswesen kaum bekannt zu sein, welches Wachstum dieses Feld der Sozialarbeit und die dieses Feld untersuhende Forschung in den letzten zehn bis zwanzig Jahren zu verzeichnen hatte. Dieser Text soll zumindest die Grundzüge umreißen. Dabei geht es nicht um die Schulsozialarbeit selber – die selbstverständlich wichtig ist, aber wohl auch einer Einführung in die Theorie und Praxis der Soziale Arbeiten bedürfen würde, um nachvollziehbar dargestellt werden zu können – sondern darum, dass zu dieser Praxis Untersuchungsdesigns erarbeitet und Forschungsdesigns erprobt wurden, welche unter gewisser Anpassung auch für eine Forschung zu Schulbibliotheken adaptiert werden könnte. Mir scheint, dass es bei allen Differenzen auch erstaunlich ähnliche Strukturen in der Schulsozialarbeit und den Schulbibliotheken zu geben scheint.

Durchsetzung der Schulsozialarbeit in den letzten 20 Jahren

Schulsozialarbeit ist zuerst einmal als Soziale Arbeit in Schulen zu verstehen. Allerdings greift das etwas kurz. Es handelt sich nicht um Soziale Arbeit, die von außen für und an Schulen geleistet wird, sondern um Soziale Arbeit, die direkt strukturell in der Schule, als Bestandteil der Schule und im Schulgebäude verankert ist. Der Unterschied ist ungefähr der wie der zwischen Arbeit Öffentlicher Bibliotheken für Schulen und Schulbibliotheken, die in Schulen verankert sind.

Karsten Speck – jetzt Professor am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, früher in Potsdam –, der neben seinem häufigen Publikationspartner Thomas Olk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg den deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs zur Schulsozialarbeit in weiten Teilen dominiert, verweist darauf, dass das Wachstum der Schulsozialarbeit als eigenständigem Zweig der Sozialen Arbeit auf drei grundlegenden Entwicklungen beruhte (Speck, 2007):

  1. Die Öffnung der Schulen für außerschulische Partner im Rahmen der Schulreformen, die in Deutschland in den 1990er Jahren begannen. Diese programmatische Öffnung nach innen und außen, verbunden mit der Aufforderung zur ständigen Schulentwicklung, ermöglichte die zunehmende Etablierung außerunterrichtlicher Einrichtungen in Schulen.

  2. Die Rücknahme der radikalen Schulkritik in der Sozialen Arbeit. Es gab und gibt eine Kritikströmung in der Sozialen Arbeit, welche die Schule hauptsächlich als Zwangseinrichtung begreift und soziale Probleme der Schülerinnen und Schüler der Organisationsform der Schulen zuschreibt. Neben dieser Strömung haben sich allerdings Strömungen durchgesetzt, die zwar weiter eine Distanz zur Schule halten, aber diese auch als Sozialraum mit unterschiedlichen Potentialen wahrnimmt; in gewisser Weise also akzeptieren, dass nicht nur die Soziale Arbeit, sondern auch die Schule, beziehungsweise die Lehrerinnen und Lehrer (und weitere Personen), das Beste für die Schülerinnen und Schüler wollen.

  3. Die Transformation der Schulsysteme in den neuen Bundesländern (und Berlin), welche eine Dynamik in Gang setzte, die auch in auf andere Schulsysteme (in diesem Fall namentlich der Deutschschweiz und der alten Bundesländer in Deutschland) indirekte Auswirkungen hatte. [1]

Das Zusammentreffen dieser drei Entwicklungen verband sich mit einem Diskurs, den Claudia Streblow (2005) als Differenzansatz beschreibt. Der Schule werden Differenzen zur Lebenswelt nachgewiesen oder auch nachgesagt, die sich aus der Struktur der Schule selber ergeben. Die Schule und insbesondere die Lehrerinnen und Lehrern seien nicht in der Lage, die gesamte Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler abzudecken, sie müssten es aber auch nicht. Die Bearbeitung dieser Differenz würde von der Schulsozialarbeit übernommen.

Selbstverständlich funktioniert diese Diskursstrategie nur, wenn sie auch von den Schulen und der Schulpolitik akzeptiert wird. Dadurch, dass die Soziale Arbeit sich als Partner der Schulen für die Bearbeitung eines akzeptierten Problems, welcher die Professionalität und Aufgabenzuschreibung der Lehrerinnen und Lehrer zugleich nicht angreift, darstellen konnte und zudem – dass der weitere Punkt – in den Feldprojekten auch Erfolge zeitigte, konnte sie sich in den meisten Schulen etablieren.

Insbesondere für die Deutschschweiz wird zudem immer wieder darauf hingewiesen, dass die Schulsozialarbeit zudem finanzielle Effekte hätte. Durch die Schulsozialarbeit würden Folgekosten (also beispielsweise für Heimeinweisungen) eingespart. [2]

Das interessante für den Bibliotheksbereich ist hierbei, dass die Schulsozialarbeit es über diesen Diskurs geschafft hat, sich in den Schulen zu etablieren, während die Bibliotheken in der gleichen Zeit nur ein sehr mäßiges Wachstum der Zusammenarbeit von Schulen und Bibliotheken verzeichnen konnten. Auch das nachweisbare Wachstum der Schulbibliotheken geht ja kaum auf das Öffentliche Bibliothekswesen zurück. Kooperationsverträge sind nun einmal etwas anderes, als Personal, dass direkt in Schulen angestellt und tätig ist. Offenbar ist die Defizitbeschreibung der Schulsozialarbeit drängender gewesen, als die der Bibliotheken, eventuell auch die nachgewiesene Akzeptanz der Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Nachweis von tatsächlichen oder angenommenen Erfolgen. [3]

Die Datenbasis ist in den einzelnen Bundesländern und – wie gesagt ist die Deutschschweiz auch von dieser Entwicklung betroffen und hat zudem in den Fachhochschulen für Soziale Arbeit Einrichtungen gefunden, die mehr oder minder regelmäßig zur Schulsozialarbeit forschen – Kantonen unterschiedlich, dennoch lässt sich der Trend zur Etablierung nicht abweisen. So können Vögeli-Mantorvani und Grossenbacher (2005) für die Deutschschweiz im Jahr 1998 16 Projekte der Schulsozialarbeit in 34 Schulen nachweisen und 2005 schon über 200. Im Sammelwerk von Karsten Speck und Thomas Olk (2010) wird zumindest für die gesamten Neuen Bundesländer in den Einzelbeiträgen bei allen, zumeist fiskalischen Schwierigkeiten, eine Etablierung der Schulsozialarbeit an Schulen aller Schulformen nachgewiesen.

Zur Definition und Aufgaben der Schulsozialarbeit

In den einzelnen Schulen ist die Schulsozialarbeit relativ unterschiedlich strukturiert, auch wenn es selbstverständlich immer Gemeinsamkeiten gibt. (Vgl. Baier / Heeg, 2011) Matthias Drilling versucht, das Feld mit folgendem Definitionsversuch zu fassen:

„Schulsozialarbeit ist ein eigenständiges Handlungsfeld der Jugendhilfe, das mit der Schule in formalisierter und institutionalisierter Form kooperiert. Schulsozialarbeit setzt sich zum Ziel, Kinder und Jugendliche im Prozess des Erwachsenwerdens zu begleiten, sie bei einer für sie befriedigenden Lebensbewältigung zu unterstützen und ihre Kompetenzen zur Lösung von persönlichen und / oder sozialen Problemen zu fördern. Dazu adaptiert Schulsozialarbeit Methoden und Grundsätze der Sozialen Arbeit auf das System Schule.“ (Drilling, 2009, S. 14)

„Schulsozialarbeit ist nicht einfach die Übertragung von Sozialer Arbeit in die Schule. Schulsozialarbeit ist innerhalb eines Systems tätig, das eigene Methoden und Verfahren entwickelt hat, wie es mit leistungsschwachen oder schulmüden Schülerinnen und Schülern umzugehen gedenkt. Diese Systemzusammenhänge gilt es zu kennen und in die Arbeit einzubeziehen.“ (ebenda, S. 144)

In dieser Definition werden einige wesentliche Grundzüge der Schulsozialarbeit benannt, die auch dann wichtig werden, wenn man sie versucht, zu Schulbibliotheken und die Zusammenarbeit von Öffentlichen Bibliotheken und Schulen zu parallelisieren:

  1. Schulsozialarbeit ist eine eigenständige Form der Jugendhilfe. Sie ist nicht einfach Übertragung der Jugendhilfe, sondern eine Reinterpretation der Aufgaben, Felder, Möglichkeiten, Zielsetzungen und Methoden der Jugendhilfe im schulischen Kontext. Sie ist, um es kurz zu fassen ein eigenständiger Typus der Jugendhilfe; etwas anderes, als Jugendhilfe außerhalb der Schule.

  2. Im Mittelpunkt der Schulsozialarbeit stehen die Kinder und Jugendlichen und deren Gelingen bei der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben. Dies ist ein anderer Fokus, als der von Lehrerinnen und Lehrern, die Unterricht gestalten und zuvorderst an die zu vermittelnden Inhalte und die Unterstützung von Kompetenzaufbau denken müssen. Für die Sozialarbeit ist es wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ihr Leben gesamt bewältigen können. Dies muss nicht immer mit den Zielen der Schule – also zum Beispiel dem Besuch von Unterricht – einhergehen; auch wenn es das oft tut.

  3. Schulsozialarbeit ist nicht zufällig oder einmalig, sondern formalisiert und institutionalisiert, dass heißt auch, ansprechbar, einplanbar und in ihren Grenzen bekannt. Den Lehrerinnen und Lehrern tritt mit der Schulsozialarbeit also innerhalb der Schulen selber eine zugleich in ihren Aufgaben und Möglichkeiten einigermaßen festgeschriebene, aber zugleich selbstständig handelnd und auftretende Institution gegenüber.

Schaut man die Zusammenfassungen der Evaluationsstudien auf die Ausgestaltung der Schulsozialarbeit hin durch, so gehört zu Grundausstattung der Schulsozialarbeit eine Angestellte oder ein Angestellter – allerdings nicht immer mit voller Personalstelle – mit professioneller sozialpädagogischer Ausbildung, in der Schweiz zum Teil auch einer speziellen Ausbildung für die Schulsozialarbeit, zudem ein Büro in der Schule mit der gesamten notwendigen Ausstattung. Die meisten Einrichtungen können zudem weitere Räume, beispielsweise für freie Angebote, nutzen. In einer ganzen Anzahl von Einrichtungen sind weit mehr Personen angestellt. Beispielsweise werden in den Schulsozialstationen in Berliner Grundschulen explizit gemischtgeschlechtliche Teams eingesetzt. (Gleichzeitig gibt es auch Modelle, in denen eine Person an verschiedenen Schulen tätig ist, was allerdings immer wieder als unzulängliche Lösung beschrieben wird.)

Die Arbeit der Schulsozialarbeit passt sich der Situation vor Ort in den einzelnen Schulen an. Der Großteil der Arbeit strukturiert sich in Beratung und Offene Angebote. Dabei ist es offensichtlich wichtig, dass die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter auf der einen Seite Vertrauen aufbauen, um überhaupt für die Kinder und Jugendlichen als Ansprechpartnerinnen und Partner wahrgenommen werden zu können, andererseits müssen sie einen Zugang zu den Lehrerinnen und Lehrern finden. Ein Problem stellt immer das Changieren zwischen dem Anspruch, ein freiwilliges Angebot zu unterbreiten und dem Fakt, dass Schülerinnen und Schüler direkt von den Lehrpersonen und der Schulleitung an die Schulsozialarbeit verwiesen werden können, dar. Die Freiwilligkeit ist immer ein Grundsatz von Sozialarbeit. Deshalb betonen mehrere Texte, dass selbst bei solchen eher erzwungenen Kontakten – die vor allem dann, wenn die Schulsozialarbeit als „soziale Feuerwehr“ im Schulhaus gesehen wird, oft vorkommen – den Schülerinnen und Schülern Angebote gemacht werden müssen, welche diese annehmen oder ablehnen können. [4]

Grundprinzipien der Schulsozialarbeit sind neben der Freiwilligkeit und Offenheit der Angebote, die Parteilichkeit für die Kinder und Jugendlichen, die Verschwiegenheit und Partnerschaftlichkeit (das heißt, dass die betroffen Kinder und Jugendlichen immer über die jeweiligen Schritte mitbestimmen sollen), sowie der Lebenswelt-Bezug und die Beziehungsarbeit, also die Arbeit an den sozialen Beziehungen der Kinder und Jugendlichen (Klasse, Peer-Group, Elternhaus et cetera).

Ein Problem ist selbstverständlich, dass die Erfolge von Schulsozialarbeit einen paradoxen Effekt haben können: Sie sollen ja dazu führen, dass Kinder und Jugendlichen ihre Probleme besser bewältigen. Das Beruhigt oft auch das soziale Klima einer Schule. Aber wie das messen? Es gibt selbstverständlich Evaluationen – der Großteil der Studien zur Schulsozialarbeit sind Prozessevaluationen –, aber Florian Baier und Rahel Heeg (2011) berichten auch davon, dass einige Träger die Anzahl der Beratungskontakte zum messbaren Wert erhoben haben. Dies hatte bei mindestens einer Schulsozialarbeitsstelle, die mit offenen Angeboten und guter Arbeit ein gutes Schulklima hergestellt hatte, den Effekt, dass dort überlegt wurde, wie man quasi zwanghaft Beratungssituationen herstellen könnte, um sie zählen zu können, was selbstverständlich kontraproduktiv wäre. Letztlich muss die Bewertung der Arbeit von Schulsozialarbeit also immer in einer Prozessrekonstruktion stattfinden.

Da sich die Schulsozialarbeit den Bedingungen der lokalen Schule (und den regionalen Förderstrukturen) anpasst und zudem mit unterschiedlichen Personengruppen interagiert, ist auch die Sicht auf die Schulsozialarbeit und deren Wirkung sehr unterschiedlich. Zusammenfassend arbeiten Baier und Heeg (2011, S. 50 ff.) insgesamt vierzehn Erscheinungsformen von Schulsozialarbeit heraus:

  1. Schulsozialarbeit als soziale Innovation (Im Schulrahmen, wobei Innovation neu, nicht unbedingt besser heißt.)

  2. Schulsozialarbeit als Konservierungsmittel (Konservierung als Erhalt vorhandener Strukturen und Arbeitsweisen, praktisch als Mittel, nichts verändern zu müssen.)

  3. Schulsozialarbeit als Auffangnetz

  4. Schulsozialarbeit als Mensch gewordener Rohrstock (Also als Strafeinrichtung, zu der Schülerinnen und Schüler geschickt werden können, nicht um Probleme zu klären, sondern um sie zu erziehen.)

  5. Schulsozialarbeit als Mittel zur Professionalisierung des Lehrer/innenberufs

  6. Schulsozialarbeit als kostengünstige sozialpolitische Aktivität

  7. Schulsozialarbeit als attraktives Berufsfeld

  8. Schulsozialarbeit als Bildungshemmnis und Kontrollorgan

  9. Schulsozialarbeit als Markt für Hochschulen

  10. Schulsozialarbeit als Seismograph und Alarmglocke

  11. Schulsozialarbeit als Mittel zur Vermeidung von Unterricht (Hauptsächlich für Schülerinnen und Schüler.)

  12. Schulsozialarbeit als Korrektiv schulisch induzierter Probleme

  13. Schulsozialarbeit als corporate identity von Schule

  14. Schulsozialarbeit als neues Bündnis der Generationen (Im Schulkontext. In der Schulsozialarbeit können Beziehungen zwischen Generationen entstehen, die im Verhältnis von Lernenden und Lehrenden in Schulen schwerlich zu realisieren sind.)

Weiterhin stellen Baier und Heeg (2011) heraus, dass die Schulsozialarbeit offenbar auch als Potentialität eine Bedeutung erlangt. Die Möglichkeit, dass man mit Problemen zur Schulsozialarbeit gehen könnte oder die Möglichkeit, dass man als Lehrkraft oder Elternteil professionelle Unterstützung einholen könnte, wird in den Interviews, die im Rahmen der Forschungen zur Schulsozialarbeit durchgeführt werden, immer wieder für als eigenständiger Wert angegeben. Lehrerinnen und Lehrer berichten zum Teil, dass dies ihnen die Schulsozialarbeit Erleichterung und Sicherheit verschafft hätte, ohne das überhaupt wirklich auf die Unterstützung zurückgreifen müssten.

Forschungen zur Schulsozialarbeit

Neben der Schulsozialarbeit selber hat sich eine eigene Forschungspraxis zur Schulsozialarbeit ausgeprägt. Das hat selbstverständlich auch mit dem Trend zu tun, Projekte während der Laufzeit evaluieren zu lassen. Die Hoffnung der finanzierenden Institutionen – bei der Schulsozialarbeit hauptsächlich die Kommunen und Ministerien auf Landes-/Kantonebene – ist dabei, durch eine Evaluation Aussagen zur Wirksamkeit von Projekten zu erhalten, einen Mehrwert an Wissen. Perspektivisch soll das auch zur Weiterentwicklung von Projekten beitragen. Selbstverständlich ist das nicht nur positiv zu sehen. Evaluation beschränkt sich oft auf Ergebnismessung, zudem ist immer noch fragwürdig, ob der Mehrwert an Wissen wirklich so groß ist, wie erhofft.

Für die Wissenschaft besteht immer das Problem, dass die Fragestellung bei Evaluationen eine andere ist, als bei wissenschaftlichen Studien. Etwas vereinfacht kann man sagen: Evaluation will wissen, ob etwas funktioniert und wie gut, Wissenschaft will wissen, was passiert und wie. Das muss sich nicht widersprechen, aber es ist – trotz aller Rede von wissenschaftlicher Evaluation – nicht deckungsgleich. Deshalb hat sich neben der Evaluation von Schulsozialarbeit auch eine Forschung etabliert, die nicht nach Gelingen oder Nicht-Gelingen von Schulsozialarbeit fragt, sondern darüber hinaus versucht, die strukturellen Funktionen und die tatsächlichen Abläufe von Schulsozialarbeit zu verstehen.

Die Forschung zu Schulsozialarbeit ist immer wieder darauf bedacht, die Sichtweisen der unterschiedlichen Nutzer- und Nutzerinnengruppen von Schulsozialarbeit zu rekonstruieren. Beachtet werden dabei mindestens folgend Gruppen:

  1. Schülerinnen und Schüler

  2. Lehrerinnen und Lehrer

  3. Eltern (beziehungsweise Erziehungsnetzwerke)

  4. Trägerinstitutionen der Schulsozialarbeit

  5. Das Personal der Schulsozialarbeit selber (also zumeist die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter)

Die Bedeutung der Schulsozialarbeit ist für diese Gruppen jeweils sehr unterschiedlich, weshalb ein multiperspektivisches Untersuchungsdesign notwendig ist. Zudem ist bekannt, dass, mit Ausnahme der letzten Gruppe, alle diese Gruppen die Schulsozialarbeit selektiv nutzen und zum Teil auch versuchen, gegen die Intentionen der Schulsozialarbeit oder der anderen Gruppen umzunutzen. Das ist selbstverständlich und im Lebensweltansatz der Schulsozialarbeit auch angelegt. Aber es bedeutet für die Forschung selber, dass es nicht möglich ist, nur eine Perspektive zu betrachten und aus dieser die Bedeutung der Schulsozialarbeit für die anderen Gruppen herzuleiten.

Egal, ob es sich um Evaluationen oder um andere Forschungen handelt, steht deshalb immer wieder die Befragung möglichst aller potentiell nutzenden Gruppen der Schulsozialarbeit als Aufgabe. Zumeist wird sie gelöst, indem Schülerinnen und Schüler mit anderen Fragebögen oder Interviews konfrontiert werden, als die Lehrerinnen und Lehrer, die wieder andere Fragen beantworten sollen als Eltern oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schulsozialarbeit selber.

Es scheint eine gewisse Regelmäßigkeit zu existieren: In den einzelnen Bundesländern und Kantonen wurden in einer frühen Phase der Schulsozialarbeitsforschung Datensammlungen angelegt, die einen Überblick zu den überhaupt vorhandenen Angeboten liefern sollten. Daneben wurden immer wieder Einzelevaluationen durchgeführt, teilweise wurde die Datensammlungen auch im Rahmen von Evaluationen angelegt. War eine solche Datensammlung vorhanden, wurde sie zur Ausweitung der Forschungsfragen genutzt. Dabei ist auffällig, dass diese Empirie nicht dazu genutzt wurde, um weitere Hypothesen zu prüfen, sondern zuerst als Überblick alleine sinnvoll genug erschienen.

Darauf folgend wurden vor allem stark qualitativ orientierte Studien unternommen. Die Interviews und Fragebögen waren wenig strukturiert, enthielten also viele Möglichkeiten zu Äußerungen der befragten Personen. Mit diesem Vorgehen soll offenbar auch auf die ambivalente Wirkung von Schulsozialarbeit eingegangen werden, gleichwohl macht dies Vergleiche – oder, um auf eine im Bibliothekswesen beliebte Vokabel zu verweisen, Best Practice Analysen – selbstverständlich schwer. Speck und Olk (2010) betonen in den programmatischen Aufsätzen ihres Sammelbandes, dass es zwar einen großen Methodenmix gibt, aber das sehr selten eine Triangulierung der Methoden stattfindet. Ebenso verweisen Baier und Heeg (2011) darauf, dass es zwar eine Anzahl von Einzelstudien, auch als Abschlussarbeiten von Studierenden, gibt, die einzelne Angebote differenzierter untersuchen, diese aber kaum für eine übergreifende Forschung ausgewertet werden.

Es scheint, als wenn einige wenige Forschende sich darum bemühen, möglichst viele Studien zur Schulsozialarbeit zusammenzutragen und auswerten (in Speck / Olk, 2010 findet sich beispielsweise eine Tabelle von Forschungsprojekten zur Schulsozialarbeit seit 1992). Speck und Olk erläutern die Situation wie folgt:

„Zusammenfassend betrachtet zeichnet sich die insgesamt sehr heterogene Forschungslandschaft zur Schulsozialarbeit durch eine starke Anwendungsforschung, beschreibende und evaluierende Forschungsziele, zumeist quantitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren, einmalige Erhebungen, Untersuchungsdesigns mit unterschiedlichen Befragungsgruppen sowie eine oftmals eingeschränkte Ergebnisveröffentlichung aus. Tendenziell nehmen in den letzten Jahren hypothesenprüfende Untersuchungsziele, Längsschnittuntersuchungen, quasi-experimentelle Designs, multivariante Auswertungsverfahren sowie qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren und Fallstudien in der Forschung zur Schulsozialarbeit zu.“ (Speck / Olk, 2010, S. 315)

Wir können also noch lange nicht von einer strukturierten und eingleisigen Forschung zur Schulsozialarbeit reden. Dennoch gibt es einige, insbesondere von Speck (2007) zusammengefasste Ergebnisse, die als allgemein geteiltes Wissen über die Schulsozialarbeit bezeichnet werden können. Neben der Erkenntnis, dass eine Schulsozialarbeit, die sich nicht an den weiter oben genannten Grundsätzen orientiert, sondern sich beispielsweise zu sehr die Funktion einer „sozialen Feuerwehr“ zuschreiben lässt, unerfolgreich ist, ist bekannt, dass die Schulsozialarbeit zumeist eine positive Wirkung für die Kinder und Jugendlichen selber, aber auch die Schule als Gesamtinstitution hat; gleichwohl aber – was einem auf Freiwilligkeit basierenden Angebot immer inhärent ist – nie alle Kinder und Jugendlichen erreicht, schon gar nicht sofort und durchgreifend. Die multiperspektivischen Problemlagen von Kindern und Jugendlichen bedürfen zum Teil auch andere Hilfe- und Beratungsansätze als sie die Schulsozialarbeit bieten kann. Zudem ist abgesichert, dass eine Schulsozialarbeit kontinuierlich existieren muss. Gerade die Praxis, Schulsozialarbeit mit befristeten Stellen auszustatten, ist dagegen kontraproduktiv. Ein Hauptarbeitsmittel von Schulsozialarbeit ist das Aufbauen und Pflegen von vertrauensvollen Kontakten zu Kindern und Jugendlichen, was nicht möglich ist, wenn die vor Ort in der Schulsozialarbeit tätigen Personen beständig wechseln.

Weiterhin abgesichert ist, dass die gesamte Soziale Arbeit für und in der Schule unterschiedlichen Modellen zugeordnet werden kann, wobei die einzelnen Modelle und – was ja das Ziel dieser Modellbildungen ist – die Bedeutung der einzelnen Modelle für die Schulsozialarbeit umstritten ist. Matthias Drilling (2009) unterscheidet beispielsweise prinzipiell zwischen einem addativen Modell (Kooperation von Schulen und Sozialer Arbeit in loser Form) und einem integrativen Modell (die Schulsozialarbeit ist in der Schule integriert), zu einem späteren Zeitpunkt seiner Arbeit dann für die Schulsozialarbeit in Thüringen ein additiv-destruktives Modell, ein additiv-konstruktives Modell, ein integratives Modell „Hilfslehrkraft“, ein integratives Modell „sozialpädagogische Schule, ein kooperative-sporadisches Modell und ein kooperativ-konstitutives Modell. Vögeli-Mantovani und Grossenbacher (2005) beschreiben ein Distanzmodell / addivites Modell, ein Subordinationsmodell / Integrationsmodell (die Soziale Arbeit ist der Schule untergeordnet) und ein Kooperationsmodell (Schule und Soziale Arbeit als gleichberechtigte Partner).

Zuletzt lässt sich festhalten, dass die Schulsozialarbeit in allen Schulformen (inklusive der Berufsschulen) angenommen wird und sinnvoll ist. Dies beschränkt sich nicht nur auf „Problemschulen“. Baier und Heeg (2011, S. 25) ordnen die Themen der Beratungen in der Schulsozialarbeit nach Häufigkeit:

  1. Konflikte und Probleme unter Kindern und Jugendlichen

  2. Schulische Probleme und Probleme zwischen Lehrkräften und Schülerinnen

  3. Persönliche Herausforderungen der Lebensbewältigung

  4. Probleme in der Familie

In „Problemschulen“ werden mehr Probleme mit Gewalt (gegen sich selbst, andere und Sachen) behandelt, in anderen Schulen, insbesondere Gymnasien, Probleme der Schülerinnen und Schüler mit den Herausforderungen der Lebens- und Unterrichtsbewältigung. Während junge Schülerinnen und Schüler die Schulsozialarbeit, insbesondere dann, wenn sie offene Angebote umfasst, relativ oft und von sich aus nutzen, geht diese Nutzung mit zunehmenden Alter zurück. Ebenso nutzen mehr Mädchen / junge Frauen die Schulsozialarbeit als Jungen / junge Männer.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken

Die Grundthese dieses Textes lautet, dass aus der Forschung über Schulsozialarbeit auch etwas für die Forschung über Schulbibliotheken gelernt werden kann. Bevor diese These weiter ausgeführt wird, sollen kurz die beiden Institutionen Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken verglichen werden. Aus den strukturellen Gemeinsamkeiten der Institutionen ergibt sich erst die weitergehende These.

  1. Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken haben in den letzten Jahren in Deutschland einen massiven Aufschwung erfahren, wobei die Schulsozialarbeit den weit größeren zu verzeichnen hat. Man kann von einer gewissen Etablierung der Einrichtungen in Schulen ausgehen. Zwar ist diese Etablierung nicht vollständig – also beispielsweise nicht mit der Etablierung von Sporthallen in Schulen zu vergleichen, die einfach zum Grundbestand gehören –, aber doch so weit fortgeschritten, dass sich praktisch alle Schulen damit auseinandersetzen müssen, ob sie diese Einrichtungen aufbauen und unterhalten oder nicht.

  2. Bei diesem Aufschwung profitieren beide Einrichtungen von den Schulreformen und dem Zwang zu Öffnung nach innen und außen, der für Schulen existiert. Diese Öffnung und die Profilbildung der Schulen hat zu einer Zunahme von unterstützenden Einrichtungen in Schulen geführt. Gleichwohl etablierte sich die Schulsozialarbeit als professionelle Einrichtungsform, insbesondere mit professionell ausgebildetem Personal, während Schulbibliotheken weit eher von der Transformation des Ehrenamtes zu profitieren scheinen.

  3. Sowohl Schulsozialarbeit als auch Schulbibliotheken etablierten sich als besondere Formen der jeweiligen „Haupteinrichtung“. Schulsozialarbeit ist keine reine Soziale Arbeit in Schulen, sondern eine gesonderte Form Sozialer Arbeit mit eigenen Arbeitsstrukturen, eigenem Methodenmix und besonderen Aufgabenstellungen. Ebenso sind Schulbibliotheken zumeist keine Öffentlichen Bibliotheken in Schulen, sondern ein gesonderter Bibliothekstyp in Schulen, mit eigene Arbeitsstrukturen, Zielvorstellungen, Aufgaben et cetera. Dabei orientieren sich Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken an den Anforderungen der lokalen Schulen.

  4. Neben der Schulsozialarbeit und den Schulbibliotheken existiert immer auch die Arbeit der „Elterneinrichtungen“ – also Soziale Arbeit und Öffentliche Bibliotheken – mit Schulen.

  5. Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken stellen beide Unterstützungseinrichtungen für die Hauptaufgaben der Schulen selber dar. Dabei ist es lokal unterschiedlich, wie eng oder nicht-eng die Einrichtungen in den Unterricht eingebunden sind. Es scheint dabei keine in allen Fällen sinnvolle Nähe oder Ferne zu geben.

  6. Die Wirkungen von Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken sind immer nur bis zu einem gewissen Anteil direkt nachzuweisen. Vieles bleibt im Ungefähren, oft ist auch das Vorhandensein allein als Potentialität wirksam.

  7. Dennoch können sowohl Schulsozialarbeit als auch Schulbibliotheken immer direkt von interessierten Schulen, Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrern enger in die Schule eingebunden und zum Beispiel für Unterrichtszwecke genutzt werden.

  8. Beide Einrichtungen erheben den Anspruch, Schulen in Aufgabenfeldern zu unterstützen, die von den Schulen anders nicht abgedeckt werden können, wobei die Schulsozialarbeit mit diesem Anspruch offenbar eine größere Akzeptanz erfährt als die Schulbibliotheken.

  9. Zugleich setzen beiden Einrichtungsformen dem zu starken Zugriff aus der Schule auch Behaarungs- und Differenzierungsbestrebungen entgegen. Sie verstehen sich zumeist als eigenständige Einrichtungen.

  10. Nicht zuletzt werden die meisten Schulbibliotheken ebenso durch Schülerinnen und Schüler genutzt, wie die meisten Angebote der Schulsozialarbeit. Es ist kann also nicht darum gehen, zu zeigen, was funktioniert und was nicht, sondern wie gut für welche Aufgaben etwas funktioniert und warum.

  11. Zudem lassen sich die Funktionen, Zielsetzungen und Wirkungen von Schulsozialarbeit ebenso sinnvoll für unterschiedliche Gruppen (Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Schule und Schulleitung, Träger, das Personal der Einrichtungen) bestimmen, wie dies auch bei Schulbibliotheken der Fall ist. Ebenso ist anzunehmen, dass alle diese Gruppen Schulbibliotheken ebenso funktional für sich zu nutzen suchen, wie sie es bei der Schulsozialarbeit tun.

Schulbibliotheksforschung

Das Wachstum der Schulbibliotheken in Deutschland ist immer noch nicht von einer wirklich sichtbaren Schulbibliotheksforschung begleitet worden. Es lassen sich aber, wie angedeutet, aus der Forschung zur Schulsozialarbeit einige Dinge lernen, wenn nicht gar bestimmte Forschungsdesigns übernommen werden können.

Zwei Erkenntnisse der Schulsozialarbeitsforschung sollten beachtet werden:

  1. Die schon angesprochene unterschiedliche Bedeutung der Einrichtungen – hier also der Schulbibliotheken – für unterschiedliche Gruppen. Es wurde in der Forschung nachgewiesen, dass die Betrachtung der unterschiedlichen Wirkungen von Schulsozialarbeit für die unterschiedliche Gruppen tatsächlich dazu beiträgt, die Funktionsweisen der Einrichtungen rekonstruieren und für die Zukunft bestimmen zu können. Dies wird sich bei Schulbibliotheken höchstwahrscheinlich ebenfalls zeigen.

  2. Die Einbindung der Schulsozialarbeit in die Schulen folgt unterschiedlichen Modellen. Auch die Skizzierung dieser unterschiedlichen Modelle hat sich – obgleich es unterschiedliche Ansätze für die Modelle selber gibt – in der Forschung als sinnvoll herausgestellt. Da Schulsozialarbeit sehr unterschiedlich strukturiert ist, scheint es schwierig, Aussagen für die gesamte Schulsozialarbeit zu machen. Auch dies wird sich bei Schulbibliotheken mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederfinden.

Die Wirkung von Schulbibliotheken wird sich, ebenso wie bei der Schulsozialarbeit, nicht einfach standardisieren lassen. Vielmehr wird mit Hilfe qualitativer Forschungsansätze die Wirkungsweise der Schulbibliotheken rekonstruiert werden müssen, um sinnvolle Aussagen darüber treffen zu können, was wann für wen und für welchen Zweck funktioniert. Auch Schulbibliotheken müssen als Einrichtungen begriffen und untersucht werden, die sich in die lokalen Gegebenheiten der Schulen einfügen.

Als sinnvoll hat sich offenbar erwiesen, in regelmäßigen Abständen eine Übersicht über die vorhandenen Angebote in einem Untersuchungsgebiet – also normalerweise Bundesländer oder Kantone – anzulegen. Diese Empirie alleine liefert offenbar auch schon ohne eine weitere Hypothesenbildung sinnvolle Aussagen. Zudem lassen sich auf Grundlage solchen Sammlungen weitere Forschungsfragen formulieren.

Es hat sich als möglich erwiesen, mit teilstrukturierten Interviews und Fragebögen Aussagen über die Funktionsweisen und Wirkungen der Schulsozialarbeit zu erheben. Diese wird für Schulbibliotheken ähnlich gelten. Wenig Interesse scheint an fertigen Konzepten oder gar normativen Aussagen zu bestehen, vielmehr sollten Vorschläge für die Einrichtung und den Betrieb von Einrichtungen – nimmt man die Schulsozialarbeit zum Vorbild – mit Erfahrungen oder Daten aus anderen Einrichtungen begründet werden zu können. Zu beachten ist allerdings, dass auch die Schulsozialarbeit zum Teil schon versucht hat, die Forschung für sich zu instrumentalisieren. [5]

Es gab immer ein Interesse der Träger an Evaluationen von Schulsozialarbeit. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass eine reine Handlungsforschung nur bestimmte Aussagen treffen kann. Warum zum Beispiel sich die Schulsozialarbeit so massiv etabliert hat, lässt sich mit Handlungsforschung nicht herausarbeiten. Ebenso ist die gesellschaftliche Wirkung von Schulsozialarbeit über die Schule hinaus nicht ohne eine weiterreichende Forschung untersuchbar. Das wird spiegelverkehrt auch für Schulbibliotheken gelten.

Immer wieder wird betont, dass sehr viele Forschung zur Schulsozialarbeit, insbesondere Einzeluntersuchungen und Abschlussarbeiten von Studierenden, nicht oder schwer erreichbar publiziert werden. Eine Aufgabe der Forschenden besteht offenbar auch immer wieder in einer intensiven Recherche nach solchen Forschungen, obgleich diese wertvolle Daten und Ergebnisse enthalten können. Eine ähnliche Situation findet sich auch im Bezug auf Schulbibliotheken, wo insbesondere Abschlussarbeiten kaum erreichbar verbreitet werden. Dem sollte man mit der Etablierung von Veröffentlichungseinrichtungen im Sinne eines potentiellen Forschungsdiskurses entgegenwirken.

Nicht zuletzt zeigt die Forschung zur Schulsozialarbeit, was möglich ist, wenn zumindest ein Teil der Forschenden auch weiter vom Untersuchungsobjekt zurücktritt und beispielsweise Fragen zur Wirkungsweisen stellt, ohne gleich Handlungsempfehlungen geben zu wollen. Dies kann wegen der weiter oben aufgezeigten Parallelen zwischen Schulsozialarbeit und Schulbibliotheken ebenso vorbildhaft wirken.

Fußnoten

[1] Vgl. dazu auch Zymek (2010).

[2] Vgl. Vögeli-Mantovani / Grossenbacher, 2005, Drilling, 2009 und Baier / Heeg, 2011.

[3] Man sollte bedenken, dass Bibliotheken mit ihren zwei Hauptthemen „Leseförderung“ und „Informationskompetenz“ selbstverständlich immer in der Gefahr stehen, zumindest den Eindruck zu vermitteln, als würde den Lehrerinnen und Lehrern nicht zugetraut, eigenständig das Lesen der Schülerinnen und Schüler zu fördern und genügend Wissen über Recherche- und Bewertungsprozesse zu vermitteln. Zudem kann auch der Eindruck entstehen, als wenn die Bibliotheken die Probleme von Schülerinnen und Schüler – entgegen dem Wissen der Lehrerinnen und Lehrer – auf das richtige und viele Lesen reduzieren wollten.

[4] Claudia Streblow (2005) beschreibt die Funktion von Schulstationen als „neutraler Raum, als Ort, von dem aus (neu) gehandelt werden kann“ (ebenda, S. 289).

[5] Thomas Padelko (in Speck / Olk, 2010) berichtet zum Beispiel davon, dass einige Schulstationen in Berlin versuchten, direkten Einfluss auf die Forschungsfragen und sogar die Gestaltung der zur Forschung verwendeten Fragebögen zu nehmen. Dies ist selbstverständlich nicht sinnvoll.

Literatur

Baier, Florian ; Heeg, Rahel / Praxis und Evaluation von Schulsozialarbeit : Sekundäranalysen von Forschungsdaten aus der Schweiz. – Wiesbaden : VS, 2011

Drilling, Matthias / Schulsozialarbeit : Antworten auf veränderte Lebenswelten. – 4., aktualisierte Auflage. – Bern ; Stuttgart ; Wien : Haupt Verlag, 2009

Speck, Karsten / Schulsozialarbeit : Eine Einführung ; Mit 14 Tabellen. – (UTB ; 2929). – München ; Basel : Ernst Reinhard Verlag, 2007

Speck, Karsten ; Olk, Thomas (Hrsg.) / Forschung zur Schulsozialarbeit : Stand und Perspektiven. – Weinheim ; München : Juventa Verlag, 2010

Spies, Anke ; Pötter, Nicole / Soziale Arbeit an Schulen : Einführung in das Handlungsfeld Schulsozialarbeit. – (Beiträge zur Sozialen Arbeit an Schulen ; 1). – Wiesbaden : VS, 2011

Streblow, Claudia / Schulsozialarbeit und Lebenswelten Jugendlicher : Ein Beitrag zur dokumentarischen Evaluationsforschung. – Opladen : Verlag Barbara Budrich, 2005

Vögeli-Mantorvani, Urs ; Grossenbacher, Silvia (Mitarb.) / Die Schulsozialarbeit kommt an!. – (Trendbericht SKBF ; 8 ). – Aarau : Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 2005

Zymek, Bernd / Nur was anschlussfähig ist, setzt sich auch durch : Was man aus der deutschen Schulgeschichte des 20. Jahrhunderts (gerade auch der der DDR und der ostdeutschen Bundesländer) lernen kann. – In: Die deutsche Schule, 102 (2010) 3, S. 193-208

Der Migrationshintergrund – kein einheitliches Merkmal

Noch eine Broschüre
Wieder einmal hat ein bibliothekarischer Verband eine Werbebroschüre für Bibliotheken herausgegeben. Und nachdem die „21 guten Gründe für Bibliotheken“ des BID außer in der Biblioblogosphäre und einigen bibliothekarischen Publikationen offenbar keine Resonanz gefunden hatten, versucht es jetzt der dbv mit einem „Bericht zur Lage der Bibliotheken“ (http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/publikationen/Bericht_zur_Lage_der_Bibliotheken_2010_01.pdf). Immerhin: dieser Bericht mit dem übertriebenen Namen hat, im Gegensatz zu den „21 Gründen“, eine klarere Ausrichtung: er soll der Politik gegenüber die Existenz von Bibliotheken begründen. Gleichwohl ist auch er gespickt mit unnötigen, fast schon falschen PR-Floskeln. [1] Auch die Argumente haben sich nicht geändert. Deshalb ist auch zu bezweifeln, dass diese Broschüre mehr Einfluss gewinnen wird als all die Image-Broschüren und -Kampagnen zuvor. Es wird in diesem Bericht versucht, mit Zahlen statt mit Lyrik, wie noch bei den „21 Gründen“, zu überzeugen. Aber auch das ist nichts neues. Und wirklich überzeugend sind die Zahlen auch nicht, da sie oft ohne einen größeren Kontext dastehen oder aber so offensichtlich nur dafür ausgesucht wurden, Bibliotheken gut dastehen zu lassen, dass sich wohl niemand davon beeindrucken lassen wird.
Wenn beispielsweise auf Seite 3 wieder einmal die BesucherInnenzahlen unterschiedlicher Einrichtungen miteinander verglichen werden – diesmal Bibliotheken, Fußball (allerdings nur 1. und 2. Bundesliga, als würde der Spaß nicht erst weiter unten, beim Amateursport anfangen), Kino, Theater und Museen –, ist eigentlich auf den ersten Blick offensichtlich, dass hier gemogelt wurde: all die anderen Einrichtungen werden anders genutzt als Bibliotheken, also kann man sie auch nicht vergleichen. Die meisten von Ihnen – bis auf bestimmte Museen – kosten zudem Eintritt. Aber es ist eigentlich klar, dass der Besuch eines Museums nicht mit dem Besuch in einer Bibliothek gleichgesetzt werden kann. Man kann sich also schon fragen, wenn das alles noch Überzeugen soll.
Ebenso wenig überzeugend ist der Versuch, den Status Quo von Bibliotheken an Standards zu messen, die Bibliotheken selber ohne weitere Begründung aufgestellt haben, wie das auf Seite 5 durchgeführt wird. Solche Zahlen wie „3 Besuche pro EinwohnerIn“ oder „2 Medien pro EinwohnerIn“ mögen ja recht handlich erscheinen, aber sie sagen wenig aus. Nicht nur, dass außerhalb des Bibliothekswesens diese Standards gerade nicht akzeptiert sind; sie sind auch innerhalb des Bibliothekswesens nicht begründet: Wieso sollen denn zum Beispiel 2 Medien und nicht 4,321 oder 1,5 eine gute Größe darstellen? Die Idee, statt Argumente Zahlen zu liefern, ist nicht gerade neu, sie überzeugt aber in einer Gesellschaft, in der ständig Zahlen geliefert und die Öffentlichkeit deshalb im Bezug auf die Benutzung von solchen Standards und Statistiken kritisch geworden ist, noch weniger als zum Beispiel in den 60er Jahren. Deshalb kann ich der Einschätzung, die Dörte Böhner in Bibliothekarisch.de (http://bibliothekarisch.de/blog/2010/10/28/bericht-ueber-die-lage-der-bibliotheken-2010/) vertritt, nämlich das die Broschüre interessant und aussagekräftig wäre, auch nicht zustimmen. [2]
Aber eigentlich soll es hier um ein anderes Thema gehen, dass im „Bericht“ angeschnitten wird (Seite 8 und 9): den Migrationshintergrund.

Der Migrationshintergrund
Man muss anerkennen, dass der dbv in dieser Broschüre sehr viel näher an die realen gesellschaftlichen Verhältnisse und Anforderungen im Bezug auf die Migration nach Deutschland [3] herangekommen ist, als das in zahlreichen anderen bibliothekarischen Publikationen der letzten Jahre geschehen ist. Nicht nur, dass das Thema überhaupt als zentrales behandelt wird, es wird auch wahrgenommen, dass es komplexer ist, als nur über Sprache zu reden. Und in aller Kürze gibt es zumindest einen Hinweis darauf, dass auch die Gesellschaft, in die migriert wird, betroffen ist. Gleichwohl: auch der „Bericht zur Lage der Bibliotheken“ ist dem Thema und den Problemstellungen nicht angemessen. Auch er redet zu viel über Sprache und Einbürgerung und zu wenig von der tatsächlichen Komplexität des Themas. Nähern wir uns dem doch einmal.
Zuallererst: Was ist der Migrationshintergrund? Migrationshintergrund ist ein soziologischer Wert, mit dem versucht wird, die Gesellschaft besser beschreiben und verstehen zu können. Es wird hier auf die Biographie und Familiengeschichte einer Person geschaut und gleichzeitig nach einer Möglichkeit gesucht, die Integrationsbewegungen in die Gesellschaft hinein beschreibbar zu machen. Vor dem Migrationshintergrund sprach man gerne von AusländerInnen oder Fremden, was nicht nur terminologisch den Eindruck vermittelte, als würde man von einer Gruppe von Menschen reden, die auf immer und ewig vom Rest der Gesellschaft getrennt sein sollte. Der Migrationshintergrund hingegen soll beschreiben helfen, dass Menschen einerseits immer mehr integriert werden (und sich dabei die Gesellschaft verändert), obgleich sie andererseits eine biographische Prägung aufweisen, die auch ihr Leben in der Gesellschaft mit determinieren.
Trotz alledem: es ist eine soziologische Kategorie über die wir hier reden und die hat ihre Grenzen.
Gebildet wird der Migrationshintergrund im Allgemeinen, indem man nach der Migrationsgeschichte eines Menschen fragt. Ist dieser Mensch selber, eines seiner Elternteile oder der Großelternteile nicht in Deutschland geboren, dann hat er einen Migrationshintergrund, ansonsten nicht. [4] Skizze 1 macht dieses Vorgehen deutlich.

Wenn wir den Migrationshintergrund auf diese Weise untersuchen, dann zeigt sich, dass sehr viele Kombinationen vom familiären Migrationsgeschichten unter diese Definition fallen. Ohne Migrationshintergrund ist ein Mensch nur, wenn tatsächlich niemand von seinen Eltern oder Großeltern eine Migrationsgeschichte hat. [5]
Das ist selbstverständlich etwas unbefriedigend, weil einfach unglaublich viele unterschiedliche individuelle Fälle unter diese Definition fallen.

  1. Es ist erst einmal nicht klar, von welchen unterschiedlichen Migrationsländern und Geschichten wir hier reden. Jemand, dessen Eltern gerade wegen neuer akademischen Jobs aus Schweden nach Deutschland gezogen sind, zählt ebenso als „mit Migrationshintergrund“, wie jemand, dessen Großeltern als politische Flüchtlinge aus Salazars Portugal geflohen sind. Hinzu kommen die ganzen Personen, die selber oder deren Eltern und Großeltern aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland migrierten. Und da wissen wir, dass es riesige Unterschiede gibt. Die Teile von Großfamilien, die weiterhin ständigen Kontakt in ihre Heimat halten, zählen ebenfalls dazu, wie Familien, die nach Deutschland migrierten, weil man hier immer noch besser und freier leben kann, als in ihren Heimatstaaten und da auch niemals wieder hin möchten. [6]
  2. Wer selber vor einigen Jahren nach Deutschland migrierte zählt ebenso zur Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund, wie Personen, deren Großeltern migrierten, obgleich ihre Eltern und sie selber hier geboren und aufgewachsen sind.
  3. Dieses Schema sagt gar nichts über die Befindlichkeiten der Personen aus: fühlen sie sich als Deutsche und wollen das auch sein, sehen sie sich vorübergehend hier, bis sie oder ihre Familien wieder zurück- oder woanders hin migrieren oder wollen sie sich vielleicht sowohl als Deutsche, aber auch als Personen aus einem anderen Staat verstehen?
  4. Prägt die Migrationsgeschichte die gesamte Familie – ist zum Beispiel die gesamte Großelterngeneration migriert – oder ist sie die Ausnahme, also ist z.B. nur einer der vier Großeltern migriert? [6]

Redet man nur vom Migrationshintergrund, wischt man all diese Unterschiede weg. Es gibt Versuche, dass alles etwas mehr zu differenzieren, was allerdings auch heißt, dass man mehr und genauere Daten benötigt.
Skizze 2 versucht, dass zu verdeutlichen.

Wir können hier an den Beispielen 1-3 sehen, dass die Einführung schon der kleinen Unterscheidung der „Migrationsgenerationen“ die gesamte Aussagekraft komplexer macht. (Und das ist nur eine mögliche Unterscheidung.) Es wird angenommen, dass eine Person ein unterschiedliches Verhältnis zur Migrationsgeschichte seiner Familie hat, je generationell „näher“ diese ist. Wir sehen allerdings, dass auch das noch sehr unterschiedlich Dinge bedeuten kann. In Beispiel 1 und Beispiel 2 „enden“ wir jeweils bei Personen, die zur „3. Generation“ gehören. Aber wir sehen, dass dies bei Beispiel 1 aus einer Familiengeschichte herstammt, bei der alle Großeltern migrierten, bei Beispiel 2 haben zwei der Großeltern keine Migrationsgeschichte. Beispiel 3 zeigt eine Person, deren Eltern, nicht aber deren Großeltern migrierten.
Dabei muss man aufpassen: Die Bezeichnung 1., 2. und 3. Generation suggeriert, dass diese pro Generation mehr in die Gesellschaft, in welche ihre Familien migriert sind, integriert würden. Das ist so einfach nicht der Fall. Bei Personen mit russischem Migrationshintergrund in Deutschland in der 2. Generation (aktuell), ist zum Beispiel aus der Forschung das Phänomen bekannt, dass sich deren Eltern (1. Generation) in Deutschland eher zu Hause und „angekommen“ fühlen, als die Angehörigen der 2. Generation selber, die zum Teil einen starken Wunsch danach entwickeln nach Russland zurück zu migrieren.
Beispiel 4 zeigt eine andere Annahme, die dem Konzept des Migrationshintergrundes zugrunde liegt: Über die Generationen betrachten „verschwindet“ der Migrationshintergrund. Aber stimmt das überhaupt? Hier stoßen wir an eine wichtige Grenze des soziologischen Wertes: das der Migrationshintergrund irgendwann verschwindet ist eine Annahme und eine vollkommen berechtigte politische Forderung, aber so einfach ist das alles in der Realität wieder nicht. Und schon gar nicht kann man davon reden, dass dieses „Verschwinden“ unbedingt nach der 3. Generation abgeschlossen wäre.
Es ist richtig: eine ganze Anzahl von großen Migrationsgruppen hat sich so sehr in die deutschen Gesellschaft integriert (und dabei auch die Gesellschaft verändert), dass sie praktisch „verschwunden“ sind: die sogenannten „Ruhrpolen“, die Hugenotten, die Schweizer, die nach dem 30-jährigen Krieg nach Süddeutschland einwanderten – sie alle prägten einst Teile der deutschen Gesellschaft und gleichzeitig sind ihre Angehörigen heute nicht mehr als spezielle gesellschaftliche Gruppen nachzuweisen. Das gilt aber auch für einige Migrationsgruppen, die noch keine drei Generationen in Deutschland sind: Menschen mit spanischem Migrationshintergrund, mit portugiesischem, mit französischem, schwedischen, dänischen, britischen, US-amerikanischen, kanadischen. Andererseits gibt eine Anzahl von Menschen, deren Großeltern schon in Deutschland geboren wurden, die aber immer noch ausgegrenzt werden und sich nicht unbedingt „angekommen“ fühlen. Insbesondere bei Afrodeutschen ist das oft der Fall, deren Vorfahren zum Teil zu Zeiten des deutschen Kolonialismus eingewandert sind. [7] Wir können also nicht davon ausgehen, dass diese Bezeichnung der 1., 2. und 3. Generation eine Art Gesetzmäßigkeit beschreiben würde. Die Integration in die Gesellschaft vollzieht sich nicht gleichförmig.
Allerdings bietet dieses Konzept die Möglichkeit darüber nachzudenken, wie und wann die familiäre Migrationsgeschichte an Bedeutung verliert. Und wenn wir schon dabei sind: welche Bedeutung sie überhaupt hat. Und zu guter Letzt: ob es auch noch andere Gründe dafür gibt, als wie sehr integriert jemand in der deutschen Gesellschaft gilt. (Es ist ja offensichtlich, dass diejenigen Migrationsgruppen, deren Angehörige phänologisch eher dem phänologischen Selbstbild der Deutschen entsprechen, schneller als integriert gelten als die anderen – wobei auch dieses Selbstbild einer ständigen Veränderung unterliegt und eventuell, wie das in anderen Staaten der Fall ist, auch an Bedeutung verlieren kann.)

Wir können nach dieser kurzen Beschreibung des Wertes „Migrationshintergrund“ also eines festhalten: Er bietet zwar mehr Möglichkeiten, die reale Situation von Menschen in der Gesellschaft zu beschreiben, es bietet auch die Möglichkeit, Integration und Bedeutung einer familiären Migrationsgeschichte zu konzeptionalisieren. Aber so alleine sagt der Wert trotz allem wenig aus. Wirklich sinnvoll wird er, wenn er mit anderen Werten in Beziehung gesetzt und in Modelle integriert wird, welche die Bedeutung der Werte erklärbar machen.

Die Komplexität der Realität
Dieser Komplexität nimmt sich, um darauf zurückzukommen, der dbv in seinem Bericht allerdings nicht an. Immerhin spricht er von Vielfalt und ist zudem gezwungen, sich kurz zu fassen. Dennoch: in der Broschüre wird der Migrationshintergrund als ein Wert behandelt, welcher zusammenfassend vieles erklären soll. Und das geht leider nach hinten los.
Als erstes fällt die bildliche Repräsentation auf: zwei Frauen mit Kopftuch und auf einem zweiten Bild ein junger Erwachsener mit – phänologisch, aber so ist das ja auf Bildern – asiatischem Migrationshintergrund sollen die Bildungsfunktion von Bibliotheken für Menschen mit Migrationshintergrund abbilden. Das ist einerseits nicht ganz unpassend, weil es gerade zwei Migrationsgruppen repräsentieren soll, die sich in Deutschland grundsätzlich unterscheiden und quasi an beiden Ende der potentiellen Migrationserfahrung stehen. Die beiden Frauen sollen offenbar die Menschen mit türkischem und arabischen Migrationshintergrund repräsentieren: das ist nicht nur die größte Gruppe mit Migrationshintergrund in Deutschland, es ist auch eine der Gruppen, die am meisten ausgegrenzt sind, am wenigsten sozial aufsteigen können und auf dem Arbeitsmarkt und der im Bildungswesen offensichtlich die höchsten Hürden zu überwinden haben. Es ist aber auch eine der Gruppen, über die am meisten diskutiert, denen die größte Integrationsverweigerung unterstellt und die am ehesten als Gefahr wahrgenommen werden. Menschen mit asiatischen (genauer ostasiatisch, die Türkei ist ja auch ein zum Teil asiatischer Staat), vornehmlich vietnamesischen Migrationshintergrund stellen eine der kleinen Migrationsgruppen in Deutschland dar, deren Angehörige innerhalb der ersten und zweiten Generation zumeist den gesellschaftlichen Aufstieg durch weit überdurchschnittliche Bildungserfolge gemeistert haben. Soziale und wirtschaftliche Barrieren sind für diese Migrationsgruppe kaum vorhanden und es ist auffällig, dass sie erstaunlicherweise in der öffentlichen Debatte so gut wie gar nicht vorkommt. Deshalb ist die Verwendung des Bildes auf Seite 9 des dbv-Berichtes auch zweischneidig. Es zeigt berechtigterweise an, dass wir bei Migration nach Deutschland nicht nur von einer Gruppe sprechen dürfen. Gleichzeitig ist es auch ein wenig hinfällig, die Bildungsfunktion von Bibliotheken mit dem Bild eines Angehörigen einer durch Bildung extrem integrierten Migrationsgruppe zu illustrieren. Das erscheint fast schon wie eine Tautologie.
Störend ist vielmehr das erste Bild, auf dem zwei Frauen mit Kopftuch die türkisch-arabische Community in Deutschland repräsentieren sollen. Hier wird das Bild des exotischen Anderen aufgerufen, so exotisch, dass sie auch noch einer anderen Religion angehören. Sicherlich: der Islam ist die dritt größte Religionsgemeinschaft in Deutschland (bzw., was ich als Atheist anmerken muss, die vierte, wenn man die Konfessionslosen als Gruppe in die Zählung mit einbezieht). Aber die Vorstellung, das Menschen mit türkisch-arabischen Migrationshintergrund größtenteils Formen des Islam anhängen würden, die es verlangen, dass man diese Zugehörigkeit über Kleidung ausdrücken müsste, ist falsch. Der Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund, auch türkisch-arabischen, unterscheidet sich in religiösen und anderen Dingen kaum von Menschen ohne Migrationshintergrund: die Religion läuft so im Hintergrund mit und die Grundregeln werden so pi-mal-Daumen auch eingehalten, die wichtigsten Feste gefeiert, aber eigentlich geht es niemand was an und wird auch nicht nach außen getragen. Anders gesagt, und hier kommt der wichtige Punkt: der Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland unterscheidet sich nicht in exotischer Weise von Menschen ohne Migrationshintergrund. Deshalb ist Migrationshintergrund in den Statistiken, die nicht explizit danach fragen, und oft auch im Alltag relativ schwer „zu sehen“. Kopftuch tragende junge Mädchen sind aber auch bei den Muslima in Deutschland ebenso in der Minderheit, wie katholische und protestantische Jugendliche, die ständig ein sichtbares Kreuz mit sich herumtragen oder jüdische Jugendliche, die das mit einem Davidstern machen. Ganz abgesehen davon, dass es grundfalsch ist, zu implizieren, (fast) alle Personen mit türkisch-arabischen Migrationshintergrund während muslimisch. Das Bild in der Broschüre ist falsch, weil es falsche Annahmen über Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert.
Um es kurz zu machen: der dbv ignoriert, wie das in dieser Frage so oft passiert, dass es sich bei Fragen der Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund um eine soziale Frage handelt, um einen Fragenkomplex, der viel mehr mit der sozialen Schichtung der Gesellschaft, mit Armut und Reichtum zu tun hat, als mit dem Migrationshintergrund.
Der dbv erkennt vollkommen berechtigt an, dass all die unterschiedlichen Menschen mit Migrationshintergrund hier in Deutschland mitbestimmen, mitreden und mitgestalten, dass sie „ankommen“ wollen. Aber er unterstellt, dass es vorrangig um die richtige Bildung und Sprache gehen würde. So wird angeführt, dass Menschen mit Migrationshintergrund weit öfter die Schule ohne Schulabschluss verlassen würden, also solche ohne Migrationshintergrund, dass sie gleichzeitig schlechter auf dem Arbeitsmarkt abschneiden und das deshalb die Bibliotheken unter anderem durch multilinguale Angebote die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft befördern müssten. Abgesehen davon, dass die zitierten Daten nicht ganz schlüssig sind, [8] die Herleitung der Aufgaben von Bibliotheken ist auch nicht richtig. Zu klären wäre ja, warum Menschen mit Migrationshintergrund Schulen abbrechen und warum so schlechter auf dem Arbeitsmarkt abschneiden. Der dbv unterstellt offenbar, dass es vor allem um Angebote in verschiedenen Sprachen gehen würde.
Doch stimmt das überhaupt? Liegt das Problem darin, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht genügend Deutsch reden? Nein: der tatsächliche Hauptgrund, warum Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland öfter die Schule abbrechen und seltener Studieren, das Abitur oder der Realschulabschluss machen, als Menschen ohne Migrationshintergrund, ist immer noch ihre soziale Stellung. Ein Großteil der Familien mit Migrationshintergrund gehört den unteren sozialen Schichten der Bevölkerung an. Das beeinträchtigt ihre Bildungsbeteiligung, die insgesamt trotzdem höher ist, als bei ihrer Counterparts ohne Migrationshintergrund.
Hier ist die Studie zum Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, die Maaz et al. Letztens veröffentlichten, wieder einmal aufschlussreich. [9] Eines der Ergebnisse lautete, dass, wenn man die sozialen Einflüsse kontrolliert, die Übergangswahrscheinlichkeit in eine „bessere“ Schulform für Jugendliche auch mit türkischem Migrationshintergrund höher sind, als für Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Oder anders: wenn man „türkische“ und „deutsche“ Familien (das gilt auch für den Vergleich anderer Familien mit Migrationshintergrund mit Familien ohne Migrationshintergrund) in der gleichen sozialen Lage (und das heißt hier zumeist: in Armut) miteinander vergleicht, dann wird eher der Jugendliche aus der „türkischen“ Familie auf die Realschule oder das Gymnasium gehen, als der aus der deutschen Familie. Das diese Bildungsentscheidungen nach sozialen Lagen unterschiedlich sind, ist schon lange bekannt und skandalisiert. Aber die angeblich geringe Bildungsbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund kann man in Deutschland durch ihre Schichtzugehörigkeit erklären und nicht etwa, wie der dbv (und mit ihm andere Institutionen) unterstellt, durch eine zu geringe Deutschkenntnis oder Bildungsorientierung. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern immer wieder das Ergebnis solcher Untersuchungen.
Ebenso bekannt ist ein anderer Fakt, den der dbv ignoriert: Sprache und Sprachbeherrschung ist ebenfalls durch die Schicht, der eine Person zugehört und in der sie aufwächst, beeinflusst – und zwar hauptsächlich. Ob jemand gut oder schlecht Deutsch redet hat eher damit zu tun, aus welcher Schicht er oder sie kommt und weniger mit dem Migrationshintergrund. Sicherlich hat auch die Bildungsaspiration einer Person damit zu tun, aber die ist nicht der Hauptgrund. Die Idee, die ja nicht nur der dbv vertritt, dass Deutsch-lernen für Menschen mit Migrationshintergrund wichtig wäre, geht implizit davon aus, dass sich Menschen gut in einer Sprache verständigen könnten, dann aber nicht Deutsch reden würden. Also das sie zu Hause ein gutes Türkisch oder Arabisch oder Russisch sprechen würden, aber ein schlechtes Deutsch. Die Realität sieht aber anders aus: im Allgemeinen unterscheiden sich bei Menschen mit Migrationshintergrund die Fähigkeiten im Deutschen und ihren anderen Sprachen nicht. Viel eher spricht man zum Beispiel ein schlechtes Russisch und ein schlechtes Deutsch, ein mittelmäßiges Türkisch und ein mittelmäßiges Deutsch, eine sehr gutes Vietnamesisch und ein sehr gutes Deutsch. Das ist nicht überraschend, den auch für Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland gilt, dass in den unteren Schichten eher ein Deutsch gesprochen wird, dass als schlecht gilt. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund: wenn sie nur lange genug hier leben, gleicht sich ihre Sprachfähigkeit in den gesprochenen Sprachen an (bzw. ist sie zum Teil besser als bei ihren „deutschen“ Counterparts, weil sie es gewohnt sind, zwischen Sprachen zu wechseln). Selbstverständlich brauchen Menschen, die neu nach Deutschland migrieren eine Unterstützung dabei, die deutsche Sprache zu lernen – leider ist Deutschland ja eine monolinguale Gesellschaft. Aber die Idee, dass Sprachkurse und multilinguale Angebote das wären, was Menschen mit Migrationshintergrund benötigen würden, ist so nicht haltbar.

Andere Ansprüche?
Aber was soll das für Bibliotheken heißen? Es heißt, dass die Vorstellung, man müsste Integration dadurch fördern, dass man Menschen mit Migrationshintergrund in gewisser Weise exotisieren und ihnen dann andere Angebotswünsche unterstellt, eines der Grundprobleme darstellt. Sicherlich ist es ein wichtiger Fortschritt, wenn heute von unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnissen von Menschen mit Migrationshintergrund die Rede ist; wenn versucht wird, Barrieren aufzuspüren und sie abzubauen (was allerdings nicht Thema der Darstellung des dbv ist). Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Integration heißt zu akzeptieren, dass wir es zum größten Teil mit Menschen zu tun haben, die sich zu einem großen Teil sich schon als Teil der Gesellschaft fühlen und es auch sind. Wir haben gesehen, was der Wert „mit/ohne Migrationshintergrund“ alles an unterschiedlichen Familienkonstellationen ausdrücken kann. Diese Personen alle als eine Gruppe verstehen zu wollen ist falsch.

Skizze 3 weist zudem auf ein Phänomen hin, dass sich immer wieder zeigen lässt, wenn Bibliotheken oder andere Einrichtungen, die sich der außerunterrichtlichen Bildung verschreiben, mit Menschen mit Migrationshintergrund befassen. Immer wieder wird herausgestellt, dass das aktive Deutsch als Sprache gefördert werden soll und teilweise – wie beim dbv – die Einbürgerung unterstützt werden könne. Außerdem will auch der dbv, dass Bibliotheken unterstützen, dass „die andere“ Sprache beibehalten wird, auch wenn gar nicht so richtig klar ist, ob das immer und überall gewünscht wird. Aber es stellt sich doch immer wieder die Frage, was Menschen mit Migrationshintergrund, die eingebürgert sind und fließend Deutsch sprechen, eigentlich von der Bibliothek erwarten können. Es soll das Erreichen eines Zieles unterstützt werden, aber es nicht klar, was dann eigentlich passieren soll. Eigentlich würde man dazu gerne auch einmal ein paar Überlegungen hören.

Integration heißt halt auch, zu akzeptieren, dass ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund schon zum größten Teil integriert ist. Deshalb sind auch ihre Anforderungen an die Bibliotheken nicht durch ihren Migrationshintergrund bestimmt, sondern vorrangig durch die gleichen Gründe, wie für Menschen ohne Migrationshintergrund: Dass sie in die Schule gehen, in der Ausbildung oder im Studium sind, ist für die Nutzung der Bibliotheken für sie oft relevanter, als ihr Migrationshintergrund. Dass sie eher aus sozial schwachen Schichten kommen ist für sie meist weit relevanter, als ihr Migrationshintergrund. Deshalb ist eine Bibliotheksarbeit, die Menschen aus sozial schwachen Schichten unterstützt, auch sinnvoller für Menschen mit Migrationshintergrund, als die meisten Angebote, die explizit für sie gemacht werden.
Eine andere Aufgabe, die der dbv in diesem Zusammenhang nicht wirklich anspricht – aber auch das ist offenbar normal –, ist die Frage, ob Integration nicht auch heißen müsste, die deutsche Gesellschaft integrationsfähiger zu machen. Es stimmt schon, dass wir alle in dieser Frage einen weiten Weg voran gekommen sind. Dass der dbv dem Thema Migration einen eigenen Abschnitt einräumt – und dabei sich auch den gerade in der Öffentlichkeit tobenden Debatten mit all den rassistischen Untertönen verweigert – ist ja auch ein Ergebnis der Transformation der deutschen Gesellschaft. Aber das man immer noch tendenziell schlechte Bildungsergebnisse von Menschen mit Migrationshintergrund auf ihre soziale Herkunft zurückführen kann und das sie schlechter auf dem Arbeitsmarkt integriert sind, als Menschen ohne Migrationshintergrund (und dem dbv dazu nichts anderes einfällt, als den Mythos vom Aufstieg durch Bildung zu huldigen), zeigt eher, dass Barrieren und Hindernisse immer noch existieren. In einer gerechten Gesellschaft würde Migrationshintergrund im besten Falle noch als kulturelle Komponente sichtbar sein, nicht aber in den sozialen Daten. Das dem bisher nicht so ist, daran haben auch die sichtbaren und unsichtbaren Barrieren in der deutschen Gesellschaft, die Vorstellungen und Bilder von Menschen mit Migrationshintergrund (und auch die Vorstellung, Deutsch wäre eine Sprache, die man unbedingt lernen müsste) ihren Anteil. Die Frage an den dbv wäre, ob es nicht – über fremdsprachige Wörterbücher hinaus – die Aufgabe von Bibliotheken wäre, auch an der Integrationsfähigkeit der Menschen ohne Migrationshintergrund zu arbeiten.

Fußnoten
[1] Gleich auf der ersten Seite, im Vorwort, wird zum Beispiel behauptet, dass „erstmals umfangreiches Zahlenmaterial über die Ausstattung, die Angebote und die Nutzung unserer Bibliotheken“ vorgelegt würde. Das ist selbstverständlich nicht richtig. Man braucht überhaupt nicht in den Archiven nach den alten Broschüren zu graben, schon dass die Deutsche Bibliotheksstatistik nicht nur frei zugänglich, sondern auch weit umfangreicher ist als der „Bericht“, sollte das klar machen.
[2] Besonders ärgerlich ist übrigens, dass Bibliotheken in der Broschüre wieder einmal als „Bildungseinrichtungen“ definiert werden und dann behauptet wird, jeder Besuch in der Bibliothek wäre praktisch eine Bildungsaktivität. Egal wie oft man das wiederholt: es stimmt nicht. Bibliotheken sind auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen, sie haben auch andere Funktionen als nur Bildung. Bibliotheksbesuch und Bildung einfach gleichzusetzen, vermittelt den falschen Eindruck, dass Bibliotheken gar nichts tun müssten, um eine Bildungswirkung zu haben.
[3] Über die Migration aus Deutschland heraus, die selbstverständlich auch existiert, wird ja fast nie und wenn, dann eher im panischen Ton (Stichwort: Brain Drain) geredet.
[4] Die Frage wird öfter gestellt: man vertraut dabei oft auf die Selbstbeschreibung der Menschen. Im Allgemeinen gilt es bei der Frage des Migrationshintergrundes auch als „Deutsch“, wenn jemand in der DDR oder in Gebieten geboren wurde, die einst als Deutsch galten. Auch Menschen, die sich als „deutsche Vertriebene“ sehen, zählt man stillschweigend hinzu, obgleich das eigentlich mehr als schwierig ist, hat sich doch deren „Deutschtum“ oft erst als solches konstituiert, als sie durch den Nationalsozialismus davon profitieren konnten und waren sie doch oft von der Staatsbürgerschaft her polnisch, ungarisch, tschechoslowakisch, rumänisch, russisch etc.
[5] Hier stoßen wir für Deutschland an das Problem, dass die Umgesiedelten nach dem zweiten Weltkrieg durch ihre Umsiedlung eine Migrationsgeschichte haben, aber, weil sie sich unbedingt als Deutsch sehen wollen (ein Teil von ihnen, allerdings der politisch laute), diese Migrationsgeschichte nicht mit einbezogen wird. Meistens. Manchmal aber doch.
[6] Man könnte selbstverständlich noch zahlreiche Sonderfälle diskutieren: Was ist z.B. bei Adoptionen oder wenn die leiblichen Eltern unbekannt sind? Was mit Rückmigrationen, wenn z.B. Menschen in Deutschland geboren, danach 20 Jahre lang in Frankreich gelebt und dann zum Studium wieder nach Deutschland migriert sind? Was ist mit Kindern, deren Eltern Angehörige der US-Army waren und die in Deutschland, aber eigentlich auf den Militärbasen aufgewachsen sind? Aber aus Gründen der Übersichtlichkeit belassen wir es bei den einfachen Fällen. Wir lassen auch aus, dass Familien und Menschen nicht nur einmal migrieren müssen, sondern dies teilweise auch mehrfach tun.
[7] Bei Kolonialismus ist es immer wieder wichtig, dass zu betonen: diese Migration auch nach Deutschland fand fast nie freiwillig statt.
[8] Die Bertelsmann-Stiftung (http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32343_32344_2.pdf) hat beispielsweise in einer letztens veröffentlichten Studie konstatiert, dass im Osten Deutschlands und gerade in Mecklenburg-Vorpommern – also gerade da, wo die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund äußerst gering ist – die höchste Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher zu verzeichnen ist. Das würde ja dann im Umkehrschluss bedeuten, dass man im Osten Deutschlands mehr multilinguale Bildungsangebote unterbreiten müsste.
[9] Maaz, Kai ; Baumert, Jürgen ; Gresch, Cornelia ; McElvany, Nele (Hrsg.) / Der Übergang von der Schule in die weiterführende Schule : Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten. – [Bildungsforschung ; 34]. – Berlin : Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010. – http://www.bmbf.de/pub/bildungsforschung_band_vierunddreissig.pdf

Materialien zur Frage Bildung und Soziale Gerechtigkeit

Aus der Baustelle des Kapitels zur Frage Soziale Gerechtigkeit und Bildung eine kurze Thesensammlung und eine Polemik.

Thesen:

  1. Soziale Gerechtigkeit muss heute mit Ermöglichung individueller Freiheit einhergehen. Sie ist nicht gleichzusetzen mit sozialer Gleichheit.
  2. Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auf unterschiedliche Felder, darunter die Ausgestaltung des individuellen Alltags, die berufliche/ökonomische Sphäre und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen.
  3. Bildung kann einen relevanten Beitrag zur Herrstellung sozialer Gerechtigkeit leisten, wirkt aber aktuell vorrangig daran mit, gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen zu reproduzieren.
  4. In einer sozial gerechten Gesellschaft lassen sich soziale Unterschiede nur mit persönlichen Leistungen und individuellen Entscheidungen begründen. Andere Strukturen [z.B. ökonomische Voraussetzung, Bildungszugang, Geschlecht, Herkunft, Wohnort], die ungleich wirken, sind skandalisierbar.
  5. Eine sozial gerechte Gesellschaft würde sich durch große soziale Durchlässigkeit auszeichnen.
  6. Die Frage, was Soziale Gerechtigkeit ist, ist letztlich eine politische. Es kann allerdings ein Diskursraum gezeichnet werden, in dem sich die politische Debatte um Soziale Gerechtigkeit abspielt. Für Deutschland ist dieser Diskursraum gezeichnet durch:
    • Zustimmung zu einer materielle Grundsicherung für alle
    • Positionen zur Verteilung gesellschaftlichen und privaten Reichtums
    • Positionen zur Verteilung von Chancen der Individuen, dass eigene Leben zu gestalten und den Möglichkeiten, diese Chancen zu nutzen
    • Positionen zu Bereichen, in denen staatliche Eingriffe legitimiert oder nicht legitimiert werden können
    • Zustimmung zur Gerechtigkeit in der Bewertung und Entlohnung von Leistungen
    • Zustimmung zur Ermöglichung größtmöglicher demokratischer Teilhabe
    • Akzeptanz des Themas Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit den direkt folgenden und den historisch weiter entfernten Generationen gegenüber
    • Positionen zum Thema Gerechtigkeit im internationalen Rahmen, sowohl materielle als auch rechtlich
    • Vorausgesetzt werden kann bei allen Positionen innerhalb dieses Diskursraumes
      1. die Akzeptanz demokratischer Entscheidungsprozesse und Gesellschaftsformen
      2. die Betonung der größtmöglichen Entscheidungsfreiheit der Individuen
      3. die vollkommene oder zeitweise Akzeptanz des Kapitalismus und seiner Grundprinzipien als vorherrschende Organisationsform der Ökonomie
  7. Mithilfe der von John Rawls vorgeschlagenen modifizierten Anwendung der Vertragstheorie lassen sich Bewertungskriterien dafür generieren, eine Position oder Gesellschaft als sozial gerecht oder ungerecht zu bewerten. Diese Kritierien sind als moralische und nicht als handlungsleitende zu verstehen. Eine mögliche Kurzfassung der Rawl’schen Methode lautet: Als sozial gerecht kann eine Position oder gesellschaftliche Tatsache bezeichnet werden, wenn ihr von Menschen in einem vorgestellten Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens [d.h. der Annahme, dass sie wissen können, welche Auswirkung ihre Entscheidung auf Menschen in unterschiedlichen gesellschaftliche Positionen haben wird, aber gleichzeitig dem Nichtwissen darüber, welche Position sie selber in einer Gesellschaft einnehmen würden, über die sie im Urzustand entscheiden] zustimmen könnten.

Gerade die letzte These klingt einigermaßen weird. Moralphilosophie hat keinen guten Ruf mehr [Kant ist nun schon eine Weile nicht mehr diskursbestimmend] . Insbesondere, wenn sie auf liberalen Traditionen fusst, wie die von John Rawls, ist es für Moralphilosophie in Deutschland, welche hierzulande selber eher von den Auseinandersetzungen Kants und der deutschen Aufklärung geprägt ist – und weniger von der schottischen Aufklärung, wie Rawls – noch schwieriger.
Ich habe versucht, mich dem Thema der Sozialen Gerechtigkeit von drei Blickwinkeln zu nähern: dem politischen, dem sozialwissenschaftlichen und dem philosophischen. Die Analyse politischer Positionen hat zum oben skizzierten Diskursraum geführt. Der sozialwissenschaftliche Zugriff, insbesondere das International Social Justice Project, hat zu einer Verkomplizierung des Themas geführt. Kurz gesagt, ist die Vorstellung, was sozial gerecht ist, offenbar nicht nur von der Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, sondern auch von der sozialen Stellung stark geprägt.
Auch der philosophische Zugriff hat seine Grenzen. Rawls packt – verkürtzt gesprochen – heutige Menschen mit dem Wissen über sozial Zusammenhänge virtuell in einen Urzustand, in dem sie darüber entscheiden sollen, welche Grundregeln in einer Gesellschaft gelten sollen, damit diese allgemein als gerecht akzeptiert werden kann. Dabei wissen diese vorgestellten Menschen allerdings nicht, wer sie in dieser Gesellschaft sei werden, aber sie wissen, dass sie mit ihrer Entscheidung werden leben müssen [das, damit sie auch wirklich einen Entscheidungsdruck haben]. Außerdem sollen sie nicht eine Gesellschaft aus dem Nichts erschaffen [wie das bei Hobbes im Leviathan geschieht], sondern auf ihnen vorgelegte Fragen anworten, beispielsweise: sollten Religionen verboten werden, sollte eine Religion Staatsreligion sein und alle anderen verboten werden oder sollten die Menschen glauben können, was sie wollen, ohne dass es Einfluss auf den Staat haben darf? Die Menschen wissen, dass sie unterschiedliches glauben (oder auch gar nichts). Aber sie wissen im Urzustand nicht, was oder ob sie ordentliche Atheistinnen und Atheisten sein werden. Und deshalb würden sie sich für eine säkuläre Gesellschaft entscheiden, so die Vorstellung von Rawls. Das hat alles sehr mit Gedankenspielen zu tun, aber nachdem ich verschiedene Ansätze verfolgt habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass bessere und verallgemeinerbare Aussagen ermöglicht, als alle anderen Ansätze. Bisher.
[Dabei war ich nie Philosoph und mit Moralphilosophie hatte ich auch wenig zu tun. Selbstverständlich habe ich in meiner Jugend auch philosophische Werke rezipiert. Aber wenn übrhaupt, dann bin ich eher mit Foucault, Sarte, Butler, Deleuze, Guattari, Marx/Engels und der Frankfurter Schule bekannt – so, was halt in dedn 1990er wichtig war: Existenzialismus, Adorno und Postmoderne. Aber mit der Aufklärung und liberaler Philosophie … eher wenig.]

Und noch eine Polemik gegen die einseitige Betonung von individueller Verantwortung im Bildungsbereich, die mir in ihrer Zuspitzung sehr zusagt. Sie zeigt, dass in gewissen Diskursen, wenn sie weiter gedacht werden, bestimmte Grundrechte negiert werden.

Materielle und kulturelle Armut auf der einen und der Mangel an Bildungschancen auf der anderen Seite bedingen einander und stabilisieren sich gegenseitig. Bildungsarmut erschient daher nicht nur als ein Tatbestand des mangelnden Zugangs zu qualifizierter Aus- und Weiterbildung, sondern auch als Folge wie Voraussetzung sozialer Armut. Es gibt im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland Verfestigungs- und Schließungstendenzen, die längst wieder an die Verhältnisse in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erinnern. […]
Es geht nicht darum zu sagen, wenn das Arbeiter- oder Migrantenkind gute schulische Leistungen erbringe, müsse es die höhere Schule besuchen dürfen. Dies ist in der bürgerlichen Gesellschaft ein selbstverständliches recht. Vielmehr geht es um das Aufheben und Aufspüren struktureller Benachteiligungen im Bildungs- und Beschäftigungssystem, z.B. um die Klärung der strukturellen Voraussetzungen für eine Praxis, schulische Leistungen entlang sozialer Merkmale zuzurechnen.
[Kaßebaum, Bernd (2006) / Bildung und soziale Gerechtigkeit, Seite 193. – In: Grasse, Alexander ; Ludwig, Carmen ; Dietz, Berthold (2006) / Soziale Gerechtigkeit : Reformpolitik am Scheideweg ; Festschrift für Dieter Eißel zum 65. Geburtstag. – Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 191-202]

Öffentliche Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit (Überlegungen)

[Vorbemerkung: Bevor ich, wie sich das offenbar gehört, letzten Sommer die Gliederung meiner Promotion vollkommen umbaute, sah der Schreibplan vor, einzelne Themenbereiche, die zwar wichtig, aber irgendwie doch für sich allein schon zu groß für den „Fließtext“ der Arbeit erschienen, quasi als Module auszugliedern. Die Idee war zum Beispiel das umfassende Thema Öffentliche Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit als eigenständige Studie zu fassen, sie als Anhang der Arbeit zu verstehen und sich im „Fliextext“ nur noch auf ihre Hauptergebnisse beziehen zu müssen. Jetzt wird das alles anders, zumal sich mit der Zeit für einige Probleme auch andere Zugänge ergeben haben. Wie gesagt, so ein Umschmeißen des Schreibplanes gehört offenbar zu jeder Promotion und zu vielen anderen Belegarbeiten hinzu, deswegen sehe ich das relativ locker.
Eine andere Idee war, dass man diese Teilstudien beispielsweise bei Bewerbungen um Promotionsstipendien mit einreichen könnte. Nicht, dass ich mich nicht um solch Stipendien bewerben würde, aber ich bin das Spiel auch einigermaßen überdrüssig zu geworden, sich zu bewerben, ein halbes oder dreiviertel Jahr auf eine Absage zu warten und sich erst dann wieder bei der nächsten Stiftung zu melden, weil man sich ja auch nicht auf zu viele Stipendien gleichzeitig bewerben soll. Ich kenne jetzt genügend Menschen, die fünf, sechs Jahre mit den realen Beginn ihrer Promotionsarbeiten gewartet haben, weil sie – verständlicherweise – erst deren Finanzierung sicherstellen wollten und sich bis dato mit prekären Jobs über Wasser gehalten haben. Da gleichzeitig aber eine immer größer werdende Zahl von potentiellen Promovierenden einer praktisch gleichbleibenden Anzahl von Stipendien gegenüberstehen, dauert dieses Spiel recht lange und wird offenbar mehr und mehr absurd. Besonders bei den Menschen, die einer Partei oder Gewerkschaft beitreten, sich bei der jeweils Parteinahen / Gewerkschaftsnahen Stiftung bewerben und gleich nach der Absage wieder austreten. Ich kenne Menschen, die jetzt in ihrer politischen Karriere ernsthaft bei der CDU, der FDP, der SPD, Bündnis 90 / den Grünen hintereinander Mitglied waren, oder bei der Linkspartei und ver.di, aber vorher bei der FDP. Nun ja, dass ist aufgrund der ökonomischen Situation und dem unglaublich schlecht ausgebauten Stipendiensystem in Deutschland verständlich. Aber ob das wirklich gut ist, ist eine andere Frage. Lieber schreibe ich die Arbeit jetzt, als mich weiter groß um dieses Problem zu kümmern. Dann wird sie auch mal fertig.
Da ich mich nun gerade mit der Frage der Sozialen Gerechtigkeit beschäftige – das Ziel der Promotion war immer, Bildungseffekte Öffentlicher Bibliotheken unter diesen Fokus zu untersuchen – habe ich gerade die Teilstudie, die ich letztes Jahr zu diesen Thema geschrieben habe, nochmal gelesen und möchte sie, weil es sich thematisch anbietet, hier auch gleich zur Verfügung stellen. Ansonsten würde sie wohl nur einfach so auf meinem Rechner herumliegen. Ich habe sie damals bis zu einer okayen, aber auch nicht ganz fertigen Version gearbeitet, deren Quellen heute teilweise überholt sind (hauptsächlich die Tabelle über die Haltung zum Konzept Soziale Gerechtigkeit bei den Bundesparteien. Die WASG und Die Linke.PDS existieren nicht mehr, sondern haben jetzt ein gemeinsames Konsenspapier als Grundlage einer Partei, welches allerdings auch auf dem nächsten Parteitag bestimmt geändert wird. Das Grundsatzprogramm der CSU, welches 2007 als Entwurf vorlag, ist heute in leicht veränderter Form gültig. Hingegen wurde der zitierte Programmentwurf von ver.di vor dem letzten Bundeskongress zurückgezogen und gilt erstmal gar nicht mehr als irgendwas. Aber die Grundaussagen sind trotzdem geblieben.)]

Soziale Gerechtigkeit ist an sich schon ein politisches Konzept, bzw. ein gesellschaftlicher Metadiskurs, welche hauptsächlich Gegenstand von Auseinandersetzungen über die Frage ist, wie die Gesellschaft sein sollte. Die Frage, welches Verhältnis Öffentliche Bibliotheken zur Sozialen Gerechtigkeit haben, wird kaum wirklich gestellt und dann zumeist nur mit Allgemeinplätzen beantwortet. Wenn, dann wird zumeist auf einen egalitären Anspruch verwiesen, der mit dem (theoretisch) freien Zugang zu allen Öffentlichen Bibliotheken eingelöst sei. Ob das stimmt, ist nicht wirklich klar, eher scheint immer wieder in Bemerkungen durch, dass die Erfahrungen in der alltäglichen Arbeit andere sind. Bezieht man die Ergebnisse soziologischer Forschung zu anderen Bildungseinrichtungen einmal auf Bibliotheken, ist dies auch nicht anders zu erwarten. Ich habe in meinem Text “ Öffentliche Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit: Versuch einer Ortsbestimmung und Forschungsperspektive“ Anfang des letzten Jahres einmal versucht, zumindest zu bestimmen, was unter dem Konzept Soziale Gerechtigkeit verstanden und wie die Umsetzung dieses Konzeptes in und durch Bibliotheken gemessen werden kann.
In dem Teil, welcher sich direkt mit der Wirkung von Bibliotheken beschäftigt, habe ich hierzu einige Thesen aufgestellt, bzw. aus der Literatur heraus formuliert, die allerdings eher als Forschungsfragen und weniger als Aussage zu verstehen sind:

  • Bibliotheken seien als öffentlich zugängliche Wissensspeicher potentielle Basen für die Vermittlung von Bildung und Wissen und damit innerhalb der Wissensgesellschaft von wachsender Bedeutung.
  • Bibliotheken seien als selbstbestimmter Lernort außerhalb des institutionellen Rahmens von Schule, Ausbildung und organisierter Weiterbildung von wachsender Bedeutung.
  • Bibliotheken seien eine Basis zur Vermittlung von aktuell notwendigen Kompetenzen, wie der Selbstlernkompetenz oder den Kompetenzen zur Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien.
  • Bibliotheken könnten aktiv an, vorrangig regionalen, Bildungsnetzen teilnehmen.
  • Bibliotheken könnten durch unterschiedliche Bildungswirkungen für unterschiedliche Gesellschaftsschichten an der Reproduktion von Bildungsunterschieden teilhaben.
  • Bibliotheken könnten durch Reflexion einer schichtspezifischen Wirkung Einfluss auf die Reproduktion von Bildungsabständen nehmen.

Außerdem formuliert ich einige sehr weit gefasste, aber trotzdem mögliche Forschungsvorhaben auf diesem Feld. Diese lehnten sich an tatsächliche Forschungen aus dem Bereich der Erzeihungswissenschaft und Bildungssoziologie an. Die Grundidee dabei war, zumindest zu zeigen, was für ein Arbeitsfeld der Bibliothekswissenschaft sich aus der Frage, wie Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit zusammengehen, ergeben könnte. Möglich wären:

  • Empirische Untersuchungen zur Nutzerinnen- und Nutzer-Struktur von Bibliotheken
  • Empirische Untersuchungen zu Prestige und Stellung von Bibliotheken
  • Biographische Untersuchung zu Prestige, Bildungswirkung und Stellung von Bibliotheken
  • Teilnehmende Beobachtung und Interviews zu Lernvorgängen und Nutzerinnen- und Nutzerverhalten in Bibliotheken
  • Untersuchungen zu Gründen der Nichtnutzung von Bibliotheken
  • Überblicksdarstellungen zu Interventionsmöglichkeit von Bibliotheken
  • Untersuchungen zur Reichweite der Interventionsmöglichkeiten von Bibliotheken
  • Entwicklung von Bibliothekskompetenzmodellen

Die gesamte Arbeit findet sich hier: Öffentliche Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit: Versuch einer Ortsbestimmung und Forschungsperspektive (Februar / März 2007)

Mehr kann eine Bibliothek als solche nicht leisten

Zugegeben, ich bin etwas spät damit dran, dass Buch der werten ehemaligen Mitstudierenden Ben Kaden und Maxi Kindling zur Sozialen Bibliotheksarbeit zu lesen. [Kaden, Ben ; Kindling, Maxi [Hrsg.] (2007) / Zugang für alle : Soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. – Berlin : BibSpider, 2007] Veröffentlicht ist es ja schon eine Weile. Aber so spielt das Leben.
Das Thema ist unbestritten wichtig und es wäre insgesamt mehr, als nur dieses eine Überblickswerk notwendig. Dann würde man vielleicht auch einmal davon wegkommen können, Theorie und Praxisbeispiele ständig ohne größeren Zusammenhang in einem Werk abzuhandeln. Nicht zuletzt können die besprochenen Bereiche der Bibliotheksarbeit in nur einem Werk ja auch immer nur angerissen werden, obwohl sie alle eine tiefergehende Beschäftigung bedürften. Aber ich möchte das Werk – zumindest jetzt – hier gar nicht besprechen. (Auch wenn es mich in einigen Punkten irritierte. Irgendwie scheinen die Gedanken zur gesellschaftlichen Aufgabe einer sozialen Bibliotheksarbeit, die 1982 im Grundlagenwerk von Hugo Ernst Käufer und 1980 im Werk von Fred Karl, noch eine bedeutende Rolle spielten, 2007 vollkommen irrelevant geworden zu sein.)

Ich möchte stattdessen folgendes Zitat aus der Einleitung der beide Herausgebenden [S. 13-33] anführen:

Bibliotheksarbeit ist keine Sozialarbeit. Bibliotheksarbeit verfolgt das Ziel, Zugangsmöglichkeiten zu publizierter Information für alle Mitglieder einer Gemeinschaft einzuräumen, wobei unter Umständen auch die Vermittlung von Kompetenzen zur Partizipation an den gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse eingeschlossen ist. Dies ist der Inhalt von Bibliotheksarbeit, die der Öffentlichkeit dient.
Mehr kann die Bibliothek als solche nicht leisten. […]
Die Bibliothek kann aufgrund ihrer Funktion, Zugang zu und unter anderem auch für Bildungsprozesse relevante Informationen zu bieten, d.h. also bildungsunterstützend wirken. Eine Bildungseinrichtung ist sie jedoch nicht. [32f.]

Dies ist keine unverbreitete Position, nur findet man sie selten ausgesprochen, bzw. zitierfähig vorliegen. Deshalb finde ich es mutig, dass auch einmal öffentlich kundzutun. Immerhin steht es im Gegensatz zu zahlreichen anderslautenden Verlautbarungen aus dem Bibliotheksbereich.
Selbstverständlich würde ich der Aussage widersprechen. Zumindest würde ich sie einschränken. Bibliotheken können mehr sein, als Einrichtungen, die Medien für Bildungsprozesse anbieten. Es kommt darauf an, was man unter Bildung versteht, wie man die Aufgaben von Bibliotheken definiert und wie diese Vorstellungen vor Ort, in der einzelnen Bibliothek umgesetzt werden. Ob diese Möglichkeiten genutzt werden, ist eine andere Frage. Was allerdings richtig ist und in der gesamten Einleitung von Kaden/Kindling mitschwingt, ist der Hinweis, dass Bibliotheksarbeit immer Grenzen hat und das Bibliotheksarbeit nicht von sich aus schon positive Effekte zeitigt.

Soziales Kapital

Andreas Vårheim stellt in seinem aktuellen Artikel [Vårheim, Andreas / Social capital and public libraries : The need for research. – In: Library & Information Science Research, 29 (2007), p.416-428] die wenigen Arbeiten über den Zusammenhang von sozialem Kapital und öffentlichen Bibliotheken dar. Dabei definiert er social capital nicht weiter.
Die erste und wichtigste Feststellung ist, dass dieser Zusammenhang wenig untersucht ist; die Texte, die es tun, kaum theoretisch fundiert oder an die sozialwissenschaftliche Forschung zu sozialem Kapital angebunden sind und es zudem eine Anzahl von bibliotheks-politischen Texten gibt, die – obwohl die empirische Fundierung fehlt – hauptsächlich „try to connect the traditional institution of the library with the trend of the times“ [p.423] Eine solche Tendenz hat vor einigen Jahren Detlef Gaus im Bezug auf die Verwendung der PISA-Studien in deutschen bibliothekarischen Diskussionen ebenfalls festgestellt und angegriffen [Gaus (2005)]. Vårheim hingegen geht es nicht um Polemik, sondern um einen auffälligen Fakt. Er bestreitet nicht, dass gerade auch die traditionellen Bibliotheksdienste bei der Formierung von sozialem Kapital eine wichtige Rolle spielen könnten. Aber es existiert ein auffälliger Gap zwischen der Betonung dieser Möglichkeit und ihrer theoretischen oder empirischen Absicherung, auf den er hinweist.
Schließlich stellt er drei Strategien heraus, mit denen Öffentliche Bibliotheken die Herstellung von sozialem Kapital unterstützen könnten:

  1. Die Zusammenarbeit mit voluntary associations, also allen Organisationen, Vereinen, Gruppen, die auf ehrenamtlicher Basis arbeiten. Dabei hält er allerdings einschränkend fest, dass zumindest ein Teil der empirischen Forschung zu social capital der verbreiteten Ansicht widerspricht, dass solche Organisationen an sich zur Herstellung von sozialer Verantwortung oder einer demokratischen Gesellschaft beitragen würden. Die Herstellung von sozialem Kapital findet offenbar intern, also zwischen den Mitgliedern der Gruppen, statt und nicht in der Interaktion von Gruppe und Gesellschaft.
  2. In der Funktion als informelle öffentliche Orte (informal meeting places). Hierzu merkt er an, dass dies nicht unbedingt automatisch passiert, sondern von der jeweiligen Bibliotheken gefördert werden kann und muss.
  3. Als Anbieter von allgemeinen und egalitär zugänglichen Services. Es geht dabei nicht unbedingt darum, dass diese Angebote – beispielsweise der Zugang zu Informationen und Medien – tatsächlich von allen Menschen im gleichen Maße genutzt wird. Bekanntlich passiert dies auch nicht. Doch das Angebot von Öffentlichen Dienstleistungen vermittelt allen Bevölkerungsgruppen den gleichen Respekt und stellt klar, dass alle als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger angesehen werden. Allerdings geht Vårheim dabei davon aus, dass Bibliotheken tatsächlich flächendeckend verbreitet und letztlich kostenlos zugänglich sind. Und dies ist bekanntlich nicht unbedingt immer der Fall.

Was können Bibliotheken tun? (IV)

Aus der Sicht der Nutzer/innen sind besonders die Bibliotheken, aber auch allgemeine Bildungsangebote (z.B. Abendschulen) nicht mit formalen Anforderungen, frühem Schulversagen etc. verbunden. Dadurch bietet sich ihnen die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Erfarungen mit selbstbestimmten Lernprozessen zu machen, die wiederum auf lange Sicht helfen können, die Grenzen in Bezug auf das formale Bildungssystem zu überwinden. [S.20]
[Tønder Jessing, Carla (2006): Verknüpfung von unterschiedlichen Lernkontexten als Herausforderung : Learning Centres in Dänemark. – In: Stang, Richard ; Hesse, Claudia [Hrsg.] / Learning Centres : Neue Organisationskozepte zum lebenslangen Lernen in Europa. – Bielefeld : W. Bertelsmann Verlag, 2006, S. 19-36]

Was können Bibliotheken tun? (III)

„This article has provided [statistical] evidence that large social differences in public library use [in the Flemish part of Belgium] remain even when public libraries are nearby, have large collections, and are inexpensive to use. […]
If the analysis presented here does not give cause to excessive optimism, it also raises the question as to how far the demands that are placed on public libraries prove to be realistic. There are certain steps that libraries and library staff can undertake,but they can only do so much. If public libraries want to develop new strategies to achieve their goals of cultural diffusion and democratization, they cannot do this in isolation. Tackling the social inequalities that characterize library use will have to involve close cooperation with other cultural and social institutions. It will also involve improved scientific knowledge of the relationships between public libraries, local communities, and library users.“ [p.202]
[Glorieux, Ignace ; Kuppens, Toon ; Vandebroeck, Dieter / Mind the gap : Societal limits to public library effectiveness. – In: Library & Information Science Research, 29, 2007, pp. 188-208]

Barriers to public library use

Japan is a very safe country with low levels of crime and thus the books can be freely available to all, without the fear that they will be stolen or damaged. [p.34]

Dies ist eine Begründung für – nun ja – Buch-Kabinette (selber anschauen), die im Botanischen Garten in Kyoto zur freien Verfügung stehen. Sandra Parker, von der dieser Satz stammt, vergleicht in ihrem Artikel die Öffentlichen Bibliotheken in Japan und Großbritannien. [Parker, Sandra / The performance measurement of public libraries in Japan and the UK. – In: Performance Measurement and Metrics, 7 (1) 2006, pp. 29-36] Dabei kann sie weitere Unterschiede anführen, wie die weitreichende Mitarbeit von Freiwilligen in japanischen Bibliotheken; Bibliotheken – ebenfalls in Japan -, die keine Überziehungsgebühren verlangen, sondern die Nutzerinnen und Nutzer für die Zeit, die ein Buch zu spät abgegeben wurde, sperren. Oder für Großbritannien die Nutzung von externen Geldquellen zur Finanzierung von Projekten und die Konzentration auf Social Inclusion.
Als ein Ergebnis ihres Vergleiches hält sie fest, dass die Messung der Leistung von Bibliotheken ihren Sinn immer nur im Rahmen der jeweiligen Gesellschaften hat. Bibliotheken, die wie in Japan als öffentlicher Raum genutzt werden, haben andere Anforderungen zu erfüllen, als Bibliotheken, die als Ort der Integration gelten, wie Großbritannien.

Von größerem Interesse ist aber eine Tabelle „The barriers to public library use“, die sie aus dem Bericht Neighbourhood Renewal and Social Inclusion [Parker, Sandra ; Waterston, Ken ; Michaluk, Gerald ; Rickard, Louise (2002) / Neighbourhood Renewal and Social Inclusion: the role of museums, archives and libraries, Resource 2002, report by School of Information Studies, Northumbria University and Marketing Management Services International, Glasgow. Reviews projects and gives case studies of good practice] zusammen gestellt hat. Diese Barrieren bieten einerseits Erklärungsansätze, warum Menschen Öffentliche Bibliotheken nicht nutzen, andererseits aber zeigen sie Bereiche auf, die geändert werden können, um Bibliotheken „offener“ zu machen:

Institutional
Opening hours
Staff with negative attitudes and behaviour
Rules and regulations
Collection policies
Lack of user-friendly signage in buildings
Inappropriate labelling
Inadequate provision for people with disabilities
Financial: charging policies; short-term funding
Lack of differentiated resources
Complex language
No promotion or marketing to the excluded
Focus on numbers and not people
Lack of knowledge of the local community
Tokenism
Lack of facilities, e.g. toilets, babychange
Sustainability

Personal and social
Low income and poverty
Lack of basic skills
People who are educationally disadvantaged
Direct and indirect discrimination
Lowself-esteem and lack of confidence
No permanent fixed address

Perceptual and awareness “Not for us”
People who live in isolation from wider society
No awareness of facilities or services and how to use them
People who don’t see libraries as relevant to their lives
Libraries seen as purely educational and not as a social space
Staff seen as “authority” figures

Environmental
Isolation, e.g. rural community
Poor transport links
Problem estates and urban decay
Location and visibility
Building appearance

[Table 1. The barries to public library use, Parker (2006),p. 32]