Über Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum

In diesem Post möchte ich einmal über die Bibliotheksstatistiken aus dem DACH-Raum schreiben. Fast alle Bibliotheken in diesem Raum füllen Jahr für Jahr – mal mehr, mal weniger, auch mit Lücken, aber doch kontinuierlich – die jeweiligen Statistiken aus, aber damit scheint das Thema oft schon wieder vorbei zu sein. Sie kommen sonst kaum in der bibliothekarischen Literatur, Ausbildung oder Diskussion vor. Manchmal, aber auch nicht mehr regelmässig, gibt es auf den bibliothekarischen Konferenzen Sessions zur Bibliotheksstatistik und in vielen Verbänden gibt es auch Arbeitsgruppen zum Thema. Aber deren Arbeit scheint oft kaum wahrgenommen zu werden.

Und das ist schade. Die Statistiken, die wir haben, hätten eigentlich ein grosses Potential sowohl für die einzelnen Bibliotheken als auch die Bibliothekswesen der einzelnen Ländern und im gesamten DACH-Raum. Zumal sie, wie ich gleich darstellen werde, etwas Besonderes sind – die meisten Bibliotheken und Bibliothekswesen können offenbar nicht auf solche Statistiken zurückgreifen.

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Kurz warum ich auf das Thema gekommen bin: Ich habe mich letztens mit diesen Bibliotheksstatistiken befasst. Ausgangspunkt war ein Text über britische Public Libraries und deren Entwicklungen im Jahr 2020 (oder genauer im Fiscial Year 2020/21 im Vergleich zu 2018/19 und 2019/20 – aber das ist hier nicht so wichtig), also in der Covid-19 Pandemie. (McMenemy et al. 2022) In dem Text werden statistische Daten analysiert. Die wurden nicht aus der nationalen Bibliotheksstatistik genommen, sondern per Freedom of Information Requests von den einzelnen Kommunen angefragt – was ich beim ersten Lesen sehr komisch fand, aber ich dachte, vielleicht konnten die Autor*innen einfach nicht warten, um an die Daten zu gelangen. Wichtiger: Als ich den Text las, dachte ich: Wie ist das eigentlich im DACH-Raum? Kann man nicht einfach die Zahlen aus den Bibliotheksstatistiken mit denen aus diesem britischen Text vergleichen? How hard could that be? Wozu gibt es denn sonst die Bibliotheksstatistiken, wenn nicht dafür?

(Hinzu kommt, dass ich weiter üben wollte, mit der Statistiksprache R zu arbeiten und die Situation eigentlich sehr gut dafür schien: Schon klare Fragen im britischen Text – die waren am Ende nicht ganz so klar formuliert, aber es ging –, vorhandene Daten und am Ende als Ziel, die Ergebnisse dieser Auswertung zu berichten. Und dann, wenn man das schon mit R-Skripten macht, könnte man es einfach auf noch mehr Länder erweitern, also die Daten aus Bibliotheksstatistiken weiterer Länder hinzunehmen, um zu sehen, ob es allgemeine Entwicklungen in der Nutzung von Bibliotheken gibt oder zum Beispiel welche, die für den DACH-Raum spezifisch sind.)

Das war der Ausgangspunkt, um mich wieder einmal mit den Bibliotheksstatistiken zu beschäftigen. Die Auswertung für den DACH-Raum ist jetzt fertig, eine Publikation dazu eingereicht. Darum soll es hier also nicht gehen. Ich will lieber kurz darüber reden, was ich so währenddessen über die Statistiken selber gelernt habe.

Kontinuierliche Bibliotheksstatistiken: Eine Besonderheit des DACH-Raumes

Eine erste Sache, die ich vorher nicht wusste: Das wir im DACH-Raum im Allgemeinen umfassende, jährlich aktualisierte Bibliotheksstatistiken haben, ist eine Besonderheit. Viele Länder haben das offenbar nicht. Im DACH-Raum hingegen gibt es schon lange etabliert die deutsche Bibliotheksstatistik, in der die Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken (inklusive, seit 2008, denen aus Österreich) teilnehmen. (https://www.bibliotheksstatistik.de, https://www.bibliotheksstatistik.at) Die Büchereien / öffentlichen Bibliotheken in Österreich haben eine eigene Bibliotheksstatistik, welche vom Büchereiverband gepflegt wird. (https://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdaten) Zuletzt hat die Schweiz nachgezogen: Seit 2011 gibt es eine kontinuierlich mit Daten ausgestattet Bibliotheksstatistik, an der zuerst die Wissenschaftlichen Bibliotheken und die grossen Öffentlichen Bibliotheken (die in Gemeinden über 10.000 Einwohner*innen) teilnahmen. Dann wurde sie Schritt für Schritt ausgebaut und seit 2021 (also mit den Daten ab 2020) ist sie eine «Vollerhebung». Einzig für das Fürstentum Liechtenstein scheint es keine solche Statistik zu geben. (Das dortige «Amt für Statistik» hat leider noch nicht geantwortet, vielleicht wissen die mehr.) Es wäre als nicht falsch zu denken, dass das normal ist, das solche Statistiken gesammelt werden. Zumal es eine eigene ISO-Norm (International Organization for Standardization 2013) für Bibliotheksstatistiken gibt (auch wenn die in der Überarbeitung hinterherhinkt).

Aber – das stimmt offenbar nicht. Es ist nicht einfach, einen Überblick zu gewinnen. Bislang scheint es keine Sammlung der nationalen Bibliotheksstatistiken zu geben. Es gibt bei der IFLA eine «Statistics and Evaluation Section» (https://www.ifla.org/units/statistics-and-evaluation/), die Projekte hat und Verlautbarungen dazu erlässt, wie wichtig Open Library Data wäre – aber auch keine solche Sammlung betreibt.

  • Man hat meiner Erfahrung nach beim Recherchieren auch immer das Gefühl, dass man in den verschiedenen Ländern nur nicht an den richtigen Orten oder bei den falschen Organisationen schaut. Und / oder das man mal wieder zu wenig von der jeweiligen Sprache versteht, die im jeweiligen Land gesprochen wird. Aber ich habe, bevor ich es aufgegeben habe, erst in Liechtenstein gesucht und nichts gefunden (die Daten sind auch nicht, wie man vermuten könnte, in der schweizerisches Statistik enthalten).
  • Dann in Irland (weil die Daten gut mit denen aus Grossbritannien hätten verglichen werden können – als Land mit einer ähnlichen bibliothekarischen Tradition, der gleichen Hauptsprache, ähnlicher Gesellschaft und so weiter) – aber da scheint es nur von Zeit zu Zeit Erhebungen zu geben, nicht jährlich und nicht immer mit den gleichen Variablen. Die letzten Daten scheinen zu Jahr 2017 veröffentlicht, annual reports gab es von 2002 bis 2011 (https://www.askaboutireland.ie/libraries/public-libraries/publications/public-library-statistics/).
  • In Frankreich scheinen die Bibliotheksstatistiken zumindest nicht regelmässig berichtet, sondern von Zeit zu Zeit vom Minstère de la Culture in Zusammenfassung publiziert zu werden. (Ich weigere mich ein wenig zu glauben, dass gerade im zentralisierten Frankreich nicht regelmässig solche Zahlen erhoben werden, in einer möglichst komplizierten Weise – das würde meinem Bild von Frankreich vollkommen widersprechen.) Wenn, dann passieren solche Publikationen offenbar oft im Zusammenhang mit Themen wie Literatur, Lesen, Kampf gegen Analphabetismus im Allgemeinen. (Z.B. Ministère de la Culture 2021) Die Einrichtung, welche die Daten dann zu liefern scheint, ist auch das Observatoire de la Lecture Publique, das auch zum Beispiel Daten zu Buchhandlungen oder Verlagen publiziert.
  • In Luxemburg bin ich gar nicht fündig geworden (ich spreche kein Luxemburgisch, dachte aber, dass ich in Deutsch oder Französisch etwas finden würde).
  • Dann habe ich aufgeben, aber ich glaube nicht, dass ich zufällig die paar Länder ausgesucht habe, die keine Bibliotheksstatistik haben, sondern das das symptomatisch ist.
  • In Fundfamentals of Planning and Assessment for Libraries schreiben Rachel A. Fleming-May und Regina Mays dann auch zum Beispiel explizit – das ist mir gerade untergekommen –, dass es auch in den USA keine solche Statistik für alle Bibliotheken gibt, sondern nur solche, die von einigen Verbänden über die jeweils eigenen Mitgliedsbibliotheken erhoben werden.
  • Und es gibt eine «Library Map of the World», die einmal von der IFLA erstellt wurde – als es dafür Mittel der Gates Foundation gab, die Bibliotheken unterstützen wollte – und die offenbar weiter betrieben wird (https://librarymap.ifla.org/map). Wenn man aber die in, offen vorliegenden, Daten schaut, merkt man auch schnell, dass (a) für viele Länder des globalen Südens gar keine Daten vorliegen und (b) die Daten, die vorliegen, oft Jahre alt sind (Peru zum Beispiel von 2008 und Italien von 2010). Andere Daten sind erst dieses Jahr aktualisiert worden. Insoweit – es gibt offenbar auch anderswo kontinuierlich geführte Bibliotheksstatistiken (irgendwo müssen die Daten für diese Map ja herkommen), aber nicht viele.

Das erklärt wohl aber, warum im britischen Text nicht mit Daten aus der nationalen Bibliotheksstatistik gearbeitet wurde – weil sie nicht so einfach verfügbar ist, falls es sie überhaupt gibt.

Inhalt und Governance Bibliotheksstatistiken DACH-Raum

Ob es nationale Bibliotheksstatistiken gibt und wie ihre Daten berichtet werden, ist also offenbar das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die dazu führen, ob und wenn ja welche Infrastrukturen für diese Statistiken aufgebaut werden. Wie gesagt: Beim Beispiel Frankreich kann ich mir gut vorstellen, dass es sehr wohl in Paris eine Stelle gibt, an die alle Bibliotheken nach einem vorgegeben Plan jährlich Daten abzuliefern haben (aber – Frankreich – bestimmt nicht direkt und unkompliziert, sondern in mehreren Runden, die durch verschiedene Bürokratien gehen und zwar nur zu vorgeschriebenen Tagen oder so; und nur nicht in der Mittagspause), aber das es die politische Entscheidung gibt, diese nicht jährlich oder gar offen zu publizieren. Das gleiche gilt auch für die Variablen, die überhaupt abgefragt werden, und die Definitionen derselben. Die sind bei Weitem nicht gleich, trotz der ISO-Norm. Und auch, ob Bibliotheken diese Daten liefern und wenn ja, wie genau und wie sehr an den Definitionen orientiert, scheint das Ergebnis von politischen Entscheidungen in den Bibliotheken zu sein. (Und vielleicht, zum Teil, auch der Kapazitäten – die aber ja auch Ergebnis von Entscheidungen sind, wofür Ressourcen genutzt werden.)

Schauen wir uns aber einmal an, was nach all diesen politischen Entscheidungen, die irgendwann einmal getroffen wurden, in den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum steht und wie die Governance hinter diesen ist.

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Zuerst zur Governance. Es fällt schnell auf, dass jede der drei Statistiken eine andere Struktur – also wer sammelt die Daten, wie werden sie aufbereitet, wie werden sie angeboten – hinter sich hat. Das sieht man in der folgenden Tabelle.


Deutsche BibliotheksstatistikBibliotheksstatistik ÖsterreichSchweizerische Bibliotheksstatistik
Betreibende EinrichtungDBS-Redaktion c/o Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen (HBZ) (plus ÖBS-Redaktion für die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken)Büchereiverband ÖsterreichBundesamt für Statistik (in Zusammenarbeit mit der Kommission Statistik von bibliosuisse)
Erhebung der DatenEingabe durch Bibliotheken, https://service-wiki.hbz-nrw.de/display/DBS/Online-EingabeEingabe durch Bibliotheken, https://jahresmeldung.bvoe.atEingabe durch Bibliotheken, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/erhebungen/chbs.html
Publikationshäufigkeitjährlichjährlichjährlich
Aufbereitung der DatenFrei zugängliche Datenbank, inklusive Variabler Auswahl.Keine Veröffentlichung aller Daten, sondern jährlich erscheinende Artikel (in der Zeitschrift Büchereiperspektiven) sowie Zusammenfassungen (auf der Homepage).Daten als Excel-Tabellen, frei zugänglich. Einzelne Auswertung der Daten als weitere Tabellen.
Zugang zu den DatenDaten stehen frei zur Verfügung. (Man kann aber, so meine Erfahrung, den Server überlasten, wenn man zu viele Daten auf einmal abfragt.)Daten werden auf Anfrage zur Verfügung gestellt. (Nach meiner Erfahrung problemlos.)Daten stehen frei zur Verfügung, die Daten vor 2020 müssen aber (aktuell) gesondert gesucht werden.
LizenzKeine AngabeKeine AngabeKeine Angabe (aber vom Staat erhobene Daten)
Homepagehttps://www.bibliotheksstatistik.de, http://www.bibliotheksstatistik.athttps://www.bvoe.at/oeffentliche_bibliotheken/statistik_und_leistungsdatenhttps://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/kultur/bibliotheken.html, https://bibliosuisse.ch/%C3%9Cber-uns/Kommissionen/Statistik

Man sieht schnell Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Zuerst sind es sehr unterschiedliche Einrichtungen, die die Daten sammeln. Das HBZ handelt im Auftrag der Kultusministerkonferenz – also der Bildungsministerien der deutschen Bundesländer –, aber als bibliothekarische Infrastruktur. Der Büchereiverband Österreich hat, so scheint es zumindest, den Auftrag vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (zumindest ist dieses immer mit wieder auf den Publikationen mit genannt). Das Amt für Statistik in Bern handelt offenbar als Teil des eigenen Auftrags zur Pflege von nationalen Statistiken. Insoweit ist irgendwie immer der Staat als Akteur im Hintergrund dabei – aber immer auch in einer anderen, jeweils den nationalen Strukturen entsprechenden Weise (siehe zum Beispiel die nicht klar definierte, aber irgendwie funktionierende Einbeziehung einer Kommission des Bibliotheksverbandes in der Schweiz in die staatliche Aufgabe der Datensammlung).

Gemeinsam ist allen drei Statistiken, dass sie jährlich erhoben werden, indem Bibliotheken selber die jeweils eigenen Daten elektronisch erfassen und dass sie auch wieder jährlich publiziert werden. Wie sie publiziert werden, ist unterschiedlich (und wird auch immer wieder einmal verändert – aber bleiben wir beim heutigen Stand): Die Daten für die deutschen und schweizerischen Bibliotheken sowie die österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken stehen frei zur Verfügung, die für die österreichischen Büchereien muss man anfragen (was aber funktioniert). Die schweizerischen Daten kriegt man in einer Excel-Datei mit Datenblättern pro Jahr, bei den deutschen kann man mehr wählen. (Die österreichischen kommen auch als Excel-Datei, aber vielleicht kann man auch andere Formate erbitten.) Dafür werden die Büchereien in Österreich regelmässig in der betreffenden Zeitschrift über die Daten informiert, was in Deutschland und der Schweiz so nicht passiert. Auffällig ist auch, dass alle diese Daten ohne Lizenzangabe veröffentlicht werden. Man kann mehr oder minder hoffen, dass man sie frei für weitere Auswertungen nutzen kann – in Österreich werden Bibliotheken sogar direkt auf der Homepage aufgefordert, dies für Leistungsvergleiche zu tun. Denn immerhin werden die Daten zur Verfügung gestellt und entweder direkt von einer staatlichen Stelle oder aber im Auftrag des Staates gesammelt – sollten also eigentlich «öffentliche Daten» sein. Aber in Zeiten, in denen Wissenschaftliche Bibliotheken auf Forschungsdatenmanagement als Thema setzen und dann immer wieder betonen, wie wichtig offene Lizenzen sind, ist es auffällig, dass gerade bei diesen Statistiken keine Lizenzen genannt werden.

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Was steht nun in den Daten? Wie vertrauenswürdig sind sie?

Für alle Statistiken existieren Definitionen, die alle spätestens bei der Eingabe angezeigt werden (aber es gibt immer auch Dokumente, in denen sie niedergelegt sind). Diese folgen nicht immer dem ISO-Standard – die für die deutschen und österreichischen Wissenschaftlichen Bibliotheken erheben diesen Anspruch schon, aber die anderen nicht. Die schweizerischen Definitionen wurden zum Beispiel für die Daten 2020 – als dann auch die erste «Vollerhebung» durchgeführt wurde – verändert. Und wenn man die Variablen, die für die drei Statistiken abgefragt werden, nebeneinander legt, merkt man auch, dass sie sich schon im Umfang unterscheiden – in Deutschland wird viel mehr abgefragt, als in den beiden anderen Ländern. In der Schweiz werden zum Beispiel Lizenzkosten gesondert abgefragt, in Österreich nicht. Zu 100% lassen sich die Daten also nicht vergleichen, zumindest nicht für alle Werte.

Folgen die Bibliotheken alle diesen Definitionen? Geben sie alle jährlich Daten ab?

Das ist nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Schaut man in die Daten selber, fällt immer wieder auf, dass nicht alle Bibliotheken alle Werte ausfüllen und das eine Anzahl der Werte nicht immer überzeugend sind. Das hat bestimmt unterschiedliche Gründe, aber es gibt Tendenzen. Je kleiner eine Bibliothek ist, umso eher scheinen Daten zu fehlen – manchmal alle Daten, manchmal einige. Bei letzteren kann es immer gut sein, dass eine Bibliothek einfach gar keine Angaben machen kann. Wenn Sie zum Beispiel keine Lizenzen hat, sollte sie das Feld zu Lizenzkosten leer lassen – oder, je nach Definition, wenn sie anteilig von einer Lizenz profitiert, die zum Beispiel der Kanton oder eine andere Einrichtung übernimmt (hier kann man an die Onleihe) denken, dann sollte hier zumindest in der schweizerischen Statistik der Wert für diesen Anteil eingetragen sein. Wissen von dieser Regelung alle Bibliotheken? Es scheint nicht so. Es finden sich doch auch eine ganze Anzahl, die «0» eintragen (was heissen würde, dass die Lizenzen haben oder von solche profitieren, aber diese nichts kosten).

Es gibt aber auch das Phänomen, dass in grösseren Bibliotheken die Daten für einige Jahre fehlen oder weniger werden. Warum das so ist, müssten man tiefergehend untersuchen. Aber mir ist aufgefallen, dass man in einer ganzen Anzahl von Fällen einen Zusammenhang mit mehr oder minder bekannten internen Krisen herstellen kann – grössere Bibliotheken, die einige Jahre lang keine (vollständigen) Daten an die Bibliotheksstatistik lieferten, sind auch offenbar oft die Bibliotheken, die zu dieser Zeit Probleme damit hatten, Leitungspositionen zu besetzen.

Und dann fällt auf, dass eine ganzen Anzahl von Bibliotheken keine genauen Angaben macht, sondern eher Schätzwerte zu liefern scheint. Das wird wohl vor allem daran liegen, dass die genauen Daten gar nicht vorliegen. Aber man findet nicht selten Angaben mit «runden Zahlen» (also Mehrfache von 10 oder 100), die sich dann auch oft über Jahre nicht verändern: Bibliotheken, die immer wieder genau 500 Veranstaltungen pro Jahr haben oder 7000 Medieneinheiten. Sicherlich kann das auch das Ergebnis guter Planungen sein – oder wahrscheinlich ist eher, dass es ungefähre Angaben sind.

Gleichzeitig aber sind alle Statistiken jetzt darauf ausgerichtet, auch wirklich alle Bibliotheken in den jeweiligen Ländern zu umfassen. Wie gesagt – in der Schweiz war man da etwas langsamer. Erst hat man die Wissenschaftlichen Bibliotheken integriert (was auch nicht so einfach ist, weil die Bibliothekssysteme einiger, historisch gewachsener Universitäten… barock sind, im Gegensatz zu den recht neuen Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen), dann die Öffentlichen Bibliotheken der grossen Gemeinden. Und dann, nach und nach, die anderen Bibliotheken einzelner Kantone, bis es dann 2021 theoretisch alle Bibliotheken sind, die erfasst werden. Aber stimmt das? Sind es wirklich alle Bibliotheken? Gibt es nicht vielleicht in ganz kleinen Gemeinden ganz weit auf dem Land, Bibliotheken, die nicht dabei sind? Oder in grossen Schulen Bibliotheken, die auch für das Quartier / den Kiez da sind, aber nicht in der Statistik auftauchen? Oder neue Bibliotheken in staatlichen Einrichtungen, die eine Filiale in «abgelegenen Regionen» gerade ausbauten, die bislang nicht für die Statistik gemeldet wurden? Vielleicht – das kann immer sein. Eine hundertprozentige Abdeckung ist wohl nie zu erreichen (zumal Bibliotheken, die von privater Hand finanziert werden, weil sie beispielsweise in Firmen oder Klöstern angesiedelt sind, nicht in diesen Statistiken enthalten sind – mit Ausnahmen, immer und immer wieder mit neuen Ausnahmen). Aber grundsätzlich möglichst viele und vor allem die grossen Bibliotheken, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind – die finden sich schon in diesen Statistiken.

Weiter oben hatte ich gesagt, dass die Kontinuität, mit der im DACH-Raum Daten für Bibliotheksstatistiken erhoben werden, eine ihre Besonderheiten darstellen. Man muss dies aber eingrenzen: Für die gesamten Statistiken gilt das, für alle Bibliotheken gilt das nicht. Aber auch hier für die meisten die meiste Zeit.

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Insoweit muss man die Daten jeweils vorsichtig interpretieren: Sie sind Annäherungen an die Realität. Aber wenn man zum Beispiel aus einer der Statistiken die Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken in einem Jahr errechnet und diese dann mit der Zahl der aktiven Nutzer*innen aller Bibliotheken eines anderen Jahres vergleicht, muss man bedenken, dass das immer eine leicht unterschiedliche Anzahl von Bibliotheken sind, die da Daten gemeldet haben. (Wie man das in die jeweilige Auswertung integriert hängt dann wohl davon ab, was man wissen will. In dem Vergleich von Daten 2018 bis 2020, den ich gemacht habe, habe ich jeweils nur Bibliotheken betrachtet, die auch vollständig für diese drei Jahre Daten geliefert haben – R hat dafür die Funktion complete.cases –, aber das wird keine Lösung sein, wenn man zum Beispiel Daten über zehn Jahre hinweg betrachten will. Dann wird man besser mit Durchschnittswerten pro Jahr rechnen.) Wie gesagt: Das ist alles eine viel bessere Datenlage als in anderen Ländern, aber doch niemals eine perfekte.

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Schauen wir nochmal die Variablen an, dann fällt, wie schon gesagt, auf, dass in Deutschland (und Österreich für die Wissenschaftlichen Bibliotheken) die meisten Variablen erhoben werden, in Österreich (für die Büchereien) weniger und in der Schweiz noch weniger. Einige dieser Variablen deuten auf ältere Diskussionen hin. Wenn in der deutschen Statistik explizit gefragt wird, ob eine Öffentliche Bibliothek «Soziale Bibliotheksarbeit» anbietet, dann ist das ein Thema, dass zuletzt Anfang der 1980er Jahre gross diskutiert wurde. Ebenso gibt es in der deutschen Statistik Variablen zu unterschiedlichen Formen von Krankenhausbibliotheken, was vielleicht Anfang der 1990er Jahre das letzte Mal breiter diskutiert wurde. Zudem finden sich zum Beispiel Fragen nach der Anzahl von Vinyl-Platten im Bestand.

Eine andere Anzahl von Variablen findet sich aber in allen drei oder zumindest zwei der Statistiken. Beispiele dafür sind die Zahl der aktiven Nutzer*innen (immer gleich definiert als solche, die mindestens einmal in den letzten zwölf Monaten ein Medium entliehen haben, inklusive elektronischen Medien), die Zahl der Medien, die Zahl der Ausleihen und Angaben zu Etat und Personal (aber beim Personal in unterschiedlichen Ausprägungen und beim Etat selbstverständlich mal in Euro und mal in Franken).

Will mal also Daten über die drei Ländern hinweg vergleichen, geht das für einige Variablen einfach nicht und für andere wieder muss man sie erst «normalisieren», also in ein einheitliches Format bringen. (Letzteres ist aber nicht so schwer, da die Daten jeweils pro Land strukturiert geliefert werden und man solche Transformationen der Daten gut automatisieren kann.)

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Beachtet man das aber, kann man relativ gut und relativ schnell einfache Vergleiche anstellen und Plots zeichnen, wie die drei hier. (Alle mit jeweils allen Daten aller Öffentlichen Bibliotheken, die im jeweiligen Jahr Daten gemeldet haben – die Daten lagen schon bearbeitet aus meinem oben erwähnten Artikel vor, aber die Plots zeichnen dauerte keine drei Stunden und das auch vor allem, weil ich Anfänger mit R bin und die Chance nutzen wollte, mal mit den erweiterten graphischen Möglichkeiten zu spielen. Einfache Plots hätten vielleicht eine viertel Stunde gedauert.) Und selbstverständlich – wer sich darin vertiefen will, kann dann noch mehr, noch genauer, noch theoriegeleiteter vorgehen und beispielsweise Hypothesen über die Entwicklung der Nutzung von Bibliotheken im DACH-Raum testen.

Zur Nutzung

Was mich an Bibliotheksstatistiken immer wieder erstaunt hat und weiter erstaunt, ist, wie wenig sie tatsächlich genutzt zu werden scheinen. Sie kommen in der Lehre, soweit ich das sehe, nicht vor. (Ich bin da selber mit verantwortlich, ich weiss – aber auch zum Beispiel nicht in meiner eigenen Ausbildung.) Auch werden sie fast nie an Orten, an denen man sie erwarten würde, angeführt: Fast nie in Studien, Abschlussarbeiten, Präsentationen oder auch Artikeln. Die einzige wirklich Ausnahme davon scheint der Büchereiverband Österreich zu sein, der – wie schon gesagt –, kontinuierlich Zusammenfassungen für «seine» Bibliotheken publiziert. Ansonsten scheint das immer nur ansatzweise zu passieren, vielleicht gebunden an die Interessen einzelner Personen.

Jetzt, nachdem ich gelernt habe, wie besonders und – im Vergleich mit anderen Ländern – gut die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sind, erstaunt mich das nur noch mehr.

Man könnte vermuten, dass die Statistiken einfach an anderen Stellen benutzt werden, beispielsweise bei internen strategischen Planungen von Bibliotheken. Maybe. Wie gesagt fordert der Büchereiverband Österreich die öffentlichen Bibliotheken im Land immer wieder dazu auf, die Statistik für Kennzahlenvergleiche zu nutzen. Ähnliches hört man, aber nicht so oft, von Fachstellen und vergleichbaren Einrichtungen. Aber auch dann würde man erwarten, das darüber lauter und öfter berichtet wird. Es wäre doch sinnvoll, wenn Bibliotheken sich darüber austauschen würden, wie diese Daten im Alltag und bei der längerfristigen Planung genutzt werden.

Meine Erfahrung ist aber, dass man bei Nachfragen eher ausweichende Antworten erhält. Oft wird von Kolleg*innen erst behauptet, dass man selbstverständlich auch mit den Daten den Bibliotheksstatistik etwas macht, aber dann auf Nachfrage hin nicht gesagt, was genau.

Es ist ein erstaunliches Thema, immer wieder: Wir haben im DACH-Raum eigentlich so eine gute Datenlage. Nicht perfekt, aber soviel besser als in vielen anderen Regionen. Und wir – sowohl die Bibliothekswissenschaft als auch die Bibliotheken und zum Bibliothekswesen gehörigen Einrichtungen als auch die Ausbildung – wissen nicht so richtig, was damit anfangen.

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Nur ein schnelles Beispiel, wofür man die Daten benutzen kann, ist der nächste Plot, welcher die Kosten pro Ausleihe in den Öffentlichen Bibliotheken 2018-2020 in den drei Ländern vergleicht – also eine recht beliebte Kennzahl für die Effizienz des Bestandsmanagements. Sicherlich: Man könnte hier noch einen Wert für die Preisunterschiede einführen – aber auch so sieht man die Entwicklung: In der Schweiz waren die Bibliotheken 2020 offenbar effizienter als in den Vorjahren, in Österreich nicht ganz so, und in Deutschland noch etwas weniger. Man kann jetzt diskutieren, warum und was man daraus lernen kann und so weiter. Aber: Es ist recht einfach, diese Angaben aus den Daten zu ziehen. Ich habe das mit einem Rechner und etwas Arbeitszeit gemacht. Wir, als «die Bibliotheken, das Bibliothekswesen», sollten das öfter machen.

Wünsche

Wie gesagt habe ich gelernt, dass die Situation bei den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum sehr gut ist, wenn man sie mit anderen Ländern vergleicht. Während meiner Recherche hatte ich auch Kontakt mit Verantwortlichen für alle drei Statistiken und auch da gute Erfahrungen mit schnellen Rückmeldungen gemacht. Und dennoch haben sich ein paar Wünsche ergeben – Dinge, die das Ganze noch einen Ticken besser machen würden.

  • Erstens wäre es gut, wenn die Daten zu den Bibliotheksstatistiken nicht einfach nur verfügbar wären, sondern, wenn sie als Offene Daten mit einer Offenen Lizenz (wegen meiner gerne mit CC BY-NC) ausgestattet wären. Oder, wenn schon nicht offen, dann so, dass klar ist, was man mit denen machen darf und was nicht. Die jetzige «graue» Situation ist nicht mehr wirklich zeitgemäss.
  • Jetzt muss beziehungsweise kann man die Daten relativ einfach herunterladen oder auf Nachfrage erhalten – wie gesagt ist das schon weit besser als anderswo. Aber das Non-plus-Ultra wäre selbstverständlich, wenn es per API direkt aus einer Datenbank abgefragt werden könnte (und, für die Schweiz, wenn in der Datenbank dann auch die «alten» Daten von 2011 bis 2019 enthalten wären). Dann liessen sich Skripte bauen, mit denen man jeweils automatisiert jährlich die Daten abfragen und analysieren könnte. Das wäre eine kleine, aber sichtbare Verbesserung.
  • Für weitere Analysen hilfreich wäre, wenn in allen Bibliotheksstatistiken nicht nur die Namen der Gemeinden / Kommunen verzeichnet wären, in denen die jeweiligen Bibliotheken angesiedelt sind, sondern (a) auch, für welche Gemeinden / Kommunen sie zuständig sind (das ist in der Schweiz zum Beispiel nicht selten, dass eine Bibliothek mehrere Gemeinden versorgt) und (b) diese Gemeinden / Kommunen nicht nur mit Namen, sondern auch mit Postleitzahlen ausgezeichnet würden. Bislang mache ich mir noch einen Kopf, wie man beispielsweise Daten über sozio-ökonomische Zusammenhänge mit denen der Bibliotheksstatistiken verbinden könnte. Die meisten anderen Daten, die auf Gemeinde-/Kommunenebene vorliegen – beispielsweise Grösse der Gemeinden, Steueraufkommen, Ergebnisse von Wahlen und Abstimmung –, sind mit Postleitzahlen ausgezeichnet. Wären es die der Bibliotheksstatistik auch, könnte man sie einfacher verbinden. (Auch hier gibt es in R einen Standardbefehl.) Und wer will nicht wissen, ob die Bibliotheken in sozio-ökonomisch herausfordernderen Kommunen mehr Nutzer*innen erreichen als in anderen (nur als Beispiel was dann einfach möglich wäre)?
  • Grundsätzlich sollten – das habe ich jetzt auch schon angedeutet – die Daten, die wir schon haben, mehr und offener (also sichtbarer) genutzt werden. Es ist einfach erstaunlich, wie viel Arbeit Jahr für Jahr in die Daten hineingesteckt wird, im Vergleich dazu, wie wenig damit später offenbar gemacht wird.
  • Über die Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum hinaus fände ich es interessant, mehr darüber zu erfahren, wie es in anderen Ländern gehandhabt wird – und jeweils wieso. Die Karte der IFLA vermittelt kein richtig befriedigendes Bild, auch die Section zu Bibliotheksstatistiken in der IFLA ist bestimmt so engagiert, wie es geht – aber auch nicht wirklich hilfreich, wenn es um solche Fragen geht. Aber mich würde schon interessieren, warum der DACH-Raum so gut aufgestellt ist und andere nicht.

Literatur

Fleming-May, Rachel A. ; Mays, Regina (2021). Fundamentals of Planning and Assessment for Libraries. (ALA Fundamentals Series) Chicago : Neal-Schuman, 2021

International Organization for Standardization (2013). ISO 2789:2013 Information and documentation — International library statistics. Vernier: ISO, 2013

McMenemy, David ; Robinson, Elaine ; Ruthven, Ian (2022). The Impact of COVID-19 Lockdowns on Public Libraries in the UK: Findings from a National Study. In: Public Library Quarterly (Latest Articles), https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2058860

Ministère de la Culture (2021). Bibliothèques municipals et intercommunales: Données dʹactivités 2017. Paris cedex: Ministère de la Culture, 2021, https://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Livre-et-lecture/Les-bibliotheques-publiques/Observatoire-de-la-lecture-publique/Syntheses-annuelles/Synthese-des-donnees-d-activite-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales/Synthese-nationale-des-donnees-d-activite-2017-des-bibliotheques-municipales-et-intercommunales-editee-en-2021-par-le-Ministere-de-la-Culture

Zur Differenz zwischen Zielen bibliothekarischer Angebote und dem Bewerten derselben

Öffentliche Bibliotheken sind erstaunlicherweise wenig gut in der Lage, zu zeigen, wie ihre Angebote wirken, also vor allem, welche Veränderungen sie bei ihren Nutzer*innen hervorrufen. Sicherlich sollen gar nicht alle Angebote Veränderungen herbeiführen, beispielsweise sollen Medien aus der Bibliothek auch einfach dafür benutzt werden, um aus Spass an der Freude, aus Jux und Dollerei gelesen zu werden. Aber eine ganze Anzahl von Angeboten zielt zumindest diskursiv darauf, etwas zu verändern: Leseförderung soll die Begeisterung für das Lesen, die Regelmässigkeit des Lesens, den Aufbau von Lesekompetenz und so weiter fördern. Andere Angebote beispielsweise demokratisches Handeln oder den kritischen Umgang mit Fake-News. Bibliotheken sollen auch «mehr und mehr» Teil des Stadtraumes werden oder soziale Orte. Diese Aufzählung lässt sich ergänzen.

Und all dieses «Fördern», «mehr und mehr», «verstärkt» impliziert, dass es jeweils Veränderungen gibt. Menschen nehmen an Demokratieworkshops teil und können nachher demokratischer argumentieren und Dinge aushandeln. Kinder und Jugendliche durchlaufen Leseförderprogramme einer Bibliothek und haben nachher mehr Lesekompetenz als vorher. Oder sie haben mehr Spass am Lesen als vor dem Programm. So ungefähr.

Die Praxis sieht aber so aus, dass es immer wieder eine erstaunliche Differenz zwischen den angegebenen oder zu vermutenden Zielen von bibliothekarischen Angeboten auf der einen Seite und den dann durchgeführten Messungen dieser Ziel auf der anderen Seite gibt. Das war mir schon aufgefallen, als ich meine Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken schrieb – die auch deshalb nicht bestimmt werden konnten, weil keine Daten zu diesen Veränderungen vorliegen. Desletztens betreute ich aber auch einige Bachelorarbeiten, die mich wieder an dieses Phänomen erinnerten. Das war die Motivation, dieses Phänomen nochmal zu besuchen und zu fragen: Warum ist das eigentlich so?

Mir geht es dabei nicht um die Evaluation von einzelnen Projekten – die kann man auch von «ausserhalb» (Berater*innen, Hochschulen und so weiter) einkaufen, was ja auch getan wird, aber dann ist es halt nicht die Arbeit der Bibliothek selber. Mir geht es darum, dass meistens die Ziele von Angeboten gar nicht nachgewiesen zu werden scheinen, beispielsweise dass in Jahresberichten steht, warum man bestimmte Angebote wie Leseförderung macht, aber nicht, ob dieses Ziele erreicht worden sind. Oder dass wenn Angaben zu den Erfolgen von solchen Angeboten gemacht werden, diese zumeist nicht wirklich in Zusammenhang mit den Zielen stehen. Beispielsweise wieder in vielen Jahresberichten findet man oft Angaben dazu, wie viele Kinder und Jugendliche oder Schulklassen bestimmte Leseförderangebote im letzten Jahr besucht haben, manchmal auch Hinweise dazu, dass die Teilnahme wieder gestiegen ist oder die Zusammenarbeit mit den Schulen weiter funktioniert. Und in einigen Fällen finden sich auch Bilder davon, wie Kinder und Jugendliche begeistert an den Leseförderangeboten teilnehmen. Aber… das Ziel der Leseförderangebote – Lesen und Begeisterung für das Lesen fördern, den Aufbau von Lesekompetenzen zu unterstützen und so weiter – ist ja nicht, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche die Angebote irgendwie durchlaufen oder das sie dabei Spass haben. Um diese Differenz geht es mir.

Vorbild Schule / Kita

Vielleicht, so habe ich mehr als einmal überlegt, fällt mir diese Differenz deshalb auf, weil ich damals bei meiner Promotion (und dann nachher, als ich in der Bildungsforschung arbeitete) auch gesehen habe, wie es in Schulen und – damals recht neu – Kindertagesstätten gemacht wird. Mir ging es ja damals darum, herauszukriegen, welche Bildungseffekte Bibliotheken haben – und wer ist besser darin, Bildungseffekte zu bestimmen, als Schulen? (Die Kindertagesstätten kamen dazu, weil es damals relativ neu Bildungspläne für diese gab und sie anfingen, systematisch in der alltäglichen Praxis die Entwicklung der Kompetenzen von Kindern zu dokumentieren und zu reflektieren.)

Sicherlich: Zur Schule gehört auch immer die Kritik an dieser Beobachtung der Bildungsentwicklung von Kindern und vor allem die Messung mittels Noten – spätestens wohl seit die Staaten Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts die Aufsicht über die Schulen übernahmen. Aber auch diese Tradition der Kritik existiert schon so lange, weil es halt zum Beruf von Lehrpersonen gehört, zu beobachten und zu messen, wie sich das Wissen, die Fähigkeiten, die Kompetenzen der Schüler*innen verändern. Es gehört zur professionellen Arbeit einer Lehrperson, dies regelmässig zu machen, egal ob als Notengebung von Klassenarbeiten oder als Schreiben von individuellen Lernreports für Schüler*innen oder noch anders. Das findet nicht einfach so statt, sondern um die eigene Arbeit als Lehrperson zu reflektieren und auch zu verändern, wenn das notwendig ist. (Es gibt auch weitere Gegebenheiten, für die dieses Messen genutzt wird. Beispielsweise, was ich auch quasi live in der pädagogischen Literatur beobachten konnte, als ich die für die Promotion las, immer mehr Berichte für schulsozialarbeiterische Interventionen oder indirekt für die Evaluation ganzer Schulen.)

Es ist kein Zufall, dass Lehrpersonen so gut darin sind, Aussagen zu den Lernfortschritten «ihrer» Schüler*innen zu machen: Sie sind explizit dafür ausgebildet, es ist Teil der Arbeit, die von ihnen erwartet wird (und für die es dann auch Arbeitszeit gibt), es ist notwendiger Teil für andere Teile ihrer Arbeit, beispielsweise die Unterrichtsplanung selber.

Kindergärten, zumindest in den Deutschland, waren damals (vor fast fünfzehn Jahren) ein weiteres gutes Beispiel: Durch die ersten Bildungsplänen für diese Einrichtungen, die in einigen Bundesländern erlassen wurden, wurde der Wandel von «der Bewahreinrichtung zur Bildungseinrichtung», der eh seit Jahrzehnten im Gang war, weitergetrieben. Von Kindergärtner*innen wurde damals neu erwartet, die Entwicklung der Kinder zu beobachten, zu dokumentieren und auch die Unterstützung weiteren Lernens zu planen. Es gab damals eine Welle der Professionalisierung, die sich in Debatten in der Fachliteratur und der Forschung niederschlug, aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Kindergärten sichtbar wurde. Es war also offenbar möglich, so eine Praxis zu etablieren – wenn es gewollt wurde.

Bibliotheken

In Bibliotheken ist dieses Beobachten von Lernentwicklungen nicht Teil professioneller Arbeit. Auch nicht das Beobachten von anderen Entwicklungen, beispielsweise ob Menschen mehr demokratisch handeln oder sozialer werden.

Das wird klarer, wenn man es mit dem Beispiel Lehrperson vergleicht. Lehrpersonen lernen das Bewerten, das Notengeben, auch das Beobachten und das Einbeziehen all der Daten, die so zustande kommen, in die weitere eigene Arbeit (wieder vor allem die Unterrichtsplanung) in der Ausbildung. In der Entwicklung der Profession von Lehrpersonen wurden immer mehr Formen dieser Beobachtungen und Bewertungen angedacht, ausprobiert, kritisiert, selber bewertet, weiterentwickelt und so weiter. Und sie wurden so sehr Teil der Arbeit, dass sie Teil der Arbeitszeit und der Anforderungen an Lehrpersonen sind: Ein*e Lehrer*in vergibt Noten, dass ist Teil der Arbeit – auch wenn die Lehrperson das alles kritisch sieht.

In Bibliotheken ist das nicht so. Das Bewerten von Angeboten über einfach zu erhebende Daten (die, die eh im Bibliothekssystem erhoben werden oder solchen, die leicht ausgezählt werden könne, wie die Anzahl von Teilnehmenden) ist weder Teil der Ausbildung noch Teil der professionellen Arbeit selber. Es gibt weder eine Diskussion im Bibliothekswesen über die Möglichkeiten und Grenzen von Erhebungsinstrumenten noch gibt es überhaupt etablierte Erhebungsinstrumente. In Schulen werden die meisten Lehrpersonen sich kritisch zu Schulnoten äussern – aber es gibt Schulnoten und sie sind etabliert.

Dadurch, dass solche Messungen nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit sind, fehlt in Bibliotheken zum Beispiel auch Arbeitszeit, um diese Messungen überhaupt durchzuführen oder die Ergebnisse regelmässig zu reflektieren. (Deshalb vielleicht immer wieder neue Versuche in Projekten, in denen man Zeit dafür einplanen kann, die aber nicht in die kontinuierliche Arbeit übernommen werden.)

Und selbstverständlich: Wenn es nicht gemacht wird, wird es auch nicht geübt und kann auch nicht zu einem so normalen Teil der Arbeit werden, wie es das Benoten für Lehrpersonen oder das Anlegen von Lerndossiers für Kindergärtner*innen ist.

Warum ist das so?

Warum ist das so? Warum wird des Messen der Effekte von Angeboten von Bibliotheken nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit? Warum gibt es zum Beispiel gerade keine bekannten Projekte, Messinstrumente dafür zu entwickeln, wie Leseförderaktivitäten bei den potentiellen Lesenden wirken? Sicherlich kann man einige naheliegende Gründe finden, warum es in Schulen einfacher ist, zu benoten oder Lernentwicklungen zu beobachten, als in Bibliotheken. Beispielsweise die Freiwilligkeit der Teilnahme an bibliothekarischen Angeboten (ausser gerade dann, wenn sie im Rahmen von Schulen oder Kindergärten stattfindet), die vielfältigen Aufgaben von Bibliotheken, der Fakt, dass Lehrpersonen die von ihnen betreuten Schüler*innen über Jahre regelmässig treffen, Bibliothekar*innen hingegen nur selten. Aber das wären alles Herausforderungen, keine unüberwindlichen Hindernisse.

Der Grund scheint mir ein anderer zu sein: Es ist einfach nicht notwendig, diese Arbeit zu leisten. Zwar gibt es immer wieder die Behauptung, Bibliotheken müssten (immer mehr, gerade jetzt et cetera) nachweisen, was sie machen und das sie damit erfolgreich sind. Aber… das stimmt ja nicht. Oder zumindest zumeist nicht. Weder die Träger noch die allgemeine Politik noch die Gesellschaft an sich wollen so genau wissen, welche Effekte die Arbeit von Bibliotheken haben. Was gerade die Träger immer wieder interessiert ist, dass Bibliotheken den Eindruck vermitteln, sich zu entwickeln und gleichzeitig zu wissen, was sie tun. Das gilt auch oft für Kooperationspartner. Aktive Bibliotheken sind gefragt, solche die zeigen, dass sie sich entwickeln. Aber keine Schule wird erst von der Bibliotheken einen Nachweis der Wirksamkeit von Leseförderangeboten und so weiter verlangen, bevor sie sich für oder gegen eine Zusammenarbeit entscheidet.

Vielleicht kann mir jemand Gegenbeispiele nennen, aber in all meinem Jahren, in denen ich auch Bibliotheken bei Strategieentwicklungen und so weiter unterstütze, ist mir noch nie ein Fall untergekommen, wo wirklich gefragt wurde, ob zum Beispiel die Leseförderung der Bibliothek wirklich dazu führt, dass die Kinder und Jugendlichen mehr oder besser und lieber lesen oder nicht. Was mir begegnet ist die immer wieder Überzeugung von Trägern, dass Bibliotheken (zum Beispiel) Leseföderung machen und das sie sich gleichzeitig entwickeln sollen. Aber wie genau – das bleibt immer wieder den Bibliotheken selber überlassen.

Gleichzeitig ist es nicht Teil bibliothekarischer Arbeit, die Ergebnisse (zum Beispiel) von Leseförderung so zu reflektieren, dass sie mehr förderlich werden können. Vielmehr wird immer wieder gefragt, was sich die Kolleg*innen zutrauen, woran Kinder und Jugendliche Spass haben, was die Schulen und Kindergärten von der Bibliothek erwarten. Aber wenn das die Kriterien sind, nach denen Leseförderung bewertet und entwickelt wird, dann ist es auch nicht notwendig, nach den tatsächlichen Effekten zu fragen.

Und nicht notwendig heisst auch, dass es nicht zum Teil der professionellen Arbeit wird und dann zum Beispiel auch nicht Arbeitszeit dafür genutzt werden kann. (Es heisst nicht, dass nicht einzelne Kolleg*innen es trotzdem immer wieder einmal versuchen oder zumindest andenken. Ein wenig scheint das parallel zu gehen damit, dass im Schulwesen kontinuierlich das Notengeben kritisiert wird – genauso wird immer wieder einmal im Bibliothekswesen angemerkt, dass man eigentlich nicht richtig weiss, ob die Leseförderung wirklich das Lesen fördert.)

Was das auch heisst, ist selbstverständlich, dass es nicht ein Fehler, gar ein Fehler von bestimmten Kolleg*innen, wäre, dass es ständig diese Differenz zwischen Zielen von bibliothekarischen Angeboten und dem Messen der Effekte derselben gibt. Wenn es ein Sinn im System Bibliothek hätte, würde es dieses Messen schon geben. Aber solange es diesen Sinn nicht gibt – weil die Entwicklung und Weiterentwicklung von Angeboten nicht beinhaltet, ob die Ziele überhaupt erreicht wurden, und wenn es auch von aussen kein wirkliches Interesse daran gibt, dass zu wissen – wird das strukturell nicht Teil der professionellen Arbeit von Bibliotheken werden. (Wird es weiter immer wieder Kolleg*innen irritieren? Ja. Aber, wie gesagt, gehört das wohl auch zu dieser Struktur.)

Warum es doch gut wäre

Kann sich diese Situation ändern? Ja, selbstverständlich. Die oben geschilderte Entwicklung in den Kindergärten vor einigen Jahren ist da ein Beispiel für.

Aber es muss einen Grund geben, warum diese Änderung stattfinden sollte. Ansonsten bleibt es bei vereinzelten Versuchen, Kolleg*innen, die irritiert über die Situation sind und Behauptungen darüber, dass es notwendig wäre, solche Nachweise der Wirksamkeit einzuführen. Bei den Kindergärten war es vor allem, aber nicht nur, die Politik, welche diese Entwicklung vorantrieb. Kindergärten wurden in das Bildungssystem integriert und somit wurde von ihnen auch erwartet, mehr wie andere Bildungseinrichtungen zu funktionieren. Sicherlich: Die konkrete Umsetzung fand dann in den Einrichtungen selber statt und wurden zum Beispiel von der Erziehungswissenschaft unterstützt. Aber die Erwartung von aussen war Triebfeder für die Veränderung selber.

Das kann auch im Bibliothekswesen passieren. Falls die Bildungspolitik einmal die immer wieder von Bibliotheken und Bibliotheksverbänden vorgebrachte Argumentation, sie seien auch Bildungseinrichtungen, ernst nimmt, wird das wohl auch heissen, dass innerhalb recht kurzer Zeit Öffentliche Bibliotheken mehr wie die anderen Bildungseinrichtungen werden und es schnell zum Teil professioneller bibliothekarischer Arbeit werden, Lernentwicklungen zu beobachten und zu dokumentieren. Auch wenn jetzt noch nicht klar ist, wie das genau aussehen könnte. (Und keine Angst: Wenn es tatsächlich ein Interesse daran gibt, gibt es auch mehr Personalmittel, um diese Anforderung umzusetzen – so, wie es bei den Kindergärten passierte.)

Aber dieser Druck von aussen ist nicht die einzige Möglichkeit. Professionen können sich aus sich selber heraus verändern, wenn es eine Neubewertung davon gibt, was für die Profession relevant ist. Dann beginnen sich Professionen auch Gedanken darum zu machen, wie die dann neuen Ziele erreicht und in die normale Arbeit integriert werden können.

Eine solche Veränderung wäre zum Beispiel, wenn es im Bibliothekswesen als relevant angesehen wird, nicht Angebote zu machen, von denen man hofft oder annimmt, dass sie das Lesen fördern, sondern wenn man es als notwendig ansehen würde, nur Angebote zu machen, die dies auch wirklich tun. Wenn also die tatsächlichen Entwicklungen der Lesemotivation, der Lesefähigkeiten, der Lesekompetenzen und so weiter der potentiellen Lesenden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt würden. Das würde dann einiges verändern. Nicht nur würde dann ein Interesse daran erwachsen, den jeweiligen Stand dieser Fähigkeiten und so weiter vor, während und nach Leseförderungsaktivitäten zu bestimmen, sondern auch daran, überhaupt zu verstehen, wie der Aufbau derselben vonstatten geht, wie Aktivitäten mithilfe solcher Daten weiterentwickelt werden könnten und so weiter. Das würde dann gewiss auch die Leseförderung in Bibliotheken konkret verändern, bestimmte Formen würden weniger gemacht, andere mehr. Bestimmte Vorstellungen über die Wirksamkeit von Leseförderung, die in Bibliotheken oder bei einzelnen Bibliothekar*innen existieren, würden dann hinterfragt werden. (Einige Kolleg*innen würden dann aus dem Bibliothekswesen ausscheiden, weil sie das alles nicht mittragen wollen oder können; andere würden dafür dazu kommen – das ist in Kindergärten genauso passiert wie damals, als Ende des 19. Jahrhunderts die Schulen professionalisiert wurden.)

Wäre das besser? In bin versucht zu sagen, für die potentiellen Lesenden wäre es tatsächlich besser. Aber es wäre halt eine Veränderung, die von innen heraus, aus dem (Öffentlichen) Bibliothekswesen kommen müsste.

Schlechte Arbeitsplatzkultur [in Bibliotheken] & COVID-19 (Coronavirus) – Einladung zur Teilnahme an einer Umfrage

Werte Kolleg*innen,

in dieser Krisenzeit, und leider auch ausserhalb dieser, gibt es eine ganze Reihe von Bibliothekar*innen, die mit ihrer Arbeit unzufrieden sind, weil die Kultur am eigenen Arbeitsplatz schlecht ist. Beispielsweise, weil das Personalmanagement schlecht ist, die Leitung eher autoritär und intransparent handelt, aber auch weil Kolleg*innen nicht als Team handeln, sondern regelmässig beleidigen oder übergriffig sind. Die hohen Burnout-Quoten und hohen Raten beim Personalwechsel in einigen Bibliotheken ist dafür ein sichtbarer Indikator. (Wenn dies bei Ihnen nicht so ist, ist das erfreulich.)

 

An die Kolleg*innen, welche solche eher belastende Arbeitskultur erleben, richtet sich folgende Umfrage, zu der ich sie gerne einlade.

Link zur Umfrage: https://survey.fhgr.ch/289232?lang=de

 

Ich habe diese Umfrage von Kaetrana Davis Kendrick (Medford Library, University of South Carolina Lancaster) übernommen, die schon länger in den USA zu Formen und Gründen solcher bedauerlichen Zustände forscht. Die Umfrage baut auf diesen Forschungen auf. Deshalb ist die Umfrage zum Teil auch etwas stark an den USA orientiert. Das heisst, dass Ihnen vielleicht einige Fragen oder Antwortoptionen etwas übertrieben vorkommen werden – aber das ist der kulturelle Unterschied.

Die Umfrage bezieht sich explizit darauf, ob sich die Arbeitsplatzkultur während der aktuellen Krise verändert hat. Ich möchte damit auch den Kolleg*innen die Möglichkeit geben sich dazu zu äussern, die aktuell schlechte Erfahrungen haben (neben denen, die sich aktuell über ihr Engagement äussern können). Gleichzeitig möchte ich, in Zusammenarbeit mit Kaetrana Davis Kendrick, etwas darüber erfahren, welche Unterschiede es im Bezug auf dieses Thema zwischen den USA und deutschsprachigen Raum gibt.

Die Umfrage wird mindestens so lange geöffnet bleiben, bis das letzten Land im DACH-Raum die Krise für überwunden erklärt hat. Alle Angaben und Antworten sind freiwillig und werden anonym behandelt.

Vielen Dank, wenn Sie an der Umfrage teilnehmen und vielen Dank dafür, wenn Sie die Umfrage mit anderen Kolleg*innen in einer solchen Situation teilen.

 

m.f.G.

Karsten Schuldt (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft, FH Graubünden)

Eigenständiges Lernen im Makerspace einer Bibliothek. Ein australisches Beispiel

Bibliotheken müssen im Bezug auf eigenständige Bildungsaktivitäten (also solchen, die nicht im Zusammenhang mit Schule / Ausbildung / Hochschule stattfinden) mit einem Paradox umgehen: Sie würden gerne einer der Orte sein, die solche Bildungsaktivitäten unterstützen – wofür sie in gewisser Weise auch sinnvoll sind –, aber gleichzeitig ist es schwierig, aufgrund der Freiwilligkeit, mit der diese Aktivitäten durch die potentiellen Lernenden durchgeführt wird, mehr zu tun, als Angebote an Räumen und Medien zu machen. (Wobei das nicht unterschätzt werden sollte.) Man kann niemand dazu nötigen, eine solche Bildungsaktivität durchzuführen; gleichzeitig ist bekannt, dass die Motivation bei solchen Bildungsaktivitäten viel höher ist, als bei angeleiteten, also zum Beispiel Schulprojekten. Mark Bilandzic, der offenbar die bestimmt gute Entscheidung getroffen hat, aus Deutschland nach Australien auszuwandern, um dort an einem PhD zu arbeiten, berichtet in einem Artikel über eine Aktivität der State Library of Queensland (Brisane), welche dieses Paradox relativ erfolgreich angeht. Gleichzeitig scheint mir dieser Text eine der intensivsten publizierten Auseinandersetzungen mit diesem Paradox darzustellen. [Bilandzic, Mark (2013) / Connected learning in the library as a product of hacking, making, social diversity and messiness. In: Interactive Learning Environments (In Press), http://eprints.qut.edu.au/61355/]

Bilandzic betont im theoretischen teil seiner Arbeit, dass Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen zwar Räume für soziales Lernen zur Verfügung stellen können und ohne solche Räume soziales Lernen auch nicht stattfinden kann, aber das solche Räume nicht automatisch zu sozialem Lernen führen. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Bibliotheken quasi den Sprung vom reinen Angebot des Raumes zum Anstossen direkter Lernprozesse gehen können.

In der State Library of Queensland findet sich – wie in zunehmend mehr Bibliotheken im englischsprachigen Raum – eine „The Edge“ genannte Einrichtung, welche als Learning Commons funktioniert. Learning Commons sind Räume, die Lern- und Arbeitsgeräte zur freien Verfügung stellen und zudem einen Raum schaffen, in denen unterschiedliche Lernprozesse möglich sind. The Edge ermöglicht es zum Beispiel, Computer und Arbeitsräume zu mieten, bietet täglich, ausser Montags, Workshops sowie drei thematische Labs (screen and sound, mobile and physical, record and mix) zur Benutzung an. Allerdings, so Bilandzic, motiviert dieser Raum nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, gemeinsames Lernen.

„[…] outside of such workshops, i.e. when The Edge simply functions as a free space with infrastructure for people to work, study and engage in self-driven activities around digital culture, most people work next to each other in isolation, rather than with each other. When collaborative activities were observed, then mostly among people who have known each other prior to coming to The Edge. The conceived vision of The Edge’s designers as a space for serendipitous encounters and collaborative, incidental learning did not translate into user activities during their everyday visits.” (Bilandzic 2013, p. 5)

Der Autor versuchte erfolgreich, dieses Nebeneinander-her-arbeitens mit einer Gruppe namens „Hack The Edge“ zu überwinden. Diese, immer noch wöchentlich angebotene Gruppe („Weekly on Thursday, forever“), hat das Ziel, unterschiedliche Personen zusammen dazu zu bringen, voneinander zu lernen. In der kostenlosen Gruppe treffen sich Menschen, die mit unterschiedlichen Hintergründen (technisch, kreativ etc.) an offenbar eher technischen Projekten arbeiten wollen – Basteln mit Hard- und Software wäre vielleicht der richtige Ausdruck dafür. In der ersten Sitzung dieser Gruppe versuchte Bilandzic mit einer halbstündigen Einführung in einen Open Source Hard- und Software-Satz das „Hacking“ zu motivieren. Allerdings wollten die Anwesenden offenbar lieber selber an Projekten arbeiten. Die Mitglieder der losen Gruppe formten schnell eine eigene Agenda mit gemeinsamen Projekten aus, treffen sich in The Edge auch vor den offiziellen Treffzeiten und nutzen den Raum in wechselnden Projekten. Die Gruppe hat einige ständige und viele wechselnde Mitglieder.

Bilandzic, welcher die Gruppe praktisch organisiert, führte nach der ersten Sitzung und zu einem späteren Zeitpunkt als Follow-Up Fokusgruppen-Interviews durch. Zudem ergänzte er sie mit weiterführenden Interviews mit Beteiligten an der Gruppe. Als Ergebnis dieser Untersuchungen berichtet er folgendes:

  • Die Beteiligten an der Gruppe kommen mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen. Es gibt zum Beispiel einige Mitglieder des lokalen Hackerspaces, welche die Diversität der Gruppe im Gegensatz zum Hackerspace herausstellen. Ihrer Meinung nach sind die Personen bei Hack The Edge weit kreativer, die im Hackerspace technisch kompetenter.
  • Ebenso kommen die Personen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen. Bilandzic führt zum Beispiel an, dass Teile der Gruppe nach der Schliessung der Bibliothek (um 20:00) in eine Snackbar weiterzieht. Ein Teil der Gruppe kann diese Treffen aus finanziellen Gründen nie folgen. Insoweit finden sich Menschen in Armut und Menschen in sichereren finanziellen Lagen in der Gruppe wieder. Zudem betont er, dass in The Edge auch Frauen und Kinder kämen, die in sonstigen, ähnlichen Settings eher nicht anzutreffen wären.
  • Die Beteiligten an der Gruppe engagieren sich nach jeweils eigenen Agenden, die unter ihnen ausgehandelt (und immer wieder verändert) werden. Zudem lernen sie direkt in einem sozialen Zusammenhang. Der Autor stellt dies eher vorgegebenen Agenden gegenüber, bei denen eher weniger selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Seiner Auswertung nach erfolgt das Lernen in der Gruppe aus intrinsischer Motivation, selbstgesteuert und sozial. Hierfür führt er auch die genannten Nachtreffen in der Snackbar an, bei denen die Gespräche zwischen den sehr unterschiedlichen Teilnehmenden schnell zwischen Lerninhalten und sozialen Themen wechseln. (Kneipengespräche auf einer höheren Ebene, quasi.)
  • Brilandzic stellt heraus, dass der Habitus der Bibliothek zu diesem Lernen in der Gruppe beiträgt. Für ihn zeichnet sich der Raum The Edge dadurch aus, „a universal, open and socially inclusive space“ (Brilandzic 2013, 9) zu sein. (Wobei daran erinnert werden muss, dass der Zugang zu australischen Bibliotheken per se relaxter gehandhabt wird als in der Schweiz oder Deutschland. Zum Beispiel scheint niemand Taschen oder Sachen abzugeben, bevor er oder sie eine australische Bibliothek betritt. Man sollte nicht sofort schliessen, dass gerade die sozial inklusive Rolle in der Schweiz oder Deutschland genauso gut von den Bibliotheken übernommen wird.) Dieser Habitus zieht im Vergleich zu einer ähnlichen Veranstaltungsform – nämlich eine offene Gruppe zum Hacken von Hard- und Software – weit andere Personen an, als der Hackerspace, welcher solche Runden selbstverständlich – wie quasi jeder andere Hackerspace – auch im Programm hat.
  • Das Lernen bei Hack The Edge ist eher ungerichtet. Die Personen begreifen die Gruppe zum Teil als Ort für Projekte, teilweise als loses soziales Netzwerk. Bei Aktivitäten innerhalb der Gruppe lernen sie etwas, aber dies steht nicht im Vordergrund.

Was Bilandzic mit seinem Beispiel zeigt, ist, dass Lernen in Bibliotheken nicht stattfindet, indem der Raum Bibliothek zum Lernort umgestaltet wird. Der Raum Bibliothek mit seinem Habitus, seinem Angeboten und so weiter ist eine gute Grundlage für selbstgesteuertes Lernen, aber kein Garant für solches Lernen. (Wobei auch der Zustand, dass Menschen in die Bibliothek kommen, um alleine oder mit Menschen, die sie schon kennen, zu lernen, nicht per se schlecht ist. Es stimmt aber nicht mit dem Selbstbild vieler Bibliotheken – in Australien oft noch mehr als im deutschsprachigen Raum – als Ort, welcher Lernen motiviert, überein.) Lernmöglichkeiten müssen und können geschaffen und beständig neu initiiert werden; gleichzeitig funktionieren sie offenbar über die Freiwilligkeit der Teilnahme.

Eine gewichtige Einschränkung ist selbstverständlich, dass sich die Bibliothek in Brisbane in einer Millionenstadt, zudem einer australischen – was heisst, einer mit global gesehen wenigen sozialen Friktionen – befindet. Eventuell funktionieren solche Modelle nur in bestimmten Regionen oder Städten (die sich allerdings im deutschsprachigen Raum mit hoher Wahrscheinlichkeit auch finden), eventuell benötigen sie eine bestimmte Anzahl von Personen, um sich ständig zu erneuern. Wichtig scheint mir an dem Beispiel und dem Text aber vor allem, dass der Autor die Grenzen selbst der bestausgestatteten Lernorte (oder auch Makerspaces) benennt und erfolgreich versucht zu klären, wie mit diesen umgegangen werden kann.

Das Unbehagen mit der Informationskompetenz

Es gibt ein Unbehagen mit der Informationskompetenz, eines das langsam, aber merkbar zunimmt und nicht weggeht mit der Zeit. Dieses Unbehagen äussert sich eher leise. Nicht so auftrumpfend laut wie diejenigen, welche Informationskompetenz in den letzten Jahren zu einem ihrer Hauptthemen gemacht haben. Denn die gibt es auch, fraglos. Das Handbuch Informationskompetenz [Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hrsg.) / Handbuch Informationkompetenz. Berlin: de Gruyter, 2012] beispielweise ist voll von solchem lauten Auftreten; auch die Vorträge zum Thema auf den Bibliothekskongressen (egal in welchem der deutschsprachigen Länder) sind immer voll und werden beherrscht von Vortragenden, die sehr klar ihre Meinung sagen. Und viele, viele hören zu. Kritik gibt es, wenn überhaupt, an den Umsetzungen. Es sieht dann auch oft gut aus: Immer mehr Angebote, Kurse, welche in die Curricula von Hochschulen eingebunden werden, steigende Zahlen von Teilnehmenden, Nachfragen von ausserhalb der Bibliotheken, Erklärungen zur Informationskompetenz von Forschungsfördereinrichtungen und politischen Gremien werden berichtet.

Meeeeeeeeeh.

Aber wer einmal genauer hinhört, spürt meines Erachtens doch ein wachsenden Unbehagen.

  • Immer wieder hört man auf den Gängen der Bibliotheken, in den Ausbildungseinrichtungen, in den privaten Gesprächen zwischen bibliothekarisch und bibliothekswissenschaftlich Tätigen Zweifel daran, dass Informationskompetenz wirklich so wichtig ist, wie es gehandelt wird. Ist es nicht eher doch ein kleiner Teilbereich bibliothekarischer Arbeit? Ist es nicht eher ein Nebenschauplatz, der gross geredet wird?
  • In diesen Gesprächen klingt von Zeit zu Zeit der Zweifel an, ob das, was als Informationskompetenz beschrieben wird, wirklich etwas ist, was Bibliotheken vermitteln könnten und sollten. Ist nicht das, was Bibliotheken tun, heute mehr und strukturierte Rechercheschulungen durchzuführen? (Was nicht schlimm ist, aber: Ist das wirklich Informationskompetenz? Ist das nicht etwas zu hoch gegriffen?)
  • Von den Öffentlichen Bibliotheken her klingt unter der Hand immer wieder die Frage, ob es sich bei der Informationskompetenz nicht um ein Konzept handelt, dass vielleicht für Wissenschaftliche Bibliotheken wichtig wäre, aber: Ist es für Öffentliche Bibliotheken interessant?
  • In den Ausbildungsgängen (die ja wohl alle mindestens einen Kurs [ein Modul, ein Seminar etc.] zu diesem Thema eingerichtet haben) erntet man von den Studierenden immer mehr ein müdes, abwehrendes Lächeln, wenn man das Thema anspricht; eines das zu sagen scheint: „Ja ja, schon gehört. Informationskompetenz. Aber das überzeugt uns nicht mehr. Erzähl was neues, bitte.“
  • In den Redaktionen bibliothekarischer Zeitschriften und den Gremien, die Abschlussarbeiten zulassen; in den Vereinigungen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, welche Konferenzen und Weiterbildungen organisieren; in den losen Netzwerken wird; so hört und sieht man; immer wieder einmal mit den Augen gerollt, wenn das Wort fällt. Sicher: Die Artikel werden nicht abgelehnt, die Abschlussarbeiten zugelassen, die Vorträge abgenickt, die Weiterbildungen angeboten. Doch es scheint, als wäre langsam aber sicher die Luft raus aus dem Thema. Die Anekdoten zu diesem Unwollen häufen sich, auch wenn sie nicht offen berichtet werden.
  • Und wieder ein anderer Teil der Kolleginnen und Kollegen möchte gleich weiter. Informationskompetenz sei nicht mehr ausreichend, Datenkompetenz muss es sein – was gute Gründe hat (Wachstum der Forschungsdaten, Open Data etc.). Oder halt an die Kompetenz muss noch mehr angedockt werden, zum Beispiel mit ordentlichem wissenschaftlichen Arbeiten und nicht nur Recherchieren (was eigentlich eh Teil der Information Literacy ist, aber „in der Übersetzung“ am Anfang der Debatten um Informationskompetenz im deutschsprachigen Raum „irgendwie“ verschwunden ist).

Remember 2000: Wir werden unnötig.

Ist das nur mein Eindruck? Ich denke nicht. Was ist den passiert in den letzten Jahren? Anfang der 2000er Jahre kam das Thema Informationkompetenz auf, wurde gross beworben, in den Bibliotheksalltag integriert. Es sei, so tönte es, ein Konzept aus den englischsprachigen Bibliothekswesen. (Das stimmt so nicht. Die Übersetzung von Literacy ist nicht Kompetenz und das aus einem guten Grund: Das sind zwei unterschiedliche Konzepte. Auch wurde bei der „Übersetzung“ in die deutschsprachigen Bibliothekswesen einiges auf der Strecke gelassen, insbesondere die Fähigkeit zum Verarbeiten von Informationen. Aber so recht schien das niemand zu interessieren. Vielleicht hat es auch niemand richtig nachgeprüft.) Das Konzept sollte in gewisser Weise die Bibliotheken retten. Sie würden bald untergehen: Stichwort Digitale Medien, Buchverkauf übers Internet, immer schnelleres Studium. Studierende würden diese Kompetenz benötigen, so tönte es weiter, ansonsten würden sie im Studium nicht mehr bestehen können; würden nicht mehr wissenschaftlich arbeiten können. Und zudem seien Bibliotheken der Ort, wo diese Kompetenz schon angesammelt sei und angeboten werden könnte. (Wieder hat kaum jemand bemerkt, dass von Anfang an davon geredet wurde, dass Informationskompetenz vermittelt werden soll, obgleich der Witz an Kompetenzen in der Pädagogik eigentlich ist, dass sie nicht vermittelt, sondern von den Lernenden aufgebaut werden. Aber vielleicht wollte wieder nur niemand genau hinschauen.) Immerhin: Die Argumentation klang gut.

Unterfüttert wurde sie damals auch noch mit der Panik, welche die PISA-Studien ausgelöst hatten; obgleich in diesen Studien nicht wirklich etwas über Informationsnutzung etc. stand. Aber damals, 2002, 2003, konnte man fast alles mit den PISA-Studien begründen, ohne das es einen richtigen Zusammenhang zu diesen geben musste. Heute tauchen die Studien kaum noch in den Debatten auf.

Nun, einige Jahre später, wie sieht die Realität aus? Es gibt an fast allen grösseren Wissenschaftlichen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum Personen, die für Informationskompetenz zuständig sind; oft sind diese Stellen mit sehr engagierten Kolleginnen und Kollegen besetzt. Ebenso gibt es an den meisten dieser Bibliotheken strukturierte Angebote für Studierende und zum Teil auch für Forschende unter diesem Motto. Teilweise gibt es auch Kurse, die im Studium integriert wurden.

Aber: Ist es das wirklich, was versprochen wurde?

Was ist eigentlich wirklich passiert?

Zum ersten: Entgegen der Panik, die noch vor einigen Jahren verbreitet war, sind Bibliotheken nicht untergegangen. Sie haben sich verändert, sind zum Beispiel zur Verwalterinnen von elektronischen Medien, von Lizenzverträgen und ähnlichem geworden. Sie sind ebenso (wieder einmal) zu Lernorten geworden, nicht so sehr bezogen auf ihr eigenes Programm, sondern als Ort, an den immer mehr Studierenden hingehen, um selbstständig zu lernen. Alles anstrengend, aber der ganz grosse Kladderadatsch, der angekündigt wurde, kam nicht. Er wird auch nicht kommen.

Zum zweiten: Obgleich die Zahlen der Teilnehmenden in den Kursen gestiegen sind, herrscht doch immer mehr der Eindruck vor, dass es das im Grossen und Ganzen dann auch war. Sicher: Ein paar Studierende oder junge Lehrende lernen mehr mit Informationen etc. umzugehen. Aber nicht nur in Bibliotheken scheint sich der Eindruck durchzusetzen, dass das nicht heisst, dass Informationen im Allgemeinen besser genutzt würden; schon gar nicht die, welche über die Bibliotheken zugänglich gemacht wurden. Die vorhandene Informationskompetenz bei den Studierenden und Lehrenden steigt gar nicht so sehr, wie man sich das erhoffte. Gleichzeitig ahnt man, dass sie vielleicht auch gar nicht so wichtig war, wie man sich als Bibliothekswesen das selber eingeredet hatte. Alle sagen was Nettes über die Bibliothek und deren Anstrengungen, alle rollen die Augen, wenn sie davon berichten, dass Studierende (oder zumindest die anderen Studierenden) „nur noch Google benutzen“ würden; aber so Recht scheint sich das auf die Noten der Studierenden oder auch die wissenschaftlichen Arbeiten nicht niederzuschlagen.

Und drittens: Die Zweifel mehren sich, dass das, was die Bibliotheken über Informationskompetenz sagen, von anderen Einrichtungen auch so geteilt wird. Sicher: Es gibt einige Studiengänge – weil die Bibliotheken persistent darauf gedrängt haben – in denen Studierende Kurse in Bibliotheken besuchen müssen. Aber einen Diskurs ausserhalb der Bibliotheken, in den Studiengängen und Forschungsrichtungen (und seien es nur die Erziehungswissenschaften) über diese Informationskompetenz – die ja, so die Behauptung der bibliothekarischen Debatten, eine Grundkompetenz sein soll – gibt es immer noch nicht. Sicher: Ein wenig Google-Gedisse, ein wenig „ja ja, die Studierenden recherchieren nicht richtig“ hört man. Aber ansonsten agiert zum Beispiel die Medienpädagogik konsequent an den Bibliotheken vorbei.

Und viertens: Bis heute hat sich die bibliothekarische Debatte darauf kapriziert zu beschreiben, wie die jeweiligen Schulungen organisiert und durchgeführt; wie deren Notwendigkeit den Lehrenden in den Hochschulen oder gleich den Hochschulen selber verständlich gemacht; wie die Studierenden (und manchmal auch die Forschenden) erreicht werden können; gleichzeitig wurden zahllose (zumeist ungetestete und eher prekär hergeleitete) Standards beschrieben (die sich aber, weil es so viele sind, oft auch widersprechen) und zudem immer wieder gegenseitig erklärt, dass Bibliotheken wichtig für Informationskompetenz seien. Nur: was bislang nicht gezeigt wurde, meiner Meinung nach auch nicht untersucht, ist, ob die Fähigkeiten, die als Informationskompetenz umschrieben werden, wirklich für die Studierenden oder jungen Forschenden notwendig wäre.

Ist das alles wirklich so wichtig?

Mich irritiert der vierte Punkt sehr, schon länger. Die Vorstellung ist, dass Studierende und Forschende heute mit Informationen anders umgehen müssten, um erfolgreich in Studium und Forschung zu sein. Das Bestimmen, Finden, Auswählen und Interpretieren der jeweils besten Information sein eine Voraussetzung dafür. (Sehen wir einmal davon ab, dass der letzte Punkt, nämlich das Interpretieren, selten Inhalt der Kurse in Bibliotheken ist.) Deshalb muss ihnen das jemand beibringen und diese jemands seien die (Hochschul-)Bibliotheken.

Mir scheint das ein grundsätzliches Verkennen der Realität in Studium und Forschung zu sein. (Was auch deshalb absurd ist, weil die meisten Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in diese Debatten einmischen, selber studiert haben.) Meine Gegenthese wäre: erfolgreich studieren – und zwar auf der Ebene von Bestnoten – kann man auch mit passenden Informationen, die im Studium zusammengegoogelt, mehr zufällig in Katalogen oder erst in den Abschlussarbeiten einigermassen systematisch gefunden werden. Die Suchwerkzeuge sind heute gut genug, um sogar mit weniger Aufwand passende Informationen zu finden. Besser recherchieren zu können oder gar kritischer ist eine nicht notwendige Fähigkeit für das Bestehen des Studium. Nicht, dass sie etwas schadet, aber sie bringt auch nichts für das Studium selber. (Warum? Höchstwahrscheinlich auch, weil es im Studium um etwas anderes geht, als das richtige Recherchieren.)

Wenn das stimmt, wäre es für die bibliothekarische Überzeugung schrecklich, weil: Dann bräuchte es auch keine Rechercheschulungen. Aber ich denke, es wäre realistisch.

Ebenso ist auch in der wissenschaftlichen Praxis nicht das effiektive Finden der besten Information notwendig. Durch die Projektorientierung der Wissenschaft (die dazu führt, dass die Forschenden immer mehr Multitalente werden), durch die immer grössere Zahl von Publikationsorten und der Überforderung der Qualitätssicherungssyteme, durch den ständigen Drang zur Publikation und den Drang zum „einfacher Schreiben“ (der sich u.a. darin äussert, dass Forschende ernsthaft verkünden, dass sie Texte, die länger als fünf Seiten lang sind, zu schwierig finden und deshalb nicht lesen) nimmt die reale Qualität der wissenschaftlichen Publikationen eh tendenziell ab, ohne dass dies direkt bemerkt würde, weil ja weder wissenschaftliche Streitkultur (in der man solche Fakten klar benennen dürfte) noch ausreichendes Expertinnen- und Expertentum existieren. In einer solchen Kultur reicht es vollkommen aus, wenn Forschende in der Lage sind – und das sind sie intellektuell auch ohne Rechercheschulung – eine Suchmaschine, eine freie Datenbank und einen Bibliothekskatalog zu bedienen. Alles andere ist netter Surplus, der einer wissenschaftlichen Karriere nicht schadet, aber auch nicht notwendig ist.

Auch hier: Wenn das stimmt, dann würde die Grundthese der Informationskompetenz-Diskussionen nicht stimmen. Aber wieder: Ich denke, es wäre realistischer.

Nun aber: Kann es wirklich sein, dass Bibliotheken im deutschsprachigen Raum seit Jahren quasi im Blindflug agieren und auf einer These aufbauen, die nicht belegt ist? Das mag erstaunlich erscheinen, ist es aber nicht. (Beziehungsweise: Das ist nicht ohne historisches Vorbild.) Mir scheint eher, dass innerhalb des bibliothekarischen Diskurses eine verstärkender Effekt eingetreten ist: Da immer wieder in Texten zur Informationskompetenz auf diese Grundthese – mehr Informationskompetenz ist notwendig – verwiesen wird und sich diese Texte gegenseitig zitieren, erscheint dies mehr und mehr als bewiesene oder zumindest selbsterklärende Aussage. Nur ist sie weder selbsterklärend noch bewiesen.

Was nötig wäre an dieser Stelle wäre wohl eine klare Untersuchung, welche Fähigkeiten – sagen wir gar nicht erst Kompetenz am Anfang – wirklich zu einem besseren Studium oder einer besseren wissenschaftlichen Arbeit notwendig sind. Und zwar nicht aus Sicht der Bibliotheken, da kommt immer wieder das gleiche raus (nämlich das, was die Bibliotheken anbieten können [das wird eh beständig getan, siehe z.B. kürzlich Tappenbeck, Inka (2013) / Vermittlung von Informationskompetenz an Hochschulbibliotheken: Praxis, Bedarfe, Perspektiven. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 37 (2013) 1, 59-69 und Kiszio, Blanche ; Favre, Nathalie & Ding, Sandrine (2013) / Ein neues Online-Tutorial zur Förderung von Informationskompetenz: ein Praxisbericht. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 73 (2013) 1, 11-114 die genau das wieder einmal taten und deshalb auch die zu erwartenden Ergebnisse erhielten]), sondern aus der Realität. Vergleichen wir doch einmal die guten und die weniger guten studentischen Arbeiten: Welche Fähigkeiten im Bezug auf den Umgang und die Suche von Informationen führen denn zu besseren oder weniger guten Arbeiten? Nachdem ich selber eine gute Anzahl von unterschiedlich guten studentischen Arbeiten gelesen habe, würde ich behaupten, die Informationskompetenz von der Bibliotheken sprechen, ist es nicht. Sicherlich gibt es einige sehr sehr gute Arbeiten, die auch sehr gut und kritisch mit Informationen umgehen. Aber für eine sehr gute Arbeit (also eine 6 in der Schweiz beziehungsweise eine 1,0 in Deutschland) ist das nicht notwendig. Die wird oft auch mit Hilfe von Quellen erreicht, die eher zufällig gefunden wurden. Ähnliches gilt für wissenschaftliche Arbeiten, die ich gelesen habe. Es ist meiner Meinung nach nicht notwendig, gut mit Informationen umzugehen, um eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Gehen wir doch einfach mal und schauen, was die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Forschenden so mit Informationen machen; wie die genau arbeiten (nicht was sie sagen, wenn sie von den Bibliotheken, mit denen sie zusammenarbeiten, gefragt werden, was vielleicht wichtig und gut wäre, sondern was sie wirklich tun, wenn sie Texte schreiben, Projekte entwerfen etc.). Zu oft habe ich dieses wissenschaftliche Arbeiten in den letzten Jahren live beobachtet, als das ich einfach davon überzeugt werden könnte, dass es überhaupt so etwas wie Informationskompetenz bedarf, um erfolgreich in der Wissenschaft zu sein. Ein funktionierender Internetanschluss, eine Bibliothek mit Fernleihe und vielen Lizenzen – das ja; aber die Fähigkeiten ordentlicher und kritischer Recherche – nein.

Jessa Lingel und danah boyd haben desletztens die Informationsflüsse und -praktiken in der Extrem Body Modification Scene untersucht [Lingel, Jesse & boyd, danah (2013) / „Keep it secret, keep it save“ : Information poverty, information norms, and stigma. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology 64 (2012) 5, 981-991] und dabei wenig überraschend festgestellt, dass es die kontextangepasste Informationssuche ist, die relevant für die gesellschaftliche Praxis innerhalb dieser Szene ist; wobei es nicht um die richtigen oder effektiv zu findenden, sondern die passenden und über mehrfache Codes und Zugänge abgesicherten vertrauenswürdigen Informationen geht, die relevant für das Handeln in dieser Szene werden. Solche Untersuchungen über die tatsächlich erfolgreich genutzten Informationen und Informationsstrategien von Studierenden und Forschenden (gerade auch erfolgreichen) fehlen einfach; dabei sollten sie die Basis von Debatten über Informationskompetenz sein, auch wenn das Ergebniss sein könnte, dass diese Formen der Informationsnutzung nichts mit Bibliotheken zu tun haben.

Informationskompetenz. Nichts dagegen, aber…

Um es noch einmal klar zu sagen: Nichts gegen die Kolleginnen und Kollegen, die engagiert und aktiv im Bereich Informationskompetenz tätig sind. Nur scheint mir je länger je mehr Informationskompetenz eine relativ fixe Idee eines Teils des Bibliothekswesens geworden zu sein, dessen Entstehen mehr mit einer historischen Situation und weniger mit einer realen Anforderung von ausserhalb der Bibliotheken zu tun hatte.

Es ist gar nicht so, dass etwas gegen Recherecheschulungen, in welcher Form auch immer, zu sagen wäre. Aber nicht nur bei mir scheint sich ein Unbehagen aufgebaut zu haben mit den Jahren. Wird hier nicht in eine Themenbereich investiert (und zwar sowohl intellektuell als auch personell und materiell), der nicht halb so wichtig ist, wie es behauptet wird? Wird hier nicht von Bibliotheken ein Diskurs geführt – der auch an die Ausbildungeinrichtungen herangetragen wird – der andere Diskurse und Entscheidungen, die notwendig wären, überdeckt? Ist das alles realistisch oder sind die Bibliotheken nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Wette eingegangen, die sich als immer weniger zu gewinnen herausstellt? Ist das Getöse um Informationskompetenz nicht auch so gross, weil es gerade prekär ist und nicht so untermauert, wie es eigentlich bei der vorgeblichen Wichtigkeit des Diskurses sein sollte? Sollten wir nicht vielleicht nochmal zum Anfang zurück und fragen, was das eigentlich wirklich sein soll und ob es wirklich sinnvoll ist – sinnvoll nicht für Bibliotheken und deren Zukunftssorgen, sondern den Studierenden und Forschenden, um die es angeblich gehen soll?

Nein…? Na gut. Aber dann wird das Unbehagen wohl einfach so ansteigen und vielleicht das Thema irgendwann einfach liegen gelassen werden. (Auch das wäre nicht ohne historisches Vorbild.)

Schulbibliotheken in Berlin, 2013

Anbei die Ergebnisse einer Recherche zu Schulbibliotheken in Berlin, die ich jedes Jahr seit 2008 im April durchführe. Weiter unten finden sich die Verweise zu den Darstellungen der vergangenen Jahre, in denen auch auf die Methodik der Recherche und ihre Grenzen eingegangen wird. Die Recherche im Jahr 2013 war ein Zwischenschritt, Ziel ist es, eine mindestens zehnjährige Datenreihe zu erhalten.

Grundsätzlich ist die Zahl der Schulbibliotheken in Berlin leicht gestiegen, mit dem grössten Zuwachs bei den Grundschule, und moderate Zuwächsen in den anderen Schulformen. Nur in den Gymnasien scheint eine Stagnation eingetreten zu sein. Schulbibliotheken sind weiterhin in einer grossen Minderheit der Schulen in Berlin (34,7%) zu finden.

Bemerkenswert ist, dass die Sonderschulen in Berlin jetzt nahezu alle in inklusive Schulen umgewandelt wurden, was sich auch auf die Verfügbarkeit an Schulbibliotheken niederschlägt, die für Schülerinnen und Schüler dieser Schulen steigt. Zudem ist terminologisch zu beobachten, dass sich weiter unterschiedliche Bezeichnungen für Schulbibliotheken etabliert haben (u.a. Lernwerkstatt oder Lesezelt), allerdings kaum die in der bibliothekarischen Literatur der 1990er und 1980er als modern angepriesene Bezeichnung Mediothek, welche den Begriff Schulbibliothek ersetzen sollte.

Lausanne, 12. April 2013

Tabelle_2013
Auswertung Teil 1.

Auswertung, Teil 2
Auswertung Teil 2.

Darstellung der Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin, 2008-2013 (Die Schultypen Haupt-, Real- und Gesamtschule wurden im Untersuchungszeitraum aufgelöst und in den Schultyp 'Integrierte Gesamtschule' überführt).
Darstellung der Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin, 2008-2013 (Die Schultypen Haupt-, Real- und Gesamtschule wurden im Untersuchungszeitraum aufgelöst und in den Schultyp ‚Integrierte Gesamtschule‘ überführt).

Recherche als PDF. Schulbibliotheken in Berlin, 2013

Siehe auch

Jemand macht Geld mit Google Books. Ist das schlimm?

Gleich im ersten Fachbeitrag der aktuellen B.I.T. Online behauptet Clemens Alexander Wimmer, dass sich die Bibliotheken, welche mit Google Books zusammenarbeiten, abschaffen würden. (Wimmer, Clemens Alexander (2012) / Die Bibliothek schafft sich ab oder wie Goole books zu Geld werden. In: B.I.T. Online 15 (2012) 4, 315-328) Das ist eine gerne einmal aufgestellte Behauptung, die sich trotzdem bislang nicht bewahrheitet hat. Bei diesem speziellen Artikel scheint mir aber zudem auch ein Unverständnis im Bezug auf Freie Daten vorzuherrschen. Wobei der Text selber nicht uninteressant ist.

Fakt: Google verdient Geld

Wimmer beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich mit den Büchern passiert, die Google digitalisiert. Zwar spricht er auch die bekannten Kritiken am Google Books Dienst an, sowohl die richtigen (vor allem, dass die Bibliotheken, welche Verträge mit Google schlossen, diese nicht veröffentlichen) als auch die komischen (dass Google zu den Medien keine bibliographischen Daten liefert, wobei nicht klar ist, wieso das die Aufgabe von Google sein sollte, schliesslich geht die Firma bei der Erschliessung von Dokumenten schon immer andere Wege als Bibliotheken). Darüber hinaus macht Wimmer aber vor allem ein Geschäftskonzept hinter Google Books aus, beziehungsweise mehrere.

Google ist keine gemeinnützige Organisation, die zum Wohl der Menscheit kostenlose E-books anbietet. Vielmehr verkauft Google Produkte und Dienstleistungen. Zu diesem Zweck sammelt Google Buchtitel und Digitalisate ebenso wie Daten von Internetnutzern. GBS [Google Book Suche, K.S.] ist ein gigantischer Versandhauskatalog, der zu jedem gefundenen Buch gewöhnlich mehrere Bestell-Links zu Firmen bietet. Diese Firmen gehören zu den Kunden, die Google finanzieren. (Wimmer 2012, S. 318)

Die Argumentation, dass Google eine Firma sei, die Geld verdient, wird im Zusammenhang von Bibliotheken und Google Books desöfteren angeführt. Einerseits ist das richtig, andererseits bleibt unklar, was daran eine Kritik wäre. Unternehmen, solange sie nicht als gemeinnützige konstituiert sind, sind als Organisationen dazu da, Gewinne zu erwirtschaften. Sowohl Wimmer als auch viele andere, die dieses Argument anführen, lassen Ausführungen dazu vermissen, wieso gerade dieser Fakt problematisch wäre. Auch Firmen, die Bibliotheken propreitäre Bibliotheksysteme lizenzieren sind Organisationen, die Geld verdienen wollen, ohne das daran wirklich Anstoss genommen würde.

Fakt: Firmen machen was mit Dingen

Der interessante Teil des Artikels von Wimmer beschreibt, wie Firmen (versuchen) mit den Digitalisaten von Google Books Geld zu machen. Im Grossen und Ganzen: Mit Nachdrucken. Wimmer stellt verschiedene Firmen vor, die mit unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichem Aufwand aus Digitalisaten, welche seiner Meinung direkt von Google bezogen würden (weil sie zumeist nicht vollständig in Google Books frei verfügbar seien), wieder Bücher machen.

Diese Verlage versuchen zumeist, über Quantität zu punkten, also möglichst viele gemeinfreie Bücher „nachzudrucken“, und setzen dabei oft auf eine möglichst billige Produktionsweise. (Irgendein Cover vorne drauf, eine generische Impressumseite, das Digitalisat, alles gebunden – et voilà, fertig ist das Buch.)

Wimmer stellt auch heraus, dass einige wenige dieser Verlage mit grösserer Sorgfalt vorgehen, eindeutige Auswahlen vornehmen et cetera. Aber er hat selbstverständlich Recht, darauf zu verweisen, dass solche Billig-Druck-Firmen ein Ärgerniss darstellen. Allerdings ist die Frage: Stellen sie wirklich mehr dar, als ein Ärgerniss? Sind sie wirklich, wie Wimmer behauptet, in Zusammenhang mit Google Books der Anfang vom Ende der Bibliotheken?

Auch Bibliotheken machen was

Die letzten Frage würde ich zweimal verneinen. Erstens zeigt Wimmer selber, dass auch die Bibliotheken, welche Geheimverträge mit Google geschlossen haben, nicht alles aus der Hand geben. Offenbar erhalten sie – zumindest in den USA – ebenfalls Digitalisate der Bücher, die aus ihrem Bestand kommen. Im Hathi Trust sind der Grossteil dieser Bestände zusammen als eine Digitale Bibliothek verfügbar und neu erschlossen (wenn auch nach der Meinung Wimmers in teilweise geringerer Qualität als bei Google Books).

Ausserdem werden seit Jahren Digitalisate von Google Books ins Internet Archive – genauer ins Unterprojekt Open Library – übertragen, wenn auch, wie Wimmer zurecht irritiert feststellt, mit kaum erklärbaren Qualitätsunterschieden. Das ist zwar keine Bibliothek, aber halt auch keine rein gewinnorientierte Firma.

Sicherlich ist es ärgerlich, dass Google selber nicht klarmacht, wie entschieden wird, welche Digitalisate welcher Bücher in welcher Qualität und Auswahl wann zugänglich sind. Gerne hätte man mehr Planungssicherheit, hingegen agiert Google eigenständig, stellt Digialisate nicht nur ein, sondern nimmt sie auch mal wieder aus dem Angebot heraus. Aber: Das macht eine Firma aus. Sie darf, solange sie nicht gegen Gesetze verstösst (okay, dass ist bei der Frage, ob Google nicht Copyright-Reglungen gebrochen hat mit Google Books, eine etwas defizille Aussage) und keine Verträge bricht, das Firmeneigentum so einsetzen, wie es gerade gewünscht ist.

Was ist nochmal das Problem?

Und genau hier liegt das Problem bei dem Artikel von Wimmer. Er skandalisiert etwas, was kein Skandal ist. Eine Firma agiert wie eine Firma. (Zumal er sich auch zu Behauptungen aufschwingt, die so richtig nicht sein müssen. So postuliert er, dass Firmen für die Verlinkungen bei Google Books gesondert zahlen würden, obgleich das auch einfach über das „normale“ AdWord-Programm per geklicktem Link geschehen kann.)

Einige Firmen verwenden gemeinfreie Digitalisate, um daraus neue Produkte zu machen und diese zu verkaufen. Diese Produkte sind oft von geringer Qualität. Aber so ist das mit freien Daten: Alle können damit erstmal machen was sie wollen. Egal ob die Daten zur Verbesserung der Welt genutzt werden, zur künstlerischen Auseinandersetzung oder zum Geldmachen – das ist alles möglich. Genauer: Daten werden auch freigestellt, damit neue Produkte und Geschäftswege gefunden werden können. Diese Produkte müssen einem nicht gefallen, dass ist richtig. Aber so funktioniert der Kapitalismus nun mal: Es wird auch viel Unsinn gemacht. Nicht nur, aber eben auch. Und man selber – ob jetzt als Person oder als Institution Bibliothek – muss damit umzugehen lernen. Wir zahlen ja auch Steuern, damit Strassen unterhalten werden, auf denen dann zu Gewinnzwecken komische Güter transportiert werden, die vielleicht kein Mensch braucht – aber das ist das unternehmerische Risiko.

Wimmer postuliert hingegen folgendes:

Dass die Bestände öffentlicher [sic!] Bibliotheken an Firmen zur kommerziellen Verwertung übergehen, ist eine Fehlentwicklung. Es entspricht nicht dem Auftrag öffentlicher [sic!] Bibliotheken, Unternehmen zu ermöglichen, mit ihren Ressourcen Geld zu verdienen. […] Diejenigen Bibliotheken, die ihre Bestände in die Hände von Google gegeben aben, tragen damit zur Schwächung und Marginalisierung aller Bibliotheken bei. (Wimmer 2012, S. 328)

Das stimmt nicht. Es ist nicht die Aufgabe von Bibliotheken zu schauen, was Menschen oder Institutionen mit den Beständen machen. Einige Leute lernen aus Beständen, wie man Geschäfte eröffnet und führt und machen dann mit den Geschäften Geld – und niemand würde sie dafür verdammen, vielmehr würde darauf verwiesen, welchen Beitrag Bibliotheken zur wirtschaftlichen Entwicklung leisten können. Oder genauer: Es ist sehr im Auftrag von Öffentlichen Bibliotheken enthalten, dazu beizutragen, dass Firmen Geld verdienen. Man muss es nicht mögen, aber eine der Hauptthesen der kapitalistischen Gesellschaft ist nun einmal, dass die unternehmerischen Aktivitäten zur Dynamik und Verbesserunng der Gesellschaft beitragen – persönliches Gewinninteresse führt zu einer besseren Gesellschaft, Liberalismus par excellence. (Wie gesagt: Dem kann man widersprechen, sehr gut sogar und ich mache da auch gerne mit. Aber darum scheint es Wimmer gar nicht zu gehen.)

Selbstverständlich dürfen Bestände in einem solchen Prozess nicht beschädigt und vernichtet werden; aber gerade das tut Google Books ja auch gar nicht. Die Bestände werden digitalisiert und dann – offenbar mit „Bibliotheksdigitalisaten“ – wieder an die Bibliotheken zurückgegeben. Das danach etwas mit den Digitalisaten geschieht, was nicht von den Bibliotheken kontrolliert werden kann, ist im Auftrag der Bibliothek angelegt. Es wäre ein Skandal, wenn die Bestände danach nicht mehr benutzt werden, weggesperrt würden. Aber – das ist ja die Schönheit der digitalen Kopie – das Original ist danach immer noch da (und vielleicht nicht mal das beste Stück der Reihe, vgl. von Gehlen, Dirk (2011) / Mashup : Lob der Kopie (edition suhrkamp, 2621). Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011.)

Insoweit ist auch der zweite Teil der These irritierend. Warum sollten Bibliotheken „zur Schwächung und Marginalisierung aller Bibliotheken“ (Wimmer 2012, S. 328) beitragen, wenn sie mit Google Books zusammenarbeiten? Schaffen sich dann auch Statistische Ämter ab, wenn sie statistische Daten zur freien Nutzung bereitstellen? Das wird im ganzen Text nicht klar. (Sicherlich tragen sie mit ihrem Einverständniss in geheime Verträge dazu bei, intransparente Praktiken bei öffentlich finanzierten Einrichtungen akzeptabler zu machen. Das ist zu kritisieren, aber auch darum scheint es Wimmer nicht vorrangig zu gehen.) Glaubt Wimmer, das jetzt weniger Menschen in die Bibliothek kommen? (Was nicht unbedingt schlecht für die alten Bestände wäre, wie wir wissen.) Glaubt er, dass Funktionen von Bibliotheken an andere Einrichtungen (i.e. Google) übergehen? Das müsste er (a) erst einmal zeigen und (b) nachweisen, dass das schlecht ist und nicht einfach eine weitere funktionale Differenzierung innerhalb der Gesellschaft. Bislang scheint es so, als würden Bibliotheken (ausser beim Thema Geheimverträge) genau das machen, wofür sie da sind: Der Gesellschaft Sammlungen zur Verfügung stellen. Was die Gesellschaft damit macht – und wenn es Geld ist – ist eine gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, nichts Negatives.

Insoweit scheint mir im Artikel von Wimmer eine interessante Beschreibung von Geschäftsprozessen rund um Google Books vorzuliegen, aber die angebrachte Kritik am Handeln von Bibliotheken auf einer Vorstellung zu beruhen, dass einmal gemeinfreie Werke, die in Bibliotheken angekommen sind, keinen kommerziellen Interessen dienen dürften. Das ist nicht richtig. (Gemein)frei Daten können selbstverständlich auch zur Produktion von Gewinn (Wenn er den überhaupt eintritt. Wir wissen nicht, wie viel die Nachdruckverlage verdienen, nur dass sie, wie Wimmer richtig bemerkt, noch nicht eingegangen sind, sondern vielmehr immer mehr Produkte auf den Markt werfen.) genutzt werden. Wem das nicht passt, der oder die muss die Gesellschaft sehr radikal ändern, aber – nochmal – darum scheint es Wimmer nicht zu gehen.

Problematisch wäre, wenn die gewinnorientierte Nutzung die weitere freie Verwendung von Daten – beziehungsweise hier Digitalisaten – verhindern oder einschränken würde. Das ist richtig, aber genau das passiert ja nicht. Die Bibliotheken können mit den Bibliotheksdigitalisaten machen, was sie wollen (inklusive eigener Nachdruckverlage, wenn sie es denn darauf anlegten); sie können weiter die Bestände vor Ort anbieten und auch selber weiter Digitalisieren.

Zur Museumspädagogik als Vorbild (oder nicht) für Bibliotheken

Auf dem Deutschen Bibliothekstag in Hamburg stellte Bernd Schmid-Ruhe, Leiter der Stadtbibliothek Mannheim, unter anderem die These auf, dass Bibliothekspädagogik nicht wie Museumspädagogik (im Sinne der Lehre von der Vermittlung des Sammlungsgutes) funktionieren könnte. Ich habe dem auf der Veranstaltung widersprochen. Für mich ist die moderne Museumspädagogik ein gutes Vorbild für Bibliotheken. Aber ich vermute, dass die Differenz auch darin besteht, dass wir unterschiedliche Sachen meinten.

In Villach – der kärntnerischen Stadt, in welcher gerade der Österreichische Bibliothekskongress stattfand (so schliesst sich der Kreis gleich wieder) – findet sich das Museum der Stadt Villach, welches diese Differenz geradezu verkörpert. Es gibt dort eine Dauerausstellung, die sehr traditionell gehalten ist und so aussieht, als sei sie spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr geändert worden und eine Wechselausstellung – zur Zeit zur Geschichte des Adriaurlaubs – welche den Grundzügen der modernen Museumspädagogik folgt. An diesem Beispiele würde ich gerne kurz den Unterschied darstellen.

Grundsätzlich ist die „alte“ Museumspädagogik tatsächlich wenig als Vorbild geeignet, während die „neue“ sich einer Aufgabe annimmt, der sich auch Bibliotheken stellen müssen, nämlich Informationen an Personen zu bringen, die sich dafür selber interessieren müssen und sich lieber nicht reinreden lassen wollen.

Der Paracelsusraum: Alte Museumspädagogik

Beginnt man zum Beispiel im Erdgeschoss den Rundgang durch die ständige Ausstellung, steht man direkt im Paracelsus-Raum. Warum gibt es einen Paracelsus-Raum in Villach? Wer oder was war Paracelsus? Das verrät einem niemand. Es wird in gewissem Masse einfach vorausgesetzt, als würde es zum allgemeinen Wissen gehören. Das ist in Museum mit älteren Ausstellungen öfter zu sehen: Es wird einfach ein sehr hoher Wissensstand, der zudem auch noch bei allen, die ein Museum besuchen, ähnlich sein soll, vorausgesetzt. Das Museum gilt als Illustration von Geschichte, aber die Geschichte selber wird kaum erzählt.

Die Auflösung übrigens: Paracelsus – das mag vielleicht noch bekannt sein – war einer der einflussreichsten Ärzte am Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Er ist mit seinem Wirken dafür mit verantwortlich, dass die Medizin sich den wissenschaftlichen Methoden zu wandte. Selbstverständlich war er das nicht alleine, aber späterhin wurde er zu einem der „grossen Männer“ erklärt, um den sich dann Legenden rankten. Grosse Teile seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in Villach. Insoweit ist der Raum zu erklären. Aber man muss das erst indirekt herausfinden, an einer Wand, wo die wichtigen Städte Paracelsus‘ Leben abgebildet sind.

Der Raum selber ist eher vollgestellt mit Zeugnissen, die irgendetwas mit Paracelsus oder den Legenden um ihn zu tun haben, als das es eine wirklich Konzeption zu geben scheint. Bilder, Bücher, die zerbrochene Platte eines Steintisches, der angeblich einstmals Paracelsus gehört haben soll – obgleich man weiss, das er das nicht tat. Gerade aus dieser Platte hätte man ein interessantes, mehrschichtiges Museumsobjekt machen können: ein Tisch, der nicht Paracelsus gehörte, aber lange als seiner galt und also als sichtbarer Beweis für eine Geschichte herhalten musste, gleichzeitig ein Symbol, wie sich der historische Paracelsus und der mythische zu einer Erzählung verbanden – zumal Paracelsus in Villach nie Arzt war, also auch der Tisch keiner hätte sein können, an er irgendwelche seiner Schriften verfasst hätte – und zum Teil auch ein Objekt österreichischer (und deutscher) Geschichte, ist doch die Platte zerborsten, als die Alliierten Villach bombadierten, um die dortigen Nazis zu besiegen. Die Platte zerbirst also in einer Zeit, wo Heldenmythen, auch die um Paracelsus, völkisch aufgeladen wurden (wobei Paracelsus by the way von Geburt Eidgenosse war, was seine damalige Bezeichung als Deutscher Arzt noch interessanter macht). Eine letzte Ebene wäre dann die Verwendung der Platte im Museum selber, wo sie irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg hingebracht wurde, praktisch unkommentiert. Eine moderne Museumspädagogik würde versuchen, solche Ebenen sichtbar zu machen. Die alte Museumspädagogik geht hingegen davon aus, dass es reicht, den Zusammenhang einfach räumlich herzustellen und darauf zu vertrauen, dass schon alle gebildeten Leute wissen, wer Paracelsus war und was er mit Villach zu tun hatte. Es geht in gewisser Weise nicht um das Lernen, sondern „nur“ um das Erkennen.i

Der Rest der Ausstellung ist ähnlich. Es werden vor allem Objekte präsentiert, die thematisch in einem Raum zusammengehören, aber es wird nicht mehr viel erklärt. Warum sind die Objekte hier? Wie ist ihr Zusammenhang? Das muss man raten. Zur Geschichte der Stadt Villach – die schon ihre interessanten Seiten hätte, so an der Grenze zwischen deutschem / kroatischem / slowenischem und italienischem Sprachraum und beispielsweise als Hauptstadt von Französisch-Kärnten zu Napoleons Zeiten – lernt man so gut wie nichts. Man weiss nachher, dass die Römer da waren, was aber auf der Südseite der Alpen nicht überraschend ist. Zudem weiss man vielleicht noch, dass Villach einst dem Bischof von Bamberg gehörte; aber viel mehr auch nicht. Es geht nicht um den Erkenntnisgewinn oder um die Frage, wie die Besucherinnen und Besucher irgendetwas „mitnehmen“. Es geht, wenn überhaupt, darum, zu bestimmen, welche Teile des Bestandes ausgestellt werden sollen und in welchen Räumen.

(Irritierend ist auch, dass alle Beschriftungen per Hand vorgenommen sind, aber in unterschiedlichen Schriften, was den Eindruck verstärkt, dass sie zu unterschiedlichen, gleichwohl allesamt vergangenen Zeiten angebracht wurden.)

Geschichte des Adriaurlaubs

Auf der gleichen Etage wie der Paracelsusraum, einfach kurz über den Hof, findet aktuell die Ausstellung zum Adriaurlaub statt. Diese ist erstaunlich modern.ii

Wenn man von Villach in Richtung Süden fährt, ist man in einigen Kilometern in Italien und kurz danach auch schon an der Adria. Oder aber man biegt etwas ab, dann ist man nach einigen Kilometern in Kroatien (und früher halt Jugoslawien) und auch dort bald am Meer. Gleichzeitig war früher, vor dem ersten Weltkrieg, Villach der Durchgang zur „österreichischen Adria“. Insoweit ist die Ausstellung vollkommen passend. Geht man in den ersten Raum, merkt man sofort einen Unterschied zur ständigen Ausstellung. Nicht nur, dass alles viel neuer ist, es ist auch gänzlich anders konzipiert.

Geprägt wird der Raum durch helle Säulen, vielleicht zwei Meter hoch, an einer Seite rund 70 Zentimeter breit, an der anderen vielleicht 20. Die Säulen sind thematisch angelegt. Ein Symbolbild auf der Rückseite, vorne, auf der breiten Seite (zumeist) eine Geschichte zum Thema, oft über eine spezifische Familie, die dann und dann an der Adria Urlaub machte oder über ein Hotel, dass dann und dann an der Adria existierte. Hier wird viel mit persönlichen Dokumenten (Photos, Briefe, Journale) gearbeitet. Auf der schmalen Seite dann jeweils ein längerer Text, der das Thema als historischen Überblick darstellt. Hier gibt es keine individuellen Erlebnisse zu berichten, sondern Fakten, Daten und so weiter. An den Wänden finden sich noch mehr Texte, die dann oft Individuelles und Geschichte verbinden; zudem viele Objekte, die ein Thema illustrieren, beispielsweise in der Sektion über das Italienbild der Österreicherinnen und Österreicher in den 1950er und 1960er Jahre, viele unglaublich peinliche Filmprogramme und Romanheftchen mit feschen italienischen Liebhabern und hübschen österreichischen Frauen.

Zwischendrin finden sich Videoobjekte. Sowohl die Dokumentation einer Hochzeitsfahrt in den 1920ern zur Adria als auch künstlerischen Annäherungen an das Italien- und Österreichbild und zum Thema Grenze.

Die Ausstellung selber ist chronologisch aufgestellt, beginnt also mit der touristischen Erschliessung der Adria und endet in der Jetztzeit.iii Aber es gibt keine Zwang, den ganzen Weg abzugehen. Niemand muss alles lesen, niemand muss mit viel Vorwissen in die Ausstellung gehen. Die Texte in der Ausstellung sind jeweils in sich abgeschlossen, sie liefern praktische alle Informationen, die man zu ihrem Verständnis benötigt, gleich mit. Man kann zwischen ihnen springen, man kann auch den jeweils für sich passenden Zugang wählen: Erst die Geschichte eines Reisenden Ende des 19. Jahrhunderts anschauen, dann den dazugehörigen Text? Nur die dazugehörigen Texte, weil der biographische Zugang nicht so richtig funktioniert? Nur die Geschichten? Alles möglich. Man kann sich vor die Videos platzieren und die Kopfhörer aufsetzen – oder auch nicht.

Die Ausstellung ist ein Angebot, oder vielmehr eine Sammlung von aufeinander bezogenen Angeboten, die den Besucherinnen und Besucher ermöglicht, den eigenen Lern- und Erkenntnisprozess zu wählen – wenn sie denn wollen. Sie werden ernst genommen und es wird etwas Neues erzählt, nicht einfach nur vorgeblich Bekanntes illustriert. Auffällig ist auch, dass die Ausstellung mehrfach versucht, Denkanregungen zu geben. Sie bewertet beispielsweise den Grenzverkehr zu den billigeren italienischen Märkten seit den 1950er Jahren nicht, stellt aber alle wichtigen Argumente und Entwicklungen dar. Gleichzeitig setzt sie wenig voraus, hat also zumindest die Möglichkeit, auch Menschen anzusprechen, die nicht mit dem „nötigen Vorwissen“ in das Museum kommen.

Bibliotheken

Ich sagte am Anfang, dass sich die moderne Museumspädagogik als Vorbild für Bibliotheken eignet, während die „alte“ dies nicht tut. An dieser Stelle hier sei das noch einmal kurz ausgeführt:

  • Die alte Museumspädagogik setzt unheimlich viel voraus, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein. Das Gegenbild in Bibliotheken sind solche Einrichtungen, die per se voraussetzen, dass die Nutzerinnen und Nutzer verstehen, wie Bibliotheken funktionieren, wie die Aufstellung organisiert ist, dass es ein Fernleihsystem gibt et cetera, einfach weil genügend gebildete Menschen das einfach wissen. (Beziehungsweise auch oft, weil sie nicht mehr darüber nachdenken, was ihnen selbstverständlich erscheint, aber anderen nicht.) Das funktioniert bei denen, welche dieses Wissen tatsächlich haben; aber nicht weiter.
  • Die moderne Museumspädagogik versucht, die Nutzerinnen und Nutzer möglichst zu ermächtigen: Sie werden zu eigenen Entscheidungen motiviert, ihnen werden verschiedenste Wege durch die Ausstellung (und damit auch Lernwege) zugestanden. Sie werden ernst genommen. Das Gegenbild für Bibliotheken wäre ähnlich: Die Nutzerinnen und Nutzer zu unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten der Bibliothek und des Bestandes ermächtigen, ihnen zugestehen, dass sie das selber wählen, aber sie dabei auch immer wieder unterstützen ihre Entscheidungen umzusetzen. Zudem: Immer wieder unterschiedliche Angebote machen. Die moderne Museumspädagogik zeigt, dass die auch durch eine intelligente Nutzung des Raumes geschieht, auch davon könnten Bibliotheken lernen.
  • Die alte Museumspädagogik stellt die Sammlung in den Mittelpunkt und tendenziell eine Interpretation, die moderne eher die möglichen Sichtweisen auf Sammlungen und die Nutzung durch die Besuchenden. Auch das ist für Bibliotheken eine Lernmöglichkeit. Es gab – und vielleicht gibt es sie auch noch – Bibliothek, für welche die Sammlung selber wichtiger war, als anderes. Eine moderne Bibliothek aber – die dann, wenn wir eine Parallele zum Museum ziehen, zumeist mehr besucht wird und interessanter ist – fragt sich eher danach, wie Nutzerinnen und Nutzer bestimmte Medien nutzen können (nicht unbedingt sollen) und versucht, sich daran zu orientieren.

Das ist alles etwas oberflächlich. Aber ich wollte hier nur einmal (noch einmal) dafür argumentieren, dass sich Bibliotheken, die sich damit beschäftigen wollen, wie sie Bildungsangebote entwerfen und durchführen können, die Literatur und Debatten zur aktuellen Museumspädagogik wahrnehmen sollten. Die Museen sind, wenn sie modern sind, nicht mehr die verstaubten Kammern des Wissens. In Villach kann man (noch?) direkt nebeneinander gestellt sehen, wie unterschiedlich die traditionellen und modernen Ansätze von Museumspädagogik sind, wenn sie umgesetzt werden.

 

Fussnoten

i Eine Sache noch, die viele Vorurteile über Österreich zu bestätigen scheint: Gleich das erste Objekt im Raum ist eine Relief von Paracelsus, welches von einem Bildhauer gefertigt wurde, der – zu die Beschreibung – „auch in der NS-Zeit viel beschäftigt war“. Das steht da einfach so, ohne das klar wird, ob das jetzt eine kritische Distanzierung sein soll – warum dann überhaupt das Relief aufhängen? – oder zu einer kritischen Analyse des – ehrlich gesagt eher langweiligen – Reliefs anregen? Oder ist das etwas, was man in Kärnten einfach so sagt, ohne dass daraus irgendetwas folgt?

ii Sie ist auch weit kritischer, als die kurze Erwähnung, dass jemand „auch in der NS-Zeit viel beschäftigt war“. Vielmehr wird die Einbindung des Urlaubs in das NS-System, insbesondere durch die Organisation „Kraft durch Freude“ und deren italienischem Vorbild, umfassend und in seinen Widersprüchen thematisiert – nicht vollständig, aber doch weit klarer. Die Entscheidung über die moralische Deutung müssen die Nutzerinnen und Nutzer treffen. Aber genau darum geht es ja: Nicht Meinungen vorgeben, sondern Strukturen, Fakten und Widersprüche in einer Form darstellen, die zum Weiterdenken anregt. (Nicht irgendwie voraussetzen, dass die Leute schon richtig mit dem Hinweis auf die Tätigkeit im NS umgehen werden.)

iii Dabei gäbe es auch etwas für den Teil des schweizerischen Einzelhandels zu lernen, der sich Sorgen um die Tendenz zum Kaufen auf der anderen Seite der Grenze macht: Es geht nicht zu verhindern. Aus der österreichische Einzelhandel hatte damit zu kämpfen, dass das Einkaufen in Italien und späterhin Jugoslawien billiger war. Die Kampagnen und Argumente, die damals aufgefahren wurden, sind quasi die gleichen, wie heute in der Schweiz. Die gleichen absurden Tüten, mit denen Kundinnen und Kunden verkünden sollen, dass sie lieber daheim einkaufen, gab es damals schon – nur halt in rot-weiss-rot, nicht in rot mit weissem Kreuz. Und „verschwunden“ ist das „Problem“ erst mit der Anpassung der Lebensverhältnisse und Preise.

Bourdieu für die Bibliothekswissenschaft

Die Le Monde veröffentlichte am gestrigen Dienstag, 24.01., (eigentlich einen Tag zu spät) ein vierseitiges Dossier anlässlich des zehnjährigen Todestages von Pierre Bourdieu. Reflektiert wurde, wie es sich zu solchen Jahrestagen gehört, über die Bedeutung Bourdieus für die aktuelle Soziologie und Politik, sowie zu der Frage, was er wohl heute zu sagen hätte, beziehungsweise: wie er seine Arbeiten heute fortgeführt hätte, wäre er nicht gestorben. Getan wurde das, neben einem einleitenden Artikel, von Fachkolleginnen und Fachkollegen Borudieus. Axel Honneth verortet ihn beispielsweise im Kontext zwischen Marx, Kritischer Theorie und Max Weber, Nancy Fraser diskutiert die Forschung Bourdieus zur Frauenfrage und post-industrieller Gesellschaft. Diskutiert wird eigentlich alles wichtige aus Bourdieus Werk, außer vielleicht seine frühen ethnologischen Arbeiten in Algerien.

In der Schweiz und in Deutschland bekannt ist Bourdieu wohl vor allem mit „Das Elend der Welt“ [Bourdieu, Pierre et al. (1997) / Das Elend der Welt : Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. – Konstanz : UTB. franz.: La misère du monde (1993)], einer Studie über das Leben in den Banlieus (was aber eben auch als potentielle Zukunft des Lebens im Kapitalismus verstanden wird). Das Buch ist vor allem im Le monde diplomatique Milieu bekannt und wurde gerade während der Occupy-Proteste und der Berichterstattung über diese immer wieder referenziert. Auch in der Le Monde wurde es in diesem Zusammenhang noch einmal besprochen.

Aber: Bezogen auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft scheint mir das nicht das relevanteste Werk Bourdieus zu sein. Da allerdings diese, unsere Wissenschaft erstaunlich unsoziologisch ist (ganze Zweige kommen ja damit aus, nicht über die Gesellschaft zu reden, wenn sie über Information forschen), ist Bourdieu auch nicht wirklich bekannt.

Allerdings: Gerade bezogen auf die Forschungen zu Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken und Nutzungsweisen von Bibliotheken sind zwei andere seiner Werke relevant: Die feinen Unterschiede [Bourdieu, Pierre (1982) / Die feinen Unterschiede : Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. franz.: La distinction : Critique sociale du jugement] und (zusammen mit Jean-Claude Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit [Bourdieu, Pierre ; Passeron, Jean-Claude (1971) / Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. – Stuttgart : Klett, 1971. franz.: Les étudiants et la culture und La reproduction : Eléments pour une Théorie du Systéme d’Enseigenement]. Der zehnte Todestag scheint ein guter Zeitpunkt, auf diese beiden Werke noch einmal dezidiert hinzuweisen. Ich würde argumentieren, dass man beide gelesen haben sollte, bevor man versucht, etwas über Bildungswirkungen, Habitus oder gesellschaftlichen Barrieren auszusagen.

In Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu, zusammen mit einem Team an weiteren Forschenden, eine grundlegend einfache These empirisch: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung einer Person, deren Alltagsgestaltung, kultureller und sozialer Aktivitäten. Oder anders: Die Reichen leben auf die eine Weise, die Armen auf eine andere – und das weder vollständig selbst gewählt, noch erzwungen. Es lassen sich unterschiedliche Subgruppen ausmachen; aber allen ist gemein, dass sie ihren eigenen Lebensstil als quasi natürlich ansehen. Ins Museum gehen oder nicht ins Museum gehen, gebrauchte Möbel kaufen oder handgefertigte, viel reden und aushandeln oder lieber viel schweigen: was wie eine individuelle Disposition wirkt, ist immer eine Wahl innerhalb eines sozial verorteten Rahmens.

Das ist die Grundthese, die bei Bourdieu mittels mehrere tausend Interviews (und dabei Beobachtungen der Wohnungen der Befragten) untersucht wird. Dabei geht es nicht nur darum, die These zu testen, sondern auch darum, die Befunde in einer Theorie zu erklären. Hierbei führen Bourdieu et al. die Konzepte soziales Kapital und Bildungskapital ein. Diese Konzepte sind anschließend trivalisiert worden. In der heutigen Verwendung fehlt ihnen eine wichtige Grundtendenz, nämlich die Überlegungen zur Akkumulation, Reproduktion und Transformation dieser Kapitalarten. Deshalb sollte man, neben der empirischen Herleitung, die Herleitung der Kapitalarten bei Bourdieu direkt nachlesen. Dann wird nämlich klar, dass es nicht einfach möglich ist, Kapital „nachzuschießen“, also beispielsweise einige Unterstützungsangebote für sozial Schwache anzubieten und damit Chanchengleichheit im sozialen Rahmen herzustellen. Ebenso wird klar, dass es bei sozialen Ungleichheiten größtenteils um systemische Probleme geht und nicht um individuelles Fehlverhalten.

Bezogen auf Bibliotheken bietet dieses Konzept eine viel bessere Möglichkeit, die unterschiedlichen Nutzungswiese oder Nicht-Nutzungsweisen von Bibliothek und bibliothekarischen Angeboten zu verstehen, als die zumeist aus dem Marketing geborgten Methoden.

In der Illusion der Chancengleichheit gehen Passeron und Bourdieu dem Phänomen nach, dass das (hier französische) Bildungssystem auf der einen Seite Chancengleichheit bieten soll und anstrebt, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Gleichheit der Chancen auch einigermaßen hergestellt wäre – und gleichzeitig doch Ungleichheit produziert, die sich zudem auf soziale Strukturen zurückführen lassen. Heutzutage ist zumindest der Fakt anerkannt, dass Bildungssysteme diese Ungleichheiten systematisch produzieren und dass dies eine Skandal ist. Allerdings gilt auch hier wieder: Die Erklärungsansätze sind relativ theorielos und verbleiben oft bei der Annahme, dass sozial Schwachen etwas nachgeholfen werden, gleichzeitig individuelle Aufmerksamkeit geschult werden müsse und dann würde sich das Skandalon lösen. So einfach ist das leider nicht (obgleich nichts gegen solche Unternehmungen nichts gesagt sein soll).

Passeron und Bourdieu kommen letztlich zu dem einfachen Grundsatz: Auch ein chancengerechtes System, dass in einer sozial ungleichen Gesellschaft funktioniert, produziert – weil eben keine Chancengleichheit am Beginn steht und zudem das System nicht unabhängig von der Gesellschaft agiert – Ungleichheit. Vielmehr: Durch die potentielle Blindheit (wenn diese Fakten vom System verleugnet werden und beispielsweise behauptet wird, die Schulzensuren wären für alle Schülerinnen und Schüler gleich und würden die gleichen Anforderungen stellen) verstärkt das vorgeblich gerechte Bildungssystem die bestehenden Ungleichheiten noch – ohne böse Absicht einzelner Individuen. Passeron und Bourdieu führen das schöne Beispiel des Bauernjungen an, für den in der Abschlussprüfung Nachsicht geübt wird, weil niemand der Prüfenden es ihm schwerer machen will, als unbedingt notwendig; aber gleichzeitig nicht gefragt wird, wo und wie sich dieser Bauernjunge überhaupt auf dem Weg zu dieser Prüfung in den zahlreichen Jahren zuvor durchsetzen musste.

Die Illusion der Chancengleichheit öffnet die Augen für solche unintendierten Effekte gutgemeinter Bildungsanstrengungen und Annahmen über das Lernen. Was für Schulen gilt, gilt für Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken und die dort (implizit) genutzten Annahmen über das Lernen und die vorgebliche Herstellung von Chancengleichheit bei der Nutzung von Bibliotheken, noch verstärkt.

Sichtbar ist: Beide Bücher wurden vor Jahrzehnten geschrieben, der Bezug ist Frankreich, nicht die Schweiz oder Deutschland. Und selbst in Frankreich hat sich die Situation gewandelt. (Siehe Das Elend der Welt) Zudem ist Bourdieu seit 10 Jahren tot, kann also auch nichts mehr fortschreiben. Dennoch sind die beiden Werke als Grundlage für das Weiterdenken weiterhin geeignet. Sie sind große Entwürfe, welche das Nachdenken anregen. Nicolas Truong und Nicolas Weill schreiben in ihrem Essay über Bourdieu in Le Monde, dass er in Frankreich quasi eine Soziologie zurückgelassen hätte, die jetzt wie ein Orchester ohne Dirigent funktioniert, obgleich diese Orchesterfunktion von Bourdieu nicht angestrebt war. Eben eine solche Wirkung kann man den beiden Werken für ein gesellschaftspolitisch interessiertes Nachdenken und Forschen über Bibliotheken zuschreiben. (Zumal das Leben Bourdieus gleich die Frage aufwirft, ob man als Nachdenkender über soziale Strukturen gesellschaftlich inaktiv bleiben darf., wobei er selbstverständlich in der Tradition engagierter Intellektueller – Zola, Satre, Foucault etc. – steht, was für die Bibliothekswissenschaft in der Schweiz und Deutschland, bei allem Respekt, nicht gesagt werden kann.)

Übers Lesen (und, am Rande, Bibliotheken)

Zwei literarische Zeitschriften beschäftigten sich in den letzten Ausgaben mit dem Lesen als Prozess, insbesondere als Prozess von Vielleserinnen und Viellesern. In der BELLA triste schlägt Stefan Mesch 250 Bücher, die er gelesen hat und 250 Bücher, die er nicht gelesen hat zur Lektüre vor. Eine wahnwitzige Zahl, aber im Essay, das den beiden Liste vorgeschaltet ist, führt er aus, wie er zu ihnen kam. Die aktuelle sprachgebunden besteht aus einer Collage, welche ein Gespräch von 15 Büchermenschen – vor allem Autorinnen und Autoren – über das Lesen und die Wege zum Lesen simuliert.

Wege zu Büchern

Stefan Meschs Essay [Mesch, Stefan (2011) / Futter für die Bestie : 528 Wege… zum nächsten guten Buch. – In: BELLA triste : Zeitschrift für junge Literatur 11 (2011) 3, 84-99] beschreibt den Weg, über den er sich selber im Lesen verfangen hat. Man merkt: Es ist kein unbedingt vorgezeichneter Weg, aber einer, der von verschiedenen Zugängen gezeichnet ist. Heute schreibt Mesch regelmäßig Rezensionen und arbeitet am ersten Roman, aber er merkt auch, wie er immer weniger der ist, der sich mit anderen über all die gelesenen Bücher unterhalten kann. War er große Zeiten seines Weges zum Vielleser mit anderen, wechselnden Instanzen und Personen verbunden, ist er mehr und mehr allein mit dieser Tätigkeit. Menschen lassen sich Bücher empfehlen, wenn sie älter werden, aber sie entdecken sie offenbar – zumindest in seiner Beschreibung – immer weniger selbst. (Im Gegensatz zu ihm, der gerade davon lebt.) Außerdem reden sie immer weniger über die gelesenen Bücher.

Herausstechend aus seinem Essay ist die Beschreibung von insgesamt 29 Wegen, um zu Büchern zu finden. All diese Wege hat er begangen. Seine Aufzählung zeigt, dass die Literaturvermittlung itself nicht den großen Einfluss hat, den sie wohl gerne hätte: (1) Empfehlungen von Oprah Winfrey in deren Talkshow, (2) im O Magazine (O ebenfalls für Oprah Winfrey) und (3) Oprah.com, (4) Amazon-Empfehlungen, (5) die besungenen Bücher in The Booklovers von The Divine Comedy, (6) „Best-of-Listen von Bloggern und anderen Kuratoren durchsieben“ [Mesch 2011, 86], (7) Preisträger und Preisträgerinnen von Festivals durchschauen, (8) Bücher, die Stars erwähnen, (9 / 10) Journalistinnen und Journalisten und deren Comments in Social Medias folgen, (11) Freundinnen und Freunde fragen, (12) Bücher aus der Schulbibliothek stehlen (sic!, das sollte man bei Etatplanungen beachten), (13) auf dem Flohmarkt stöbern, (14) Professorinnen / Professoren, Schriftstellerinnen / Schriftsteller fragen, (15) Wunschlisten anlegen, (16) preisreduzierte Mängelexemplare kaufen, (17) Bestseller und Klassiker bei Amazon durchsehen, (18) nicht jedes Buch zu Ende lesen, (19) mehrere Bücher über ein Thema oder einen Ort lesen, (20) Debütromane bevorzugen, (21) bei Schriftstellerinnen / Schriftsteller aus der Schweiz und Österreich mehr aufpassen, weil die dank intensiverer Kulturförderung sich auch mehr schlechte Bücher leisten können, (22) merken, dass jeden Herbst und Frühling neue Generationen von Schriftstellerinnen als Zukunft der Literatur ausgerufen werden, die dann kurz darauf wieder vergessen sind, (23) schauen, ob ältere Autorinnen / Autoren auf ihren Bildern verklemmt oder offen wirken, (24) deutsche Autorinnen / Autoren empfehlen lassen, im Zweifelsfall aber auf solche aus den USA zurückgreifen, (25) die Bildsprache auf dem Cover beachten, vor allem als Ausschlusskriterium, (26) Goodreads.com, (27) Perlentaucher.de, (28) bestimmte Kuratorinnen / Kuratoren auf Goodreads.com verstärkt beobachten sowie (29) auf dem eigenen Blog empfehlen und warnen.

Eine Liste, die subjektiv ist, aber doch eine Tendenz zeigt: Die Empfehlungen sind eher persönlich, als literarisch begründet. Literarisch untermauert sind vor allem negative Empfehlungen [18, 21, 22, 24, 25]. Und dennoch kommt Mesch zu insgesamt 500 Bücher, die er uns allen vorschlägt. Darunter Klassiker und nicht bekannte Werke (zumal er dem Kanon-Gedanken in seinem Essay laut widerspricht).

Lesen als Leben

Die sprachgebunden [Das Leben als Leser (2011). – In: sprachgebunden : Zeitschrift für Text + Bild 3 (2011/2012) 6] hat Gespräche von, wie schon gesagt, 15 unterschiedlichen Vielleserin und Viellesern, welche in den letzten zwei Jahren geführt wurden, zu einem Tischgespräch (inklusive dem teilweisen Neben- und Gegeneinander von Stimmen) collagiert. Dieses „Gespräch“ ist der Inhalt des gesamten Heftes. Dabei gelingt es der Zeitschrift, den Fluss eines guten Gesprächs zu simulieren und trotzdem einem inhaltlichen Faden zu folgen. Der Zugang zu Literatur und die ersten Lektüren stehen am Anfang, die Bedeutung von einzelnen Werken für das gesamte Leben stehen am Ende. Dazwischen werden Leseorte besprochen, Zugänge zu einzelnen Werken, Fragen des Wiederlesens und Nichtlesens.

Gleichwohl man es dabei ausnahmslos mit Menschen zu tun hat, die ständig Lesen und auch etwas zur Literatur zu sagen haben – also Menschen, die eher selten sind –, fällt auf, dass es weder rein zufällig ist noch einheitlich, warum und wann jemand zum Vielleser oder zur Vielleserin wird. Es ist gibt Möglichkeiten, diese Entwicklung zu beeinflussen. (Also kann man sich beispielsweise nicht zurückziehen und behaupten, dass es eh nicht möglich wäre, Menschen zu Leserinnen und Lesern zu machen oder – Stichwort: wie den meisten die Lyrik in der Schule verhagelt wird – gerade davon abzuhalten. Gleichwohl kann man es nicht alleine auf die soziale Schicht oder das Elternhaus zurückführen. Auch kann man keinen Zeitpunkt nennen, an dem „der Zug abgefahren ist“. Zwar erwähnen viele Leseerlebnisse in der Jugend, aber auch spätere oder frühere Zugänge zur Literatur, teilweise mit langen Lektürepausen, was auch die Konzentration auf Frühförderung bei der Leseförderung fragwürdig erscheinen lässt.)

Das Gespräch selber sollte man lesen, wenn man selber etwas zu Literatur zu sagen hat. Die Menschen sind zu speziell, um aus ihren Meinungen allgemeine Aussagen zu ziehen. Vielmehr sind sie für das Gespräch ja extra als Extreme ausgewählt worden. (Was man allerdings lernen kann, ist, das man keine Angst vor der Weltliteratur im Sinne von „zu Mainstream“ haben muss, aber auch nicht zu viel Respekt haben sollte. Außerdem scheinen sehr viele Menschen den „Mann ohne Eigenschaften“ ungelesen im Regal stehen zu haben.) Man wird aber angeregt, selber etwas beitragen zu wollen, zu widersprechen, zu ergänzen, seine eigene Lesegeschichte zu erzählen.

(Wenn beispielsweise ein Hochlied auf das Lesen im Bett und im Liegen gesungen wird, würde ich gerne eingreifen und laut widersprechen. Literatur, insbesondere Kurze, wird von mir viel besser im Stehen und Laufen wahrgenommen. Allein deswegen gibt es in meinem Arbeitszimmer einen freien Weg zwischen Wand und Balkon, der beständig auf und ab gegangen werden kann. Auch drängt es mich, beizutragen, dass die Stunde, wenn man aus dem Club nach Hause kommt, durchschwitzt, abgekämpft, aber noch nicht bereit zum Schlafen, die beste Zeit für Lyrik zu sein scheint. Und zu erwähnen ist auch, dass meiner Meinungen nach wissenschaftliche Literatur am Besten zwischen 16 und 22 Uhr im Café gelesen wird, weil man [okay, ich] sich in diesen Setting besser konzentrieren kann, als in Bibliothek, Büro oder am heimischen Schreibtisch. Das muss einfach mal gesagt werden. – Solche Reaktionen löst der Text aus.)

Bibliotheken?

Die interessante Frage hier ist allerdings: Wie und wo kommen eigentlich Bibliotheken vor? Die Antwort: Am Rand. Weder werden sie negiert oder gar als unnötig begriffen, aber sie werden auch nicht zum notwendigen Bestandteil einer Karriere zur Vielleserin / zum Vielleser erklärt. Explizit wird ihre Funktion nicht besprochen, weder bei Stefan Mesch noch in der sprachgebunden, es werden auch keine spezifischen Angebote, Bestände, Veranstaltungen erwähnt. Zudem wird kaum ein Unterschied gemacht zwischen privaten Bibliotheken (oder, weil ungeordnet, ja eher oft auch Büchersammlungen), Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken. Teilweise werden noch nicht einmal Bibliotheken und Buchhandlungen wirklich voneinander unterschieden. Wichtig ist bei diesen Erwähnungen vor allem die Potentialität der Bibliotheken – das man Bücher finden kann, durch sie hindurch stöbern, Erfahrungen machen. Nicht weniger, aber erstaunlicherweise auch nicht mehr. (Wobei Zugang, wie bei Stefan Mesch zu lesen ist, auch heißen kann, dass Medien gestohlen werden können – weil sie für eine Lesende / einen Lesenden wichtig werden, was eine moralisch schwierige Ebene eröffnet. Wollen wir nicht gerade auch, dass für Menschen Literatur so wichtig wird, dass sie immer von ihr begleitet werden wollen? Ist da der Verlust von zwei, drei Medien nicht zweitrangig?) Der Bestand als Buchsammlung – nicht als geordneter und dadurch über verschiedene Foki zugänglicher Bestand – gilt als wichtig. Das bei vielen, aber auch nicht unbedingt allen Vielleserinnen und Viellesern.

Das sollte zumindest Öffentlichen Bibliotheken, die sich um Literaturvermittlung bemühen, zu denken geben: Die Bedeutung der Bücherei wird nicht bestritten, aber ihre Angebote über die Bestände hinaus werden nicht erwähnt. Heißt dass, das sie keine Bedeutung haben? Oder nur eine sehr untergründige? (Oder erreicht man gerade andere Menschen mit ihnen, als zukünftige Vielleserinnen und Vielleser?) Zudem: Wichtig ist den Lesenden offenbar die Funktion, im Bestand zu stöbern, Bücher zu entdecken, sich in der Sammlung quasi zu verlieren. (Auch wieder nicht allen, aber doch vielen.) Sollte man das in der Praxis reflektieren? Ist daraus etwas zu lernen? (Das Systematiken kaum wahrgenommen werden, vielleicht, wenn die Menschen doch weiter stöbern anstatt die Hilfstechnik Systematik zu benutzen?)

Gerade bei der Liste der Zugänge zu Büchern, die Stefan Mesch erstellt hat, fällt auch auf, dass die Bibliothek immer im Kontext einer ganzen Anzahl von Zugängen steht und eigentlich nie an erster Stelle: Nicht-dominierender Teil eines Netzwerks. Das ist nicht schlimm, aber kann man daraus etwas zum Anspruch von Bibliotheken ableiten? Nehmen sie sich zu wichtig oder zu wenig wichtig? (In der sprachgebunden wird beispielsweise der Bericht zur Lage der Bibliotheken [2010] des Deutschen Bibliotheksverbandes zitiert, um auf die Zahl der Entleihungen und der Bibliotheken in Deutschland zu verweisen. Die ganze aufgeregte Rhetorik des Berichtes, die ja eine gewisse Tendenz zu Untergangswarnungen hat, scheint hingegen keinen Effekt gehabt zu haben – und das bei einer Zeitschrift, die Bibliotheken sehr positiv gegenübersteht.)

Let’s make it different, beautiful

Um dies noch anzumerken: Auffällig ist an beiden Beiträgen, dass die Zeitschriften mit dem Layout experimentieren. Dies scheint ein Trend bei literarischen Zeitschriften zu sein, der vielleicht auch einmal im Bezug auf Sammlung und Bestandsarbeit besprochen werden sollte: Offenbar gehen immer mehr dieser Zeitschriften dazu über, jede Ausgabe neu und oft auf experimentell zu gestalten. (Neben der BELLA triste und der sprachgebunden ist da auch auf die Edit zu verweisen, die ja auch alle paar Nummer das Grundlayout radikal ändert und dann auch noch in jeder Ausgabe „spielt“.) Dabei handelt es sich nicht nur um kleine Formalia oder Re-Launches, wie dies bei anderen Zeitschriften alle paar Jahre vorkommt, sondern in fast jeder Ausgabe um gestalterische Experimente.

Diese Ausgabe der BELLA triste orientiert sich zum Beispiel am Charme der Siebdruck-Magazine der 80er, bei denen nicht nur die Farben teilweise verläuft und Layoutelemente stark grobkörnig werden, sondern auch die Fonts und Schriftgrößen zwischen den Texten ständig wechseln. Das Layout der sprachgebunden erinnert diesmal an formale Experimente der frühen sowjetrussischen Avandgarde und stellt einfach mal so neue Regeln für Layoutelemente auf: Kapitelüberschriften laufen am unteren Rand mit, Zitate, Verweise, Definitionen und Nachweise werden säuberlich als (verschiedenfarbige) Kolumnen geführt, die Endnoten werden nicht am Ende des Textes vermerkt, sondern auf einer eingeschobenen Seite ungefähr nach drei Vierteln des Textes. Kleinigkeiten, die dazu anregen, immer wieder genauer zu schauen und auch über Layoutkonventionen nachzudenken. Sicherlich: für wissenschaftliche Zeitschriften wäre das ein Horror, sie sehen ja oft eher immer gleich aus, über Jahrzehnte und innerhalb eines Verlages. Das soll sie übersichtlicher und leichter zu lesen machen. Auch in Tages- und Wochenzeitungen würden die PR-Abteilungen intervenieren: Änderungen des Layouts werden als große Ereignisse angepriesen, deshalb dürfen sie nicht zu oft vorkommen. [1] Literarische Zeitschriften hingegen scheinen sich herauszunehmen, auch gleichzeitig Experimentierfeld für Layout und Gestaltung zu sein – und das schon seit Jahren. Offensichtlich hat die Möglichkeit, Layout am Rechner zu setzen, eine neu gelebte Kreativität und Reflexivität der Layouterinnen und Layouter ermöglicht, die es eigentlich mehr zu würdigen gälte. Leider wird das zu selten getan, deshalb hier die Aufforderung, sich dies einmal selber anzutun und sich ein paar aktuelle Ausgaben literarischer Zeitschriften zu besorgen. Es hilft tatsächlich, das eigene Sehen zu hinterfragen.

Fußnote

[1] Wobei angepriesen das richtige Wort ist. Viele erinnern sich bestimmt noch an die „Debatten“, als Die Zeit oder auch letztens der Freitag das Layout veränderte. Die einen stimmten zu, andere fanden es schrecklich, einen Rückschritt oder auch eine Kapitulation vor der Dummheit der Menschen. Aber als ich letztens darüber informiert wurde, dass das Neue Deutschland (jetzt neues deutschland) einen Relaunch hatte, merkte ich, dass mir das nicht einmal aufgefallen war – allerdings, wie mir mitgeteilt wurde, offenbar auch niemand anderem. (Oder?) Zumindest war dieser Relaunch nicht eine Meldung oder einen Kommentar außerhalb der Zeitung selber wert, nicht einmal in der Blogosphäre, wo sonst alles irgendwo besprochen wird. Das mag jetzt beim nd nicht wichtig sein (Liest das überhaupt wer? Will man wirklich Leute treffen, die das nd freiwillig lesen?), aber es zeigt doch mal, wie sehr die ganze Aufregung um andere Layoutumstellungen PR und Mediendiskurs war.