Würde ein Schulbibliothekswesen in Deutschland ein Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sein? Hinweise aus anderen Ländern

Okay, noch ein Wort zu Schulbibliotheken. Letzte Woche triggert mich die Nachricht, dass sie demnächst in der deutschen Bibliotheksstatistik auftauchen sollen, so weit, dass ich doch nochmal einen Blogpost zu ihnen geschrieben habe. Dort habe ich in einer Fussnote einen Punkt angesprochen, der mich schon irritiert hat, als ich mich noch tiefer mit dieser Bibliotheksform auseinandersetzte. Damals habe ich nichts dazu geschrieben, weil ich immer auch etwas anderes besprechen wollte. Aber vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn zu thematisieren, bevor mich der Elan wieder verlässt.

Was ist eigentlich mit Schulbibliotheken in anderen Ländern?

Ich komme gleich (nach der nächsten Überschrift) zu diesem Punkt, aber woher noch eine Anmerkung: Eine Sache, die bei der deutschen bibliothekarischen Literatur zu Schulbibliotheken schnell auffällt, ist, dass Verweise auf die Situation von Schulbibliotheken in anderen Ländern eher ungenau sind. Nicht selten wird angeführt, dass Schulbibliotheken in diesem oder jenem Land besser organisiert wären oder Teil des Bibliothekswesens wären oder ähnliches. Daraus werden dann Forderungen für die deutsche Situation abgeleitet. Aber kaum einmal scheint jemand zu schauen, ob diese Aussagen überhaupt stimmen. Die Situation im Ausland wird also als Argument genutzt, aber kaum als Möglichkeit, um etwas zu lernen. (Das ist aber nicht nur im Bezug auf Schulbibliotheken so.)

Sehr gut kann ich mich zum Beispiel daran erinnern, wie damals, als die PISA-Studien in der Öffentlichkeit noch Wellen warfen, mehrfach in der bibliothekarischen Literatur behauptet wurde, die Länder, welche in diesen (ersten Runden der) PISA-Studien gut abgeschnitten hätten, hätte allesamt ein «gut ausgebautes Schulbibliothekswesen» (was dann oft nicht weiter beschrieben wurde) und dann daraus abgeleitet wurde, Deutschland bräuchte auch eines. Das hat als Argument die Politik offensichtlich nicht überzeugt, sonst gäbe es heute in Deutschland wohl mehr Schulbibliotheken der Art, wie sie in der bibliothekarischen Literatur beschrieben werden. Als ich das Argument dann im Rahmen meiner Magisterarbeit überprüfte, zeigte sich, dass viel mehr Ländern, die an den PISA-Studien teilgenommen hatten, auch ein Schulbibliothekswesen hatten, hinter dem Geld und politischer Wille steckte – das dies aber nichts mit der Position innerhalb der PISA-Studien zu tun hatte. Diese Ländern fanden sich auf allen Positionen der «PISA-Listen». Herausstechend war nur, dass Deutschland (und einige andere Länder) aus dem Rahmen fallen, weil sie kaum Schulbibliotheken hatten / haben. Das Argument wurde also gemacht, ohne es selber zu überprüfen.1

Mir scheint, diese Situation, dass die Realität von Schulbibliotheken in anderen Ländern gar nicht richtig wahrgenommen, sondern im besten Fall als Argument dafür angeführt wird, das (durch wen?) in Deutschland mehr getan werden sollte, mit ein Grund ist dafür, dass sich bei diesem Thema so wenig ändert: Es wird kaum geprüft, ob die Annahmen, die im deutschen Bibliothekswesen jetzt seit einigen Jahrzehnten immer wieder reproduziert werden, stimmen (können).2

Das Öffentliche Bibliothekswesen wird die Schulbibliotheken anleiten

Der Punkt, welcher mich immer irritiert, ist folgender: Die implizite Erwartung derer, die sich im Öffentlichen Bibliothekswesen für das Thema Schulbibliotheken engagieren, scheint immer zu sein, dass am Ende die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken sein werden. Es wird – früher, als es mit der schulbibliothek aktuell noch eine regelmässige Publikation gab, expliziter formuliert als heute – offenbar davon ausgegangen, das Schulbibliotheken, wenn sie erst einmal auf weiter Fläche eingeführt sein wären, nicht nur wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren sondern auch in das Öffentliche Bibliothekswesen eingefügt sein würden.

Alle Planungen in diesem Bereich, alle Projekte, alle Konzeptpapiere gehen implizit davon aus. Deshalb erscheint es ja auch offenbar richtig, wenn das Öffentliche Bibliothekswesen schon vorgängig beschreibt, wie Schulbibliothek in dieser Zukunft sein werden. Oder, dass die Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken als eine Seite, Schulbibliotheken als andere Seite der gleichen Aufgabe angesehen wird. (Und deshalb auch in einer Kommission des dbv, die sich aus der Arbeitsgruppe im Deutschen Bibliotheksinstitut entwickelt hat, gemeinsam behandelt wird.) Und auch, wenn realistischer davon gesprochen wird, dass die vorhandenen Schulbibliotheken und Öffentlichen Bibliotheken «verzahnt» werden sollen, «mehr Kooperationen eingehen» sollen und so weiter, scheint diese Vorstellung dahinter zu stehen, dass das Öffentliche Bibliothekswesen die Schulbibliotheken integrieren, beraten und anleiten soll.

Aber: Ist das überhaupt zu erwarten, falls es je dazu kommen würde (beispielsweise weil die Bildungspolitik in Deutschland oder zumindest einigen Bundesländern so will), dass in allen Schulen solche Schulbibliotheken eingerichtet würde, wie sie im Öffentlichen Bibliothekswesen beschrieben werden? Nein, ist es nicht. Wenn man es einmal näher durchdenkt, ist es wenig haltbar. Und wenn man dann wirklich ins Ausland schaut, finden sich da auch vor allem Hinweise, dass es gerade nicht so sein wird. Darum soll es im Folgenden gehen.

So viel Schulbibliothekspersonal, so wenig in den Öffentlichen Bibliotheken

Was sich mir nie richtig erschlossen hat bei dieser Vorstellung: Nehmen wir einmal als Gedankenspiel an, es würden, wie das oft die Forderung ist, in jeder Schule in Deutschland (oder halt eines Bundeslandes) Bibliotheken mit bibliothekarischem Personal eingerichtet. Schon wenn das nur ein Person pro Schule wäre (was nicht zu erwarten ist, in vielen Schulen wären es dann gleich mehrere Personen), dann gäbe es auf einmal viel, viel mehr Schulbibliothekspersonal als es Personal in Öffentlichen Bibliotheken gäbe. Es gibt ja einfach viel mehr Schulen (32.3323) als es Öffentliche Bibliotheken (7.1484) gibt.

Dieses Personal würde nicht explizit gegen Öffentliche Bibliotheken arbeiten oder so, aber es hätte einfach andere Interessen und einen anderen Fokus:

  • Schulbibliotheken haben zum Beispiel – im Gegensatz zu Öffentlichen Bibliotheken – eine sehr klar definierte Nutzer*innenschaft: Die Schüler*innen ihrer Schule und – je nachdem, wie die Bibliothek genutzt wird – die Lehrpersonen (nicht als Privatmenschen, sondern als Personen, die unterrichten). Die Schüler*innen haben dann ein klar definierbares Alter und recht klare Aufgaben: Die, die sich in der Schule stellen und die, die sich mit dem Alter stellen (Stichwort: Adoleszenz). All die Gedanken, die sich Bibliotheken um andere Nutzer*innen oder andere Aufgaben machen, sind für Schulbibliotheken deshalb wenig interessant.
  • Schulbibliotheken dieser Art hätten auch einen anderen Kontext als Öffentliche Bibliotheken: Konkrete Schulen, als Bildungseinrichtungen, in denen sie integriert wären. Während Öffentliche Bibliotheken recht einfach behaupten können, Bildung anzubieten, ohne das das je wirklich geprüft wird, befinden sich Schulbibliotheken in einem Kontext, wo andere Personen eine pädagogische Ausbildung haben und auch pädagogisch handeln – die Lehrpersonen: Sie müssen dann, wenn sie ernst genommen werden wollen, an dieses Wissen anschliessen. Sie würden also mehr in dieser Richtung diskutieren, planen, testen wollen als das bei Öffentlichen Bibliotheken der Fall ist.
  • Der Kontext Schule würde für Schulbibliotheken auch heissen, dass es im Umfeld schon viele andere Orte gibt, die Aufgaben wahrnehmen, welche sich Öffentliche Bibliotheken zuschreiben: Lernorte gibt es zum Beispiel zuhauf in den Schulen; auch Orte, wo Schüler*innen Kommunizieren oder Partizipation üben. Schulbibliotheken müssen sich deshalb viel genauer verorten und ihre Aufgaben definieren, als das Öffentliche Bibliotheken tun.
  • Andere Themen, die Öffentliche Bibliotheken umtreiben, sind für Schulbibliotheken nicht relevant, beispielsweise weil sie betreffende Nutzer*innen gar nicht bedienen oder bestimmte Aufgaben nicht haben (aktuell in der Diskussion zum Beispiel: Bibliotheken und Stadtentwicklung).

In so einer Situation wäre nicht zu erwarten, dass das Schulbibliothekspersonal sich in der Öffentliche Bibliothekswesen einordnen würde. Vielmehr würde es wohl eigene Strukturen ausbilden – nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen, aber doch ausserhalb. Die gemeinsamen Interessen der Schulbibliotheken wären wohl einfach grösser als die gefühlte Verbindung zum Öffentlichen Bibliothekswesen – selbst wenn das Personal in beiden Bibliotheksformen die gleiche Ausbildung hätte. Zu erwarten wäre eher, dass dann, neben Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken eine eigene Bibliotheksform mit einer beachtlichen Grösse wären.5 Aber dann wäre die ganze Vorarbeit aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken auch schnell hinfällig.

Zu erinnern ist nur, dass erst letztens die Medienpädagog*innen in Bibliotheken auch eine eigene Fachgruppe in der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (und nicht einem bibliothekarischen Verband) gegründet haben, weil sie ihre Interessen als so unterschiedlich vom Öffentlichen Bibliothekswesen (aber nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen) ansehen, dass eine eigene Struktur als notwendig ansehen (https://www.gmk-net.de/ueber-die-gmk/lf-fachgruppe/medienpaedagogik-in-bibliotheken/). Und es gibt noch lange nicht so viele Medienpädagog*innen in Bibliotheken,6 wie es Schulbibliothekspersonal gäbe, wenn die Vorstellungen aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen umgesetzt würden.

Schulbibliothekswesen in anderen Ländern

An verschiedenen Stellen habe ich betont, dass sich das Öffentliche Bibliothekswesen in jedem Land unterschiedlich entwickelt, auch wenn sich einige Bibliothekswesen gegenseitig beeinflussen. Insoweit warne ich selber immer wieder davor, die Entwicklung in einem Land als Hinweis dafür zu nehmen, wie sich die Bibliotheken in einem anderen Land entwickeln werden. Aber wenn sich in verschiedenen Ländern ähnliche Strukturen entwickeln, dann lässt sich dies doch als Hinweise darauf lesen, dass sich Bibliothekswesen in anderen Ländern, wenn sie mit vergleichbaren Herausforderungen und Situationen umgehen müssen, zu ähnlichen Ergebnissen gelangen werden.

Im Folgenden werde ich eine Anzahl Länder durchgehen, die alle ein einigermassen etabliertes Schulbibliothekswesen haben, wie es sich in deutschen bibliothekarischen Texten nur vorgestellt wird: Mit Schulbibliotheken in den meisten Schulen, mit für die Arbeit in Schulbibliotheken ausgebildetem (oder weitergebildetem) Personal, mit Einbindung der Schulbibliotheken in den Unterricht und so weiter. Die Auswahl ist beschränkt durch meine Sprachkenntnisse (deutsch / englisch / französisch), durch die Zugänglichkeit zu Informationen im Homeoffice und durch die Zeit, welche ich für diese Recherche aufbringen konnte. Sie kann (und sollte) von anderen also immer ergänzt werden.

Und dennoch zeigt sich bei der schnellen Recherche (rund zwei Stunden), dass sich zumindest in den beschriebenen Ländern immer wieder ähnliche Strukturen zeigen, die darauf hindeuten, dass sich auch in Deutschland «gut ausgestattete Schulbibliotheken» ab einer gewissen Verbreitung halt nicht zum Öffentlichen Bibliothekswesen zählen werden und sich von diesem auch nicht anleiten lassen würden.

Frankreich

Schulbibliotheken in Frankreich heissen seit 1973 centre de documentation et d’information (CDI). Es gibt einen eigenen Verband, die Association des professeur documentaliste de l’education nationale (http://apden.org), der nicht Teil des Öffentlichen Bibliotheksverbandes ist.

Die Ausbildung des Personals ist uneinheitlich und bereitet auch immer wieder Kopfschmerzen (sie wird also immer wieder einmal diskutiert). Grundsätzlich wird das Personal in den CDI als professeur·e·s documentaliste bezeichnet. Aber es gibt keine eigene Ausbildung um professeur·e documentaliste zu werden, sondern verschiedene Wege in die Profession (über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung, immer plus Weiterbildungen) und es gibt Vorgaben, welche Kompetenzen auf diesem Weg zu erwerben sind. (http://apden.org/Prof-doc-un-nouveau-cadre.html) Grundsätzlich wird die Arbeit aber als anders angesehen als die anderer Bibliothekar*innen aber auch anderer Lehrpersonen.

Es gibt eine eigene Zeitschrift, die interCDI (http://www.intercdi.org) und eine Konferenz, welche alle vier Jahre stattfindet (http://apden.org/?page=federation).

USA

Die American Association of School Librarians (AASL) (http://www.ala.org/aasl/) ist eine Division der American Library Association (http://www.ala.org/aboutala/divs), in der es auch Divisionen für Öffentliche Bibliotheken oder Research Libraries gibt. In einigen Bundesstaaten gibt es darüber hinaus selbstständig agierende School Library Associations. Jährlich findet eine Konferenz der AASL statt, zudem ist sie an den halbjährlichen ALA-Konferenzen vertreten.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian (oder School Library Media Specialist) genannt, für das es gesonderte Ausbildungen an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen gibt. Geregelt ist diese von Bundesstaat zu Bundesstaat anders. (http://www.ala.org/aasl/about/ed/recruit/learn)

Die AASL selber gibt zwei Zeitschriften heraus, eine praxisorientierte (Knowledge Quest https://knowledgequest.aasl.org) und eine wissenschaftliche (School Library Research, http://www.ala.org/aasl/pubs/slr). Zusätzlich existiert das School Library Journal (https://www.slj.com), eigene Reihen für Schulbibliotheken in bibliothekarischen und pädagogischen Verlagen und Blogs, Newsletter und Zeitschriften einzelner Verbände auf Ebene der Bundesstaaten.

Kanada

Die bewegteste Situation findet sich in Kanada. Dort brachen Mitte der 2010er Jahre vorhandene Strukturen für Schulbibliotheken auf Bundesebene zusammen (nicht aber die in allen Provinzen und Territorien): Die School Library Division der Canadian Library Association wurden 2010 aufgelöst, die Zeitschrift School Libraries in Canada eingestellt, Projekte nicht mehr weitergeführt. (https://www.canadianschoollibraries.ca/wp-content/uploads/2018/01/CSL_Poster_OLA2018-SMALL.pdf)

2016 dann wurde wieder die Non-Profit Canadian School Libraries (CSL) gegründet, welche eigenständige Verbände für Schulbibliotheken aus den Provinzen und Territorien vereinigt (https://www.canadianschoollibraries.ca). Sie ist nicht Teil der Library Association. Das Personal in den Schulbibliotheken wird zumeist Teacher-Librarian genannt. Es gibt an verschiedenen Universitäten und Ausbildungseinrichtungen Kurse für diese (sowohl zur direkten Ausbildung als auch zur Weiterbildung auf Basis bibliothekarischer oder pädagogischer Ausbildungen). (https://journal.canadianschoollibraries.ca/exploring-teacher-librarian-training-in-canada/) Nicht in allen Schulbibliotheken sind auch Teacher-Librarians angestellt.

Mit dem Canadian School Libraries Journal (https://journal.canadianschoollibraries.ca) gibt es seit 2017 wieder eine Zeitschrift für kanadische Schulbibliotheken. Eine eigene Konferenz ist (noch nicht) wieder etabliert, aber es wurde ein «Think Thank» für Schulbibliotheken (tmc – treasure mountain canada) gegründet, welcher jährlich ein Symposium anbietet (https://tmc.canadianschoollibraries.ca), auf dem Forschung zu Schulbibliotheken diskutiert werden soll.

Australien

Auch in Australien gibt es eine eigenständige Australian School Library Association (ASLA) (https://asla.org.au), die alle zwei Jahre eine Konferenz organisiert sowie eine Zeitschrift, Access (https://asla.org.au/access), und einen Newsletter (https://asla.org.au/asla-newsletter) herausgibt. Das Personal in den Schulbibliothek wird Teacher Librarian genannt, für die es keine direkte Ausbildung gibt. Vielmehr gibt es Wege über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung und dann jeweils kontinuierlicher Weiterbildung, um diesen Beruf auszuführen. Was existiert, sind Dokumente, in denen von der ASLA beschrieben wird, welche Kompetenzen die Teacher Librarians mitbringen sollen. (https://asla.org.au/what-is-a-teacher-librarian, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_tls_in_australia.pdf, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_qualifications.pdf)

Aotearoa New Zealand

Die Struktur in Aotearoa New Zealand ist ähnlich, aber auch nicht gleich wie in Australien. Es gibt wieder einen eigenständigen Verband ausserhalb des Bibliotheksverbandes, die School Library Association of New Zealand Aotearoa (SLANZA) (http://www.slanza.org.nz), welche eine eigene Zeitschrift, Collected (http://www.slanza.org.nz/collected.html), herausgibt. Die Zusammentreffen, welche der Verband auf nationaler oder regionaler Ebene organisiert, sind allerdings unregelmässig.

Das Personal in den Schulbibliotheken des Landes hat keine einheitliche Bezeichnung oder Ausbildung. Vielmehr beschreibt SLANZA die Situation so: «School Librarians and Library Assistants, Teacher Librarians, Teachers with Library Responsibility and school staff involved in managing school libraries». (http://www.slanza.org.nz) Es gibt verschiedene Ausbildungen, um in diese Positionen zu gelangen, die offenbar alle akzeptiert sind.

Grossbritannien

Auch die School Library Association (SLA) (https://www.sla.org.uk) in Grossbritannien ist ein eigenständiger Verband, der eine eigene Zeitschrift, The School Librarian (https://www.sla.org.uk/the-school-librarian), publiziert. Es gibt allerdings keine gesonderte Ausbildung, sondern das Personal wird als School Librarian bezeichnet und durchläuft grundsätzliche eine bibliothekarische Ausbildung, teilweise mit gesonderten Kursen. Die SLA führt keine eigene Konferenzen durch, dafür organisiert sie viele Kurse und Weiterbildungen. Zudem publiziert sie eigene Broschüren und Plakate (https://www.sla.org.uk/publications).

Irland

Erstaunlich, aber dann für das Thema dieses Blogpost auch bezeichnend, ist die Situation in Irland. Es existierte eine eigene School Library Association in the Republic of Ireland (https://www.slari.ie), die nicht Teil des Bibliotheksverbandes ist. Dafür ist sie aber Teil der britischen SLA. Sie führt – im Gegensatz zur SLA – jährlich Konferenzen durch. Als Zeitschrift wird wohl die britische The School Librarian ((https://www.sla.org.uk/the-school-librarian) mitbenutzt.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian genannt und es wird dafür als Ausbildungsweg auf bibliothekarische Studiengänge in Irland, Nord-Irland, Wales und Schottland – aber nicht England – verwiesen (https://www.slari.ie/advice-and-support/becoming-a-school-librarian/).

Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen gibt, wird es sich ausserhalb des Öffentlichen Bibliothekswesens organisieren

Wie gesagt: Vorsicht ist geboten, wenn man aus den Entwicklungen im Bibliothekswesen eines Landes die Entwicklungen in einem anderen Land ableiten will. Nationale Strukturen und Traditionen übertrumpfen immer wieder mögliche Einflüsse aus anderen Ländern. Aber wenn sich Strukturen so oft zeigen – wenn also in verschiedenen Ländern bei ähnlichen Herausforderungen immer wieder ähnliche Entwicklungen vorkommen –, dann lässt sich doch ein vorsichtiger Schluss ziehen.

Und in diesem Fall ist der Schluss – auch weil er unabhängig von den Beispielen theoretisch nachvollziehbarer ist als andere mögliche Entwicklungen –: Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen geben wird, wenn also in allen (oder vielen) Schulen Schulbibliotheken mit dafür explizit angestelltem Personal eingerichtet würden, dann würden sich diese Schulbibliotheken nicht als Form Öffentlichen Bibliotheken verstehen, sondern wohl eigenständig organisieren, um ihre eigenen Fragen zu klären, Herausforderungen anzugehen und gemeinsam zu handeln. Sie werden dann eine eigene Identität als Schulbibliotheken ausprägen.

Die Beispiele zeigen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede: Gemeinsam ist ihnen, dass sich eigenständige Verbände (oder Divisions in grösseren Bibliotheksverbänden, in denen es eigene Division für unterschiedliche Bibliothekstypen gibt) organisieren, dass eigene Publikationsmedien aufgebaut werden (und nicht einfach die Öffentlicher Bibliotheken mitbenutzt werden), dass eigene Treffen und Weiterbildungen organisiert und versucht wird, sich darauf zu verständigen, welche Kompetenzen und Ausbildungen das Schulbibliothekspersonal haben soll. Bei letzterem sind nicht alle Schulbibliotheksverbände gleich erfolgreich, aber immer geht es darum, nicht einfach Bibliothekar*innen aus Öffentlichen Bibliotheken einzusetzen, sondern Personal mindestens mit gezielten Weiterbildungen, wenn nicht gar eigener Ausbildung, auf die spezifische Bibliotheksform Schulbibliothek hin auszurichten. Normalerweise wird dann Wert darauf gelegt, dass das Personal gleichzeitig bibliothekarische und pädagogische Kenntnisse haben soll. Die eigenen Zeitschriften dieser ganzen Verbände weisen auch darauf hin, dass es für Schulbibliotheken genügend Themen gibt, die sie so, wie sie in anderen bibliothekarischen Medien bearbeitet werden, nicht passen: Einige Themen werden Schulbibliotheken viel mehr interessieren als Öffentliche Bibliotheken, andere gar nicht und wieder andere vielleicht nur Schulbibliotheken.7

Was die Beispiele auch zeigen, ist, dass diese Entwicklung nicht immer erfolgreich sein muss (das Beispiel Kanada), manchmal die Zahl der Schulbibliotheken so klein (?) zu sein scheint, dass man sich anderen Verbänden anschliesst (das Beispiel Irland). Auch, dass selbst Länder, die eigentlich viele Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit aufweisen, bei Schulbibliotheken unterschiedliche Lösungen haben können (die Beispiele Aotearoa New Zealand und Australien). Es ist noch nicht mal einheitlich in einem Sprachraum geklärt, wie das Personal in den Schulbibliotheken genannt wird. Es gibt also eine gemeinsame Richtung, in der sich Schulbibliothekswesen vieler Länder entwickeln, aber keine überall gleiche Lösung.

Und so würde es wohl auch in Deutschland sein, würde sich der seit den 1970er Jahren immer wieder im Bibliothekswesen geäusserte Wunsch erfüllen und flächendeckend viele «gut ausgestattete Schulbibliotheken» eingerichtet: Vielleicht mit einiger Verzögerung würde sich dann eine eigene Struktur – als eigener Verband oder auch eigenständige Gruppen in vorhandenen bibliothekarischen Strukturen – entwickeln, eigene Publikationskanäle etabliert (vielleicht eine Zeitschrift, aber vielleicht auch «nur» Blogs und Newsletter), eigene Konferenzen und wohl auch eine von den Schulbibliotheken selber dominierte Diskussion darum, was das Schulbibliothekspersonal an Kompetenzen haben und wie es dafür ausgebildet werden soll. Und dann werden Schulbibliotheken nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen arbeiten, aber sich auch nicht viel von ihm hereinreden lassen. Warum? Weil es sich um zwei unterschiedliche Bibliotheksformen handelt, mit unterschiedlichen Zielsetzungen, «Problemlagen» und Kontexten.

Hat das eine Bedeutung?

Jetzt mag man sagen: Okay, vielleicht wird es sich so ergeben und nicht so, wie es sich implizit erhofft wird, wenn im Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken nachgedacht werden. Ist das aber nicht, im besten Fall, Zukunftsmusik? Ich würde dagegen argumentieren. Die wahrscheinliche Zukunft sagt halt auch etwas über all die immer wieder angemahnten Versuche, «etwas für Schulbibliotheken zu tun», «mal anzufangen», «Schulbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken zu verzahnen» und wie das noch immer ausgedrückt wird: Es funktioniert wohl auch immer wieder nicht, weil die vorhandenen Unterschiede zwischen Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliotheken (egal in welcher Form sie aktuell existieren), die in anderen Ländern zum Entstehen von getrennten Strukturen führen, übergangen werden. Schon für all solche Versuche liesse sich einiges aus dem gerade Dargestellten lernen:

  • «Verzahnen von Schul- und Öffentlichen Bibliotheken» muss immer davon ausgehen, dass es zwei unterschiedliche Bibliotheksformen sind, bei denen keine der anderen «untergeordnet» ist. Das ist etwas anderes, als wenn zum Beispiel zwei Öffentliche Bibliotheken zweier Gemeinden sich «mehr verzahnen wollen».
  • Eine einfach Sache wäre, wenn sich im Öffentlichen Bibliothekswesen nicht mehr nur gefragt würde, wie man die eigenen Vorstellungen auf Schulbibliotheken und Schulen übertragen könnte, sondern vielmehr, was man selber als Öffentliche Bibliotheken von Schulbibliotheken lernen könnte. Schon durch den Kontext gibt es zum Beispiel in Schulbibliotheken (selbst denen, die als Zweigbibliothek von Öffentlichen Bibliotheken geführt werden) auch heute schon mehr Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sowie mehr Erfahrungen mit Unterricht und Erwartungen von Lehrpersonen als in Öffentlichen Bibliotheken.
  • Diese Unterschiede sollten auch beim Nachdenken über Schulbibliotheken einbezogen werden. Anstatt zum Beispiel bei den unregelmässigen Schwerpunktheften zu Schulbibliotheken diese immer wieder möglichst ähnlich zu Öffentlichen Bibliotheken darzustellen (und gerade die vorzustellen, die sich nahe an den Vorstellungen des Öffentlichen Bibliothekswesens befinden) sollte sie eher im Kontext von Schulen und als eigene Bibliotheksform präsentiert werden (und dann vielleicht auch eher die ganze Bandbreite der vorhandenen Schulbibliotheken, nicht nur ausgewählte). Ebenso wäre wohl hilfreich, wenn in den ganzen Abschlussarbeiten, die in bibliothekarischen Studiengängen zu Schulbibliotheken geschrieben wird, nicht immer wieder danach gefragt wird, wie eine «gute» Schulbibliothek aussehen oder wie sie eingerichtet werden sollte, sondern in ihnen den Blick darauf zu lenken, wie die Realität in den Schulen tatsächlich ist und wieso. Und schon gar nicht aus eine Defizitperspektive (im Sinne von «Warum sind die nicht so, wie Öffentliche Bibliotheken? Was fehlt denen?»). [Auch wenn verständlich ist, dass Studierende eher untersuchen wollen, was «gute» Schulbibliotheken sind, wenn sie der vorhandenen bibliothekarischen Literatur folgen. Es wäre wohl Aufgabe der Dozierenden, sie auch auf andere mögliche Forschungsfragen hinzuweisen.]
  • Im deutschen Bibliothekswesen werden die beiden Themen «Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken» und «Schulbibliotheken» oft zusammen verhandelt, als wäre das praktisch eines. So ist es, wie gesagt, beispielsweise eine Kommission im dbv, die sich beiden Themen widmet (und sich mal mehr auf das eine und mal mehr auf das andere fokussiert). In Schwerpunktheften bibliothekarischer Zeitschriften zu einem Thema finden sich auch immer wieder Beiträge zum anderen Thema. Aber es sind zwei unterschiedliche Themen, bei denen sich auch nicht einfach Erfahrungen vom einen direkt zum anderen Thema übertragen lassen. Dieses Zusammenfassen sollte aufhören. Nur, weil Öffentliche Bibliotheken in vielen Fällen gut angenommene Angebote für Schulen und Lehrpersonen machen können, heisst das nicht, das sie automatisch auch wissen, wie Schulbibliotheken funktionieren. Deswegen werden beide Themen in anderen Ländern auch getrennt behandelt. Das sollte auch in Deutschland etabliert werden.
  • Was hoffentlich auch schon durch diese schnelle Recherche sichtbar geworden ist: Es lohnt sich nicht einfach nur immer auf die Situation im Ausland zu verweisen, wenn man das irgendwie als Argument für die eigenen Vorstellungen verwenden will, sondern tatsächlich die dortige Situation genauer anzuschauen. Mir fiel zum Beispiel auf, dass all die genannten Zeitschriften, ausser der französischen und dem School Library Journal, frei als PDF (aber oft nicht mit OA-Lizenz) vorliegen. Man kann die immer lesen oder zumindest überfliegen, was dort als Thema behandelt wird. (Das war, als ich meine Magisterarbeit schrieb, noch nicht möglich. Wie sehr hätte ich das gewünscht.) Das würde gewiss helfen, zumindest diese Unterschiede zwischen Schulbibliothek und Öffentlicher Bibliothek wahrzunehmen.

Fussnoten

1 Dabei wäre vielleicht «fast alle Länder in der OECD haben ein Schulbibliothekswesen, deshalb sollte Deutschland auch eines haben» ein viel besseres Argument gewesen.

2 In meinem Blogpost von letzter Woche habe ich auf ein Buch von 1970 verwiesen, dass ich als Beginn des Denkens über Schulbibliotheken, wie es seitdem im deutschen Bibliothekswesen etabliert ist, bezeichne. Und auch da wurde es schon so gehandhabt: Schulbibliotheken aus dem Ausland wurden einfach als zu erreichendes Vorbild dargestellt, ohne zu fragen, warum die Schulbibliotheken im Ausland (angeblich) so anders waren. Ob sie vielleicht andere Aufgaben erfüllt als in deutschen Schulen oder eine andere Tradition hatten.

3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/235954/umfrage/allgemeinbildende-schulen-in-deutschland-nach-schulart/

4 Deutsche Bibliotheksstatstik, Stand 2019, https://service-wiki.hbz-nrw.de/pages/viewpage.action?pageId=99811337

5 Und daneben selbstverständlich die ganzen weiteren Bibliotheksformen, die sich ja auch oft in eigenen Gruppen organisieren, nur das sie je nicht so viele sind, wie es dann Schulbibliotheken sein würden.

6 In der geschlossenen Facebook-Gruppe sind es aktuell (28.01.2021) 940 Mitglieder.

7 Hier läge eine Arbeit drin: Jemand könnte daher gehen und systematisch schauen, welche Themen überhaupt in diesen «Schulbibliotheks-Zeitschriften» behandelt werden und jeweils vergleichen mit denen, die in anderen bibliothekarischen Medien aus den jeweiligen Ländern behandelt werden. Zeigen sich dann eindeutige Themenbereiche, die Schul- oder Öffentlichen Bibliotheken (oder noch anderen Bibliothekstypen) zugeordnet werden können?

Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik – Wird die Realität in den Schulen pfadabhängig übergangen?

Letztens bin ich fast vom Stuhl gefallen, als eine Nachricht des Deutschen Bibliotheksverbandes über die üblichen Kanäle verbreitet wurde. Die Nachricht: Schulbibliotheken sollen ab demnächst in der Bibliotheksstatistik vertreten sein (https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2021/january/article/deutsche-bibliotheksstatistik-dbs-erfasst-ab-2021-daten-zu-schulbibliotheken-in-deutschland.html?tx_ttnews%5Bday%5D=15&cHash=84ee7046e7eeef7861ab5ddd1d98e4c6). Das ist so falsch, ich habe erst geglaubt, es wäre ein schlechter Scherz. Aber offenbar ist das ernst gemeint.

Ich möchte hier gerne erklären, warum das keine gute Idee ist. Das Bibliothekswesen in Deutschland ist seit 1970 auf einem falschen Pfad was Schulbibliotheken betrifft.1 Dieser Schritt ist nur ein weiterer auf diesem Pfad, der in den meisten existierenden Schulbibliotheken auch gar nichts verändern wird. Das Erstaunliche ist aber, dass das Bibliothekswesen den immer weiter geht.

Ich habe eine ganze Anzahl von Jahren über Schulbibliotheken in Deutschland geforscht: Angefangen von meiner Magisterarbeit über ein Praxisbuch (nicht alleine geschrieben) bis hin zu einer Langzeitstudie (zehn Jahre) über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin. Danach habe ich das Thema aufgegeben, weil alle meine Fragen beantwortet waren. (Und ich zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr in Deutschland, sondern der Schweiz arbeitete; aber auch in der Schweiz bin ich vom Thema Schulbibliotheken nicht unberührt geblieben.)

Es war auch nicht so, dass ich je ein engagierter Vertreter von Schulbibliotheken gewesen wäre. Ich habe das Thema für meine Magisterarbeit gewählt, weil ich einigen Abstand zu ihm hatte. Interessiert hat es mich, weil Schulbibliotheken gerade nicht einfach Bibliotheken sind, sondern Einrichtungen, deren Realität in der jeweiligen Schule selber von verschiedenen Personen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen ausgehandelt werden. Bei vielen Personen, die sich sonst mit Schulbibliotheken beschäftigen, ist das anders. Die meisten Studien werden von Personen durchgeführt, die oft stark in Schulbibliotheken engagiert sind. Ebenso werden meisten Projekte von Engagierten aufgesetzt und auch die meisten Texte von ihnen geschrieben. Eventuell ist das ein Grund, warum ich einen anderen Blick auf die Entscheidung habe, Schulbibliotheken in den Bibliotheksstatistik aufzunehmen als andere, die diese Meldung begeistert retweetet haben. Mir interessiert die Geschichte, die Denkweisen über Schulbibliotheken, die Realität in Schulbibliotheken und die Strukturen hinter diesen. Aber eine Schulbibliothek gründen oder gar Schulbibliotheken sagen, wie sie zu sein hätten, das wollte ich nie. Das ist bei Engagierten anders (mit gutem Grund, sonst wären sie nicht engagiert).

Und eigentlich wollte ich auch gar nichts mehr zu Schulbibliotheken sagen, aber dieses Presseerklärung hat mich doch so erstaunt, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Es ist eine falsche Entwicklung und das Bibliothekswesen sollte endlich aufhören, immer nur diesen Weg weiterzugehen.

Das Bibliothekswesen will bestimmen, was Schulbibliotheken sind

Das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland nimmt für sich in Anspruch, über Schulbibliotheken entscheiden und für Schulbibliotheken sprechen zu können. Es nimmt auch für sich in Anspruch, sagen zu können (und zu wissen), wie Schulbibliotheken sein sollten, also wie sie funktionieren sollten, welche Aufgaben sie übernehmen sollten, welche Wirkungen sie haben würden, wenn sie nur so wären, wie das Bibliothekswesen sich das vorstellt. Aber: Das ist schlicht und ergreifend falsch.

Schulbibliotheken sind keine kleinen, spezialisierten Öffentlichen Bibliotheken. Sie sind nicht Teil des Bibliothekswesens. Die Vorstellungen darüber, wie Schulbibliotheken sein sollen und welche Wirkungen sie haben sollen, die im Bibliothekswesen verbreitet werden, sind weder alternativlos – es gibt immer auch andere Vorstellungen, die in der Praxis in den konkreten Schulen oft eine viel grössere Bedeutung haben als die aus dem Bibliothekswesen – noch sind sie irgendwie besser begründet (oder gar mit empirischen Daten untermauert) als die anderen Vorstellungen. Und dennoch wird im Bibliothekswesen so gehandelt, als wären die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken.

Die reale Situation

Wie sieht die reale Situation aus? (Hier verweise ich gerne darauf: Während meiner «aktiven Jahre» zu diesem Thema war ich in ungezählten Schulbibliotheken in Deutschland, habe viele Interviews geführt – die ersten für meine Magisterarbeit – und habe Daten gesammelt, vor allem für meine Langzeitstudie in Berlin. Das Folgende sind also nicht reine Behauptung. Und auch, wenn ich vor einigen Jahren damit aufgehört habe und sich seitdem bestimmt einiges geändert hat: Soviel wird es nicht sein.)

  1. Schulbibliotheken sind deshalb interessante Einrichtungen, weil sie aus Aktionen verschiedener Stakeholder (in Mangel eines besseres Wortes) entstehen. Die wichtigsten sind dabei die Schulen selber, welche Schulbibliotheken unterhalten und in diesen die Personen, die konkret die Schulbibliothek betreiben sowie die Schulleitungen. Wie die sich vorstellen, was die Aufgabe einer Schulbibliothek ist, prägt am meisten, wie die Schulbibliothek dann tatsächlich aussieht. Und das ist in den Schulen sehr, sehr unterschiedlich.2 Oft, aber nicht so oft, wie man vielleicht vermuten würde, sind es Lehrpersonen, die für die Schulbibliotheken zuständig sind. Werden Schulbibliotheken von Ehrenamtlichen (oder manchmal auch geringfügig Beschäftigten) betrieben, sind auch diese Stakeholder, was vor allem dann relevant ist, wenn ihre Vorstellungen nicht – wie bei Lehrpersonen – durch pädagogische Ausbildungen geprägt sind. Da viele Schulbibliotheken von Schulvereinen unterstützt werden, sind auch die Eltern und anderen Engagierten in diesen Vereinen, Stakeholder. Wichtig sind oft, aber nicht immer, die anderen Lehrpersonen einer Schule – es gibt Schulbibliotheken, die so abgetrennt vom Unterricht existieren, dass es egal ist, was die anderen Lehrpersonen denken und solche, die sehr in den Unterricht integriert sind und in denen es dann relevant ist, was diese Lehrpersonen denken. Ob die Schüler*innen selber Stakeholder sind, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In konkreten Schulbibliotheken ist auffällig, dass einige explizit Schüler*innen einbinden (einige Schulbibliotheken werden sogar ganz von Schüler*innen betrieben), andere aber direkt über sie hinweg entscheiden.
  2. Öffentliche Bibliotheken und das Bibliothekswesen im Allgemeinen sind nur der geringste unter diesen Stakeholdern. Um sicherzugehen: Es gibt Schulbibliotheken, die sind als Zweigstellen Teil Öffentlicher Bibliotheken. Es gibt Städte und Gemeinden, in denen Öffentliche Bibliotheken unterschiedliche Infrastrukturen aufgebaut haben, um mit Schulen zusammen Schulbibliotheken zu betreiben oder Schulen beim Betrieb ihrer Bibliotheken zu unterstützen. Für all das gibt es Beispiele. Aber das sind alles Ausnahmen. Und zwar nicht erst seit Öffentliche Bibliotheken durch Sparmassnahmen seit den 1980ern Zweigstellen in Schulen, die einmal (seit den 1970ern) eingerichtet wurden, wieder schlossen, sondern schon weit davor. Die ganze Zeit über waren die Schulbibliotheken, die von Öffentlichen Bibliotheken oder mit Hilfe Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurde, viel weniger als die Schulbibliotheken, die anders und ohne Kontakt mit den Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurden. Lokal ist das manchmal anders (wie gesagt: Es gibt Städte, wo in allen Schulen eine Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek zu finden ist oder gut ausfinanzierte und aktive «Schulbibliothekarische Arbeitsstellen»), aber alle breiteren Datensammlungen, die seit den 1970ern durchgeführt wurden, zeigen das gleiche: Die Schulbibliotheken mit irgendeinem feststellbaren Kontakt zu Öffentlichen Bibliotheken sind immer in der krassen Minderzahl.
  3. In vielen Schulbibliotheken interessiert sich deshalb niemand dafür, was für Vorstellungen von Schulbibliotheken (oder anderen Bibliotheken) im Bibliothekswesen vertreten werden. Oft denkt niemand überhaupt daran, dass das Öffentliche Bibliothekswesen überhaupt solche Vorstellungen haben könnte. Vielmehr gibt es immer unterschiedliche andere Vorstellungen in den Schulen. Ich habe einmal fünf unterschiedliche Modelle von Schulbibliotheken aufgestellt, die ich in Berlin real vorgefunden habe (also nicht theoretisch formuliert, sondern aus den Daten, die ich gesammelt hatte, herausgezogen), aber es gibt weitere. Aber auch dabei war auffällig: Die Idee, eine Schulbibliothek müsste wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren, war eine Randerscheinung. Die meisten Schulbibliotheken wollten Orte sein, wo Schüler*innen in Ruhe – oft abgetrennt vom anderen Schulalltag – lesen konnten und auf der Basis dieser Vorstellung waren sie auch aufgebaut. Gerade kein Unterrichtsraum, kein Katalog (auch weil es vor allem um Belletristik ging, die nicht tief erschlossen wurde), kein Ort für Hausaufgaben, sondern Platz, um sich anders zu fühlen als in der restlichen Schule. Was man in Interviews mit den Aktiven in solchen Schulbibliotheken oft feststellt, ist, dass sie ihre Bibliothek auch als eine Einrichtung sehen, die ganz andere Aufgaben hat als eine Öffentliche Bibliothek. Und vor allem, dass die Engagierten vor Ort ihre Bibliothek, so wie sie ist, gut finden. Nicht zuletzt sind auch fast alle diese unterschiedlichen Schulbibliotheken recht gut benutzt – es kann also so falsch nicht sein, was sie machen.
  4. Aber selbst in den Schulbibliotheken, die eine Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betreiben, bringen immer andere Vorstellungen ein. Sie sehen immer wieder anders aus und haben andere Aufgaben, selbst in Städten, in denen eine starke Schulbibliothekarische Arbeitsstelle existiert und Beratungen anbietet. Auch dort finden sich viele Schulbibliotheken, die sehr an Leseförderung und «ausserschulischen Räumen in der Schule» interessiert sind und andere, die sich als Ort für das selbstständige Lernen der Schüler*innen verstehen. Es ist einfach nie so einheitlich, wie das im Bibliothekswesen typisch ist, wo trotz aller konkreten Unterschiede ähnliche, durch die berufliche Sozialisation erworbene, Vorstellungen davon, was eine Öffentliche Bibliothek für Aufgaben hat und wie sie organisiert sein soll, die Arbeit in den unterschiedlichen Bibliotheken vorgeben.
  5. Auffällig ist auch, dass sich die meisten Schulbibliotheken als Teil ihrer Schule verstehen und auch versuchen, im Rahmen ihrer Schule zu funktionieren. Nur wenige schauen über diesen Bezugsrahmen hinaus, nur wenige organisieren sich mit anderen Schulbibliotheken (und dann bezeichnenderweise oft in «Landesarbeitsgemeinschaften» von Schulbibliotheken, die weder Teil bibliothekarischer noch pädagogischer Verbände sind). Immer wieder gibt es Engagierte, die ein Zusammengehen von Schulbibliotheken anstossen wollen, aber immer wieder stossen diese auch auf Probleme, andere zu diesem Zusammengehen zu motivieren. Die meisten Schulbibliotheken funktionieren gut in ihrer Schule und versuchen gar nicht erst, darüber hinaus zu gehen. Somit bildet sich auch kein gemeinsames Verständnis davon aus, wie solche Einrichtungen funktionieren sollten.
  6. In konkreten Schulbibliotheken – die als solche, um das nochmal zu sagen, in ihrer Schule immer wieder gut und oft auch über längere Zeiträume funktionieren – finden sich auch immer wieder explizite Unterschiede zu Öffentlichen Bibliotheken. Einige Beispiele:
    1. Öffentliche Bibliotheken streben einen inhaltlich breiten Bestand an, da sie auch für unterschiedliche Funktionen genutzt werden wollen. In vielen Schulbibliotheken ist eine inhaltliche Breite (oder eine Breite von Medienformen) gar nicht gewünscht. Das ist auch logisch: Wenn die Aufgabe die Leseförderung ist (nur als Beispiel) ist ein weitergehender Sachbuchbestand nicht nötig.
    2. Öffentliche Bibliotheken, insbesondere wenn sie Zweigbibliotheken in Schulen betreiben, betonen gerne die Funktion, dass sie den Unterricht, Hausaufgaben und das selbstständige Lernen von Schüler*innen unterstützen. In einigen Schulbibliotheken wird das auch als wichtige Funktion angesehen und dann beispielsweise der Bestand darauf ausgerichtet oder der Raum so eingerichtet, dass Unterricht und / oder selbstständiges Lernen möglich ist. Aber in vielen (viel mehr) Schulbibliotheken ist das explizit nicht das Ziel. Das ist in jeder Schulbibliothek anders. [Öffentliche Bibliotheken scheinen einfach davon auszugehen, dass die Bibliothek der perfekte Ort für solche Tätigkeiten ist. Aber selbst das ist nicht klar. Schulen haben immer auch andere Orte geschaffen, in denen das möglich ist.]
    3. Oft ist, wie gesagt, liegt Fokus einer Schulbibliothek auf dem Lesen an sich. Und das wird dann auch als ausreichend angesehen. Das muss noch nicht mal heissen, dass andere mögliche Funktionen von Bibliotheken als irrelevant angesehen werden – aber dann halt oft als Aufgabe der jeweiligen Öffentlichen Bibliothek vor Ort, nicht als Aufgabe der Schulbibliothek.
    4. Wirklich auffällig ist, wie die Katalogisierung in Schulbibliotheken gehandhabt wird. Meistens gar nicht. Bibliotheken versuchen auch seit Jahrzehnten immer wieder entweder Schulbibliotheken beizubringen, wie man richtig katalogisiert oder aber Kataloge für Schulbibliotheken – gerne mit Fernleihfunktion von einer Schulbibliothek in die nächste – aufzubauen. Der Katalog steht sehr oft im Mittelpunkt des Denkens des Öffentlichen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken. In konkreten Schulbibliotheken ist das ganz anders: Oft gibt es keinen Katalog, sondern der Bestand ist durch Aufstellung erschlossen. Oft ist der Katalog ein reiner Nachweis, der für die Ausleihverbuchung benutzt wird, aber in dem Medien nicht inhaltlich erschlossen sind. (Oft findet sich der eine Rechner in einer solchen Bibliothek mit dem Katalog auf dem Pult der Bibliothekar*in, ohne das die Schüler*innen diesen je selbst für Recherchen benutzen.) Und auch das ist nachvollziehbar: Wenn der Bestand klein ist (einfach so überblickt werden kann) und der Fokus nicht auf die Vermittlung der Medien, warum sollte sich dann jemand die ganze Arbeit machen, einen Katalog à jour zu halten?
    5. In den meisten Schulbibliotheken ist nichts darüber bekannt, was das Öffentliche Bibliothekswesen über Schulbibliotheken denkt und es besteht auch kein Interesse, dass irgendwie zu wissen. Sie sehen sich als Teil der eigenen Schule und sie funktionieren in der Schule. Sie sehen sich nicht als Teil des Bibliothekswesens.

Bibliothekarische Ansprüche

In der oben angeführten Pressemitteilung des dbv, welcher die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik angekündigt, heisst es:

Das Schulbibliothekswesen in Deutschland ist sehr heterogen. So gibt es die Schulbibliothek als Zweigstelle einer Öffentlichen Bibliothek, als Schulbibliotheks-Verbund mit unterschiedlichen organisierenden Institutionen, als kombinierte Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek, oder als selbständige Schulbibliothek, bei der die Schule die Bibliothek eigenständig betreibt.

Auf den ersten Blick scheint es, als würde hier die Vielgestaltigkeit der Schulbibliotheken akzeptiert, aber genau das passiert nicht. Die Passage erscheint so oder so ähnlich seit Jahrzehnten immer wieder, wenn im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken berichtet wird und sie vermittelt ein Denken, das falsch ist. Interessant ist, dass es – pfadabhängig – immer und immer wieder reproduziert wird, obwohl es – was noch diskutiert wird – immer und immer wieder scheitert.

Was ist falsch an diesem Zitat? Zuerst geht es von einem «Schulbibliothekswesen» aus. Das gibt es nicht. Die Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten so eng zusammen, dass man von einem Bibliothekswesen reden kann. In diesem werden Vorstellungen über die Funktion von Bibliotheken geteilt und diskutiert (über den Bibliotheksverband, die Fachpresse, die Konferenzen, die Gremienarbeit, die Ausbildung und so weiter). Die Wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten sogar noch enger zusammen (beispielsweise regelmässig in Projekten) und prägen gemeinsame Vorstellungen aus. Bei ihnen kann man auch gut von einem Bibliothekswesen reden. Schulbibliotheken sind nicht so: Sie arbeiten nicht zusammen. Die meisten Versuche, sie zu organisieren und sie dazu zu bringen, gemeinsame Vorstellungen, Richtlinien und so weiter zu entwickeln, waren seit den 1970er Jahren kurzlebig; meistens blieben sie in der Anfangsphase stecken. (Und selbst die, wie die Landesarbeitsgemeinschaft in Hessen, die lange aktiv blieben, taten dies ausserhalb des Bibliothekswesens.) Schulbibliotheken bilden in Deutschland kein «Schulbibliothekswesen», dass irgendwie gemeinsam handeln würde oder gemeinsame Interessen hätte. Dies zu behaupten, heisst einfach nur, Denken aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen auf Schulbibliotheken übertragen zu wollen.

Schlimmer ist aber, was in dem Zitat – und, wie gesagt, seit Jahrzehnten immer wieder neu – als «heterogen» aufgezählt wird. Im Bibliothekswesen werden Schulbibliotheken seit den 1970er Jahren immer wieder in die gleiche Reihenfolge gebracht, die eine Wertigkeit vermittelt:

  1. Zuerst die «richtigen» Bibliotheken, die als Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken so wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren.
  2. Dann die Schulbibliotheken, die zwar von mehreren Einrichtungen betrieben werden, aber die dann – idealtypisch – von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden. Also Netzwerke, in denen andere Einrichtungen akzeptiert werden – beispielsweise Schulen, die Etat geben und inhaltlich einbringen, welche Medien sie benötigen –, aber die von Öffentlichen Bibliotheken dominiert werden.
  3. Dann die weniger akzeptablen «kombinierten» Schulbibliotheken, wo die jeweiligen Schulen einen grossen Einfluss haben. Nicht in dieser Presseerklärung, aber anderswo oft schon, wird das als Kompromisslösung dargestellt, die eigentlich nur als Übergang zu akzeptieren sei.
  4. Und dann erst die selbstständigen Schulbibliotheken, die gar nicht so richtig als Bibliotheken akzeptiert werden. Deshalb stehen sie immer am Ende dieser Aufzählungen. Gerade in älteren Texten werden sie sogar als Notlösung bezeichnet, die es aufzuheben gälte.

Wie gesagt: Die Reihenfolge ist kein Zufall, sie findet sich immer wieder. Die Realität sieht, wie gesagt, ganz anders aus. Die «selbstständige Schulbibliothek» ist der Normalfall und zwar schon «immer». Sie sind sehr divers, aber im Denken des Bibliothekswesens werden sie immer als eine «Anderes»-Kategorie zusammengefasst, über die nur nicht zu viel nachgedacht wird. In älteren Texten wurde sie auch mit solchen Worten wie «noch» als abzuschaffende Form von Schulbibliotheken bezeichnet, die zu ersetzen sei. Die anderen drei Formen von Schulbibliotheken sind die Ausnahme. Aber das bibliothekarische Denken zu Schulbibliotheken beschäftigt sich eigentlich nur mit diesen drei Formen. Als richtige Schulbibliothek wird immer nur die Bibliothek angesehen, die direkt in das Öffentliche Bibliothekswesen eingebunden ist. Je mehr sie davon entfernt scheint – wenn beispielsweise die Schulen ein grosses eigenes Mitspracherecht nutzen –, je weniger wird sie akzeptiert. Es ist ein absonderlicher Blick, bei dem sich im Bibliothekswesen das Recht und das Wissen zugesprochen wird, über Schulbibliotheken entscheiden zu dürfen und zu können und gleichzeitig den anderen Stakeholdern dieses Wissen und Recht tendenziell abgesprochen wird.

Das erstaunliche ist, dass dies seit 1970 immer wieder passiert und auch Projekte, wie jetzt die Eingliederung von Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik, leitet, die immer wieder scheitern. So, als gäbe es keinen Lerneffekt, sondern immer nur diesen einen Pfad, den das Bibliothekswesen immer weiter geht.

Erfahrungen

Das alles ist nicht erst seit Gestern so, sondern schon lange Jahrzehnte. Und seit langen Jahrzehnten gibt es auch Versuche von Seiten des Bibliothekswesens, das zu ändern. Viele sind schon wieder vergessen worden, aber man sollte nicht denken, dass nicht schon alles mögliche versucht wurde. Einige Beispiele:

  • Am Deutschen Bibliotheksinstitut gab es eine Arbeitsgruppe zu Schulbibliotheken, die – übernommen aus einem Vorgängerprojekt – bis 2000 sogar eine eigene Zeitschrift schulbibliothek aktuell publizierte.
  • In verschiedenen Projekten wurden Schulbibliotheken mit Hilfe von Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, komplett mit Weiterbildungen für Lehrkräfte, die lernen sollten, wie die Bibliothek zu managen und wie sie zu nutzen seien.
  • Es wurden immer wieder neue Broschüren darüber aufgelegt, wozu Schulbibliotheken genutzt werden können. Mindestens ein Lehrfilm wurde gedreht (aber er scheint verschollen).
  • Es wurden «Lehrbriefe Schulbibliothek» herausgegeben, die im Selbststudium und in Lehrgängen genutzt werden sollten, um Schulbibliothekspersonal auszubilden.
  • Immer wieder wurden politische Vorstösse unternommen, um in Schulen gut ausgestattete Bibliotheken einzurichten. Und nicht erfolglos: Gerade in Schulen, die für irgendwelche Reformen gegründet wurden, wurden diese auch tatsächlich eingerichtet. Und dann meistens wieder irgendwann geschlossen.3 Einen «Leuchtturmeffekt», der sich oft davon erhofft wurde, scheint nirgends eingetreten zu sein.
  • Ungezählt sind auch die Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken, die tatsächlich irgendwann einmal in den letzten Jahrzehnten in deutschen Schulen eingerichtet, dann aber auch wieder geschlossen wurden. Niemand hat die gezählt, aber es ist wirklich nicht ungewöhnlich, in eine Schule zu kommen, in der eine Lehrkraft eine Schulbibliothek betreibt, die irgendwann mal Zweigstelle war, aber jetzt mit anderen Zielen geführt wird.4 Es würde mich nicht wundern, wenn es heute mehr solcher ehemaligen Zweigstellen gibt als aktive Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken in Schulen.
  • Es ist auch ganz normal, dass Schulbibliotheken zu Schwerpunkten in solchen bibliothekarischen Zeitschriften wie der BuB werden (in zwei Monaten ist das nächste solcher Hefte angekündigt). Es gäbe also eine Ort, wo sich über die Fortentwicklung von Schulbibliotheken Gedanken gemacht werden könnte, aber immer wieder im Bibliothekswesen, nicht im Schulwesen.
  • Auch endlos oft wurden in Öffentlichen Bibliotheken Schulbibliothekarische Arbeitsstellen oder ähnliche Institutionen eingerichtet oder angedacht, solche einzurichten. Die Hinweise darauf sind verstreut, aber es ist nicht ungewöhnlich, beispielsweise in Bibliotheksentwicklungsplänen oder -strategien von solchen Plänen (die dann oft nicht umgesetzt wurden) zu lesen. Was genau diese tun sollten oder sollen ist (wieder) sehr unterschiedlich. Viel öfter aber sind sie, wenn sie je eingerichtet wurden, heute auch schon wieder geschlossen (und oft vergessen) als das sie weiterbestehen.
  • Auch unzählbar sind die Versuche, Personen, die mit Schulbibliotheken zu tun haben, irgendwie zusammenzubringen, ob jetzt unter dem Dach von Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen oder anderswie. Viele diese Versuche haben bestimmt keine sichtbaren Spuren in Dokumenten oder Artikeln hinterlassen. Aber die, es taten, sind über Jahrzehnte verstreut. (Auffällig ist aber, dass die, die über einen längerem Zeitraum bestanden haben, das oft gerade nicht in Verbindung mit dem Öffentlichen Bibliothekswesen taten.)
  • Vollkommen unüberblickbar sind die Abschluss- und Studienarbeiten zum Thema, die an bibliothekarischen Ausbildungsstellen geschrieben wurden, oft mit dem Ziel, zu klären, wie eine gute Schulbibliothek aussehen soll. Hinzu kommen zahllose Seminare im Studium, die manchmal über das Studium hinaus wirkten.

All das ist ohne grössere Probleme zu recherchieren. Die meisten Dokumente dazu liegen mehrfach in Bibliotheken, beispielsweise die gesamte schulbibliothek aktuell. Als Start dieser Entwicklung ist das Jahr 1970 zu nennen, als das Buch «Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung» (Doderer et al.) erschien. Dieses war Teilergebnis eines Projektes – nicht mal im Bibliothekswesens – des Instituts für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Im gleichen Projekt wurde auch die Zeitschrift gegründet, die dann die schulbibliothek aktuell wurde, und die Grundlage für die Arbeitsgruppe gelegt, die dann im Deutschen Bibliotheksinstitut aktiv war. Was das Buch ausmacht, ist, dass hier der Pfad angelegt wurde, auf dem das deutsche Bibliothekswesen bis heute wandelt, wenn es um Schulbibliotheken geht. Die Vorstellung, dass die Schulbibliothek den Konzepten Öffentlicher Bibliotheken folgen soll – und nicht etwa einer eigenen Entwicklung – wurden hier zuerst öffentlich formuliert. Alle Argumente, die seitdem im Bibliothekswesen vorgebracht werden, wenn es darum geht, diese Vorstellung zu untermauern, finden sich in diesem Buch das erste Mal zusammengefasst. Auch die tendenzielle Geringachtung anderer Formen von Schulbibliotheken und die Staffelung von «richtiger» Schulbibliothek (die wie eine Öffentliche Bibliothek funktioniert) bis hinab zu «selbstständigen Schulbibliotheken», die tendenziell abgeschafft werden müssten, ist in diesem Buch angelegt. Das Bibliothekswesen hat seitdem praktisch diesen Pfad immer nur weiter beschritten und ausgetreten, aber die Grundstruktur nicht mehr verlassen. (Zurückgelassen wurde der Kontext der Bildungsreform, in welchem dieses Projekt durchgeführt wurde.)

Im Buch wird zum Beispiel postuliert,

  1. dass die Bibliothek zentral sein soll, das heisst einerseits eine Einrichtung in der Schulen (und nicht verteilt in Klassenräumen) und andererseits ein zentrale Einrichtung in der Schulen, am Besten zentral gelegen.
  2. dass sie eine Einrichtung sein muss, in der Unterricht und selbstständiges Lernen stattfindet und dass sie auf den Unterricht ausgerichtet sein muss.
  3. dass sie von ausgebildetem Personal geleitet werden muss (im Buch heisst es «sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren»; aber da es diese Ausbildung in Deutschland gar nicht gibt, wurden daraus in der bibliothekarischen Literatur schnell ausgebildete Bibliothekar*innen).
  4. dass der Bestand modern und auf den Unterricht ausgerichtet sein soll (das schliesst dann auch die je aktuellen Medienformen ein) und dass eine Schulbibliothek relevant mehr Medien pro Schüler*in vorhalten müsse als eine Öffentliche Bibliothek pro potentielle*r Nutzer*in.
  5. dass die Katalogisierung und Aufstellung einheitlich sein soll, damit alle Schulbibliotheken ein Netzwerk bilden können.

Das sind alles Argumente, die seit 1970 immer und immer wieder vorgebracht werden, wenn auch manchmal umformuliert. Wenn in der oben angeführten Presseerklärung des dbv die Rede davon ist, dass Schulbibliotheken durch die Eingabe ihrer Daten in die Bibliotheksstatistik «ihr Bildungspotential sichtbar» machen können sollen, ist das nur eine aktuelle Fassung der Idee, dass sie vor allem für Bildung (und im Schulbereich dann Unterricht und Selbstbildung) zuständig seien. Auch die Vorstellung, dass man die Arbeit von Schulbibliotheken durch bibliothekarische Kennzahlen – selbst wenn diese, wie das wohl der Fall sein wird, angepasst werden – ausgedrückt werden kann, ist nur eine Fortschreibung der Idee, dass sei von ausgebildeten Schulbibliothekar*innen auf die immer gleiche Weise geführt werden müssten, um richtige Schulbibliotheken zu sein.

Das ist alles nicht durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte untermauert. (Aber: Auch das ist ein Teil dieses Pfades. Schon im Buch wurden die Aussagen nicht theoretisch oder mit Daten untermauert. Vielmehr wurde gesagt, dass müsste so sein; ausserdem gäbe es andere Ländern, in denen es so wäre und es wäre schlimm, dass in Deutschland nicht so sei.)

  • Eine Erfahrung, die sich durch die ganzen Jahrzehnte zieht, ist, dass das Bibliothekswesen schon in der Lage ist, Bibliotheken nach eigenen Vorstellungen in Schulen einzurichten, solange es die dafür notwendigen Mittel (Etat und Personal) mitbringt. Dann werden sie oft (nicht immer) in Schulen akzeptiert. Aber wenn diese Mittel nicht mehr da sind (weil das Projekt zu Ende ist oder wenn der Etat der Bibliotheken gekürzt wird), dann führen die Schulen die Bibliotheken nicht so weiter, wie das Öffentliche Bibliotheken machen. In vielen Schulen werden die Bibliotheken dann geschlossen, was bedauert wird, aber nicht so sehr, dass sich so eingesetzt wird, dass sie doch irgendwie weiterlaufen. (Das passiert auch: Bibliothekar*innen sind mehrfach aus dem Bibliothekswesen ausgeschieden und vollständig aus einem Schuletat finanziert worden, um Bibliotheken fortführen zu können. Aber immer nur in Ausnahmefällen.) In anderen Schulen werden die Schulbibliotheken weitergeführt, aber verändert. Kataloge werden nicht weitergeführt, der Bestand wird verändert (oder nicht verändert, sondern über Jahre einfach weitergenutzt, aber nicht ergänzt).
  • Alle Beratung durch das Bibliothekswesen, alle Projekte und so weiter führen nicht dazu, dass Schulen ihre Bibliotheken einfach so nach den Vorstellungen des Bibliothekswesens umgestalten. So oft auch Bibliotheken davon schreiben, dass Bibliotheken Unterrichtsort werden oder Plätze für Hausaufgaben und selbstgesteuertes Lernen einrichten sollen, so oft wird das von Schulen nicht wahrgenommen oder wahrgenommen, aber ablehnt. Der einzige überzeugende Weg ist in den letzten Jahrzehnten immer nur der gewesen, dass das Bibliothekswesen selber Mittel zum Betrieb einer Schulbibliothek zur Verfügung stellt.
  • Die Behauptungen über Schulbibliotheken, die im Bibliothekswesen gemacht werden, wandeln sich kaum. Sie werden immer wieder einmal neu formuliert (und der Aspekt der Demokratisierung, welcher im genannten Buch von 1970 wichtig war, wurde fallengelassen). Aber es bleibt immer bei diesen Behauptungen. Zu erwarten wäre, dass das Bibliothekswesen losgeht und die Zusammenhänge, die es behauptet – beispielsweise das gut ausgestattete Schulbibliotheken zu besserem Lernen führen würden – untersucht (und dann aus diesen Untersuchungen lernt). Aber das passiert nicht. Stattdessen werden die gleichen Argumente, die schon vorher keinen Erfolg hatten, wiederholt. Das sie offenbar nicht überzeugen (was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie nicht stimmen), ändert dies nicht.5 Stattdessen werden neue Projekte aufgelegt, um Schulen dazu zu bringen, ihre Bibliotheken nach bibliothekarischen Vorstellungen zu gestalten.
  • Immer weiter findet das meisten «Leben» von Schulbibliotheken ausserhalb des Bibliothekswesens in den Schulen selber statt. Aber – das eine weitere Erfahrung über die letzten Jahrzehnte – die Erfahrungen aus diesen Schulbibliotheken werden gar nicht erst gesucht, auch das Wissen aus Schulen interessiert im Bibliothekswesen nicht.6 Die Erfahrung ist, dass das Bibliothekswesen die anderen Stakeholder immer wieder disqualifiziert oder ganz ignoriert.

Die Bibliotheksstatistik als weiterer Schritt auf dem gleichen Pfad

Die Entscheidung, Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik aufzunehmen, ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Pfad. Wieder wird so getan, als sei es die Aufgabe des Bibliothekswesens – des kleinsten und unerfolgreichsten Stakeholder – über die Schulbibliotheken zu bestimmen und ihre Entwicklung vorzugeben. Die bibliothekarische Wertigkeit – eine richtige Schulbibliothek ist nur eine, die bibliothekarischen Vorstellungen folgt, alle anderen sind Kompromisse – wird so wieder einmal hergestellt.

Weil, was wird wohl passieren? Ersteinmal sind die Schulbibliotheken, die Zweigstellen Öffentlicher Bibliotheken sind, schon in der Bibliotheksstatistik enthalten. Für die ist dieser Schritt nichts. Die anderen Schulbibliotheken, die sich die Arbeit machen werden, sich in die Bibliotheksstatistik einzutragen, werden die sein, die ansonsten sehr nahe an der Öffentlichen Bibliothek sind – vielleicht einige der «aufgegebenen» Zweigbibliotheken, die vollständig von Schulen übernommen wurden.

Aber die anderen Bibliotheken? Mal abgesehen davon, dass die mit hoher Wahrscheinlichkeit nie von dieser Statistik hören werden, würden sie gar nichts davon haben, sich diese Arbeit zu machen. Öffentliche Bibliotheken, die ihre Daten an die Bibliotheksstatistik abliefern, haben den Vorteil, dass sie so in ihrer Identität als Öffentliche Bibliothek bestätigt werden (und theoretisch die Daten nutzen können, um sich zu vergleichen und so weiter, aber ob das passiert, ist eine andere Frage) – eine richtige Öffentliche Bibliothek führt eine Statistik und nimmt an der Bibliotheksstatistik teil. Doch Schulbibliotheken, die gar nicht der Vorstellung folgen, dass sie wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren sollten, würden ihre Realität gar nicht in einer solchen Statistik abbilden können – und selber wenn, gar keinen Mehrwert daraus ziehen können. Müssen sie auch nicht, weil sie gar nicht Teil eines «Schulbibliothekswesens» sind, das über solche gemeinsamen, geteilten Strukturen zusammengehalten wird.

Man darf nicht glauben, dass das diesmal anders gemacht wurde, als bei den anderen Projekten der letzten Jahrzehnte: Wieder wurde vom Bibliothekswesen aus definiert, was eine Schulbibliothek sein soll und damit auch, was sie nicht sein darf. Man muss in der Presseerklärung des dbv nur nach den Vertreter*innen suchen, die eine andere Position hätten einbringen können, beispielsweise solche aus Schulen oder Landesarbeitsgemeinschaften:

An der Arbeitsgruppe der dbv-Kommission Bibliothek & Schule zur Einrichtung der entsprechenden statistischen Abfrage waren beteiligt: Irene Säckel von der Stadtbücherei Frankfurt am Main, Frank Raumel vom Medien- und Informationszentrum Biberach, Ira Foltin, Gaby Heugen-Ecker und Therese Nap von der DBS-Redaktion des Hochschulbibliothekszentrums des Landes NRW sowie Dr. Ulla Wimmer von der Humboldt Universität zu Berlin.

Es gab sie nicht – wieder einmal. Hier haben wieder einmal Bibliothekar*innen, eine Bibliothekswissenschaftlerin und Vertreter*innen das Anbieters der Bibliotheksstatistik über Einrichtungen entschieden, die zumeist gar keinen Kontakt zum Bibliothekswesen haben. Deshalb werden in der Statistik bestimmt Werte abgefragt, die im Alltag der Schulbibliothek gar keine Rolle spielen. (Das Beispiel mit dem Katalog weiter oben ist da nur das sichtbarste. Die Anzahl der Medien ist beispielsweise für eine Schulbibliothek nicht unbedingt wichtig, wenn ihr Hauptfokus der ist, dass die Schüler*innen sich aus dem Schulalltag zurückziehen können. Aber die Statistik wird verlangen, dass die vorhandenen Medien gezählt werden, nicht wie viele Schüler*innen sich in den Raum Schulbibliothek zurückziehen.)

Wieder wird versucht, der Realität ein bibliothekarisches Verständnis von Schulbibliotheken überzustülpen. Das wird genauso wenig funktionieren, wie alle anderen dieser Versuche. Was mich verwundert ist, dass es immer noch passiert. Das Bibliothekswesen betrügt sich einfach selbst und tut so, als könnte es über Schulbibliotheken bestimmen, während die Schulen weiter an ihm vorbei handeln werden. (Was heisst, es ist eher ein Problem des Bibliothekswesens und man könnte es dabei belassen. Wäre es nicht gleichzeitig so unverschämt gegenüber all den Aktiven in den Schulbibliotheken, die vom Bibliothekswesen als «nicht so richtig schulbibliothekarisch arbeitend» disqualifiziert werden.)

Ein besserer Pfad

Ich hatte oben gesagt, dass ich das Thema Schulbibliotheken hinter mir gelassen habe. Nie wollte ich Schulbibliotheken oder anderen Personen sagen, was sie zu tun haben (ausser sie fragen), sondern ich wollte diese wunderbar amorphe Einrichtung «Schulbibliothek» verstehen. Aber wenn ich schon so geschockt bin, dass ich doch nochmal auf das Thema zurückkomme, vielleicht doch einige Worte. Das Bibliothekswesen könnte anders handeln und sollte es auch. Ansonsten wird es nur noch weiter Projekte dieser Art aufsetzen, die es dann nur weiter bestätigen werden, dass «auch mal was für die Schulbibliotheken getan werden muss».7

  1. Das Bibliothekswesen muss endlich von seinem hohen Ross absteigen (und den eingetretenen Pfad verlassen): Schulbibliotheken sind nicht Teil des Bibliothekswesens, sondern eine eigene Form von Einrichtungen, über deren Aufgaben, Arbeit und Entwicklung nicht das Bibliothekswesen entscheiden kann. Sie sind keine kleinen Öffentlichen Bibliotheken, ausser dann, wenn das Bibliothekswesen die dafür notwendigen Ressourcen stellt. Anstatt die Schulbibliotheken zwanghaft in das Bibliothekswesen integrieren zu wollen, sollten sie als eigene Bibliotheksform verstanden und behandelt werden. (Öffentliche Bibliotheken wollen ja auch den Gefängnisbibliotheken, Museumsbibliotheken, Gerichtsbibliotheken und so weiter nicht vorschreiben, was ihre Aufgaben sein sollen. So müsste es auch mit Schulbibliotheken sein.)
  2. Das Bibliothekswesen weiss nicht, was eine richtige und funktionierende Schulbibliothek ist. Es weiss noch nicht mal, ob und wie die Schulbibliotheken, die es selber betreibt, eigentlich wirklich funktionieren. Das sollte akzeptiert und dann davon aus weitergegangen werden. Auf der einen Seite wäre es sinnvoll, die ganzen Argumente, die immer wieder gemacht werden, ernsthaft zu untersuchen: Sind diese kleinen Öffentlichen Bibliotheken in Schulen wirklich für einen besseren Unterricht, selbstgesteuertes Lernen, Hausaufgaben und so weiter relevant? Wie soll das funktionieren? Welche Daten gibt es dazu (Daten, nicht Behauptungen oder hübsche Bilder)? Oder übernehmen sie ganz andere Aufgaben? Das wäre die einfache Seite. Die schwierige wäre für das Bibliothekswesen wohl zu akzeptieren, dass in den meisten Schulen mit Bibliotheken diese Schulbibliotheken andere Aufgaben haben, als sich die Öffentlichen Bibliotheken vorstellen und das sie deshalb auf diese Aufgaben ausgerichtet arbeiten – und das das okay ist. (Eine Kleinigkeit, die mich auch früher schon immer irritiert hat, und die man leicht ändern könnte: Das die Kommission im dbv «Bibliothek & Schule» heisst, also die Bibliothek nach vorne stellt, obwohl Schulbibliotheken viel eher von Schulen bestimmt werden und das in ihr überhaupt keine Vertreter*innen aus Schulen zu finden sind. Wäre ich Schulleiter, ich würde das nicht ernst nehmen können. Der Namen sollte geändert und der ständige Kontakt zu Vertreter*innen von Schulen gesucht werden.)
  3. Das Bibliothekswesen muss akzeptieren, dass es nur ein Stakeholder – und dann auch noch nicht der wichtigste – ist, wenn es um Schulbibliotheken geht. Insbesondere dann, wenn es (wie in den meisten Fällen) gar keine Ressourcen für Schulbibliotheken mitbringt. Es mag sein, dass man das ändern will, weil man gehört hat, dass dies in anderen Ländern anders wäre8 – aber das wäre eine Entscheidung auf Ebene der Bildungspolitik und lässt sich nicht erwirken, indem man immer so tut, als wäre man selber wichtiger als die anderen Stakeholder.
  4. Das Bibliothekswesen sollte aus den vergangenen Projekten lernen: Schulen sind nicht mit den immer gleichen Argumenten zu überzeugen, Bibliotheken nach Vorstellungen des Bibliothekswesens einzurichten. Die Bildungspolitik ist so auch nicht zu überzeugen, dass Schulwesen so zu ändern, dass Schulbibliotheken in jeder Schule notwendig werden. (Die lokale Politik manchmal schon.) Die Engagierten in den Schulbibliotheken sind so auch nicht zu überzeugen.
  5. Was auch auffällt, weil immer nur der gleiche Pfad weitergegangen wird, ist, dass bei den ganzen Texten, Vorträgen und so weiter im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken die konkreten Schulen und die Entwicklungen, die in ihnen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, praktisch nicht auftauchen. Es ist eine von der schulischen Praxis (und der Erziehungswissenschaft) oft ganz losgelöste Debatte. Das sollte aufhören. Schulen haben sich verändert und es ist – nur ein Beispiel – heute normal, das Unterricht als Arbeit in Laboren und Projekten stattfindet. Es gibt in vielen Schulhäusern zahlreiche Lernorte, an denen Schüler*innen selbstbestimmt arbeiten, inklusive der Umstellung des Unterrichts von Wissensvermittlung zu Kompetenzentwicklung. Aber man wüsste es nicht, wenn man bibliothekarische Texte über Schulbibliotheken liest. Da sieht es so aus, als wäre die Schulbibliothek der einzige Ort, wo selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Das muss sich ändern, so oder so. Das Bibliothekswesen muss wahrnehmen, wie Schulen heute funktionieren, wenn es irgendwelche Aussagen über Schulbibliotheken machen will.

***

Fussnoten

1 Ich sage hier Deutschland, um es abzukürzen. Aber historisch ist es selbstverständlich so: Von 1970 bis 1990 meint das die BRD, danach tendenziell Deutschland inklusive der «neuen Bundesländer», obwohl es immer auch Traditionen aus der DDR gab, die länger vorhielten, auch im Bibliothekswesen. Anderswo habe ich auch dargestellt, wie die Vorstellungen über Schulbibliotheken aus der BRD einige Jahre später in der Schweiz rezipiert wurden. Aber dort sind sie wieder auf andere Traditionen und Realitäten getroffen, hatten dann auch eine andere Wirkung. Wie immer bei der Entwicklung von Bibliothekswesens gilt auch hier: Es gibt gegenseitige Beeinflussungen, aber grundsätzlich ist die Entwicklung doch je Land unterschiedlich. Insoweit geht es in diesem Beitrag nicht um den DACH-Raum, sondern um Deutschland.

2 Es gibt, wie ich in der Schweiz gelernt habe, auch Traditionen dabei, was als Aufgaben einer Schulbibliothek angesehen wird, die lange existieren können.

3 Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch, dass in alle Oberstufenzentren, die in den späten 1970ern in Berlin gegründet wurden, eine Bibliothek inklusive Personalstelle eingerichtet wurde und dann, als ich 2005/2006 meine Magisterarbeit schrieb, gerade noch die letzte Bibliothekarin in der letzten dieser Bibliotheken «erwischte», die gerade in Rente ging und deren Bibliothek dann, als letzte, auch geschlossen wurde.

4 Solche Bibliotheken haben dann oft noch Bibliothekstechnik aus den Jahren, in denen sie zuletzt Teil der Öffentliche Bibliothek waren, in der Ecke stehen. Sie wird dann nicht mehr benutzt, aber weggeworfen wird sie auch nicht.

5 Eine Zeit lang wurden auch in der deutschen bibliothekarischen Literatur sogenannte «school library impact studies» aus den USA zitiert, in den angeblich gezeigt worden wäre, dass Schulbibliotheken eine positive Wirkung auf die Noten der Schüler*innen in den jeweiligen Schulen hätten. Aber einerseits stimmte das so nie – nicht nur ist das Schulwesen in den USA anders als in Deutschland, auch nannten die meisten Studien für gut ausgestattete Schulbibliotheken Minimalwerte, die in Deutschland nirgends erreicht werden und waren die Studien selber nicht frei von Bias – und überzeugte auch nicht gross ausserhalb des Bibliothekswesens. Andererseits ist das verstummt, jetzt, wo es auch in den USA immer mehr Schulen ohne Schulbibliothek und ohne Schulbibliothekspersonal gibt (obwohl es die Studien weiterhin gibt).

6 Immer wieder kann man von Engagierten aus Schulbibliotheken und Landesarbeitsgemeinschaften Geschichten hören, wie sie von Vertreter*innen des Bibliothekswesens von Beratungen ausgeschlossen oder so behandelt wurden, als hätten sie keine Ahnung von Schulbibliotheken – nicht immer und von allen, aber doch regelmässig. Erstaunlich ist auch, dass die schulbibliothek aktuell zwar in der Vorgängerzeitschrift der heutigen kjl&m aufgegangen ist, die bis heute deshalb den Untertitel forschung.schule.bibliothek führt, aber das es keinen Kontakt mehr zwischen der Redaktion dieser Zeitschrift und den Vertreter*innen im dbv gibt, welche die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik vorangetrieben haben.

7 Ein Satz, den ich so oft in meiner «aktiven» Zeit gehört habe: Immer wieder wird sich im Bibliothekswesen – auch von Kolleg*innen, die schon lange dabei sind – vorgestellt, man würde am Anfang einer Entwicklung von Schulbibliotheken stehen, man hätte mit dem Projekt XYZ Neuland betreten, obwohl es immer wieder die gleiche Geschichte ist und immer wieder das gleiche Ergebnis schon zu Beginn angelegt ist. So, als hätte es die ganzen Projekte seit 1970 nicht gegeben.

8 Wobei das oft auch so nicht stimmt, wenn man genau schaut. In meiner aktiven Zeit habe ich oft gehört, in den USA wären die Schulbibliotheken Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens – aber, plot twist, in der Realität bilden sie dort ein eigenes (schrumpfendes) Schulbibliothekswesen mit eigener Ausbildung, eigenen Medien, eigenen Verbänden und Strukturen. Sie arbeiten mit den Öffentlichen Bibliotheken zusammen, aber Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sind sie gerade nicht.

Was mich eigentlich an Bibliotheksgeschichte (seit 1870-1880) interessiert: Der Diskurs

Von der Geschichte der Bibliotheken interessiert mich vor allem die Zeit, welche “jüngere Geschichte” genannt wird, also vielleicht seit 1870-1880 bis heute. Und dabei gar nicht so sehr die Bauten, Bestände und so weiter, sondern noch viel mehr die Diskussionen, Beiträge, Behauptungen, Selbstdarstellungen, die sich in den bibliothekarischen Medien finden. Eines der Dinge, das mich hierbei thematisch besonders anzieht, ist diese Ungleichzeitigkeit von ständig wiederholten Themen, Behauptungen, Ängsten, Hoffnungen, Voraussagen auf der einen Seite und der dann doch feststellbaren Entwicklung: Auf der einen Seite ist es wirklich einfach zu zeigen, das bestimmte Themen, Behauptungen, Ideen über die Jahrzehnte hinweg immer wieder aufgenommen werden (und das seit einigen Jahrzehnten immer wieder mit dem Gestus, jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, sei das eine neue Idee, eine neues Thema, eine neue Entwicklung – so, als wäre nicht mehr bekannt, was schon in den Jahrzehnten zuvor thematisiert wurde), ohne das sie sich gross zu verändern scheinen, sondern als hätte man sie einfach nur dem zeitlichen Umständen (zum Beispiel der Technikentwicklung) angepasst. Auf der anderen Seite entwickelt sich aber doch immer wieder etwas. Einige Themen tauchen dann doch auf einmal wirklich neu auf, einige Debatten enden tatsächlich, manchmal ganz abrupt, ohne grosse Thematisierung.1 Und das dann oft gerade bei Themen, bei denen man es den Darstellungen in den Beiträgen selber gar nicht vermuten würde. Vieles, was als “modern”, “zeitgemäss” oder ähnlich beschrieben wird, wurde so oder ähnlich schon vorher gesagt,2 dafür verschieben sich andere Themen, obgleich der Titel beibehalten wird3 und wieder andere Dinge enden tatsächlich.4 Und einige wenige sind wirklich neu.5

Es ist wirklich einfach, wenn man sich nur einmal in ein paar der älteren bibliothekarischen Zeitschriften und Schriftenreihen einarbeitet, dem Bibliothekswesen vorzuwerfen (oder auch zu zeigen), dass es eigentlich fast keine Ahnung von der eigenen Geschichte hat.6 Es ist auch einfach, genervt zu werden, von den ganzen Behauptungen und Gedanken, die als neu präsentiert werden oder den teilweise onmipräsenten “Innovation”, “neu denken”, “modern”, “zeitgemäss”-Behauptungen, die den heutigen bibliothekarischen Diskurs prägen. (Und auch von den paar Beiträgen, die sich selber als dazu konträr verstehen, aber dann meist einfach nur ältere Zukunftsvisionen präsentierten.)

Aber es ist auch spannend, wenn man das immer und immer wieder erlebt. Und von diesem Punkt aus geht es dann nicht mehr darum, jemand zu zeigen, dass sie Unrecht haben mit ihrem Gefühl, neu und einmalig zu sein oder auch nicht darum, dass bestimmte Behauptungen und Argumente einfach absurd werden, wenn sie jahrzehntelang gemacht werden, ohne das sie zu Veränderungen führen. Das ist alles möglich, aber mich interessiert das eher als Geschichte, die den Fragen folgt: Was passiert hier? Wieso gibt es solche ungleichzeitigen Bewegungen? Was wird “vergessen” und “neu gedacht” und was nicht? Was ist das gleiche Argument wie das vor Jahrzehnten schon gemacht wurde, nur in einem anderen Kontext, und was ist wirklich eine Entwicklung? Wie funktioniert das, dass Personen sich nicht (mehr) auf frühere Beiträge beziehen, aber doch das gleiche sagen? (Das hat dann gewiss mit Strukturen zu tun, die sich nicht so gross verändern, aber welche Strukturen? Die der Bibliotheken, die der Gesellschaft?)

Vor allem aber fasziniert mich die Frage: Was sind die diskursiven “Aufgaben” dieser Beiträge und Behauptungen für die Bibliotheken und / oder die Identität Bibliothek / Bibliothekarin / Bibliothekar? Müssen die gemacht werden, um sich selber als “moderne Bibliothek” zu entwerfen?7 Das ist der Hauptgrund, warum ich gerade intensiv vor allem das schweizerische Bibliothekswesen (Fernleihe aus Magazinen des ganzen Land nach Chur) nutze und mir nach und nach all die älteren bibliothekarischen Publikationen, die irgendwie greifbar sind, schicken lasse (falls jemand meinem Twitter-Account folgt und sich fragt, wo die ganzen Bilder aus diesen Zeitschriften herkommen).8

Ein Beispiel

Mir ist klar, dass diese Ausführungen ein wenig im Ungefähren hängen. Ich will sie deshalb hier einmal an einem ausgewählten Text aufzeigen. Thema: Schulbibliotheken. Der Text erschien 1909 im Zentralblatt für Bibliothekswesen. Das hat den Vorteil, dass er digitalisiert vorliegt (was nur bei wenigen bibliothekarischen Medien der Fall ist, auch das Zentralblatt ist nur bis 1926 frei zugänglich.) Gleichzeitig sind alle am Text irgendwie Beteiligten jetzt lange tot, insoweit ist nicht zu erwarten, dass bestimmte Kontinuitäten daher kommen, dass einfach die gleichen Personen immer noch das sagen, was sie schon vor einigen Jahren sagten.

Der Text ist folgender: Valfrid Palmgren: Der Ferienkurs für Schulbibliothekare im Sommer 1908 zu Stockholm. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 26 (1909) 5, 202-209, http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000269212

Palmgren, Bibliothekarin (die erste) an der Königlichen Bibliothek in Stockholm, berichtet im Text, wie der Titel darlegt, von einem Kurs für Personen, die Schulbibliotheken leiten oder leiten sollen. Der Begriff “Schulbibliothekare” ist dabei weit gedehnt, hier meint er eigentlich Lehrpersonen (männlich und weiblich), die Schulbibliotheken betreiben sollen. Der genannte Ferienkurs war auch kein kleiner. Er umfasste zwei Wochen mit jeweils vier Stunden “Vorlesung” und zwei Stunden Besuchen in Bibliotheken oder Diskussionen. (Palmgren 1909: 205) Insoweit war er Arbeit.

Kontinuität: Schweden, USA

Warum wird aber ein Text aus Schweden in einer deutschen Zeitschrift publiziert? Er ist – soweit ersichtlich – keine Übersetzung, sondern explizit für das Zentralblatt geschrieben. Einerseits war Palmgren eine gebildete Frau, die wohl zahlreiche Sprachen beherrschte, insoweit ist es nicht verwunderlich, dass Sie auch Deutsch sprach. Das mag das Entstehen dieses Textes erleichtert haben. Andererseits aber findet sich hier schon eine Tradition, die sich in deutsch-sprachigen Bibliothekswesen seit langem zeigen lässt: Es wird immer wieder in die gleichen Länder geschaut, um sich darüber zu informieren, wie die Bibliotheken sich wohl entwickeln werden.9 Immer und immer wieder wird nach Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland (also Skandinavien, gerne auch zusammen) geschaut, manchmal zusätzlich in die Niederlande, die zum gleichen Kreis gezählt werden. Sonst in die USA und Grossbritannien. Andere Länder kommen auch vor: in den 1970ern wird erstaunlich oft auch aus der BRD und der Schweiz in die Sowjetunion geschaut, andere Länder, beispielsweise Frankreich oder Kanada, finden sich sporadisch. Nur ganz selten Länder aus dem globalen Süden. Aber was auffällt ist, dass diese Dreiheit Skandinavien (inklusive Dänemark), USA und Grossbritannien immer wieder angeschaut und besucht wird, um etwas über die vermeintliche Zukunft der Bibliotheken zu erfahren; die anderen Ländern werden eher als interessante, aber doch andere Wege des Bibliothekswesens vorgestellt. Eher zum Anschauen als zum Lernen. Insoweit überrascht es aber auch nicht, dass schon 1908, als das Produzieren von Zeitschriften weit teurer und arbeitsintensiver war als heute, ein Text gerade aus Schweden eingeworben und ihm Platz eingeräumt wurde.

Man kann vermuten, dass auch die damalige Redaktion des Zentralblatts die Entwicklungen in Schweden als Vorboten dafür verstehen wollten, was wohl möglich ist (Vorbild) und was in der Zukunft für das Bibliothekswesen zu erwarten wäre.10

Bezeichnend ist aber, dass Palmgren selber in ihrem Kurs das US-amerikanische Bibliothekssystem als Beispiel gewählt hatte, welches sie länger diskutierte. Sie verteidigt dies explizit und zwar mit Worten, die eine Überzeugung vermitteln, welche zum Teil bis heute mitschwingt, aber selten so direkt geäussert werden, wenn dieses Bibliothekssystem besprochen wird:

„Mancher wird sich wohl darüber wundern, dass ich von dem Stundenplan des Kursus so viele Stunden amerikanischen Bibliotheksverhältnissen gewidmet habe, doch glaube ich dazu Gründe genug gehabt zu haben. Einesteils nimmt das Bibliothekswesen in keinem anderen Lande eine solche Stellung zur Erziehungs- und Unterrichtsfrage ein wir in der Vereinigten Staaten, andernteils gewinnt man durch das Studium des dortigen Bibliothekswesens einen riechen Vorrat an erhöhtem Interesse für Fragen dieser Art, einen weiteren Blick für die Tragweite der Aufgabe der Bibliotheken zum Heile der Gesellschaft und schliesslich Enthusiasmus für den Beruf.” (Palmgren 1909: 208)

Palmgren scheint der Meinung zu sein, diese Wahl verteidigen zu müssen. Das hat sich seitdem massiv verändert. Aber sie steht wohl am Anfang einer bis heute wirkenden Tradition, sich beständig mit dem Bibliothekswesen in den USA auseinanderzusetzen, nicht nur in den skandinavischen Staaten, sondern gerade in den deutsch-sprachigen, offenbar in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was dem eigenen Bibliothekswesen fehlen würde.11

Kontinuität: Wer soll die Schulbibliothek führen: Lehrpersonen oder BibliothekarInnen?

Ein Thema, welches ganz am Anfang des Textes von Palmgren besprochen wird, ist die Frage, wer eigentlich das Personal in den Schulbibliotheken stellen soll. Ihre Argumentation ist die Folgende: In Schweden(1909, nicht heute) würden quasi alle Schulbibliotheken von Lehrpersonen geführt, immer neben ihrer eigentlichen Arbeit und immer mit grossem Engagement. Das Engagement lobt sie. Besser wäre aber, wenn bibliothekarisch ausgebildetes Personal die Schulbibliotheken führen würde, weil nur dann wirklich das Potential dieser Einrichtungen ausgenutzt werden könnte. Langfristig müsse man dahin kommen. Aber realistisch sei es jetzt erst einmal, das interessierte und engagierte Lehrpersonal weiterzubilden. Das sei besser als nichts.

Diese Argumentation findet sich über die Jahrzehnte in der bibliothekarischen Literatur immer wieder, wenn auch in der (anderen) deutschsprachigen erst ab den 1970er Jahren. Es scheint ein Schritt mit dem Wunsch der Professionalisierung zu sein.

  1. Es wird unterstellt, dass auch Schulbibliotheken nur dann richtig sinnvoll wären, wenn sie bibliothekarisch geführt würden. Dies wird praktisch nicht weiter begründet, sondern als gegeben vorausgesetzt. Bei Palmgren ist dies nur sehr auffällig: Sie stellt erst dar, dass die Schulbibliotheken auch so „irgendwie” funktionieren, was auch darauf hindeutet, dass sie anders, als unter einem explizit bibliothekarischen Blickwinkel angesehen und geführt werden könnten. Vielleicht ist der pädagogische Blick ausreichend? Vielleicht sind bestimmte bibliothekarische Annahmen in der Realität gar nicht stimmig? Das wird gar nicht diskutiert.
  2. Diese Behauptung macht es dann aber auch unnötig, richtig darzulegen, wie denn diese bibliothekarische Arbeit aussehen soll und welchen Mehrwert sie für die Schulbibliothek bringen soll. Es wird einfach von nicht ausgenutzten Potentialen ausgegangen – und vorausgesetzt, dass die Leserinnen und Lesern auch von diesen ohne weitere Begründung überzeugt sind – und dann werden die Schulbibliotheken, die solche Potentiale umsetzen wollten, eigentlich sich selber überlassen.
  3. Was mit dieser Argumentation einhergeht, ist die diskursive Aufteilung in mindestens zwei Formen von Schulbibliotheken: die richtigen, bibliothekarisch geführten und die anderen, nicht so richtig richtigen Schulbibliotheken. Diese Zweiteilung stellt dann das Bibliothekswesen auf die Seite der „richtigen” Schulbibliotheken und auch die Aufgabe, die anderen Schulbibliotheken zu beraten. Solange sie sich beraten lassen, werden sie dann auch für den Moment akzeptiert. Aber das ist Rhetorik, kein Beweis und auch kein Frage, ob die Lösungen, die in den „anderen” Schulbibliotheken gefunden worden sind, nicht auch richtig sein könnten. Durch diese Zweiteilung ernennt sich das Bibliothekswesen zu der Seite, die weiss, was richtig ist für Schulbibliotheken. Das das Schulwesen den gleichen Anspruch erheben könnte, ist gar nicht vorgesehen. Und damit dann auch nicht, den eigenen Anspruch überhaupt zu überprüfen. So funktionieren Diskurse: Durch solche Aussagen, die Abgrenzungen treffen, werden Ansprüche, Aufgaben, Zielsetzungen verteilt, Hierarchien erstellt, bestimmte Dinge „entstehen” als Wahrheit und andere, mögliche Wahrheiten werden praktisch undenkbar.
  4. Im Gegensatz zu späteren Texten, die solche Unterschiede oft nur postulieren und in denen offenbar davon ausgegangen wird, dass sie bekannt sind, nennt Palmgren ein konkretes Beispiel für den Unterschied zwischen den beiden „Formen” der Schulbibliothek: Den Katalog. „[Persönliche Besuche in Schulbibliotheken, K.S.] bestärkten mich in der Ueberzeugung, dass die Katalogisierung und was damit zusammenhängt, den Schulbibliothekaren stets die grösste Mühe bereitet.” (Palmgren 1909: 206) Das ist auch heute noch so: Im Bibliothekswesen wird Wert auf einen Katalog gelegt, der bibliothekarisch geführt ist (viele Texte wurden geschrieben, nur um zu erklären, wie ein solcher angelegt und gepflegt werden kann), in den Schulbibliotheken findet sich praktisch nie so ein Katalog. Selbst wenn Katalogsoftware genutzt wird (was auch nicht normal ist, viele Schulbibliotheken haben Bestandslisten als Excel-Tabelle oder gar keine Kataloge, und selbst wenn sie einen haben, sind Kataloge oft nicht für die Nutzerinnen und Nutzer offen), geht das nicht leicht von der Hand, viele Regeln und zu füllende Felder bleiben unbeachtet. Das ist ein Hinweis darauf, dass über die Funktion eines Katalogs in Schulbibliotheken nachzudenken wäre: Bedarf es eines Katalogs? Welcher Form? Wie viel Arbeit muss in den Katalog gesteckt werden, damit er sinnvoll ist? Wenn die Aufstellung im Raum oder die einfach Liste mit Suchfunktion die gleichen Aufgaben erfüllen kann, was ist dann der Sinn tieferer (und arbeitsreicherer) Katalogisierung? Durch Palmgrens Setzung werden solche Fragen aber praktisch unmöglich. Die Schulbibliothek, wenn sie als richtige Schulbibliotheken gelten soll, muss einen bibliothekarische geführten Katalog haben. Punktum.

Seit den 1970er Jahren lässt sich dieser Diskurs, der bei Palmgren angelegt ist, auch in den Positionen und Veröffentlichungen des restlichen deutschsprachigen Bibliothekswesen nachweisen. Zuvor wurde eher akzeptiert, dass Schulbibliotheken von Lehrpersonen geführt wurden (auch wenn es davon Ausnahmen gab), danach nicht mehr wirklich. Der Anspruch ist aber selbstverständlich nur solange halten – auch weil er nicht nachgewiesen, sondern einfach nur aufgestellt ist –, solange andere Gruppen ihn akzeptieren (Schulen; die Lehrpersonen in den Bibliotheken oder – wie sich später zeigte – andere Personen, welche die Schulbibliotheken führen, Ehrenamtliche, Schülerinnen und Schüler; Schulverwaltungen und Politik). Das dies nicht immer der Fall ist, scheint Bibliotheken wenn überhaupt wahrgenommen, eher für Verwunderung zu sorgen. In einem solchen Fall wird weiterhin der Wunsch geäussert, dass sich das in Zukunft ändern müsste.

Komplizierter geworden ist seit Palmgrens Text, dass heute auch andere Akteurinnen und Akteure mit einem ähnlichen Anspruch auftreten. Oft scheint es so, als würden die Lehrpersonen in den Schulen einfach das Bibliothekswesen mit seinen Ansprüchen ignorieren und machen, was sie richtig finden. Aber einige der Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken, die heute in Deutschland existieren, werden auch von Personen getragen, die Schulbibliotheken leiten, auch ohne bibliothekarische Ausbildung, die aber aufgrund dessen, dass sie es tun, einen guten Anspruch darauf formulieren können, dass sie auch wissen, wie das geht, eine Schulbibliothek führen. Das ist bei Palmgren nicht vorgesehen. Und es scheint auch im Bibliothekswesen nicht reflektiert zu werden. Vielmehr scheint der Diskurs, den Palmgren zeigt, auch heute wirkmächtig – und für das Bibliothekswesen überzeugend.

Kontinuität: Mängel

„Bei der Beurteilung der Verhältnisse an den Schulbibliotheken des Reiches [Schweden, K.S.] im allgemeinen stösst man auf drei, besonders augenfällige, Mängel: 1. Mangel an guten Lokalen, 2. an genügend Mitteln zur Unterhaltung und 3. an Fachausbildung der Schulbibliothekare.” (Palmgren 1909: 203)

Auffällig ist, dass Palmgren in ihrem Text die gleichen Mängel aufzählt, die auch heute immer wieder genannt werden, wenn es darum geht, was Schulbibliotheken fehlen würde: Raum, Geld, bibliothekarisch gebildetes Personal.

Was heisst das? Hat sich die Situation seit über hundert Jahren nicht verändert? Oder ist das einfach ein stetiger Diskurs, der einfach weitergeführt wird? Gerade das sind Fragen, die es spannend machen, solche alten Texte auszuwerten.

Wir wissen, dass sich viel verändert hat seit 1909. Die Schulen sehen anders aus, sind grösser, schöner (wirklich), haben mehr Infrastruktur. Die Aufgaben der Schulen sind andere geworden, zumindest zum Teil. Die Medienformen sind vielfältiger geworden. Die Menschen, die ja in den Schulen arbeiten und lernen, sollen auch viel individueller geworden sein. Und vieles mehr. Aber gerade die Mängel in den Schulbibliotheken sollen die gleichen geblieben sein? Erscheint das nicht absurd?

Doch der Diskurs würde wohl nicht heute ähnlich geführt werden, wie in Palmgrens Text, wenn er nicht irgendwen – und wohl vor allem die, die ihn führen – überzeugen würde. Hat sich vielleicht der Anspruch einfach mit verändert, also gibt es zwar andere, grössere Räume für Schulbibliotheken (so wie es ja 2018 auch andere Schulräume gibt als 1909), aber damit sind einfach die Ansprüche gewachsen? Oder gehört es vielleicht einfach zu Überzeugung wenn man über Schulbibliotheken spricht, dass immer noch bessere und grössere Räume möglich wären?

Interessant ist, dass es heute sehr wohl Schulbibliotheken gibt, die räumlich und finanziell gut ausgestattet sind, auch solche, in denen entweder bibliothekarisches Personal arbeitet oder aber bibliothekarisch weitergebildetes (wie zum Beispiel in Bayern). Es wäre also möglich, zu überprüfen, ob die genannten Mängel eigentlich wirklich Mängel sind, ob es also etwas bringt, sie zu beheben (ob also die Schulbibliotheken dadurch wirklich besser werden und wenn ja, wie). Das wird aber nicht unternommen.

Stattdessen finden sie sich immer wieder (aber nicht immer und überall). Zu vermuten ist also, dass sie eine andere Funktion haben könnten. Ist es vielleicht so, dass der Verweis auf diese Mängel hilft, gar nicht so sehr nach anderen, konkreten Probleme und Mängeln, die mehrere Schulbibliotheken umfassen, zu fragen? Ist es ein Allgemeinplatz, vielleicht auch, um eigentlich etwas anderes zu sagen, zum Beispiel, dass man sich zu wenig ernst genommen fühlt? Auffällig ist zumindest, wie konstant diese Aufzählung geblieben ist.

Kontinuität: Bildungsvorstellung Selbstbildung

Wozu ist die Schulbibliothek da? Auch diese Frage zieht sich durch die bibliothekarische Literatur zu Schulbibliotheken selber. Ständig wird nach Gründen gesucht, die man nach aussen hin angeben könnte, warum Schulbibliotheken wichtig wären, was halt ihr Potential für die Schule oder die Schülerinnen und Schüler wäre. Man würde erwarten, dass sich dies mit der Zeit verändert hätte. Es gibt auch von Zeit neue Vorschläge, vor allem, wie die Schulbibliothek in den Unterricht einzubinden sei. Aber auch die werden eigentlich alle paar Jahre neu gemacht, was darauf hindeutet, dass sie doch selten umgesetzt werden. Vielmehr findet sich seit Jahrzehnten die Argumentation, welche sich auch bei Palmgren findet, wenn Sie für Lesesäle mit Nachschlagewerken in den Schulbibliotheken argumentiert:

„Die Nützlichkeit solcher Lesesäle für die Schüler, das Mittel, sie zur Selbsttätigkeit heranzubilden, wurde [im Kursus, K.S.] besonders stark hervorgehoben; selbständige Initiative, geistige Unternehmungslust und eine für ihre allgemeine Bildung unschätzbare Gewöhnung mit Büchern umzugehen, würde eine sichere Folge dieser Reformen sein.” (Palmgren 1909: 206)

Der freie Zugang zu Medien würde zum selbstständigen Arbeiten der Schülerinnen und Schüler führen und dazu, dass sie sich angewöhnen würden, von sich selber aus zu lernen und „mit Büchern umzugehen” (ergo zu Lesen und zu Lernen). Das wäre bislang nicht der Fall. Heute hat sich die Terminologie etwas gewandelt, zudem werden mehr Medienformen erwähnt. Aber die Argumentation ist die gleiche geblieben. Weiterhin wird argumentiert, dass Schulbibliotheken quasi direkt dazu führen würden, dass Schülerinnen und Schüler selbstständige und – nun ja – lebenslange Lernende würden. Auffällig ist dabei nicht nur, dass dieses Argument ständig wiederholt wird – also als wirksam und richtig gilt, aber offenbar auch wiederholt werden muss und kann, so als ob es halt doch nicht zu Schulbibliotheken führt –, sondern das auch wenig über dieses Argument hinausgegangen wird. Vielleicht hat Palmgren in ihrem Kurs mehr erzählt, aber die bibliothekarische Literatur bleibt eigentlich bei dieser recht einfachen Vorstellung: „freier Zugang zu Medien → Schülerinnen und Schüler lernen, selbstständig zu lernen” stehen. Der Pfeil selber wird praktisch nicht beschrieben und untersucht. Dabei wäre gerade er wichtig, um eine Schulbibliothek und die Arbeit in ihr konkret zu gestalten. Oder zu schauen, ob es überhaupt stimmt und vielleicht darauf zu reagieren, wenn es nicht stimmt. Viel eher scheint es, als wäre das Argument eher eine (weithin in Bibliotheken geteilte) Überzeugung. Eine, die vielleicht auch die Identität des Bibliothekswesens und der bibliothekarischen Profession prägt.

Dabei war die Argumentation in der Zeit, in der Palmgren sie äusserte, nicht so allgemein akzeptiert in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. Palmgren argumentierte noch in einer Zeit, in welcher das Bibliothekswesen den eigenen Bildungsanspruch noch als Aufgabe, die Menschen (gerade Jugendliche oder „untere Schichten”) zu erziehen, definierte und in welcher die Thekenbibliothek, nicht die Freihandbibliothek, der Normalfall war. Auch Plamgren redet nicht von einem direkten Zugang zu den Medien (also der Freihand), aber immerhin von einem Ort, um frei mit Nachschlagewerken und anderen Medien zu arbeiten. Doch trotz der Veränderungen im Bibliothekswesen, ist das von ihr gelieferte Argument grundsätzlich gleich geblieben.

Kontinuität: Richtige Schulbibliotheken entwickeln durch die Weiterbildung des Personals

Schulbibliotheken werden, sowohl bei Palmgren als auch in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur zum Thema seit den 1970ern als ein zu lösendes Problem gesehen. Der jetzige Zustand wird immer als mangelhaft beschrieben und es wird nach Wegen gesucht, diesen zu verändern. Dieser Fokus führt dann, wie geschildert, diskursiv auch dazu, die schon jetzt in den Schulbibliotheken geleistete Arbeit zu bewerten oder als Aussage darüber zu interpretieren, was möglich oder nicht möglich ist.

Auffällig ist, das eine Lösung, die immer wieder vorgeschlagenen wird, auch schon bei Palmgren vorkommt: Die Weiterbildung des Personals. Wie schon dargestellt: Eigentlich gilt, dass Schulbibliotheken von Personal geleitet werden sollen, welches eine gesonderte bibliothekarische oder schulbibliothekarische Ausbildung genossen hat. Aber die nächst beste Lösung ist die Weiterbildung des schon vorhandenen Personals, selbstverständlich in eine bibliothekarische Richtung (es wäre ja zum Beispiel auch eine pädagogische möglich). Palmgren beschreibt, dass so ein Wunsch von den Lehrpersonen in Schweden geäussert worden wäre.

„Die Bibliotheksfrage ist der Gegenstand von Diskussionen und Vorträgen in pädagogischen Vereinen und Lehrerversammlungen gewesen, und hierbei sich Forderungen und Wünsche der Lehrer hinsichtlich einer Reform der Schulbibliotheken behandelt worden.” (Palmgren 1909: 204)

So etwas findet sich heute in den Weiterbildungen, welche Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken organisieren (aber dann nicht unbedingt im Rahmen des Bibliothekswesens). Ansonsten wird die Lösung auch so oft angedacht.

Interessant ist hier wieder, das Palmgren einen Hintergedanken ausspricht, der heute eher nicht so genau formuliert wird, obwohl er weiterhin hinter vielen Weiterbildungsangeboten und Versuchen, solche zu etablieren, zu bestehen scheint: Wenn erst einmal das Personal in Schulbibliotheken bibliothekarisch ausgebildet wäre, würde es sich dafür einsetzen, dass es bessere – also „richtige” – Schulbibliotheken gäbe. Es scheint die Überzeugung zu geben, dass die bibliothekarische Organisation von Schulbibliotheken – also zum Beispiel mit ausführlichen Katalogen, Vermittlungsarbeit und dem, was wir heute Bestandsmanagement nennen – so überzeugend und richtig sei, dass die, die davon erfahren, sie auch als das richtige Ziel akzeptieren. In diesem Diskurs scheint es nicht so zu sein, dass es vielleicht andere berechtigte Formen von Schulbibliotheken geben könnte. In dieser Interpretation scheint das Problem vielmehr einfach zu sein, dass das jetzige Personal in Schulbibliotheken einfach noch nicht weiss, „wie es richtig geht”. Wenn es dies erfahren hätte, würde es auch ganz automatisch richtige Schulbibliotheken wünschen. Mit solchen Weiterbildungen würde man also eine Bewegung „von unten” anstossen, „bibliothekarische Schulbibliotheken” zu fordern und einzurichten.12 Und auch hier: Wie genau das funktionieren soll, wird nicht besprochen. Es reicht die Vorstellung, dass es so funktionieren würde – und damit stellt sich dann als Lösung vor allem die Frage, wie solche Weiterbildungen zu organisieren seien.

„Gelingt es, ein Korps fachlich gebildeter Schulbibliothekare heranzubilden, dann werden diese besser im stande [sic!] sein, die jetzigen Verhältnisse auszunützen und sich dem anzupassen, was schon vorhanden ist.” (Palmgren 1909: 204)

Kontinuität und Diskontinuität: Die Jugend und ihre Lektüre

Ein Diskurs, welcher sich in der bibliothekarischen Literatur den Jahrzehnten verändert hat, aber in Teilen auch nicht, ist der über die Jugend und ihre Lektüre. Ständig wird der Blick auf diese gerichtet, aber wie und mit welchem Ziel, verändert sich mit der Zeit. Der Text von Palmgren ist nicht geeignet, um zu zeigen, dass dieser Blick auf die Lektüre eigentlich nur Kinder und Jugendliche trifft. (Die Lektüre anderer Gruppen ist eigentlich immer nur in einem spezifischen Zeitraum Thema.) Beim Thema Schulbibliotheken ist dies verständlich. Es ist allerdings auffällig, dass nicht auch über die Lektüre der Lehrpersonen geredet wird, obgleich (siehe unten) im Text extra in Bibliotheken für Lehrpersonal und für Schülerinnen und Schüler unterschieden wird.

Schauen wir einmal auf das betreffende Zitat, wird auffällig, dass in ihm eine Wertung von verschiedenen Büchern mitschwingt, die auch ganz einfach als bekannt und gegeben vorausgesetzt werden:

„Die Schüler bedienen sich ihrer [der Schulbibliothek, K.S.] hauptsächlich zur Unterhaltungslektüre, und zwar aus dem natürlichen Grund, weil Unterricht und Bibliothek nicht zusammenwirken. Man kann deshalb ruhig behaupten, dass unsere Schülerbibliotheken noch lange nicht die Aufgabe erfüllen, die den Bibliotheken bei der Erziehung der Jugend zukommt.” (Palmgren 1909: 203)

Für Palmgren ist klar, dass „Unterhaltungslektüre” keine richtige Lektüre wäre, die zur Bildung beitragen würde. Dies gelte nur bei anderen Büchern. Was Unterhaltungslektüre ist und was die anderen Bücher sind, scheint Palmgren nicht genauer beschreiben zu müssen. Das ist ihren Leserinnen und Lesern bekannt. Auch scheint sie ihre Wertung nicht begründen zu müssen.

Auffällig ist die Phrase „Erziehung der Jugend”. Diese sollten man nicht als reine Formulierung abtun. Vielmehr ist hier eine Überzeugung niedergelegt, welche von Bibliotheken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aktiv gepflegt wurde: Bibliotheken sollen erziehen, nicht bilden. Und zwar vor allem die Jugend. Der Unterschied zwischen Bildung und Erziehung ist relevant. Erziehung heisst immer, Erziehung zu etwas. Es gibt ein Bild des „richtigen Menschen”, auf den hin erzogen wird. Und Bibliotheken würden dies tun, zumindest in Bezug auf die Lektüre. Wenn heute Bibliotheken von Bildung reden, meinen sie etwas anderes. Heute überlassen sie die eigentlich Bildung, also auch das Setzen von Bildungszielen, eigentlich anderen (Schulen, den Lernenden, der Politik, der Wirtschaft) und versuchen sich vor allem an der Unterstützung dieser Ziele. Wenn nicht überhaupt (wie oben gesagt) der Zugang zu Medien mit selbstständiger Bildung gleichgesetzt wird.

Insoweit hat ein gewichtiger Wandel stattgefunden. Es ist nicht so, dass die bibliothekarischen Diskurse einfach nur über die Jahrzehnte reproduziert werden. Aber sie nehmen auch nicht einfach immer den einfachen Weg und verschwinden einfach, wenn sie gelöst sind. Es ist komplexer. Sie wandeln sich, aber auch nicht immer einfach und vorhersehbar. Und einige Themen hören tatsächlich auf, immer wieder besprochen zu werden (siehe die folgenden Beispiele). Andere, wie hier der ständige Blick auf die Jugend, werden weitergeführt, aber mit einem ganz anderen Fokus: Heute geht es eher darum, die Jugend irgendwie dazu zu bringen, die Bibliothek aufzusuchen. Geblieben ist dabei die Vermutung, dass sie es nicht täte und wenn doch, dann auch nicht richtig tun würde (was eigentlich empirisch zu untersuchen wäre). Aber offenbar hat dieser ständige Blick auf die Jugend eine Bedeutung für Bibliotheken behalten. Und gerade diese komplexen Entwicklungen machen es interessant, diesen Diskursen über längere Zeit nachzuspüren.

Diskontinuität: Lehrerbibliotheken

Eine dieser Diskontinuitäten findet sich auch im Text von Palmgren: „Lehrerbibliotheken”. Über Jahrzehnte wurde in der bibliothekarischen Literatur darüber diskutiert, ob und wenn ja wie die Bibliotheken in den Schulen zu unterteilen seien. Es gäbe Bibliotheken für Lehrpersonen, deren – so Palmgren – „hauptsächliche Aufgabe [darin] besteht […], das Lehrpersonal mit pädagogischer Literatur, Zeitschriften, Enzyklopädien, Lexika usw.; überhaupt mit solcher Literatur zu versehen, deren es für seine Fachstudien und den Unterricht bedarf” (Palmgren 1909: 202) und solche für Schülerinnen und Schüler, „d. h. eigens für die Schüler eingerichtete Büchersammlungen.” (Palmgren 1909: 202) Palmgren berichtet sogar davon, das im Kurs vermittelt wurde, „dass die Schulbibliotheken vor allem danach streben sollten, Lehrerbibliotheken zu sein.” (Palmgren 1909: 205)

Die heutige bibliothekarische Literatur zu Schulbibliotheken kennt diese Frage nicht. Es ist heute klar, dass Schulbibliotheken (egal welche) wenn es sie gibt, für die Schülerinnen und Schüler da sind. Die Diskussion hörte irgendwann auf und es ist auch nicht ersichtlich, ob sich irgendeine Schulbibliothek heute noch dafür zuständig sieht, die pädagogische Literatur für das Lehrpersonal zu beschaffen. [Höchstens in sehr gut ausgestatteten Schulbibliotheken, die als kleine Filialen von Öffentlichen Bibliotheken funktionieren oder funktionieren könnten, finden sich manchmal pädagogische Bestände, dann aber als Teil der für alle zugänglichen Bestände.]

Es gab in auch bis in die 1970er Jahre hinein immer wieder Diskussionen dazu, ob Klassenraumbibliotheken oder zentrale Schulbibliotheken (also eine Bibliothek für die ganze Schule) sinnvoll wären. Diese wurden teilweise mit grossem Verve geführt. Dann verschwand auch diese Debatte aus der Diskussion, so wie die zu Bibliotheken für Lehrpersonen. Was nicht heisst, dass dies in den Schulen auch vorbei ist. Es finden sich sehr wohl Klassenraumbibliotheken. Aber in der Literatur erscheinen eigentlich nur noch zentrale Schulbibliotheken, ohne das dies noch gross nachgewiesen wird.

Interessant ist zum einen, nachzuvollziehen, wann diese Debatten auftauchten, wann sie intensiv geführt wurden und wann sie verschwanden. Zum anderen wird es dann interessant zu fragen, warum diese unterschiedlichen Formen von Schulbibliotheken nicht nur existierten, sondern zum Thema von bibliothekarischen Diskussionen wurden, die ja auch bestimmen sollten, was Schulbibliotheken an sich sind (also welche Funktion diese Debatten für die Profession hatten) und warum sie ihre Funktion irgendwann verloren – und ob die Funktion verschwand oder einfach an andere Debatten überging.

Diskontinuität: Bewertung des Personals in den Schulbibliotheken

Ein weiterer Unterschied zu späteren und aktuellen bibliothekarischen Texten zu Schulbibliotheken ist die Bewertung des schon vorhandenen Personals in Schulbibliotheken. Wie gesagt, vermittelt auch Palmgren den Eindruck, dass ein richtige Schulbibliothek eine mit bibliothekarisch gebildetem Personal sei. Dessen ungeachtet ist sie aber voller Lobes für das Personal und zeigt grosses Verständnis dafür, dass es die Bibliotheken nicht so führt, wie es der Meinung Palmgrens nach notwendig wäre:

„[Mit Ausnahme einer Bibliothek, K.S.] sind die Bibliothekare immer zugleich Lehrer an der betreffenden Schule. Um der Bibliothek ordentlich vorstehen zu können, müssten sie einen viel grösseren Teil ihrer Zeit opfern; da aber ihr Gehalt als Bibliothekar von etwa 75 Kronen bis höchstens 300 Kronen jährlich schwankt, kann man nicht verlangen, dass jemand in diesen teuren Zeiten gewillt ist, von seinen Mussestunden so viel zu opfern, als nötig ist, um eine Bibliothek, selbst eine kleinere, rationell zu verwalten. Bedenkt man noch den Umstand, dass unsere Schulbibliothekare nicht speziell für das Bibliotheksfach herangebildet, sondern auf diesem Gebiete Autodidakten sind, dann versteht man leicht, dass schon die Kataloge, selbst in ihrer jetzigen Gestalt, den Bibliothekaren mehr Zeit und Mühe kosten als was ihrem geringen Honorar entspricht.” (Palmgren 1909: 203)

Sie zeigt sich auch beeindruckt vom Elan der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an ihrem Kurs. Dies steht im Kontrast zu einigen Beiträgen aus den 1970er bis 1990er Jahren, in denen recht offen gewertet wurde, dass solche Personen eigentlich aus den Schulbibliotheken herausgedrängt werden müssten. Und es steht auch im Kontrast zur heutigen Situation, in welcher das real in den Schulbibliotheken tätige Personal praktisch gar nicht mehr erwähnt wird. War Palmgren einfach nur höflicher? Oder zeigt diese Veränderung auch eine Veränderung des Denkens über Bibliotheken an?

Fazit

Zusammengefasst kann man sagen, dass der Text von Palmgren weit mehr Kontinuitäten zu heutigen bibliothekarischen Texten zu Schulbibliotheken aufweist, als Diskontinuitäten. Was heisst das? Hat Palmgren einfach vor 109 Jahren schon gewusst, was 2018 noch wichtige Themen sind? Haben sich die Themen einfach nur sehr langsam verändert (während die Gesellschaften sich doch massiv verändert haben)? Sind bestimmte Themen und Diskurse einfach Teil der bibliothekarischen Identität? Hat ihre Thematisierung – ja oft eher als Behauptungen und weniger als überprüfte und empirisch gefestigte Aussagen – eine Funktion für das Bibliothekswesen? Muss es diese Behauptungen aufstellen und diese Fragen thematisieren, um sich als modernes Bibliothekswesen zu verstehen? Und – quer dazu – wie ist es dazu gekommen, dass einige Dinge sich doch verändert haben?

Solche Fragen treiben mich um, wenn ich mich mit bibliothekarischen Texten von 1870 (oder so) bis heute beschäftige. Dabei geht es mir gar nicht einmal darum, zu einer Wahrheit über die Bibliotheken vorzustossen, also zu versuchen, zu sagen, was richtig oder falsch ist. Mir geht es erst einmal darum zu verstehen, welche Einschlüsse und Ausgrenzungen durch die bibliothekarischen Diskurse produziert werden (z.B. durch die Einteilung in richtige und nicht ganz so richtige Schulbibliotheken), welche Diskurse langlebig sind und welche kurzlebig. Mich interessieren auch „roads not taken”, also Entwicklungen im Bibliothekswesen, die mal so möglich erschienen, dass sie thematisiert wurden, und die dann doch nicht verfolgt wurden. Es ist also erstmal ein geschichtliches Interesse.

Aber nur, weil ich erst einmal nicht sagen will, was richtig ist und was falsch, und auch nicht, was Bibliotheken aus ihren Diskursen lernen müssen, schiene es mir doch für all die Bibliotheken, in denen ständig Entscheidungen getroffen werden müssen (was warum zu tun ist, welche Argumente für welche Angebote gelten und welche nicht, was als sinnvoller Diskurs / als sinnvolles Argument wahrgenommen wird und was nicht), sinnvoll, wenn mehr über die tatsächlich geführten Debatten der vergangenen Jahrzehnte bekannt wäre. Heute scheint vor allem der Gestus vorzuherrschen, zu behaupten, gerade jetzt würden sich die Bibliotheken neu erfinden und wie sie vorher wären, dass sei bekannt — aber so seien sie nicht mehr. Das ist ein Gestus, der es einfach macht, alles mögliche als neue Entwicklung zu verstehen. Es ist aber falsch: Der Grossteil dessen, was als neu oder innovativ gilt, hat seine Pendants in den schon vorhandenen bibliothekarischen Debatten der letzten Jahrzehnte, auch wenn diese Verbindungen nicht bekannt sind. Wäre es deshalb nicht sinnvoller, zu wissen, was schon diskutiert, behauptet, erhofft wurde, um auf dem Scheitern solcher Behauptungen aufzubauen (wenn zum Beispiel sichtbar wird, dass das gleiche Argument für ein bestimmte Entwicklung seit Jahrzehnten wiederholt wird, also doch nie umgesetzt wird) anstatt das Gleich immer nochmal zu machen?

 

Fussnoten

1 Die ganzen Diskussionen um die “Freihand”-Bibliothek enden zum Beispiel in den 1960ern ganz einfach. Vorher wurde darüber gestritten, ob das eine sinnvolle Form von Bibliotheken sein könne, wie es mit dem Bildungsanspruch der Bibliotheken sei. Es gab Bibliotheken, die “es ausprobierten”, die nach vorne stürmten und (mehrfach) behaupteten, die ersten zu sein, die eine Freihand einrichten würden. Es gab Diskussionen darum, wie viel Personal benötigt würde, um in einer Freihandbibliothek noch Bildungsberatung anbieten zu können. – Und dann, fast auf einmal, werden neue Bibliotheken als Freihand-Bibliotheken gebaut oder als solche neu eingerichtet, und es wird gar nicht mehr thematisiert. Nur, wenn in den Berichten in der bibliothekarischen Presse dazu Bilder oder Raumskizzen beigegeben werden, ist das dann noch sichtbar.

2 Zum Beispiel Bibliotheksstatistik, Effizienzvorstellungen bei Zentralkatalogen oder der Zusammenlegung von Bibliotheken, Berufsbilddiskussionen – das zieht sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder durch, nur halt am Anfang mit einem historischen Wissen davon, was schon gesagt wurde, dann irgendwann ohne dieses Wissen, so als wären die Themen, Argumente und so weiter neu – was sie wohl auch sind im Sinne von “hatte ich, die Autorin / der Autor vorher noch nicht”, aber nicht im Sinne von “gab es vorher noch nicht / hat noch nie jemand geschrieben”.

3 Zum Beispiel wird unter dem Begriff “Jugendliteratur” erst die ganze “Schmutz und Schund”-Debatte geführt und nach der “guten Jugendliteratur” gesucht, dann in den 1960ern ohne grossen Übergang nicht mehr vor Literatur gewarnt, sondern nur noch empfohlen und dann ab den 1980ern gefragt, was die Jugendlichen lesen, damit sie in die Bibliothek kommen.

4 Die ganze “Schmutz und Schund”-Idee, dass ein Grossteil der Literatur für Kinder und Jugendliche schlecht sei und sie auf “schiefe Bahnen” bringen würde, die lange Jahrzehnte ein Antrieb für die bibliothekarische Arbeit war (heute sieht das wie ein absurder Nebendiskurs aus, aber es war eine prägende Überzeugung, die bis in die 1950er explizit in den bibliothekarischen Medien als Mainstream vertreten wurde) – die ist zum Beispiel tatsächlich an ihr Ende gelangt.

5 Marketing in / für Bibliotheken, das taucht offenbar erst in den 1960ern auf, soweit ich das bislang gesehen habe.

6 Übrigens eine neuere Entwicklung. Bis in die 1950er, 1960er war es noch so, dass in vielen Texten in bibliothekarischen Medien referiert wurde, was in den Jahren und Jahrzehnten vorher zum Thema gesagt wurde und dann erst versucht, an diese Debatten anzuschliessen. Heute scheint es manchmal, als würde so eine kurze historische Recherche den ganzen Diskurs von Veränderung und Neuheit unmöglich machen.

7 Da bin ich, ganz ohne Entschuldigung, dekonstruktivistisch geprägt: Diskurse, also was gesagt oder nicht gesagt wird, hat direkte Auswirkungen auf die Identität und das Denken (zum Beispiel was gedacht werden kann und was nicht) – und so auch auf die Realität. Sprache ist Macht. Sprachhandlungen etablieren, bestätigen und reproduzieren Machtbeziehungen. Ohne Diskurs keine Identität. All das. Foucault, Butler, Derrida. Aus dieser Perspektive ist es aber auch sinnvoll, die Beiträge in bibliothekarischen Medien als Diskurs zu untersuchen – und nicht, wie das auch passiert als “interessant, dass hat mal wer gesagt”.

8 Und später wohl zu denen fahren werde, die nicht einfach so per Fernleihe zu beschaffen sind. Das Zentrum für das Buch in St. Gallen scheint da zum Beispiel mehrere Besuche wert zu sein.

9 Das ganze Projekt dieser Geschichtsschreibung ist ein langfristiges, also auch keines, das schon fertig wäre. Insoweit eine Einschränkung: für das deutsche Bibliothekswesen bis 1933 und für das bundesdeutsche nach 1945, für das österreichische, auch in diesen Zeiten, sowie für das schweizerische kann man von dieser Tradition ausgehen. Für das Bibliothekswesen in der DDR vermutlich auch, aber da muss ich noch genauer schauen. Für die NS-Zeit weiss ich es noch nicht.

10 Es wird kein Grund dafür angeführt, warum dieser Text präsentiert wird. Aber das ist normal. Auch Texte über andere Ländern werden einfach so präsentiert. Vielleicht kann man das positiv als liberale Geisteshaltung des Bibliothekswesens interpretieren. Aber es ist nicht klar, wieso die Redaktion diesen Text abdruckte. Wir sind zu Interpretationen gezwungen.

11 Es scheint notwendig für diese Bibliothekswesen zu sein, eine Position gerade zum US-amerikanischen Bibliothekswesen zu entwickeln. Auch im ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus finden sich in den bibliothekarischen Zeitschriften (zumindest den deutschen) Abhandlungen dazu, wenn auch genau mit dem gegenteiligen Gestus, nämlich dem Anspruch, nachzuweisen, dass das deutsche besser als das US-amerikanische sei. Aber es ist auffällig: Kein anderes Bibliothekswesen regt diese ständige Auseinandersetzung an, obwohl z.B. das französische auch immer diskutiert werden könnte.

12 Wie sollte es anders sein? Zum Beispiel könnte das Personal auch Fragen haben, die es schon gemeinsam besprochen wünscht, die aber nicht so sehr mit den bibliothekarischen Überzeugungen übereinstimmen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Session für Schulbibliotheken auf einem der österreichischen Bibliothekskongress, die viele Lehrpersonen besuchten welche Schulbibliotheken leiten. Besprochen wurde in der Session welche Bücher (Nachschlagewerke) gut wären und gekauft werden sollten. Nicht mehr, nicht weniger. Dazu treffen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare heute eigentlich nicht (mehr). Oder: Bei unserer Studie zu Volksschulbibliotheken im Kanton St. Gallen äusserten die Lehrpersonen in den Schulbibliotheken, die wir besuchten, auch Fragen, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare irritieren würden, die sie aber beschäftigen. Zum Beispiel wollten sie Katalogsysteme, bei denen man möglichst wenige Daten eingeben muss. Welches gäbe es da? Es ging nicht darum, Daten von anderswo zu übernehmen oder aber auf RDA vorbereitet zu sein.

Schulbibliotheken in Berlin 2017: Nur leichte Entwicklung, etwas gerechter. Erfahrungen nach 10 Jahren Recherche

Seit jetzt zehn Jahren wird hier in diesem Blog – erhoben nach immer der gleich Methodik – die Anzahl der Schulbibliotheken, die sich in Berlin über die Homepages aller Schulen (Quelle: offizielles Schulverzeichnis) finden lassen, berichtet. Erhoben werden diese Zahlen immer im April, d.h. zu einer Zeit, in welcher der Schulalltag für das jeweilige Schuljahr schon etabliert ist und auch zu erwarten ist, dass die Homepages mindestens für das Schuljahr aktualisiert worden sind.

Die Grenzen und Potentiale dieser Erhebung sind in den letzten Jahren schon dargestellt worden; grundsätzlich aber gilt, dass es bislang keine andere Form der systematischen Erhebung dieser Zahl gibt. Die Daten sind als ungefähre Angaben zu verstehen, da die Homepages der Schulen als Präsentation dieser an die Öffentlichkeit, aber nicht immer als vollständig mit der Schulrealität übereinstimmend zu verstehen sind. Es ist möglich, dass Bibliotheken in Schulen existieren, die im Schulalltag aber so wenig Relevanz haben, dass sie nicht nach außen präsentiert werden. Ebenso ist es möglich, dass Bibliotheken geschlossen sind, aber noch auf der Homepage einer Bibliothek auftauchen (die bei dieser langjährigen Recherche angesammelte Erfahrung zeigt, dass eine ganze Anzahl von Schulen in Berlin ihre Homepage nur langsam updaten).

Am Beginn dieser Recherche (2008) wurden Thesen und Fragen über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin aufgestellt, die nun überprüft beziehungsweise besser beantwortet werden können. Ein Publikation dazu ist in Vorbereitung. In diesem Beitrag hier sollen kurz, zur Informationen, die Daten für dieses Jahr präsentiert werden.

Kaum Entwicklung

Die reinen Zahlen über die vorhandenen Schulbibliotheken in Berlin zeigen seit einigen Jahren ein ganz leichtes Wachstum und nur leichte Veränderungen bei der Verteilung nach Schultypen. Während die Veränderungen von 2008 bis 2012 massiv waren, scheint sich die Zahl seit damals zwar langsam zu erhöhen, aber bei der Verteilung ungefähr gleich zu bleiben. Auffällig ist, dass sich diese praktisch parallel zu den Veränderungen im Berliner Schulsystem entwickeln. Während die Reformen des letztens Jahrzehnts die Schullandschaft in Berlin massiv veränderten (tendenzieller Abbau reiner Schulen für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Inklusion – d.h. oft Umwandlung in inklusive Schulen –, die Schaffung der neuen Schulform „Integrierte Sekundarschule“, in die Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammengeführt wurden, was oft mit einem Zusammenlegen von Haupt- und Realschulen umgesetzt wurde, die Schaffung von Gemeinschaftsschulen, die durchgängig von der ersten Klasse bis zur Sekundarstufe geführt werden und die Etablierung von gemeinsamen JüL-Klassen für die Jahrgangsstufen eins bis drei als Normalfall in Grundschulen), veränderte sich z.B. die Zahl der Schulen in den letzten Jahren kaum noch. Die wenigen Änderungen lassen sich eher mit Schulneubauten oder den normalen Schwankungen aufgrund sich verändernder demographischer Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in den Berliner Kiezen (mehr oder weniger Kinder und Jugendliche im Schulalter) erklären. Eine ähnliche Entwicklung scheint sich auch bei den Schulbibliotheken zu zeigen (was der These, dass diese eher von den Schulen und weniger von bibliothekarischen Vorstellungen abhängen, zu entsprechen scheint), mit einem massiven Wachstum zur Zeiten der konkreten Änderungen in der Schullandschaft bis 2011, 2012 und einer langsamen Entwicklung danach.

Die folgende Tabelle zeigt die Zusammensetzung, die im April 2017 vorgefunden wurde.

(Für eine besser Bildqualität der Tabellen siehe die PDF-Datei am Ende des Beitrags.)

Weiterhin finden sich in den meisten Schulen in Berlin keine Schulbibliotheken, aber in einer großen Minderheit schon. Die Zahl der Grundschulen, welche eine Schulbibliothek führen, hat sich leicht erhöht, dies gilt auch für die Integrierten Sekundarschulen und die Schulen mit Förderschwerpunkten (jene, die nicht zu inklusiven Schulen umgebaut wurden), nachgelassen hat sie leicht in den Gymnasien und den Freien Walddorfschulen (wobei sie hier von drei auf zwei zurückging, was nur wegen der wenigen Schulen eine Relevanz hat). Grundsätzlich hat sich die Verteilung über die Schultypen hinweg nicht geändert.

Immer noch ist die Wahrscheinlichkeit, eine Schulbibliothek vorzufinden, in Grundschulen (d.h. den Klassen eins bis sechs) wahrscheinlicher, als in den anderen Schulen. Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium besuchen, haben mit höherer Wahrscheinlichkeit die Chance, eine Schulbibliothek zu nutzen als in den anderen Schultypen mit Sekundarstufe. In diesem Zusammenhang fand allerdings die größte Änderung zum Vorjahr statt: Die Differenz zwischen Integrierten Sekundarschulen und Gymnasien mit Schulbibliotheken, die sich in den letzten Jahren wieder – entgegen dem Anspruch der Schulreform, mit der neuen Schulform zu mehr Chancengerechtigkeit beizutragen – vergrößert hatte, ist in diesem Jahr kleiner geworden. (In der folgenden Graphik, welche die Prozente der Schulen mit Schulbibliothek angibt, in schwarz dargestellt.)

Überblickt man die Entwicklung der letzten zehn Jahre in Prozenten (folgende Graphik) und konkreten Zahlen (darauffolgende Graphik) zeigt sich, wie schon gesagt, eine langsame Aufwärtsentwicklung in den Gesamtzahlen.

 

In den letzten Jahren wurde hier in diesem Blog postuliert, dass mit 30% bis 35% der Schulen in Berlin, die eine Schulbibliothek unterhalten, vielleicht eine Sättigung eingetreten sei. In diesem Jahr stiegt die Zahl leicht über 35%, insoweit wäre die These zu revidieren auf einen Korridor von 30% bis 40%. Trotzdem scheint kein massives Wachstum und auch kein massiver Rückgang der Zahl der Schulbibliotheken bevorzustehen.

Zu den konkreten Schulbibliotheken

Auffällig sind die konkreten Schulbibliotheken selber. Weiterhin sind die Angaben zu den meisten dieser Einrichtungen sehr knapp gehalten, teilweise werden sie auf den Homepages nur unter „Ausstattung“ oder im Schulprogramm einfach einmal erwähnt, ohne das klar würde, was genau mit „Bibliothek“ gemeint ist. Immer wieder finden sich auch Einrichtungen, die als „Bücherei“ bezeichnet werden, aber offensichtlich die Schulbuchsammlungen meinen. (Diese werden nicht gezählt.)

Bei den Schulbibliotheken, die ausführlicher dargestellt werden, finden sich sehr unterschiedliche Typen. „Leseecken“, die offenbar der reinen Freizeitunterhaltung dienen ebenso wie ausgebaute Bibliotheken, die sich am Modell Öffentlicher Bibliotheken orientieren. Es finden sich Bibliotheken, die in den Unterricht – vor allem als Leseorte, z.B. zum Freien Lesen – eingebaut sind, ebenso wie Einrichtungen, die nur einmal in der Woche geöffnet haben. Die Betreuung der Schulbibliotheken wird weiterhin vor allem von den Schulen selber und von Ehrenamtlichen getragen. Schulische Arbeitsgemeinschaften, bei denen Schülerinnen und Schüler die Bibliothek betreiben, scheinen sich hingegen zu den Vorjahren kaum noch zu finden. Von einer direkten Trägerschaft von Öffentlichen Bibliotheken ist nirgends mehr die Rede, in den Bezirken Spandau und Reinickendorf finden sich Bibliotheken, die in Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betrieben werden. Grundsätzlich scheinen die Formen der Schulbibliotheken weiterhin sehr gemischt zu sein.

Auffällig sind einige Veränderungen in konkreten Schulen selber. So werden einige Schulbibliotheken, die in den letzten Jahren beständig gefunden wurden, nicht mehr erwähnt (und scheinen geschlossen), in einem Fall (Trelleborg Grundschule) wird sogar explizit angegeben, dass die Schulbibliothek aktuell geschlossen sei. Die zwei Bibliotheken des Canisius-Kolleges, die in den letzten Jahren extensiv auf der Homepage der Schule dargestellt wurden, sind jetzt in der Außendarstellung reduziert worden auf Orte, die im Zusammenhang mit der Hausaufgabenbetreuung genannt werden. Offenbar verändert sich mit der Zeit die Haltung zu den Bibliotheken in den Schulen selber. Das Vorhandensein einer Schulbibliothek überzeugt die Schulen nicht durchgängig, diese auch kontinuierlich zu unterhalten.

Gleichzeitig gab es eine ganze Reihe von Neugründungen, beispielsweise (relativ gut dokumentiert) in der Spartacus-Grundschule, die im März 2016 den Plan verkündete, eine Bibliothek zu gründen und im Januar 2017 schon die Eröffnung derselben feierte. Die Gesamtzahl der Schulbibliotheken, die eine so klare Entwicklung zu nehmen scheint, setzt sich also aus sehr unterschiedlichen Situationen zusammen, bei denen Neugründungen (oder auch Wiedereröffnungen) die Schließungen „ausgleichen“. (Eine Datenbank mit Berliner Schulen, die in den letzten zehn Jahren mindestens einmal eine Schulbibliothek auf ihrer Homepage angaben, welche im Rahmen der hier dargestellten Recherche geführt wird, hat aktuell immerhin 532 Datensätze (einer je Schule), bei jetzt etwas mehr als 700 Schulen in Berlin; allerdings enthält die Datenbank auch Schulen, die heute geschlossen oder mit anderen zusammengeführt sind. Die Zahl zeigt aber doch, dass eine große Zahl an Berliner Schulen Erfahrungen mit Schulbibliotheken gesammelt hat, diese Erfahrung aber oft auch dazu führt, dass die Bibliotheken wieder geschlossen werden.)

Überprüft man, wie viele Schulen in den letzten Jahren kontinuierlich eine Schulbibliothek betrieben haben (wobei bei der Auszählung davon ausgegangen wurde, dass die einmalige Nichterwähnung einer Schulbibliothek heißt, dass sie wohl doch existierte, aber nicht dargestellt wurde, die zweimalige Nichterwähnung, dass sie wohl geschlossen war; gleichzeitig, das eine „kontinuierlich betriebene“ Schulbibliothek an mindestens drei aufeinander folgenden Jahren nachgewiesen sein muss), kommt man auf folgende Zahlen.


Anders ausgedrückt: von den 260 Schulbibliotheken, die sich 2017 in Berlin nachweisen lassen, werden 141 (54,3%) schon seit mindestens drei Jahren betrieben, wobei in den letzten Jahren eher weniger dieser „kontinuierlichen“ Schulbibliotheken gegründet wurden. Es kristallisiert sich also eine Anzahl von langfristig etablierten Schulbibliotheken heraus, denen eine ganze Anzahl von kurzfristig (nur einige Jahren lang) betriebenen Schulbibliotheken gegenüberstehen. Nicht sichtbar ist in dieser Recherche, warum Schulbibliotheken wieder geschlossen werden. (Nur bei einigen finden sich öffentlich verbreitete oder in Protokollen z.B. von Elternvertretung oder Fördervereinen dokumentierte Hilferufe nach neuem oder mehr Personal, die nicht immer erfolgreich zu sein scheinen.)

Dies ist relevant, nicht nur in Bezug darauf, wie verankert oder projekthaft die Schulbibliotheken in den Schulen sind. Es hat auch eine Auswirkung darauf, ob die Schulbibliotheken, also das jeweilige Team, welche sie betreiben, genügend Zeit hat, eigene Alltagspraktiken zu entwickeln, die sich aus Erfahrungen speisen können, oder ob sie im Projektstatus, also dem ersten Ausprobieren, verbleiben. (Es heißt auch, dass sich in vielen Schulen in Berlin Räume finden, in denen einst eine Schulbibliothek vorhanden war, teilweise wohl noch mit den alten, nicht mehr weiter betreuten Beständen.)

Insoweit zeichnet sich die Schulbibliothekslandschaft in Berlin – obwohl es offenbar nicht ganz richtig ist, von einer Landschaft, also einem System von Einrichtungen, die sich aufeinander beziehen, zu sprechen – durch einen ständigen Wandel, mit einigen festen Punkten, aus. Das ständige Neu- und Wiedergründen von Schulbibliotheken lässt aber auch daran zweifeln, ob ein Wissenstransfer zwischen diesen stattfindet oder überhaupt stattfinden kann. Sicherlich gäbe es einige Einrichtungen, die ihre Erfahrungen berichten könnten. Die Arbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken Berlin-Brandenburg bietet dafür auch eine Infrastruktur. Aber die Wandelbarkeit deutet eher darauf hin – positiv gedeutet –. dass immer wieder neu Menschen in Berlin auf die Idee kommen, einen Schulbibliothek zu gründen, insbesondere Lehrpersonen und Schulen, dabei aber oft auch eigenen Vorstellungen folgen.1 Dies zeigt aber auch, dass bibliothekarische Vorstellungen von Schulbibliotheken, die von Zeit zu Zeit publiziert werden, offenbar wenig Einfluss auf den Schulalltag in Berlin haben.

Dateien

Beiträge zur Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin aus den letzten Jahren

Fußnote

1 Die GutsMuth-Grundschule schreibt zum Beispiel zu ihrer Bibliothek: „Die Idee [der Schulbibliothek, KS] ist angelehnt an eine Bibliothek, aber es soll mehr sein, als nur ein Ort zum Lesen.“ (http://www.gutsmuths-grundschule.de/content/unterricht/sprachfoerderung/index.html) Diese Aussage deutet auf ein Bild von Öffentlichen Bibliotheken hin, das diese von sich selber gar nicht (mehr) haben. Die Abgrenzung ist eigentlich unnötig, zeigt aber, wie sehr Lehrpersonen von ihren eigenen Vorstellungen – und eben nicht von bibliothekarischer Literatur, die darüber aufklären würde, dass Bibliotheken heute soziale Orte sein wollen und dass auch Schulbibliotheken das sein sollen – ausgehen.

Der Blick der Politik auf Schulbibliotheken: Der Schulbibliotheksartikel des Volksschulgesetzes St. Gallen im Rahmen der Totalrevision, 1976-1983

[Vorbemerkung: Dieser Artikel war der Zeitschrift, für die er gedacht war, zu speziell. Ich finde ihn spannend genug, um ihn nicht „in der Schublade“ zu lassen.]

Artikel 25 des Volksschulgesetzes des schweizerischen Kantons St. Gallen beschäftigt sich explizit mit Bibliotheken:

“Art. 25 Bibliothek
1 Die Schulgemeinde unterhält eine Bibliothek für Schülerinnen und Schüler sowie eine Bibliothek für Lehrpersonen.
2 Die Bibliothek für Schülerinnen und Schüler kann zusammen mit anderen Institutionen geführt werden.”1

Seit der Einführung des Gesetzes 1983 ist dieser Artikel – im Gegensatz zu zahlreichen anderen – nicht verändert worden, insoweit regt er im Kanton offenbar nicht zu Widersprüchen an. Ein solcher Artikel ist für die Schweiz allerdings auch nicht ungewöhnlich. In Schulgesetzen von 20 Kantonen sowie zusätzlich in Bibliotheksgesetzen zwei weiterer Kantone werden Schulbibliotheken erwähnt. Weiterhin verfügen drei Kantone über spezielle Erlasse zu Schulbibliotheken. In den Kantonen St. Gallen und Luzern erwähnen sowohl Schul- als auch Bibliotheksgesetze Schulbibliotheken. Nur vier der 26 Kantone regeln das Vorhandensein von Schulbibliotheken nicht rechtlich.2

Zum Artikel im St. Galler Volksschulgesetz haben sich zudem im Staatsarchiv St. Gallen (StaatsA SG) Unterlagen aus den Diskussionen, die zum Gesetz führten, erhalten. Anhand dieser Unterlagen lässt sich insbesondere für die Jahre 1976 bis 1978 nachvollziehen, wie sich die Diskussionen um diesen Artikel gestaltete. Sie bieten einen seltenen Einblick in die unterschiedlichen Zugänge politischer Akteurinnen und Akteure zu Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum. Der vorliegende Text zeichnet diese anhand der in den Unterlagen vorhandenen Vorschlägen für den jetzigen Artikel 25 nach und versucht, die Wahrnehmung von Schulbibliotheken darzustellen.

1. Das Volksschulgesetz von 1983 und die Vernehmlassung als Prinzip der schweizerischen Gesetzgebungsverfahren

1952 wurde im Kanton St. Gallen ein Erziehungsgesetz erlassen, welches versuchte, im damals noch stark von konfessionellen Differenzen sowie den Unterschieden von Stadt und Land geprägten Kanton einheitlich alle Fragen des Erziehungswesens zu regeln. Dieses Gesetz war selbstverständlich ein Kompromiss, welches insbesondere die unterschiedlichen Interessen der damals bestimmenden Parteien des Kantons sowie der durch sie vertretenen Bevölkerungsgruppen zu beachten hatte. Bis zum Ende der 1970er Jahre hatte sich die politische und gesellschaftliche Struktur im Kanton, genauso wie in der gesamten Schweiz und Westeuropa, grundlegend geändert. Konfessionelle Unterschiede hatten viel weniger Bedeutung, die Bindung der Milieus an einzelne Parteien war zurückgegangen, gleichzeitig waren neue Parteien und Bewegungen entstanden. Vor allem aber bestimmte die Überzeugung den öffentlichen Diskurs, dass die Gesellschaft, und damit auch das Bildungswesen, grundlegend reformiert werden müsste. Trotz radikaleren Vorbildern in anderen Kantonen und dem Ausland3 geschah diese Reform in St. Gallen eher spät, am Ende der 1970er Jahre, und in einem kompromissfördernden Prozess.

Im Jahr 1976 unternahm das Erziehungsdepartement (EZD) die ersten Vorstösse, das Erziehungsgesetz, welches in den vorhergehenden Jahren von weiteren Gesetzen und Reglementen ergänzt worden war, einer Totalrevision zu unterziehen.4 Schon zu Beginn dieses Prozesses scheint die Idee gestanden zu haben, das Erziehungsgesetz in drei Gesetze zu unterteilen: das Volksschulgesetz (welches damals die erste bis zehnte Klasse, inklusive der sechsjährige Primarschule umfasste, dann im Laufe der Diskussion noch um den heute zweijährigen Kindergarten ergänzt wurde), das Mittelschulgesetz (elfte bis dreizehnte Klasse) sowie das Gesetz über die Pädagogische Hochschule. Im Folgenden wird sich mit dem Volksschulgesetz auseinandergesetzt, zu dessen Entstehungsprozess im Rahmen eines grösseren Projektes zu den Schulbibliotheken des Kantons St. Gallen Unterlagen ausgewertet werden konnten.

Gesetze und andere weiterreichende Bestimmung werden in der Schweiz gemeinhin in einem “Vernehmlassung” genannten Verfahren vorbereitet. Dieses Verfahren soll die Einbindung möglichst aller betroffenen Gruppen und Institutionen bewerkstelligen und einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen ermöglichen. Vorversionen von Gesetzestexten oder ähnlichen Regelungen werden an alle möglicherweise interessierten Gruppierungen verschickt. Wenn es sich um gewichtige Gesetze handelt, kann auch versucht werden, eine repräsentative Auswahl von Einzelpersonen anzuschreiben.5 Die so in die Vernehmlassung Einbezogenen haben dann die Möglichkeit, Rückmeldungen zu geben, Änderungen vorzuschlagen beziehungsweise einzufordern oder auch Ablehung zu formulieren. Diese Rückmeldungen werden in eine weitere Version des Gesetzestextes eingearbeitet. Erst diese wird schliesslich zur Abstimmung gestellt. Grundsätzlich können alle Gruppen und Personen auch ohne Einladung an einer Vernehmlassung teilnehmen, solange sie über die Existenz des jeweiligen Vernehmlassungsverfahrens informiert sind. Im Falle der Totalrevision des Erziehungsgesetzes veranstaltete die Kantonsregierung eine öffentliche Veranstaltung und publizierte die dort gehaltenen Vorträge sowie den Entwurf der drei neuen Gesetze.6 Dies ist allerdings selten der Fall. Schwachstelle des Verfahrens ist, dass die Auswahl der potentiell beteiligten Gruppen intransparent ist. Gleichzeitig ist das Verfahren eingespielt, weithin akzeptiert und der Gesetzgeber im Allgemeinen bemüht, einen Ausgleich zu schaffen und beispielsweise wirklich alle relevanten Parteien und Organisationen zur Vernehmlassung einzuladen.

Im Fall des Volksschulgesetzes existierte damals eine Kantonale Kommission für Schulbibliotheken (KKS), die vom EZD beauftragt war, Schulbibliotheken bei der Bestandsauswahl anzuleiten.7 Die Kommission war 1906 als „Jugendschriftenkommission“ mit dem Ziel gegründet worden, damals als gefährlich angesehener Literatur durch die Förderung von Schulbibliotheken mit subventionierter „guter Literatur“ entgegenzuwirken.8 Im Laufe der Geschichte änderte sich Name, Kompetenzbereich und Aufgabenbeschreibung der Kommission, obwohl sie grundsätzlich immer eine Liste empfohlener Jugendliteratur für Schulbibliotheken publizierte. In den 1960er und 1970er Jahren nahm sie auch explizit Beratungsaufgaben für Schulbibliotheken wahr.9 Die Protokolle der Kommission sind im StaatsA SG erhalten.10 1983 ging die Kommission in der Kantonalen Kommission für Schul- und Gemeindebibliotheken (KKSG) auf, wo sie eine eigene Fachgruppe bildet, welche bis 2012 bestand.11 Im Vernehmlassungsverfahren wurde die Kommission als Experteninstitution angeschrieben und äusserte sich auch umfangreich zum Schulbibliotheksartikel.12 Gleichzeitig war ihr Status nicht unangefochten. Ihre Vorschläge und Einwürfe wurden in der Ausgestaltung des Gesetzes nicht gesondert beachtet, zugleich äusserten sich unabhängig davon auch andere Gruppierungen und Personen zu diesem Artikel.

2. Archivbestand

Vernehmlassungen bringen, insbesondere bei umstrittenen Gesetzesentwürfen, eine ganze Anzahl von Aktivitäten und damit auch zahlreiche Dokumente hervor. Beispielsweise beauftragt die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) des Kantons für die Fragen der Totalrevision des Erziehungsgesetzes einen eigenen Ausschuss, welcher zudem noch einen Unterausschuss „Primarschule/Kindergarten“ bildete und im Laufe der Vernehmlassung eigene Texte produzierte. Ein Teil dieser Dokumente aus der Diskussion um das Volksschulgesetz liegt heute im StaatsA SG als Teil des Aktenbestandes des EZD.13

Dabei sticht eine als Entscheidungshilfe erstellte Übersicht – “Verarbeitung der Vernehmlassungen Dezember 1978” – zu den eingereichten Vernehmlassungen hervor.14 Erstellt im Sekretariat des EZD, werden in dieser der Reihenfolge im ersten Entwurfs des Gesetzes folgend die Hauptaussagen der einzelnen Vernehmlassungen zu jedem Artikel versammelt. Vorangestellt ist dem je die Entwurfsversion des Artikels. Die Zusammenfassungen sind teilweise mehrere Dutzend Seiten lang, bei unumstrittenen Artikel bestehen sie zum Teil nur aus einem Blatt. An den Schluss der jeweiligen Zusammenfassung ist zum Teil eine neue Version des Artikels gestellt, der auf die eingeforderten oder vorgeschlagenen Änderungen reagiert. Oft ist dieser Platz aber auch freigelassen. Diese Zusammenfassung gibt die damalige Diskussion kondensiert wieder.

Die Rückmeldungen zum vorgeschlagenen Schulbibliotheksartikel wurden auf insgesamt zwei Blättern zusammengefasst, was eine leicht unterdurchschnittliche Anzahl darstellt. Verwiesen wird darin unter anderem auf den konkreten Vernehmlassungsbeitrag der KKS, der im Original den Vorschlag eines Reglements für Schulbibliotheken von fünf Seiten enthielt.15 Im Vergleich mit den anderen Artikeln hat der Schulbibliotheksartikel zwar zu einigen Anmerkungen geführt, war also nicht gänzlich unumstritten; diese Anmerkungen widersprechen sich aber nicht, sondern ergänzen einander. Im Gegensatz dazu waren die Anmerkungen zu den ersten Artikeln des vorgeschlagenen Gesetzes, den “Zweckartikeln”, weit umfangreicher. In diesen wurde über die grundsätzlichen Aspekte der Schulbildung, der Stellung von Staat, Gemeinde und Familie informiert, ebenso über die christlichen Grundsätze deVolksschule in St. Gallen. Diese Punkte führten zu intensiven Diskussionen, die auch noch nach dem Erlass des Gesetzes weitergeführt wurden und bei denen sich grundsätzliche Positionen gegenüberstanden. Im Vergleich dazu scheint allen an der Vernehmlassung beteiligten Gruppen eine Regelung zu Schulbibliotheken im Gesetz in der vorgeschlagenen Form im Prinzip akzeptabel erschienen zu sein.

Die einzelnen Vernehmlassungsbeiträge sind nur in Ausnahmefällen erhalten. Eine Reihe von Briefen, insbesondere von Parteien, existiert; aber andere Einlassungen, deren Existenz in der “Verarbeitung der Vernehmlassungen” angezeigt wird, sind nicht im Archiv vorhanden. Teilweise finden sie sich in anderen Akten, beispielsweise den Parteiarchiven, oder aber im Falle der KKS, in den erhaltenen Sitzungsprotokollen.

Im Konvolut zur Vernehmlassung finden sich weiter Zeitungsausschnitte zur Diskussion sowie die schon genannte Broschüre, welche die bei einer öffentlichen Veranstaltung zur geplanten Totalrevison des Erziehungsgesetzes 1978 gehaltenen Vorträgen dokumentiert.16

Weiter erhalten hat sich im Amtsblatt des Kantons St. Gallen die offizielle Botschaft des zuständigen Regierungsrates über das Gesetz, in welcher er dem Grossen Rat – dem Kantonsparlament (heute Kantonsrat) – abschliessend über das Gesetz und das Verfahren, dass zu ihm führte, informierte.17

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Aktenlage zur Diskussion des Schulbibliotheksartikels des Volksschulgesetzes relativ gut und breit ist, aber auch nicht vollständig. Einige Einlassung zum Thema Schulbibliotheken – welches in der gesamten Diskussion eher ein wenig umstrittenes Nebenthema darstellte – sind gewiss nicht mehr erhalten. Gleichzeitig lässt sich eine gewisse Übersicht erstellen: Insgesamt fanden sich neun Fassungen des Schulgesetzartikels, die vor der endgültigen Version als Vorschläge unterbreitet wurden. Die Überlegungen, welche zu diesen unterschiedlichen Fassungen führten, sind allerdings nicht überliefert und müssen interpretiert werden. Einzig für die KKS finden sich in deren Protokollen einige Andeutungen.

3. Vorschläge für den Schulgesetzartikel im Volksschulgesetz des Kantons St. Gallen

Im folgenden werden die unterschiedlichen Versionen des Schulgesetzartikels für das damals gänzlich neu entworfene Volksschulgesetz des Kantons St. Gallen vorgestellt und diskutiert, da sich in diesen die meisten Hinweise darauf finden, wie unterschiedliche Institutionen Schulbibliotheken bewerteten.

3.1 Grundsätzliches

Festgestellt werden kann, dass ein Artikel zu Schulbibliotheken schon im ersten Entwurf des Gesetzes vorhanden war. Es fanden sich keine Beiträge, die eine Streichung desselben vorschlugen, sondern nur solche, die ihn leicht ändern wollten. Zuvor war die Frage der Schulbibliotheken in der kantonalen Schulordnung vom 08. Juli 1952,18 im Reglement über die Führung und Förderung von Schulbibliotheken von 196219 sowie im Lehrerbesoldungsgesetz vom 5. Januar 1947 und deren Fortschreibungen geregelt.20 Ersteres dekretierte, dass die Schulgemeinden für die Schülerinnen und Schüler Bibliotheken zu führen hätten, die vorrangig dem Sprachunterricht zu Gute kommen sollten, sowie Bibliotheken für Lehrpersonen; die beiden anderen legten fest, dass die Schulen für verschiedene Aufgaben eine finanzielle Unterstützung des Kantons erhalten würden. Dabei wurden Schulbibliotheken als ein Föderbereich von mehreren aufgeführt, allerdings blieb den Schulen überlassen, wie sie die Zuschüsse zwischen den einzelnen Bereichen verteilten.

Grundsätzlich postulierte das EZD, dass die Totalrevision die Aufgabe hätte, alle Bereiche der Schulen zu prüfen und neu zu bestimmen. Insoweit ist es relevant für die Bedeutung, die den Schulbibliotheken von verschiedenen Seiten zugeschrieben wurde, dass nicht deren Streichung gefordert, sondern sie von vielen Seiten nicht und von einigen positiv behandelt wurden.

Grundsätzlich fand sich der Artikel in allen Beiträgen und Vorschlägen zur Vernehmlassung an der heutige Stelle im Gesetz: Hinter den allgemeinen Bestimmungen zum Gesetz selber und dem Abschnitt zu den unterschiedlich Schultypen, eingebettet in die Regelungen der Infrastrukturfragen von Schulen. Die konkrete Nummer des Schulbibliotheksartikels änderte sich in den Vorschlägen immer wieder, dies aber aufgrund anderer Artikel, die eingefügt, gestrichen oder zusammengefasst wurden. Die Position des Artikels selber, an einer für die Ausgestaltung der Schulen relevanten, aber auch nicht bestimmenden Stelle, war offenbar von Beginn an Konsens.

Zudem ist zu erwähnen, dass die Grundsätze des Gesetzes von nahezu allen Beteiligten begrüsst oder zumindest akzeptiert wurden. Auch wenn es Auseinandersetzungen um einzelne Punkte gab, ist in den Unterlagen eine starker Wille zum Konsens festzustellen. Beispielsweise wurde der Vorschlag, das Erziehungsgesetz in drei Gesetze aufzuteilen, grundsätzlich von allen, die sich dazu äusserten, begrüsst.

3.2 Die Vorschläge für den Schulbibliotheksartikel

3.2.1 Kantonaler Lehrerverein St. Gallen (26. November 1976)

„16. Das Bestehen einer Schülerbibliothek soll erwähnt werden. (Art 31)“21

Die erste Erwähnung einer Schulbibliothek findet sich in einem Schreiben des Kantonalen Lehrervereins (KLV), der 1976 im Rahmen einer Vorvernehmlassung – in der überprüft wurde, ob überhaupt ein Interesse für eine Totalrevision des Erziehungsgesetzes vorlag – vorschlägt, dass diese Einrichtungen erwähnt werden sollten. Der Lehrerverein betrieb in den 1960er und frühen 1970er Jahren auch eine Aktion „Das gute Buch“,22 die in einigen Protokollen der KKS23 und in den Jahresberichten der Kantonalen Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken (KKJV)24 erwähnt wird. Im Rahmen dieser Aktion wurde unter anderem die Einrichtung von Schulbibliotheken, welche der Jugend „Gute Literatur“ anbieten und damit gegen die sogenannte „Schund“-Literatur wirken sollten, angestrebt. Obgleich dies als Ziel heute relativ rückständig erscheint, scheint die Aktion auch dazu beigetragen zu haben, für damalige Zeiten moderne Schulbibliotheken aufzubauen.25 Insoweit ist die Behandlung des Themas durch den Lehrerverein wenig überraschend. Interessant ist allerdings die Kürze des Vorschlags, die auf jede weitere Angabe, wozu die Schulbibliotheken genutzt werden und wie diese aussehen sollten, verzichtet. Auffällig ist auch, dass dieser frühe Vorschlag auf eine Bibliothek für Lehrpersonen verzichtet. Dies ist zwar deckungsgleich mit den Forderungen, die in der zeitgenössischen bibliothekarischen Literatur erhoben wurden,26 aber nicht mit der damaligen und heutigen Gesetzgebung im Kanton.

3.2.2 Sozialdemokratische Partei des Kantons St. Gallen (04. Januar 1977)

„Material
Die Schulhäuser aller Stufen müssen über ein bestimmtes Minimalinventar verfügen. Im neuen EG [Erziehungsgesetz] ist festzuhalten, dass dazu auch eine Schülerbibliothek gehört.“27

Auch von der Sozialdemokratischen Partei (SP) des Kantons ist eine Stellungnahme zur Vorvernehmlassung erhalten, die grundsätzlich positiv ist, und Schulbibliotheken als Teil der minimalen Infrastruktur einer (zukünftigen) Schule bezeichnet. Auffällig ist hier, dass die SP noch von einem Erziehungsgesetz ausgeht, nicht von der Aufteilung in drei Gesetze, die wohl erst später konkretisiert wurde. Gleichzeitig verzichtet sie, wie der KLV, auf eine Konkretisierung der Forderung und auf eine Bibliothek für Lehrpersonen.

3.2.3 Freisinnig-Demokratische Partei des Kantons St. Gallen (23. Mai 1977)

Sammlungen, Bibliothek
Der Erziehungsrat erlässt nach Rücksprache mit dem Schulgemeindeverband die Bestimmungen über das Normalinventar, Verbrauchsmaterial, Turnmaterial usw. Er bezeichnet empfohlene, technische Apparate und die jährlichen Verbrauchskredite [Etat, K.S.].“28

Der Beitrag der FDP ist auf den ersten Blick widersprüchlich. Unter der Überschrift „Sammlung, Bibliothek“ beschäftigt er sich mit der Regelung von Bestimmungen über die notwendige Infrastruktur von Schulen. Aufgezählt werden nur einige Teile dieser Infrastruktur, allerdings gerade keine Bibliotheken. Dafür wird mit einem „usw.“ Raum für weitere Einrichtungen gelassen. Dabei scheinen, dem Titel des Artikels folgend, unter die minimale Infrastruktur doch auch Bibliotheken zu zählen, wobei nicht ersichtlich ist, welche Form von Bibliotheken und zu welchem Zweck. Zu vermuten ist, dass es der FDP mit ihrem Vorschlag vor allem darum ging, eine Regelung für das Erlassen von Richtlinien festzuschreiben. Diese sollten anpassbar sein und deshalb nicht im Gesetz geregelt werden, gleichzeitig sollten die Schulen über den Schulgemeindeverband direkten Einfluss auf diese Richtlinien erhalten.

3.2.4 Erziehungsrat des Kanton St. Gallen, Verhandlungsprotokoll (30. Juni 1977)

„16. [Tagesordnungspunkt, K.S.] Bibliotheken, Art.32
Die im Gesetz enthaltene Verpflichtung zur Führung einer Schüler- und Lehrerbibliothek gilt als Minimalverpflichtung. In Gemeinden mit mehreren Schulgemeinden sind in der Regel auch mehrere Bibliotheken notwendig. Einzelheiten sind der Verordnung zu regeln.“29

Der Erziehungsrat ist bis heute die Bildungskommission des EZD Er wacht beispielsweise über die Schulqualität im Kanton und trifft Entscheidungen über alle Fragen des Erziehungswesen. In einer Sitzung am 30. Juni 1977, dessen Protokoll erhalten ist, beschäftigte er sich im Hinblick auf die Revision mit nahezu allen Artikeln des Erziehungsgesetzes. Im Protokoll enthalten ist oben zitierter Abschnitt zu Schulbibliotheken. Sichtbar ist hierbei, dass auch der Erziehungsrat eine grundsätzlich positive Haltung zu Schulbibliotheken hatte. Er kritisierte indirekt, dass die Regelung nicht ausreichend sei, sondern nur eine minimale Versorgung sicherstelle. Für grössere Gemeinden seien mehrere Bibliotheken notwendig. Gleichzeitig akzeptiert der Erziehungsrat offenbar die Trennung in Bibliotheken für Lernende und für Lehrende.

Wichtig ist der Verweis auf weitere Regelungen in Verordnungen. Bis zum Erlass des Volksschulgesetzes galt zuletzt das „Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken“, erlassen 1962,30 welches sich vor allem mit der Stellung der KKS und der Notwendig „guter Literatur“ beschäftigte. Nach dem neuen Gesetz wurde aber keine neuen Reglements, Verordnungen oder ähnlichen Anweisungen mehr erlassen. Insoweit ist die Erwähnung im Protokoll des Erziehungsrates bedeutsam, da sie zeigt, wie sich Ansprüche und Vorstellungen in Gesetzgebungsprozessen auch nicht durchsetzen können.

3.2.5 Erziehungsrat St. Gallen, Erster Gesetzesentwurf (26. September 1977)

„Art. 29. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und Lehrerbibliothek.“31

Auf der Grundlage der oben besprochen Beratung32 und gewiss auch den bis dahin eingegangenen Beiträgen zur Vernehmlassung und Vorvernehmlassung erarbeitete der Erziehungsrat einen ersten konkreten Gesetzesentwurf für das Volksschulgesetz.33 Sichtbar ist dies unter anderem am Datum des Entwurfes, erst drei Monate nach der betreffenden Sitzung, die offenbar für die Ausarbeitung genutzt wurden. Sowohl die Rückmeldungen als auch die eigene Diskussion scheinen einen Artikel zu Schulbibliotheken unterstützt zu haben.

Im Gegensatz zum im Protokoll festgehaltenen Einspruch, dass es sich in der bisherigen Regelung um einen Minimalversion handeln würde, entschied sich der Erziehungsrat dafür, den Artikel über Schulbibliotheken zusammenzuziehen. In diesem Entwurf ist die Verantwortung für die Bibliotheken den Schulgemeinden übertragen, Aufgaben und Minimalausstattung der Bibliotheken werden nicht festgelegt. Zudem ist die gewählte Formulierung uneindeutig. Sie kann dahingehend interpretiert werden, das eine Bibliothek, die gemeinsam für Lehrenden und Lernende genutzt würde, eingerichtet werden sollte, aber auch gegenteilig so, dass es weiter eine Trennung von Bibliotheken für beide Gruppen geben müsse.

Zu erklären ist diese Version eventuell durch die schon angesprochene Hoffnung des Erziehungsrates, weitere Fragen mittels Reglementen zu regeln.

3.2.6 Erziehungsrat St. Gallen, überarbeiteter Gesetzesentwurf (10. Januar 1978)

„Art.27.Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und Lehrerbibliothek.“34

Eine weitere Version des vorgeschlagenen Gesetzes wurde einige Monate später erstellt. Die Überarbeitung resultierte aus Beratungen des Regierungsrates. Protokolle der Beratungen sind nicht mehr vorhanden, einzig der überarbeitete Entwurf. Der Artikel zu Bibliotheken wurde im Rahmen dieser Beratungen nicht verändert, einzig die Nummer des Artikels wurde, aufgrund der Zusammenführung anderer Artikel, angepasst. An der Position innerhalb des Gesetzestextes änderte sich dadurch ebenfalls nichts. Zu vermuten ist also, dass der Vorschlag des Artikels zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich akzeptiert wurde und kein weiteres Diskussionspotential bereithielt.

3.2.7 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (06. März 1978)

„Art. 27: Bibliotheken
Jede Schulgemeinde ist verpflichtet, für die Beschaffung und laufende Erneuerung einer Schüler- und einer Lehrerbibliothek besorgt zu sein. In der Beantwortung einer Interpellation hat der Regierungsrat kürzlich in Aussicht gestellt, unter den bestehenden Schul- und Volksbibliotheken eine Koordination anzustreben (51.76.22). Die Vorarbeiten dazu sind im Gang. Federführend ist das Departement des Innern.“35

Im März des gleichen Jahres verschickte das EZD auf der Basis der letztgenannten Version des Gesetzes vom Januar 1978 eine längere Stellungsnahme an die Vernehmlassungsinstanzen. In dieser wurden kurz die Überlegungen, die hinter dem Gesetz und den einzelnen Artikeln standen, dargelegt sowie auf relevante Änderungen hingewiesen.

Dabei wurde der Schulbibliotheksartikel in seiner damaligen Version inhaltlich als gegeben dargestellt und weiterhin auf eine Anfrage im Parlament eingegangen. Interessant ist, dass auch in dieser Ausführung davon gesprochen wird, dass jede Schulgemeinde je eine Bibliothek für Lehrende und Lernende unterhalten müsse, obwohl Schulgemeinden mit mehreren Schulhäusern (bzw. weitere differenziert in Schuleinheiten oder Schulkreisen) existierten, wie aus mehreren Beiträgen zur Vernehmlassung hervorgeht. Ansonsten spricht der Text eine vorgesehene Koordination an, die in einer anderen Form erst 1983 – zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Volksschulgesetzes – im Reglement für die von der Stadt St. Gallen übernommene und neu als Kantonsbibliothek gefasste Vadiana wirkungsvoll wurde. Mit der Übernahme kantonalbibliothekarischer Aufgaben wurde der Vadiana unter anderem die Beratung von Schulbibliotheken im gesamten Kanton übertragen.36 Diese Beratungsfunktion war allerdings keine Koordinationsfunktion. Vielmehr gingen die direkten Kompetenzen für Schulbibliotheken vollständig an die Schulgemeinden über, die Vadiana und die ihr dann angegliederte KKSG hatte keine Möglichkeit, in diese einzugreifen. Gleichzeitig gab das EZD, dass noch 1962 ein Reglement über Schulbibliotheken erlassen hatte, dieses – und damit auch den Anspruch, Anweisungen über Schulbibliotheken zu erlassen – im Rahmen der Neufassung der Erziehungsgesetze offenbar auf.

3.2.8 Kantonale Kommission für Schulbibliotheken (27. September 1978)

„Neuer Vorschlag
Die Schulgemeinde unterhält pro Schulanlage eine zeitgemäss ausgestattete Schüler- und Lehrerbibliothek.
Der Erziehungsrat erlässt die näheren Bestimmungen.“37

Wie schon erwähnt, existierte zur Zeit der Vernehmlassung mit der KKS eine Institution, welche als anerkannte Gruppe von Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Schulbibliotheken des Kantons gelten konnte. In zwei Sitzungen (126. Sitzung am 16.08.1979 und 127. Sitzung am 27.09.1979) beschäftigte sie sich mit dem Gesetz.38 Die Protokolle dieser Sitzungen stellten die Ergebnisse der Besprechungen, aber keine etwaigen Diskussionen oder Auseinandersetzungen innerhalb der KKS dar. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass in der ersten Sitzung offenbar kein eindeutiges Ergebnis erreicht wurde, sondern zeitnah ein weiteres Treffen notwendig war.

Das erste Mal erwähnt wurde das Gesetz im Protokoll der 125. Sitzung vom 26.04.1978,39 allerdings im Zusammenhang einer möglichen Fusion der KKS mit der KKJV. Dabei wurde darauf verwiesen, dass man zur Klärung dieser Möglichkeit auf die Bestimmungen des neuen Gesetzes warten müsse.

Vor der 126. Sitzung hatten schon drei Mitglieder der Kommission – L. Kleiner, Felix Brassel und Peter Ganz – einen Vorschlag für die Vernehmlassung erarbeitet, der dann diskutiert wurde.40 Wann und mit welchen Massgaben diese drei den Vorschlag geschrieben hatten, ist nicht mehr ersichtlich. Gleichwohl gab es zu diesem Zustimmung und eine Diskussion auf dessen Grundlage. Nur etwas mehr als einen Monat später traf sich die Kommission – welche sich damals sonst alle vier bis sechs Monate traf – zu einer weiteren Sitzung. Dies war nötig, da das EZD die Rückmeldungen bis Ende September 1978 erwartete. Insoweit reagierte die Kommission fast zum letztmöglichen Zeitpunkt. Zum Teil ist das damit zu erklären, dass die Kommission selber Auseinandersetzungen um die eigene Identität führte. Noch in der 125. Sitzung wurde betont, dass sie sich bislang vor allem mit der Erstellung der Liste von empfohlenen Jugendbüchern befasst hätte, jetzt aber mehr Beratungsaufgaben übernehmen könnte.41

In der 127. Sitzung wurde dann die Vernehmlassung verabschiedet.42 Sie bestand zum ersten aus dem oben zitierten Entwurf für den Schulbibliotheksartikel und zum zweiten aus dem Entwurf eines Reglements für Schulbibliotheken im Kanton. Dieses war explizit als Ersatz für das bis dahin geltende Reglement von 1962 gedacht. Dabei schrieb die Kommission dem Erziehungsdepartement, welches das Reglement erlassen sollte, offenbar zu, das Recht zu haben, die Schulbibliotheken des Kantons zu regulieren. Gerade dieser Anspruch wurde aber vom EZD mit dem Volksschulgesetz, welches den Gemeinden mehr Autonomie zugestand, aufgegeben. Offenbar hatte die Kommission diesen Trend anders eingeschätzt.

Das Reglement hätte in vier Abschnitten Fragen zum Zweck und Aufbau von Schulbibliotheken, zu ihrer Organisation, zu Bibliotheken für Lehrkräfte und der Zentralisation von Schulbibliotheken sowie zu Beratungsstellen geklärt. Dabei waren die Vorstellungen sowohl umfassend als auch konkret. Schulbibliotheken sollten dem Vorschlag entsprechend Informations- und Begegnungszentren von Schulen sein, die Lernenden zum Lesen hinführen, moderne Unterrichtsformen ermöglichen und die Möglichkeit zu selbständiger Arbeit von Schülerinnen und Schülern anbieten. Über gedruckte Medien hinaus sollten sie andere moderne Medien enthalten. Gleichzeitig wurden Schlüssel für die Grösse des Buchbestandes (10 Bücher pro Lernende bei bis zu 50, 7 Bücher bei 50 bis 500 und 5 Bücher bei über 500 Schülerinnen und Schülern) und für die Finanzierung von Schulbibliotheken (8 bis 12 Franken pro Lernende) genannt. Die Schulbibliotheken sollten zentral gelegen sein, ihr Bestand als Freihand aufgestellt werden und Kataloge entsprechend der Öffentlichen Bibliotheken haben. Klassenbibliotheken sollten abgeschafft werden, gleichzeitig wurde weiter von gesonderten Bibliotheken für Lehrpersonen ausgegangen. Beraten werden sollten die Schulbibliotheken von drei Stellen: Der Kantonsbibliothek zum Auf- und Ausbau, der KKS zu Jugendbüchern und der KKJV zur Aus- und Weiterbildung des Personals.

Diese Vorstellungen scheinen weit über die Realität in Schulbibliotheken im Kanton hinausgegangen zu sein.43 Diese wurden im Protokoll zu den Sitzungen auch nicht erwähnt. Vermutlich ist die Basis der geäusserten Vorstellungen der KKS eher in zeitgenössischen Publikationen zu Schulbibliotheken zu suchen, die in der Schweiz, aber auch Deutschland, moderne Schulbibliotheken in einer Weise entwarfen, die an die Beschreibung im Reglementsentwurf erinnert.44 Wäre das Reglement erlassen worden, hätte dies zu einer starken Veränderung der Schulbibliotheken im Kanton geführt.

Hervorzuheben ist, dass die Kommission sich offenbar selber damit beauftragte, ein Reglement vorzuschlagen. Ein Auftrag dazu wird nirgends erwähnt. Im Vernehmlassungsprozess selber wurde sich nicht mit notwendigen Ausführungsbestimmungen oder Zusatzregeln beschäftigt, sondern ausnahmslos mit dem konkreten Volksschulgesetz. Insoweit ging der Vorschlag der KKS am Erwarteten vorbei. In der Verarbeitung der Vernehmlassungen ist dann zwar ein Hinweis auf das vorgeschlagenen Reglement zu finden, aber nicht dieses selber.45

Nach der Vernehmlassung selber, aber vor der Veröffentlichung des Gesetzesvorschlags, führte die KKJV eine Umfrage unter den Schulen des Kantons zu deren Schulbibliotheken durch. Die Umfrage erfolgte 1976 mittels eines Fragebogens, der Rücklauf betrug rund einen Drittel. Publiziert wurden die Ergebnisse 1980 in einer Broschüre der Kommission.46 In dieser wurden die erhobenen Daten immer wieder aus dem Blickwinkel „moderner Schulbibliotheken“, wie sie auch im vorgeschlagenen Reglement beschrieben sind, heraus bewertet. Dabei wurde klar, dass ein Grossteil der Schulbibliotheken im Kanton dieser Vorstellungen nicht entsprach. In der Broschüre wird trotzdem der Eindruck erweckt, Schulbibliotheken würden sich dieser Vorstellung entsprechend entwickeln. Dies ist allerdings eine Aussage, die mit einer einmaligen Erhebung gar nicht zu treffen ist.47 Trotz dieser tendenziösen Darstellung zeigt die Broschüre, dass die Schulen im Kanton sich zu grossen Teilen für andere Schulbibliotheken entschieden hatten, als die, welche im vorgeschlagen Reglement beschrieben wurden. Es stellt sich die Frage, wieso die Kommission diese Realität – die ihr als Experteninstitution hätte bekannt sein müssen – in ihrem Vorschlag fast gar nicht einbezogen hat.

3.2.9 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (Dezember 1978)

„Vernehmlassungsentwurf
Art. 27. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- Bibliothek [sic!] und Lehrerbibliothek.”48

Im Laufe des Jahres 1978 überarbeitete das Erziehungsdepartement intern die einlaufenden Vernahmlassungsbeiträge. Im Dezember des Jahres wurde eine weiter oben schon angesprochene systematische Übersicht der Hauptargumente dieser Beiträge zu den jeweiligen Artikeln erstellt und diese zum Teil geändert. Die Zusammenstellung stellte offenbar die Grundlage für den später erschienen Entwurf des Volksschulgesetzes dar.

Der Schulbibliotheksartikel findet sich in diesem Dokument weiter als Artikel 27, eingefügt ist nur das Wort „Bibliothek“ direkt hinter „Schüler-“. Dies scheint aber aus Versehen geschehen zu sein, da es in dieser Version ersichtlich falsch ist. Relevant ist eher, dass in diesem Dokument keine weitere Überarbeitung des Artikels vorgenommen wurde. Die Zusammenfassung zum Artikel führt die Argumente der Rückmeldungen des Stadtrates St. Gallen, von „Berufsberatern“, der Gemeinde Wattwil, der KKS, des Vertreters des KLV aus Rorschacherberg, der SP Untertoggenburg sowie der Abteilungen „PK VII + KAHL V“ des EZD auf. Der Stadtrat St. Gallen, die KKS, die SP Untertoggenburg sowie für Lehrerbibliotheken auch der Vertreter des KLV forderten allesamt eine Bibliothek pro Schulhaus ein. Andere Beiträge wollten explizit die Möglichkeit im Gesetz enthalten wissen, dass die Schulbibliotheken auch mit anderen Einrichtungen zusammen geführt werden könnten. Auf all dies trat das Erziehungsdepartement aber nicht ein, sondern beliess es bei der Version vom Beginn des Jahres.

3.2.10 Regierungsrat St. Gallen (23. Juni 1981)

„Art. 29. Die Schulgemeinde unterhält eine Schüler- und eine Lehrerbibliothek.
Die Schülerbibliothek kann zusammen mit anderen Institutionen geführt werden.“49

Zwischen der Verarbeitung der Vernehmlassungen und der Präsentation des Gesetzesentwurfes durch die Regierung vor dem Parlament vergingen weitere drei Jahre. Aus den Unterlagen, die sich erhalten haben, ist nicht ersichtlich, wie diese Zeitspanne zustande kam. Zu vermuten ist, dass sich Verhandlungen über einzelne Artikel weiter hinzogen. Das Interesse der Regierung war, einen Entwurf vorzulegen, der von möglichst vielen Fraktionen im Parlament getragen und auch die wahlberechtigte Bevölkerung bei einem möglichen Referendum überzeugen würde. Dies gelang offensichtlich, war dann aber das Ergebnis einer langen Suche nach Kompromissen. Eine andere Vermutung ist, dass sich die Verhandlungen über die beiden anderen Gesetze, die zusammen das Erziehungsgesetz ersetzen und deshalb gleichzeitig in Kraft treten sollten, länger hinzogen.

In der Botschaft des Regierungsrates an das Parlament, in welchem der Gesetzesentwurf vorgestellt wurde, findet sich eine zur Version im Dezember 1978 erweiterte Variante des Artikels. Zum einen wird der Artikel wieder, ohne das seine eigene Position verändert wurde, als Nummer 29 gezählt. Zum anderen wurde an den ersten Satz ein zweiter angehangen, welcher nun doch dem Vorschlag folgt, das gemeinsame Führen einer Schulbibliothek mit einer anderen Einrichtung zu ermöglichen. Es ist nicht ersichtlich, wieso dieser Satz aufgenommen wurde. Er findet sich als Vorschlag unter den verarbeiteten Vernehmlassungen, könnte aber auch aus einer anderen Quelle stammen. Der in den Vernehmlassungen viel öfter geäusserte Vorschlag, eine Bibliothek pro Schulhaus vorzuschreiben, wurde nicht aufgegriffen. Dies kann damit zusammenhängen, dass versucht wurde, Regelungen, die neue Kosten hervorrufen könnten, zu vermeiden. Interessant ist, dass schon in dieser Version nicht klar gesagt wird, mit welchen anderen Einrichtungen Schulbibliotheken zusammengeführt werden können. Obgleich sich in der Realität dafür Öffentliche Bibliotheken anbieten, schreibt das Gesetz dies in dieser Version nicht explizit vor.

3.2.11 Volksschulgesetz (13. Januar 1983)

Die nach den Beratungen durch das Parlament erlassene Regelung des Schulbibliotheksartikels, welche zu Beginn des Textes zitiert wurde, hat gegenüber der Botschaft des Regierungsrates wieder einige Änderungen erfahren, die sich allerdings inhaltlich kaum auswirken. Wieder ist die Nummerierung durch die Zusammenfassung anderer Artikel verändert. Der Artikel findet sich als 25. Artikel im Gesetz. Gleichzeitig sind die beiden Sätze getrennt und nummeriert worden. Zudem wurde eine geschlechtergerechte Spracheregelung gefunden, die statt der „Schülerbibliothek“ eine Bibliothek für Lernende beider Geschlechter und statt der „Lehrerbibliothek“ eine Bibliothek für geschlechtlich nicht spezifizierte Lehrpersonen nennt. Die Verwendung geschlechtergerechter Sprache wurde im gesamten Volksschulgesetz durchgeführt, in letzter Konsequenz wurde auch der Schulbibliotheksartikel dahingehend verändert.

Gleichzeitig zeigt die Beibehaltung des Inhalts noch einmal, dass zu den grundsätzlichen Aussagen des Artikels offenbar kein Diskussionsbedarf bestand. Sowohl das Parlament, das Veränderungen hätte einfordern können, als auch das Volk, das berechtigt gewesen wäre, dass Referendum gegen das Gesetz zu ergreifen, nahmen diese Möglichkeiten nicht wahr. Wenn auch nicht alle Anregungen aus den Vernehmlassungen beachtet wurden, scheint diese Version doch einen für alle Beteiligten tragbaren Kompromiss darzustellen.

4. Fazit: Schulbibliotheken anerkannt, aber den Schulgemeinden überlassen

Die im StaatsA SG überlieferten Unterlagen zur Vernehmlassung über die Totalrevision des kantonalen Erziehungsgesetzes von 1952, die in den späten 1970er Jahren stattfand und mit dem Inkrafttreten des Volksschulgesetzes sowie zweier anderer Gesetze 1983 ein Ende fanden, bieten einen selten Einblick in die Wahrnehmung von Schulbibliotheken durch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure. Von Beginn an war im Erziehungsgesetz ein Artikel zu Schulbibliotheken vorgesehen, der auf einer älteren Regelung aufbaute. Im Laufe der Vernehmlassung wurde diesem Ziel nicht widersprochen. Vielmehr scheint im Bezug auf Schulbibliotheken eine grosse Einigkeit bestanden zu haben und eher über Detailfragen nachgedacht worden zu sein. Im Vergleich zu anderen Artikeln ist dieser relativ wenig besprochen oder im Laufe des Vernehmlassungsprozesses verändert worden. Viele an der Vernehmlassung teilnehmenden Einrichtungen nahmen die Möglichkeit, sich auch zu diesem Artikel zu äussern, gar nicht erst wahr.

Mit der KKS bestand eine Institution, die als Gruppe von Expertinnen und Experten zu den kantonalen Schulbibliotheken gelten konnte. Auch diese wurden eingeladen, an der Vernehmlassung teilzunehmen. Die Kommission äusserte sich nur zu diesem Artikel, dies allerdings sehr ausführlich. In Verkennung der Pläne des EZD erarbeitete sie sogar unaufgefordert ein neues Reglement für Schulbibliotheken. Obwohl sie angefragt und damit als Institution mit besonderen Kenntnissen zum Thema akzeptiert wurde, folgte das EZD den Vorschlägen der Kommission nicht.

Vielmehr übernahm das Gesetz praktisch eine frühere Regelung. Dabei wurde die Möglichkeit verpasst, vorzuschreiben, dass jede Schule eine Bibliothek führen müsse, obwohl genau dies mehrfach vorgeschlagen wurde. Vielmehr wurden die Schulgemeinden, die unterschiedlich viele Schulen betreiben können, zum Führen einer Schulbibliothek verpflichtet. Warum diese Entscheidung getroffen wurde, ist nicht ersichtlich. Nicht thematisiert wurde in den Vernehmlassungen die Trennung von Bibliotheken für Lernende und Lehrerende. Offenbar galt dies fast allen Beteiligten als sinnvoll. Zumindest in der bibliothekarischen Literatur der 1970er und 1980er Jahre findet sich hingegen die Forderung nach einer zentralen Bibliothek pro Schule.50

Die aufgeführten Vorschläge scheinen darauf hinzudeuten, dass Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen einerseits eine hohe Akzeptanz geniessen, sich aber ausserhalb spezifischer Kommissionen kaum über Details dieser Schulbibliotheken geäussert wird. Die differenzierteren Ausarbeitungen von bibliothekarischer oder ähnlicher Seite wurden trotz der positiven Haltung zu Schulbibliotheken selber eher ignoriert, wobei aus dem Material nicht hervorgeht, ob die Vorschläge der KKS zu sehr der Realität in den Schulen, die sich in einer zeitgleich durchgeführten Umfrage der KKJV ganz anders darstellte, enthoben waren, um sinnvoll umgesetzt werden zu können oder ob sie aus anderen Gründen nicht beachtet wurden.

Die Vernehmlassung von 1978 – welche selbstverständlich als historische Angelegenheit im spezifischen Kontext des Kantons St. Gallen zu sehen ist – scheint eine positive Position für Schulbibliotheken im Allgemeinen, aber ein gewisses laisser faire bei der Ausgestaltung der konkreten Schulbibliotheken von Seiten der Schulbehörde und der politischen Institutionen anzuzeigen. Grundsätzlich scheint die engere Regulierung der Schulbibliotheken von kantonaler Seite weder vom Kanton noch von anderen Akteurinnen und Akteuren, ausser der KKS selber, gewünscht worden zu sein. Schulgemeinden haben in dieser Hinsicht bis heute eine grosse Freiheit, bibliothekarische und ähnliche Einrichtungen werden offenbar angehört, aber ihren Forderungen wird nicht gefolgt. Zu vermuten ist, das von anderen Einrichtungen eher Schulen und Schulgemeinden die Kompetenzen zugeschrieben wurden, über die konkreten Schulbibliotheken, deren Ausstattung und Arbeit zu entscheiden, als der KKS. Hervorzuheben ist zudem noch einmal, dass der Artikel 25 des Volksschulgesetzes seit 1983 nicht mehr verändert wurde, was auch andeutet, dass sich die Schulen und Schulbibliotheken im Kanton mit diesem zumindest zurechtgefunden haben und ihm ein gewisses Funktionieren deshalb nicht abgesprochen werden kann.51

Zu untersuchen wäre weiterhin, ob diese Haltung zu Schulbibliotheken spezifisch für St. Gallen, die Schweiz oder die historische Situation ist. Für die Schweiz bieten sich Recherchen in weiteren kantonalen Archiven zu den Entstehungsprozessen der jeweiligen rechtlichen Regelungen im Bezug auf Schulbibliotheken, die, wie erwähnt, in fast allen Kantone existieren, an. Für andere Staaten könnten Interviewstudien mit verschiedenen Stakeholdern sinnvoll sein. Sollte sich eine ähnlich unentschiedene Haltung zu Schulbibliotheken auch über den hier geschilderten Fall zeigen, würde dies einen Ansatzpunkt für bibliothekarische Vorstellung davon, wie Schulbibliotheken funktionieren und funktionieren sollten, darstellen. Das Beispiel des praktisch ignorierten Vernehmlassungsbeitrag der KKS zeigt, dass reine Darstellungen über bestimmte Minimalausstattungen und Aufgaben von Schulbibliotheken von bibliothekarischer Seite aus für andere Institutionen nicht überzeugend sind.

 

Fussnoten

1 Art. 25 VolksschulG SG vom 13.01.1983.

2 Schulgesetze (oder vergleichbare): Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Freiburg/Fribourg, Glarus, Graubünden/Grischun/Grigioni, Jura, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen, Tessin/Ticino, Thurgau, Uri, Waadt/Vaud, Wallis/Vallais, Zug. Bibliotheksgesetze: Luzern, Neuenburg/Neuchâtel, Schwyz, St. Gallen. Reglemente über Schulbibliotheken: Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Glarus, Jura.

3 Vgl. in Friedeburg, Ludwig v. (1989). Bildungsreform in Deutschland : Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch.Frankfurt am Main: Suhrkamp die entsprechenden Kapitel zu den 1960er und 1970er Jahren.

4 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes : Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978. In: StaatsA SG, A 115/3.1.

5 Im Fall des Volksschulgesetzes wurden zum Beispiel auch einzelne Lehrerinnen und Lehrer einbezogen.

6 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes : Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978. In: StaatsA SG, A 115/3.1.

7 Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

8 Verordnung betreffend staatlicher Unterstützung der Schulbibliotheken an den Primarschulen. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XI (1906) 4, 264-267.

9 Verzeichnis der Mitglieder der kantonalen Kommission für Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXXII (1968) 9, 238.

10 Erhalten sind die Protokolle der 1. (1906) bis 132. Sitzung (1983) – 01. bis 79. Sitzung handschriftlich, 80. bis 132. Sitzung als Typoskript –, allerdings ohne die 93., 97., 100., 102., 118. und 131. Sitzung. StaatsA SG, KA R130 B38; StaatsA SG, A090/099.

11 Kantonsbibliothek St. Gallen, Kantonale Kommission für Schul- und Gemeindebibliotheken St.Gallen ([2013]). Jahresbericht 2012. [St. Gallen] : [Kantonsbibliothek St. Gallen], [2013].

12 Vgl. Abschnitt 3.2.8.

13 StaatsA SG, A115/3.1; StaatsA SG, A 115/3.2; StaatsA SG, A 242/01.07; StaatsA SG, A 242/01.02.

14 StaatsA SG, A242/01.07.

15 Vgl. Abschnitt 3.2.8.

16 Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: Referate der Informations-Tagung vom 6. März 1978 in der Aula der Hochschule St. Gallen. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen], 1978.

17 Grosser Rat des Kantons St. Gallen (1981). Botschaft des Regierungsrates zum Entwurf eines Volksschulgesetzes : vom 23. Juni 1981. In: Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1981, 1073-1118.

18 Schulordnung der Primar- und der Sekundarschule vom 08. Juli 1952. In: Staatskanzlei St. Gallen (1956). Bereinigte Gesetzessammlung: Am 1. Januar 1956 in Kraft stehende kantonale Erlasse, Erster Band. St. Gallen: Staatskanzlei St. Gallen, 1956, 400-410.

19 Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

20 Gesetz über die Lehrergehalte und die Staatsbeiträge an die Volksschule vom 5. Januar 1947. In: Kanton St. Gallen (1950). Gesetzessammlung Neue Folge, Neunzehnter Band 1947-1950. St. Gallen: Buchdruckerei Volksstimme, 1950, S. 1-6.

21 Kantonaler Lehrerverein St.Gallen (1976). Thesen zur Totalrevision des Erziehungsgesetzes [26. November 1976], 2. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

22 Güttinger, Heinrich (1964). Aktion „Das gute Buch“. In: Amtliches Schulblatt des Kantons St. Gallen. Neue Folge. XXX (1964) 2, 719.

23 103 Sitzung (13. November 1968).

24 Güttinger, Heinrich (1973). Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken: Jahresbericht 1972 [Typoskript, 4 Blatt] St. Gallen. In StaatsA SG, ZA 118.

25 Güttinger, Heinrich (1974). Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken: Jahresbericht 1973 [Typoskript, 6 Blatt] St. Gallen. In: StaatsA SG, ZA 118.

26 Vgl. Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3.

27 Sozialdemokratische Partei des Kantons St. Gallen (1977). Vorvernehmlassung zum neuen Erziehungsgesetz [04. Januar 1977], 2. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

28 Freisinnig-Demokratische Partei des Kantons St. Gallen (1977). Totalrevision Erziehungsgesetz : Eingabe des Ausschusses für Bildung und Kultur der Freisinnig-Demokratischen Partei des Kantons St.Gallen an das kant. Erziehungsdepartement zur Totalrevision des kant. Erziehungsgesetzes [23. Mai 1977], 5. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

29 Erziehungsrat des Kantons St.Gallen (1977). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: Verhandlungsprotokoll der 1. Sitzung [30. Juni 1977], 40. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 242/01.02.

30 Erziehungsrat St. Gallen (1962). Reglement über die Führung und Förderung der Schulbibliotheken: vom 19. Juni 1962. In: Amtliches Schulblatt des Kanton St. Gallen. Neue Folge. XXX (1962) 7, 153-154.

31 Erziehungsrat St. Gallen (1977). Gesetz über die Volksschule: Entwurf des Erziehungsrates vom 26. September 1977. 7. [Typoskript]. In: StaatsA SG, A 115/3.2.

32 Vgl. Abschnitt 3.2.4.

33 Auch die beiden anderen Gesetze wurden entworfen.

34 Erziehungsrat St. Gallen (1978). Gesetz über die Volksschule: [Bereinigter Entwurf vom 5.Januar 1978 für den Abschluss der Beratungen im Regierungsrat]. 7. [Typoskript] [10. Jan. 1978]. In: StaatsA SG, A242/01.07.

35 Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes: [An die Vernehmlassungsinstanzen] ; [06. März 1978]. [St. Gallen] : [Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen], 1978, 57. In: StaatsA SG, A 115/3.1. Zum Text der genannten Interpellation und Antwort vgl. Nr 131/1 51.76.22 (umgewandelte Motion 42.76.10) Interpellation Rathgeb-Rapperswil: Förderung der Volksbibliotheken. In: Protokoll des Grossen Rates des Kantons St. Gallen Amtsdauer 1976/80, Heft 1, nrn. 1 bis 35, S. 361-362. Die in der Antwort in Aussicht gestellte Koordination beschränkte sich auf die Vorstellung, KKS und KKJV zusammenzuführen. Ansonsten referiert sie die damalige Situation.

36 Bibliotheksverordnung vom 22. März 1983. In: Staatskanzlei St. Gallen: Kanton St. Gallen Gesetzessammlung, Neue Reihe, Siebzehnter Band 1982-1983, nGS 18-34.

37 Kantonale Kommission für Schulbibliotheken SG (1978). Vernehmlassung zum Erziehungsgesetz für Volksschulen. [Typoskript], 27.09.1978, 1. In: StaatsA SG, A 090/099.

38 StaatsA SG, A 090/099.

39 StaatsA SG, A 090/099.

40 StaatsA SG, A 090/099.

41 StaatsA SG, A 090/099. Dies war nicht der erste Vorstoss in diese Richtung. In der 82. Sitzung vom 04.03.1961 wird vom Regierungsrat im EZD vorgeschrieben, dass die Kommissionsmitglieder innert vier Jahren in je zwei zugeteilten Bezirken jede Gemeinde, genauer deren Schulbibliotheken, besuchen und beraten müssten. Für 1962 hatte die Kommission vom gleichen Regierungsrat den Auftrag erhalten, über den Stand der Schulbibliotheken zu berichten. (82. Sitzung vom 04.03.1961) Ob dieser Auftrag ausgeführt wurde, ist nicht bekannt. Beachtlich ist allerdings, dass 1978 wieder neu darüber diskutiert wurde, ob die Kommission Beratungsaufgaben für Schulbibliotheken hätte.

42 StaatsA SG, A 090/099.

43 Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken St. Gallen (1980). Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen: Ihre Entwicklung. St. Gallen: Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1980.

44 Vgl. Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Gattermann, Jutta ; Siegling, Luise (1970). Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung ; 19). Hamburg : Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970 und Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3.

45 StaatsA SG, A 242/01.07.

46 Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken St. Gallen (1980). Schulbibliotheken im Kanton St. Gallen: Ihre Entwicklung. St. Gallen: Kantonale Kommission für Jugend- und Volksbibliotheken, 1980.

47 1969 schon wurde im Namen der KKS, aber vom späteren Leiter der KKJV, Heinrich Güttinger, eine Umfrage unter Schulbibliotheken durchgeführt. Deren Auswertung ist zum Teil in den Protokollen der KKS erhalten (107. Sitzung vom 03.12.1969), allerdings wird diese in der Broschüre von 1980 nicht erwähnt. Dies ist interessant, da in der Umfrage von 1969 die meisten antwortenden Schulen mit ihren Schulbibliotheken im damaligen Zustand zufrieden waren und, trotz expliziter Nachfrage, keine Beratung zur Weiterentwicklung wünschten und deshalb zuerst hätte begründet werden müssen, warum sie sich verändern sollten.

48 Erziehungsdepartement des Kantons St.Gallen Sekretariat (1978). Totalrevision des Erziehungsgesetzes Volksschulgesetz: Verarbeitung der Vernehmlassungen Dezember 1978. [Typoskript]. In: StaatA SG, A 242/01.07.

49 Grosser Rat des Kantons St. Gallen (1981). Volksschulgesetz: Entwurf des Regierungsrates vom 23. Juni 1981. In: Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1981, 1119-1144, 1123.

50 Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, Deutscher Bibliotheksverband (1975). Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek: Ein Diskussionsbeitrag (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 14). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes, 1975. Müller, Hans A. (1988). Die Schulbibliothek: Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare. Bern : Schweizer Bibliotheksdienst, 1988.

51 Dies steht Vorstellung entgegen, die von bibliothekarischer Seite auch aktuell formuliert werden. Diese fordern eine Gestaltungskompetenz von professionellen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren für Schulbibliotheken ein und interpretieren die Schulen dabei eher als Kooperationspartner. Vgl. Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken: Bibliotheken, Mediotheken, Informationszentren an Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe II ; Grundsätze, technische Daten und praktische Beispiele. (3. überarbeitete Aufl.). Aarau: Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken, 2014. Und: Deutscher Bibliotheksverband (2015). Lesen und Lernen 3.0 Medienbildung in der Schulbibliothek verankern!: Frankfurter Erklärung des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) vom 22. April 2015. Frankfurt am Main : Deutscher Bibliotheksverband, 2015. http://www.schulmediothek.de/fileadmin/pdf/DieFrankfurterErklaerung.pdf.

Schulbibliotheken in Berlin, 2016. Langsames Wachstum?

Jeden April seit 2008 findet eine Zählung der Schulbibliotheken in Berlin statt, über die jeweils in diesem Blog berichtet wird. Ziel ist es dabei, mindestens zehn Jahre lang deren Entwicklung zu beobachten, um Aussagen über deren Entwicklungen über eine Momentaufnahme hinaus zu treffen. Die Methodik und deren Grenzen wurden in früheren Beiträgen geschildert (siehe unten); Basis der Recherche sind immer die Homepages der Berliner Schulen. Dies schränkt die Aussagekraft ein, da nur Schulbibliotheken „gefunden“ werden können, die auch auf diesen Homepages dargestellt sind. Allerdings sind Homepages heute, da praktisch eine freie Schulwahl existiert und sich Eltern eine zumeist unnötige grosse Entscheidungsarbeit machen, um ihre Kinder an „passenden“ Schulen anzumelden, das Hauptmedium, mit dem die meisten Schulen um neue Schülerinnen und Schülern (beziehungsweise um das Vertrauen der Eltern) werben. Insoweit ist zu erwarten, dass Schulbibliotheken, wenn sie von der jeweiligen Schulgemeinschaft als wichtig angesehen werden, auch auf den Homepages dargestellt werden.

Zum Teil finden sich deshalb in Berlin auch sehr umfassende Homepages, teilweise von Schulbibliotheken selber, teilweise als Teil des Angebotes von Schulhomepages. Ein Problem, dass sich eher zu stellen scheint, ist, dass nicht alle Schulhomepages aktuell gehalten werden. Insbesondere wenn Schulbibliotheken geschlossen werden, scheint es teilweise Jahre zu dauern, bis sich dies in der Darstellung auf der Homepage niederschlägt. Insoweit müssen bei dieser Statistik immer wieder auch Entscheidungen darüber getroffen werden, ob bestimmte Schulbibliotheken noch existieren oder nicht. Gleichzeitig müssen Entscheidungen darüber oft der Grundlagen weniger Daten – zum Beispiel die Erwähnung einer Bibliothek unter der Rubrik „Ausstattung“ getroffen werden. Insoweit sollten die Daten nicht als vollständig gesichert angesehen werden.

Gleichzeitig soll durch die Kontinuität der Recherche – bislang neun Jahre – eine grössere Annäherung an die reale Situation der Schulbibliotheken in Berlin stattfinden. Wie schon in den Jahren zuvor dargestellt werden dabei Schulbibliotheken als Einrichtungen verstanden, die dann entstehen und über einen längeren Zeitraum betrieben werden, wenn die jeweilige Schulgemeinschaft sie als sinnvoll ansieht.

Eine tiefergehende Auswertung ist für das nächste Jahr, wenn Daten aus zehn Jahren vorliegen, geplant. Hier soll nur kurz über die Ergebnisse dieses Jahres berichtet werden. (Die Rechercheergebnisse finden sich hier.)

Mehr Bibliotheken in Horthäusern

Dabei zeigt sich in der Recherche, dass immer mehr Schulbibliotheken genauer beschrieben werden. Dies ermöglicht auch, verschiedene Formen von Schul-bibliotheken zu unterscheiden. Auffällig ist dabei dieses Jahr, dass eine ganze Anzahl von Schulbibliotheken in den Freizeit-/Horthäusern, also den Orten der nach-unterrichtlichen Betreuung eingerichtet werden. Diese sind zum Teil von den Schulhäusern räumlich getrennt. Diese „Freizeit-Schulbibliotheken“ sind dann im Rahmen der Betreuung nutzbar, aber es scheint zum Beispiel zweifelhaft, ob sie auch – wie das in der bibliothekarischen Literatur zu Schulbibliotheken immer wieder vorgeschlagen wird – als Orte des Unterrichts oder der Nutzung während der Unterrichtszeit dienen. Interessant wäre, in ausgewählten Schulen die Motive für die Situierung der Schulbibliotheken zu erfragen.

Leicht steigende Zahl von Schulbibliotheken

schulbibliotheken_2016_auswertung
Tabelle 1 stellt die Zahl der Schulen und der gefundenen Schulbibliotheken im April 2016 (01.-03.04.2016) dar. Sichtbar ist, dass in keinem der Schultypen 50% oder mehr der Schulen eine Schulbibliothek betreiben. Sichtbar ist aber auch, dass sich die Schultypen in der Zahl der Schulbibliotheken unterscheiden. Dies hat sich über die Jahre verstärkt.

Dargestellt in Prozenten von Schulen mit Schulbibliothek sieht die Entwicklung wie folgt aus (zu Bedenken ist, dass bis 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien existierten, die dann 2011 in die neue Schulform Integrierte Sekundarschule aufgingen):

diagramm_gesamt_2016_prozente
Sichtbar ist als eine allgemeine Entwicklung in Richtung mehr Schulbibliotheken, wobei der Höhepunkt des Wachstums zwischen 2008 und 2011 stattgefunden hat und sich seitdem stark verlangsamt hat. Dies sagt noch nichts über die genaue Ausstattung oder Verankerung der jeweiligen Schulbibliotheken aus. Stellt man diese Entwicklungen in reinen Zahlen dar, sieht sie wie folgt aus:

diagramm_gesamt_2016_zahlen
Anhand beider Graphiken lässt sich, bei aller Vorsicht mit den konkreten Daten, sehen, dass das Wachstum vor allem in den Schulen mit den oberen Klassenstufen stattfindet, wobei die Gymnasien weit mehr Schulbibliotheken „gewinnen“, als die Integrierten Sekundarschulen (an denen alle Schulabschlüsse gemacht werden können). Die Differenz zwischen beiden Schulformen ist in den letzten Jahren massiv gewachsen. Heute haben Gymnasien doppelt so oft Schulbibliotheken, wie die Integrierten Sekundarschulen (dargestellt in Prozent).

diagramm_sekundar_2016
Letztere wurden geschaffen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Geht man davon aus, dass zur Bildungsgerechtigkeit auch die gleiche Chance gehört, eine Schulbibliothek zu benutzen, sind diese Entwicklungen bedenklich. Sie könnten aber auch darauf hindeuten, dass Schulbibliotheken in den beiden Schulformen unterschiedliche Aufgaben haben.

Die Zahl der Grundschulen mit Schulbibliothek hält sich in den letzten Jahren relativ kontinuierlich.

Kontinuität und Diskontinuität

Eine Auswertung über die Jahre ergibt, dass ein Grossteil der Schulbibliotheken über einen längeren Zeitraum kontinuierlich betrieben werden. Von den 257 Schulbibliotheken, die aktuell in Berlin über die Schulhomepages zu finden sind, sind 191 auch mindestens drei Jahre hintereinander gefunden worden. (Auch diese Zahl ist vorsichtig zu bewerten. Zur Zählweise siehe den Beitrag des letzten Jahres, weiter unten.) Dies deutet darauf hin, dass die gewisse Kontinuität in den jährlichen Zahlen mit einer hohen Kontinuität in den Schulen einhergeht.

Gleichzeitig lässt sich auch zeigen, dass Schulbibliotheken über die Jahre geschlossen werden. In einigen, wenigen Fällen, wird dies von den Schulen selber auf der jeweiligen Homepage verkündet, in anderen Fällen sind die Schulbibliotheken über Jahre nicht mehr auf den Homepages zu finden. Die Datenbank, die alle Schulenbibliotheken, die in letzten neun Jahren gefunden wurden, enthält jetzt (allerdings mit heute geschlossenen Schulen) über 450 Einträge. Anders ausgedrückt, scheinen in Berlin über 50% der Schulen in den letzten Jahren Schulbibliotheken gehabt zu haben, aber zum Teil sich auch dazu entschlossen zu haben (aus unterschiedlichen Gründen), diese wieder zu schliessen. Dieses Phänomen wird in der bibliothekarischen Literatur zu Schulbibliotheken quasi nicht thematisiert.

Interessant sind Schulen, in denen sich über die neun Jahre, in denen diese Statistik bislang betrieben wird, ganz ohne System mal Schulbibliotheken finden und dann wieder nicht. Sie scheinen immer wieder neu belebt zu werden, aber dann auch wieder geschlossen zu werden oder zumindest an Bedeutung zu verlieren, aber gleichzeitig immer wieder neu angestrebt zu werden. Dies kann damit zu tun haben, dass sie teilweise als AG oder Lehrfirma betrieben werden, also Jahr für Jahr vom Interesse der Schülerinnen und Schüler abhängen. In diesem Fall entscheiden sich Schulen dann nicht, die Bibliotheken selbstständig zu „verstetigen“. Es kann aber auch Ausdruck eine Unsicherheit der Schulen sein, ob sie sich für die Bibliotheken engagieren sollen oder nicht und wenn ja, wie viel. Bei einer kleinen Zahl von Schulen finden sich auch Hinweise auf Projekte, Schulbibliotheken einzurichten, die dann nicht umgesetzt werden. Der Wille allein scheint also nicht auszureichen.

Gleichzeitig finden sich in Berlin Schulen, die sich entweder sehr für ihre Schulbibliothek einsetzen und diese auch präsentieren und gleichzeitig Schulen, die keine Schulbibliotheken einrichten.

Beiträge zur Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin aus den letzten Jahren

Neo-70er. Oder: Bibliotheken werden nicht getrieben, sie erfinden nur ständig die 1970er neu. [Vortragsskript, 13. InetBib-Tagung, Stuttgart, 12.02.2016]

Vorbemerkung: Im Folgenden ein Skript meines Vortrags auf der diesjährigen, 13. InetBib-Tagung in Stuttgart. Der Vortrag war auf die Tagung und deren Motto – „Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?“ – zugeschnitten, also auf ein Treffen, auf der Bibliotheken vor allem darüber sprechen, wie sie an auf die Zukunft gerichteten Projekten arbeiten, verbunden mit einem Motto, dass in gewisser Weise eine unterschwellige Angst ausdrückt, von Entwicklungen ausserhalb der Bibliotheken „überholt“ zu werden. Er präsentierte eine These, mit der ich mich schon länger rumschlage und die zu dieser Tagung gewollt etwas quer stand. Diese These ist ein Diskussionsangebot, allerdings sind Tagung nicht der perfekte Ort für Diskussionen (ein grosser Saal, vorne die Vortragenden, alle anderen im Hörsaal schauen nach unten). Trotzdem rief der Vortrag einige Reaktionen hervor, die ich so von anderen Vorträgen nicht kenne. Ein ganzer Teil der Kolleginnen und Kollegen, vor allem auf den hinteren Reihen ganz oben (die man aber von der Position des oder der Vortragenden halt am Besten sieht) schienen nicht einverstanden zu sein, sondern sehr vor sich hinzugrummeln. Warum genau weiss ich selbstverständlich nicht. Aber es schien mir schon mehr Widerspruch als sonst. Gleichzeitig kamen nach dem Vortrag aber auch viel mehr Anwesende, als sonst, die etwas zu meinen Thesen zu sagen hatten. Auch das eher kurz, weil selbstverständlich auf einer Tagung auch die Kaffeepausen eher kurz sind. Aber offenbar haben meine Ausführungen ein paar Punkte getroffen, die zumindest Reaktionen auslösten.

Da nicht alle Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart anwesend waren und weil ich tatsächlich die These als Diskussionsangebot unterbreite möchte, bei der ich selber noch nicht sicher bin, was genau sie bedeuten (könnte), aber gleichzeitig überzeugt bin, dass die Beobachtungen, die ich im Vortrag darlegte, für die bibliothekarischen Debatten relevant sind, liefere ich hier einen über die Folien (hier) hinausgehenden Beitrag nach. Er ist als Skript geschrieben, das heisst, er folgt den Folien, die ich verwendete. Gleichzeitig ist es erst nach der Tagung geschrieben worden, insoweit stimmt es nicht mit dem gesprochenen Wort – dass sich auch auf die Tagung und die heftigen Diskussionen um einen kurz vorher publizierten Artikels eines gar nicht Anwesenden bezog – überein, aber mit dem, was ich sagen wollte.

 

Folie 1

Erinnerung

Die Frage der Konferenz ist: Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?

Gegenthese:

  • Bibliotheken haben das Gefühl getrieben zu werden, wissen aber nicht, dass sie sich das selber immer wieder neu erzählen.
  • Die meisten Debatten gab es schon mal.
  • Bibliotheken wissen nicht, was ’sie‘ schon gemacht und durchgestanden haben.

 

Guten Morgen. Ich möchte Ihnen heute einige Thesen vorlegen, die sich aus dem Motto der Tagung und meiner Forschungstätigkeit ergeben haben. Dabei müssen Sie beachten, dass ich als Bibliothekswissenschaftler viele Nachteile gegenüber Ihnen in den Bibliotheken habe, aber einen Vorteil: Ich muss nicht, wie die meisten der hier Anwesenden, Entscheidungen darüber treffen, was in einer konkreten Bibliothek passiert, was dort demnächst gemacht werden oder wofür Geld ausgegeben werden soll. Stattdessen kann ich am Rande meiner Arbeit über Bibliotheken und deren Entwicklungen in einer längeren Perspektive nachdenken. Eine Sache, die ich dabei noch recht oft mache, ist, die Bibliotheksliteratur aus der Vergangenheit anzuschauen. Nicht so sehr die von vor einigen hundert Jahren, sondern eher die der vergangenen Jahrzehnte. Dabei ist mir etwas aufgefallen, dass sich dann mit dem Motto dieser Tagung zu diesem Vortrag entwickelt hat.

Dabei muss Sie bitten, dass alles als provisorisch anzusehen, als Vorschlag zur Diskussion. Vielleicht übertreibe ich Entwicklungen, vielleicht beachte ich wichtige Dinge nicht. Aber ich denke, es ist besser, Ihnen das zur Diskussion vorzulegen, als es zurückzuhalten.

Sie erinnern sich, dass das Motto der Tagung lautet: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Es geht also darum, ob die Bibliotheken nicht ganz up to date sind, sondern Entwicklungen hinterher rennen oder ob sie selber bestimmen, was up to date ist. Ich möchte dem eine These gegenüberstellen. Mir scheint, dass Bibliotheken sehr gut darin sind, sich gegenseitig überzeugend zu erzählen, dass sie getrieben würden – was auch seine guten Seiten hat, weil es Bibliotheken offenbar zu ständigen Veränderungen antreibt. Dabei scheinen sie sich aber nicht im Klaren zu sein, dass die meisten der Debatten darüber, wie und warum Bibliotheken sich entwickeln sollen oder müssen, schon mindestens einmal geführt wurden und das die Bibliotheken diese Debatten auch durchgestanden haben.

Das, was wir heute im Bibliothekswesen als Entwicklungen diskutieren – und das auf verschiedenen Ebenen und Themengebieten –, scheint mir in vielen Fällen so ähnlich schon einmal in den 1970er Jahren diskutiert worden zu sein. Oft mit den gleichen Argumenten für die (vorgeblichen) Entwicklungen, manchmal bis hin zu den einzelnen Formulierungen, oft mit ähnlichen Lösungen; nur halt oft auf der Basis der damaligen technischen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Was ich Ihnen in diesem Vortrag aus Zeitgründen nicht zeigen werde, sondern als grosse These darbiete, ist die Behauptung, dass sich in den 1970er Jahren, innerhalb weniger Jahre, in den deutschsprachigen Bibliothekswesens – zumeist mit Ausnahme der DDR, die ein Thema für sich ist – das Denken der Bibliotheken über sich selber und über die Herausforderungen der Bibliothek radikal änderte. Sicherlich ging dies nicht sofort mit dem dem Jahreswechsel von 1969 zu 1970 einher, aber doch scheint es mir so, als ob die bibliothekarische Literatur der 1960er und 1950er Jahre noch sehr wie die der 1920er oder 1910er Jahre klingt, sowohl in Gestus als auch der Zielsetzung der bibliothekarischen Arbeit, der Wahrnehmung der Bibliothek – und sich dann in kurzer Zeit vom Ende der 1960er und bis vielleicht 1975, die bibliothekarischen Literatur rabiat änderte und sich Diskursformen etablierten, welche sich seitdem in der bibliothekarischen Literatur immer wieder finden. Mir scheint, die 1970er waren die Zeit dieses Bruches, nicht etwa die 1990er, auch nicht die späten 1940er (was man ja aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Jahren eher hätte erwarten können).

Falls Sie eine ähnlichen Bruch suchen, allerdings einen mit einer hohen Fallhöhe, wie ich Ihnen noch mehr in diesem Vortrag als Interpretation vorschlagen werde: Mich erinnert dieser Bruch in den Diskursen, auch wenn er viel kleiner ist, immer wieder an das Aufkommen der Strafgesellschaft, wie sie Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschreibt (Foucault 2001), wo innerhalb kurzer Zeit Ende des 18. Jahrhunderts sich auf einmal Formen des Denkens über die Steuerung, Kontrolle und Bestrafung von Menschengruppen durchsetzen, die dann dazu führten, dass auf einmal ganz viele unterschiedliche öffentliche Bauten ähnlich konzipiert wurden: das Gefängnis, die Schule, die Kaserne, die Fabrik, das Hospital. Selbstverständlich: Bibliotheken sind ein viel erfreulicheres Thema als die Gefängnisse, aber der Bruch scheint mir ähnlich erstaunlich zu sein und ähnlich plötzlich aufzutreten. (Was ich auch nicht tun werde, aber was eine interessante Forschungsfrage wäre, wäre zu schauen, ob ähnliche Brüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise dem Bildungswesen, der Krankenversorgung oder auch den Gefängnissen, zur gleichen Zeit stattfanden.)

 

Folie 2

Vorbemerkung I:

  • Vortrag soll diese These testen
  • Persönliche Note: Gesellschaftliche Veränderung nach dem Ende der DDR meine „Lebenserfahrung“ –> Eindruck, dass sich einige Veränderungen & Versprechen wiederholen –> vielleicht überbetont
  • Texte aus den 70er zum Bibliothekswesen vermitteln aber ähnliches Gefühl („gab es doch schon…“)

 

Zwei kurze Vorbemerkungen, die mir notwendig erscheinen: Zu meiner Biographie gehört, dass ich meine Jugend in den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt habe und zuvor auch den Zusammenbruch der DDR. Neben all dem Stress mit Nazis und Ostalgischen Menschen, neben all der Freiheit, die wir dann auf einmal hatten und den frei nutzbaren Platz, den wir in Ost-Berlin damals noch vorfanden, gibt es eine Erfahrung, die vielleicht Menschen, die damals nicht in Ostdeutschland lebten, so nicht bewusst ist, obwohl sie doch sehr prägend war: Die 1990er waren eine Zeit, wo sehr oft der Eindruck entstand – was auch mit den Personen zu tun haben wird, die damals „in den Osten gingen“, um zu erzählen, wie Demokratie und Kapitalismus und Politik so richtig geht –, dass sehr viele Versprechen und Ansätze sich wiederholten, die es mit einer (zumeist) anderen Terminologie schon in der DDR gegeben hatte. Sicherlich veränderten sich Dinge, aber viele blieben auch einfach gleich, zumindest in der Grundstruktur. Mir scheint, dass diese Erfahrung unter anderem meinen Blick auf Entwicklungen im Bibliothekswesen geprägt hat und vielleicht zu sehr geprägt hat. Das wäre vielleicht ein Ansatz, meine These wieder aufzuheben. Vielleicht ist das, was ich Ihnen präsentieren möchte, einfach überinterpretiert.

Und trotzdem scheint mir immer wieder, dass sich dieses Gefühl, auf die gleichen Diskurse und Thesen, wie sie auch heute besprochen werden, gestossen zu sein, immer wieder sich einstellt, wenn man die bibliothekarischen Texte aus den 1970er Jahren – die immer noch in den Magazinen der Bibliotheken stehen und leicht zugänglich sind – liest.

 

Folie 3

Vorbemerkung II:

Die 1970er Jahre waren eine Zeit voller gesellschaftlicher Umbrüche und Zukunftsvisionen (gleichzeitig: gesellschaftlicher Kontinuität)

  • politische Bewegungen wurden „erwachsen“ und wirkmächtig
  • die Gesellschaft wurde als „in radikaler Veränderung“ begriffen, inklusive vieler neuer Möglichkeiten
  • generelle Liberalisierung
  • neue Technik, neue Methoden (u.a. in Schulen, Betrieben)
  • viele „Irrwege“ wurden enthusiastisch begangen –> Überzeugung vieler, zu wissen, was die Zukunft bringt

 

Eine zweite Vorbemerkung für alle die, die – so wie ich – vielleicht die 1970er gar nicht selber erlebt haben: Die 1970er Jahre, gerade die frühen, waren in den deutschsprachigen Gesellschaften (wieder, mit partieller Ausnahme der DDR) Zeiten grosser gesellschaftlicher Umbrüche, deren man sich heute nicht mehr ganz gewahr ist. Damals wurde in weiten Teilen der Gesellschaft davon ausgegangen, dass sich grundlegend alles ändern würde. Es gab politische Bewegungen, innerhalb und ausserhalb der Parlamente, die eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft oder auch eine ganz andere Gesellschaft anstrebten und die in den 1970er Jahren sehr wirkmächtig wurden. Ich habe vor kurzem in einem Projekt in St. Gallen, einen eher konservativen, aber auch nicht dem konservativsten, Kanton, politische Dokumente aus dieser Zeit gelesen, wo sich die politischen Parteien zu geplanten Gesetzen äusserten. In diesen Schriften finden sie auch bei den damaligen konservativen Parteien – die SVP gab es damals in der heutigen Form noch nicht – Sätze der Art: „In einer Zeit wie heute, wo alles in Frage gestellt wird…“ und die Vorstellung, dass es gerade aktuell eine notwendige Hinterfragung von gesellschaftlichen Strukturen und Zielen gab – und das das gut wäre. Generell gab es in den deutschsprachigen Gesellschaften (ausser der DDR) einen unheimlichen Liberalisierungsschub. Alles wurde „modern“, aber immer auch mit der Überzeugung, dass es dadurch besser und freier würde oder zumindest werden sollte.

Dies gilt nicht nur für das Denken, sondern auch für Technik und Methodiken. Beispielsweise wurden im Schulbereich unheimlich viele Experimente mit damals neuen Lernmethoden und Lerngeräten angestellt, die zumeist später wieder eingestellt wurden. Aber es war zum Beispiel auch eine Zeit, wo ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob man „Lernmaschinen“ bauen sollte, die auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler reagieren und den Unterricht individueller machen würden. In den Fabriken wurden in diesen Jahren Computer, Rechenzentren und erste Roboter in grosser Masse eingeführt.

Wenn Sie Literatur der damaligen Zeit lesen, nicht nur im Bibliotheksbereich, sondern zum Beispiele gerade im Bildungsbereich oder auch politischen Programme, finden Sie unter anderem einen Diskurs von Behauptungen darüber, wie die Zukunft sein wird. Oft sind diese Texte sehr polemisch gegenüber dem, was angeblich bislang gewesen wäre; also ein Diskurs von „was bisher war, ist alt und unmodern“ und das, was in Zukunft kommen oder gelten wird, ist dagegen modern und es wird genau so und so sein. Es gab ein unheimliches Vertrauen darin, die Zukunft vorhersagen und auch planen zu können. (Diese Überzeugung gab es dann auch in der DDR, aber mit einem anderen Hintergrund.) Vieles davon hat sich als falsch herausgestellt, aber in den 1970ern wurde es noch mit sehr viel Überzeugung vertreten.

Das als Hintergrund.

 

Folie 4

Ein paar Beispiele für Dinge, die in den 1970ern im Bibliothekswesen diskutiert wurden – und heute sehr modern klingen

 

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Beispiele für Diskurse und Vorschläge zeigen, die Sie in der deutschsprachigen Bibliotheksliteratur der 1970er Jahre finden und die sich nicht so sehr von dem unterscheiden, was heute im bibliothekarischen Rahmen diskutiert wird. Sicherlich sieht die Technik heute anders aus, aber Sie werden hoffentlich sehen, dass die grundlegenden Vorstellungen und Ängste sehr ähnlich waren, zum Teil bis hin zur Terminologie.

Dabei sind das die Beispiele, die mir aufgefallen sind. Nicht alle, da wir nicht unendlich Zeit haben. Aber ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie systematischer Vorgehen, noch mehr Beispiele finden werden. Und das scheint mir wichtig: Ich habe diese Beispiele nicht aktiv gesucht, Sie sind mir eher zufällig aufgefallen, aber immer wieder neue und immer mehr, so dass ich irgendwann zur Grundthese meines Vortrags kam. Wie gesagt, ich präsentiere Ihnen die hier als Diskussionsvorschlag. Falls die Diskussion in Gang kommt, wäre es eine Aufgabe, nachzuschauen, ob ich einfach schon alles gefunden habe und überinterpretiere oder ob ich auf eine interessante Struktur gestossen bin.

 

Folie 5

VORWORT

Kürzlich wurde mir in den USA die Bibliotheken eines elitären College mit besonderem Stolz vorgezeigt: sie hat kaum mehr Bücher; wirkt wie ein Rechenzentrum; alles ist mikrofein und telegen gespeichert; die Lesegeräte und Leseterminals machen die Räume zu technologischen Gehirnzellen und Kommunikationsganglien, in denen Informationen sekundenschnell zirkulieren, clever abgerufen, und (…) inkorporiert werden. Statt Bibliothekarinnen müssten eigentlich Stewardessen das geistige Air-conditioning durchstrahlen. (…)

 

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einer Broschüre – Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion – beginnen. Genauer mit einem Zitat direkt aus dem Vorwort (Glaser 1976). Sie sehen den ersten Teil hier. Die Broschüre wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung, also der SPD-nahen Parteienstiftung, herausgegeben und behandelte die Frage, wie die Öffentliche Bibliothek in den zukünftigen Städten der damaligen BRD aussehen sollte. Das ist also keine Vorstellung irgendwo von einem gesellschaftlichen Rand, ganz utopisch von links oder so; sondern kommt direkt aus der politischen Mitte. Es ist eine „normale“ Schrift und keine Novität.

Was sehen wir in diesem Zitat? Lassen Sie mich auf ein paar Punkte hinweisen. Sie sehen die Vorstellung von einer zukünftigen Bibliothek, die von Technik bestimmt sein wird. Offenbar gegenüber der bisherigen Bibliothek: Die Bücher verschwinden, die Computer kommen und das Wissen wird über die Computer organisiert. Das ist eine Vorstellung, die Sie technisch aktualisiert heute auch im bibliothekarischen Diskurs finden. Die Angst oder Vorstellung, dass die Bücher und Medien verschwinden und die Bibliothek von der Technik geprägt werden wird. Sie wissen das selber. Aber was Sie hier auch sehen, ist, dass diese Vorstellung nicht mit dem Internet oder so begonnen hat. Sie ist schon älter. (Und vor den 1970er Jahren scheint sie so aber nicht in breitem Rahmen geäussert worden zu sein.)

Was Sie auch sehen ist die damit zusammenhängende Vorstellung, dass die Aufgabe der Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sich radikal ändern würde, so sehr, dass sich die Frage stellen würde, ob es dann überhaupt noch Bibliothekarinnen und Bibliothekare wären. Auch das ist eine Vorstellung, die Sie heute immer wieder finden, wenn über die Zukunft der Bibliotheken diskutiert wird: Was wird das Personal machen? Wie werden sich seine Aufgaben verändern? Auch dies scheint mir als Diskurs nicht erst vor Kurzem, sondern in den 1970er Jahren gestartet zu sein. Nur, wenn Sie darüber nachdenken, ist das irgendwann absurd. Wenn sich die Bibliothek und die Aufgaben des Personals in Zukunft so radikal verändern sollen, wie es teilweise behauptet wird, sollte das irgendwann auch einmal passiert sein. Scheint es aber nicht, sonst würde sich der Diskurs nicht wiederholen.

Was Sie an dem Zitat auch sehen, ist die Ausrichtung auf die USA. Das ist etwas, was Sie in den bibliothekarischen Texten in den 1970er und danach immer wieder finden: Beispiele von Bibliotheken aus den USA, die in dem Impetus vorgetragen werden, dass sie die Zukunft aller Bibliotheken, gerade in der BRD, Schweiz und Österreich beschreiben würden. Was auch interessant ist, weil sich dies nicht wirklich geändert hat. Sie kennen auch das aus den bibliothekarischen Diskussionen: Fast alle Beispiele, besonders wenn es darum geht, das die Technik die Medien ersetzen würde, kommen aus den USA (seltener aus Grossbritannien), obwohl sie auch aus vielen anderen Staaten kommen könnten (beispielsweise Australien, Kanada oder den europäischen Nachbarländern wie Frankreich.)

 

Folie 6

Lebt die Bibliothek bald? So, wie Walser sie sich als ‚wirkliche Bibliothek‘ wünscht: mit Abenduniversität, Diskussionsforum, Swimm-in, kritischer Buchberatung, Russischstunde, Tennismatch, Kulturkneipe? So wie Robert Jungk hofft: als Ort der Inspiration, die weniger perfekte Maschinen als phantasievolle Anreger – und Benutzer, die sich anregen lassen – braucht? Die Bibliothek als Treffpunkt für all diejenigen, die sich schreibend, zeichnend, photographierend, musizierend, und natürlich lesend ausdrücken wollen. Das Stockholmer ‚Kulturhaus‘ strebt ja derartiges an und ist in manchem sehr gelungen; viel frequentiert; ein Kommunikationsort par excellence.“

(Hermann Glaser, 1976: 6)

 

Schauen wir auf den zweiten Teil des Zitates. Was Sie hier sehen, ist die andere Region, aus der heute gerne Beispiele für die „Bibliothek der Zukunft“ zitiert werden, nämlich Skandinavien. (Genauer, eine Art „gefühltes Skandinavien“, das die Niederlande umfasst, aber nicht Island oder die Färorer-Inseln.) Auch das ist etwas, was in den bibliothekarischen Texten in den 1970er Jahren immer wieder finden. Es werden Beispiele von Bibliotheken angeführt, immer wieder bestimmte, die dann oft für eine bestimmte Zeit in mehreren Texten auftauchen. Auch diese Beispiele werden immer wieder mit dem Impetus vorgetragen, dass sie Bibliotheken die Zukunft darstellen würden. Jetzt – also wenn das Beispiel in einem Text gebracht wird – wäre das so, wie in Skandinavien Bibliothek gemacht würden – obwohl es eigentlich immer wieder bestimmte Beispiele sind, kaum einmal das ganzen Bibliothekswesens Dänemarks oder Schwedens, das dargestellt wird, insoweit ist nie klar, ob die Beispiele repräsentativ sind oder nicht –, bald wird das auch in Bonn, Zürich oder Wien so sein. So ungefähr die implizite Argumentation.

Und diese skandinavischen Bibliotheken, die Sie seit den 1970ern immer wieder in der bibliothekarischen Literatur als Vorbild finden, stellen immer wieder etwas ähnliches dar: Sie sind Bibliotheken, die über das Anbieten von Medien hinausgehen. Sie werden beschrieben als Einrichtungen, die soziale Funktionen erfüllen, gesellschaftliche. Einrichtungen, die Kommunikation für alle möglichen Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen. Einrichtungen, die flexibel sind, mit Räumen, die flexibel sind und in denen die Medien in den Hintergrund gerückt werden oder zumindest nicht die Hauptrolle spielen. (Aber oft gibt es Orte für damals neue Medien und Mediennutzungsweisen.) Oft sind diese Bibliotheken Teil von grösseren Einrichtungen – wie hier im Kulturhaus – oder umfassen selber andere Einrichtungen, beispielsweise Kinosäle, Discos oder Plattenabhörstationen. Und Sie finden in den deutschsprachigen, bibliothekarischen Texten auch immer wieder ein Erstaunen darüber, dass dies in einer Bibliothek möglich ist. Verbunden mit der Vorstellung, dass auch „unsere Bibliotheken“ so werden müssten, um modern zu sein.

Wenn Sie jetzt an das Dokk 1 in Aarhus (oder, ein paar Monate zurück, an die Centrale Openbare Bibliotheek Amsterdam) denken, und daran, wie diese in der bibliothekarischen Literatur dargestellt und besprochen wurde, finden Sie bestimmt zumindest einige Parallelen. Auch an dieser Einrichtung wurde hervorgehoben, das sie offen, flexibel und ein Kommunikationsort sei, das die Medien in den Hintergrund gerückt seien und so weiter. Und mir scheint, dass es auch nicht zufällig ist, dass diese Bibliothek eine dänische (oder niederländische) ist. Obwohl dies immer wieder als neu dargestellt und wahrgenommen wird, scheint sich der Diskurs um skandinavische (Öffentliche) Bibliotheken in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur kaum geändert zu haben. Auch das ist erstaunlich: Entweder stimmt der Diskurs nicht oder die Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern verändern sich nicht. Eine Vermutung wäre, dass es eher ein kultureller Unterschied ist, dass also Bibliotheken in Skandinavien einfach so konzipiert werden und in den deutschsprachigen Ländern eher nicht oder zumindest nicht so; aber sie erscheinen in der deutschsprachigen Literatur immer wieder neu als Zukunft.

 

Folie 7

Beispiel Schulbibliotheken

  • Projekt 1970-1973 (Uni FF/M; Bertelsmann-Stiftung) zur „modernen Schulbibliothek“

–> „Bestandsaufnahme“: „alte Schulbibliotheken“ wurden verworfen, weil… alt und nicht modern, also nicht zeitgemäss (so die Behauptung, ohne Nachweis)

–> Entwurf „moderner Schulbibliotheken“ (a) alle Medien, alle modernen Medienformen, (b) zugänglich und immer offen, (c) Zentrum der Schule und in Kontakt mit den LehrerInnen, (d) Aufgreifen „moderner Pädagogik“ (Individualisierung des Lernens, Projekte / Arbeitsgruppen, Demokratisierung / Kritikfähigkeit)

 

-> Später übergegangen in das deutsche Bibliotheksinstitut, Zeitschrift „die schulbibliothek“ (1974-2000) -> heute „dbv-Kommission Bibliothek und Schule“

 

Ein weiteres Beispiel, das mit einem meiner Forschungsschwerpunkte zu tun hat, den Schulbibliotheken. Wenn Sie sich die Geschichte der bibliothekarischen Diskussion über Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum anschauen, kommen Sie nicht daran vorbei, das am Ende alles auf ein Projekt (und ein Buch) zurückverweist, welches am Anfang der 1970er stattfand. Das Projekt, gar nicht im bibliothekarischen Rahmen angesiedelt, sondern von einem Literaturwissenschaftler, Klaus Doderer, an der Goethe-Universität Frankfurt am Main geleitet, hatte das Ziel, eine Infrastruktur für moderne Schulbibliotheken aufzubauen.

Wenn Sie das Buch aus dem Projekt (Die moderne Schulbibliothek, Doderer et al. 1970) lesen, sehen Sie sehr schnell, wie dabei vorgegangen wurde. Das Projektteam stellte sehr hohe Anforderungen dafür auf, was eine moderne Schulbibliothek zu sein hätte. Diese Anforderungen sind nicht wirklich begründet, sondern im besten Falle hergeleitet: Moderne Schulen hätten moderne Schülerinnen und Schüler mit modernen Methoden zu unterrichten, daraus ergäbe sich auch eine bestimmte Form von Schulbibliotheken. Das ist ganz offensichtlich, wenn Sie das Buch lesen: Es gibt kaum Aussagen oder Studien oder Herleitungen, auf denen sich die Vorstellungen davon, was moderne Schulbibliotheken sein müssten, aufbaut. Es wird einfach behauptet und darauf verwiesen, dass es in anderen Ländern (vor allem den USA, aber es finden sich auch Bilder aus der Sowjetunion und anderen Staaten) so sei.

Die Behauptung ist halt, dass dies modern sei. Dabei gab es solche Behauptungen vorher nicht. Die Schulbibliotheken, welche zuvor in der bibliothekarischen Literatur besprochen wurden, wurden zumeist ganz anders dargestellt, zumeist als Lesebibliotheken, die von Lehrpersonen betreut wurden. Das Buch und das Projekt machen da einfach einen Bruch. (Und zumindest für die Schweiz ist es sehr einfach zu zeigen, dass dann im Nachhinein den Vorstellungen in diesem Buch im bibliothekarischen Diskurs gefolgt wurde. 1973 erschien eine Broschüre des Schweizer Bibliotheksdienstes (1973), die mit einem schweiz-spezifischen Twists diese Vorstellungen aufgreift, obwohl die Schriften zu Schulbibliotheken in der Schweiz zuvor nicht von solchen „modernen Schulbibliotheken“ sprachen.)

Danach besuchte das Projektteam eine ganze Reihe von Schulen und bewertete die Schulbibliotheken dort immer aus dem von ihm selbst aufgestellten Blickwinkel. Alle fielen durch und das wird im Buch so dargestellt, das all diese Schulbibliotheken als „noch nicht modern“, als „zurückgeblieben“, als „unmodern“ besprochen werden; also immer mit der Vorstellung, dass es möglich ist, zu sagen, was einen gute Schulbibliothek sei und das jede Schulbibliothek über kurz oder lang modern werden wird, also das man den „jetzigen Zustand“ quasi auf einer Zeitachse abtragen kann. Auch das ist eine Wahl: Man hätte ebenso fragen können, warum die Schulbibliotheken so sind, wie sie vorgefunden wurden, ob sie vielleicht so ihren Zweck erfüllen, ob es vielleicht so von den Schulen gewünscht wurde, ob vielleicht die Vorstellung von „modernen Schulbibliotheken“ nicht ganz richtig sei. Aber die einzige Begründung, die Sie im Buch finden, ist: Die Schulbibliotheken sind nicht so, wie sie sein sollen, also sind sie unmodern, veraltet. Und dieses Denken setzt sich meiner Meinung nach bis heute in den Texten über Schulbibliotheken fort, wenn auch die Terminologie etwas anders ist. Das ist für Deutschland nicht ganz so überraschend. Aus dem Projekt selber ging über mehrere Transformationen die heutige Expertengruppen im dbv hervor. Aber es gilt auch für die Schweiz (mit ihren Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) und zumindest zum Teil Österreich.

Und erstaunlich ist das, wenn Sie sich anschauen, was eigentlich in dem Buch von 1970 von einer „modernen Schulbibliothek“ erwartet wird: Sie soll ein Zentrum der Schule sein, alle Medienformen enthalten und wie eine Öffentliche Bibliothek funktionieren (mit Katalog als Nachweisinstrument, mit bibliothekarisch ausgebildetem Personal und allem), sie soll immer offen sein und vor allem „moderne Formen“ der Lernen und Unterrichtens unterstützen. Gerade diese „modernen Formen“ sind oft nur kurz beschrieben: Unterricht in der Bibliothek, Projekte und Arbeitsgruppen sowie Individualisierung. Und das ist genau das, was Sie auch heute in der bibliothekarischen Literatur über Schulbibliotheken finden. Wenn Schulbibliotheken zum Beispiel in Abschlussarbeiten beschrieben werden, merken Sie oft, das genau dieses Denken dahinter steht: Es gibt diesen „modernen Standard“, der angelegt wird. Wenn er nicht eingehalten wird, werden die Schulbibliotheken als defizitär beschrieben und oft Programme aufgestellt, wie sie zu „richtigen“ Schulbibliotheken werden können. Dabei, nochmal, könnte man auch Anderes fragen, zum Beispiel ob bestimmte Schulen nicht andere Schulbibliotheken haben wollen, ob die bibliothekarischen Vorstellungen wirklich stimmen und so weiter. Aber das wird nicht getan und gerade bei diesem Beispiel haben Sie mit diesem Buch auch eine Quelle, die ich Ihnen ans Herz legen würde. Hier scheint mir sehr klar sichtbar, wie ein Diskurs quasi „aus dem Nichts“ auftaucht und dann immer wieder als „richtig“ reproduziert wird. Erstaunlich ist dabei, dass er auch heute zumindest im bibliothekarischen Rahmen als modern gilt, obwohl er sich seit einigen Jahrzehnten kaum verändert zu haben scheint. Wie kann es den sonst sein, dass eine „moderne Schulbibliothek“ 1970 fast genauso beschrieben wird, wie heute? Das ist doch schon einige Generationen von Schülerinnen und Schülern her.

(Erwähnt werden muss allerdings, dass Klaus Doderer, der Projektleiter, offenbar ein solches polemisches Vorgehen, bei dem alles, was bislang war, über einen Kamm geschoren und als „unmodern“ und veraltet bezeichnet, dagegen ein „neues Denken“ als richtig und modern beschrieben wird, auch bei der Diskussion über Jugendliteratur an den Tag gelegt hat. Zumindest behauptet das Sonja Müller (Müller 2014) in ihrer Arbeit über die Theoriedebatten zum Jugendbuch in den 1950ern und 1960ern. Diese hätten sich von den Vorstellungen der Jahrzehnte vorher – Stichwort „Schmutz und Schund“ – entfernt, wären aber dann in den 1970ern ohne grosse Differenzierung mit den Diskussionen aus den 1910er zusammengebracht und als veraltet abqualifiziert worden, unter anderem von Doderer.)

 

Folie 8

Schule und berufliche Ausbildung werden künftig für immer mehr Menschen nur die erste Phase im Bildungsgang sein. Denn schon heute zeigt sich, dass die in dieser ersten Bildungsphase erworbene Bildung den später an den einzelnen herantretenden Anforderungen selbst dann nicht genügen kann, wenn diese Bildung auf Tiefe, Breite und die Erfüllung erwarteter Bedürfnisse angelegt ist. (…) Immer mehr Menschen müssen durch organisiertes Weiterlernen neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben können, um den wachsenden und wechselnden beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Der Begriff der ständigen Weiterbildung schliesst ein, dass das organisierte Lernen auf spätere Phasen ausgedehnt wird und dass sich die Bildungsmentalität weitgehend ändert.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 51)

 

Noch ein Text, den ich Ihnen gerne zeigen möchte. Das ist kein direkter bibliothekarischer Text, sondern ein bildungspolitischer. Aber es ist einer, auf den sich Bibliotheken in den 1970ern ungefähr so bezogen, wie sie sich vor ein paar Jahren noch auf die PISA-Studien bezogen. Der Text, Strukturplan für das Bildungswesen, ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Der Deutsche Bildungsrat wurde Ende der 1960er von Bund und Ländern eingerichtet, mit Vertreterinnen und Vertretern aus allem damals im deutschen Bundestag vertretenden Parteien, um das zukünftige Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu planen, auf Jahrzehnte hin. Ich sagte vorher, dass diese Zeit eine war, in der die Gesellschaft als in radikaler Modernisierung begriffen wurde, und im und um den Bildungsrat herum hat sich das damals sehr zugespitzt. In seiner Hochzeit fokussierten sich um den Bildungsrat – und die Bildungsreformen in einigen Bundesländern wie Hessen – die Debatten darum, was das Bildungssystem in einer modernen deutschen Gesellschaft tun sollte. Und das hatte Auswirkungen. Das heute in den Schulgesetzen steht, dass die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen, demokratisch orientierten und selbstbewussten Personen werden sollen, wäre zum Beispiel ohne den Bildungsrat wohl nicht durchgesetzt worden. Durch den Bildungsrat wurden die Gesamtschulen erst möglich (auch wenn am Ende nicht, wie sich damals von vielen erhofft wurde, damit die Gymnasien abgeschafft wurden). Der Bildungsrat und seine damalige Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der Strukturplan war quasi das Meisterstück der Rates und unter anderem Bibliotheken nutzten diesen, um sich in den 1970er Jahren zu orientieren.

Ich habe Ihnen das Zitat hier mitgebracht, weil es zeigt, wie sehr sich nicht nur die Aussagen, sondern auch die Argumente und teilweise Formulierungen der damaligen Zeit und der heutigen Debatten gleichen. Wenn Sie dieses Zitat lesen, ohne auf die Jahreszahl zu achten, werden Sie merken: Dass ist die gleiche Argumentation, wie sie in den letzten Jahren für das „Lebenslange Lernen“ vorgebracht wurde. Dieses sei notwendig, weil die Menschen in der Schule und Erstausbildung nur noch eine Grundbildung erhalten würden, die nicht ausreichen würde, sich in einer ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Bislang sei das nötig gewesen, jetzt sei es anders. Sie merken schon, ganz kann das Argument nicht stimmen. Wenn es schon in den 1970ern nicht ausreichend war, in Schule und Ausbildung zu lernen, kann es in den 2000er Jahren nicht neu sein.

Wichtig ist mir hier, dass der Bildungsrat ungefähr die gleichen Schlüsse zieht, wie sie vor einigen Jahren die Bibliotheken sehr oft in den bibliothekarischen Texten vertreten haben: Wenn jetzt (halt immer von der Zeit aus gesehen, in der das postuliert wird) sich die Situation mit dem Lernen ändert, muss die Weiterbildung nach der Erstausbildung organisiert und die Mentalität der Gesellschaft geändert werden. Oder anders: Die Menschen müssten jetzt auch gerne über die Erstausbildung hinaus lernen. Ansonsten würden sie und damit auch die Gesellschaft untergehen. Wie gesagt: Ganz kann das nicht stimmen, denn sonst wäre die Gesellschaft entweder schon untergegangen (was sie ganz offensichtlich nicht ist), weil sich die Menschen in den 1970ern oder 1990ern nicht ausreichend genügend sich weitergebildet haben oder aber es ist nicht so, dass es in den 2000er Jahren neu ist und dann stellt sich die Frage, warum es in den 2000ern so überzeugend klang.

Trotzdem finden Sie sowohl in bibliothekarischen Texten der 1970er (aber nicht wirklich vorher) als auch der letzten Jahre, Bibliotheken, die sich gerade auf dieses Argument beziehen und davon ausgehen, jetzt Einrichtungen werden zu müssen, welche die individuelle Weiterbildung der Menschen ermöglichen. Daraufhin wurden Räume umgestaltet, Bestände aufgebaut, Beratungsangebote eingerichtet und so weiter. Mein Argument ist auch gar nicht, dass es falsch wäre, in Bibliotheken individuelle Weiterbildung zu ermöglichen. Mein Argument ist, dass sich die Begründung für diese bibliothekarischen Strategien wiederholen und das wir im Bibliothekswesen bislang nicht darüber nachdenken, wieso. Mir scheint, dass das Argument im Zitat vielleicht doch nicht so stark ist, wie es scheint (was ein Grund dafür sein könnte, dass die Angebote nicht von so vielen Menschen angenommen werden oder anders benutzt werden, als sich das Bibliotheken erhoffen).

 

Folie 9

Mit dem Beispiel ‚Informationsverarbeitung‘ ist das bisher ungelöste Problem der ’neuen Fächer‘ aufgeworfen. Es ist offensichtlich, dass die Schule nicht automatisch entsprechend jeder neuen wissenschaftlichen und technischen Disziplin neue Schulfächer einrichten kann. Ebenso wenig kann sie neue Fächer entsprechend allen Anforderungen einrichten, die sich aus dem Alltag ergeben, so unbestreitbar es ist, dass dem Kind durch die Schule geholfen werden muss, sich im Alltag zurecht zu finden.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 69)

 

Aus dem gleichen Strukturplan, den Sie in seiner Wirkung und Verbreitung wirklich nicht unterschätzen sollten, wie ich schon sagte, habe ich Ihnen noch ein Zitat mitgebracht, dass leider nicht ganz so gut passt. Es kommt aber aus einer Argumentation, die Ihnen vielleicht erstaunlich aktuell vorkommt. Ich fasse die einmal zusammen: Die Vorstellung im Strukturplan ist, dass es jetzt, also in den 1970ern, zu einem Wachstum von elektronischen Geräten, elektronischer Datenverarbeitung und Lernmaschinen kommt. In der Zukunft würden immer mehr Informationen vorliegen und durch die elektronische Datenverarbeitung zugänglich gemacht. Es wäre jetzt, also in den 1970ern, ein Punkt erreicht, wo ein einzelner Mensch nicht mehr alle diese Informationen bewältigen könnte. Es gäbe einfach zu viele und ständig würden mehr produziert werden. Daraus ergibt sich, dass die Menschen – in diesem Zitat geht es vor allem um die Kinder und Jugendlichen in den Schulen – die Fähigkeiten erlernen müssten, sich in dieser Übermasse von Informationen zurechtzufinden. Das war alles auch mit dem Anspruch verbunden, dass die Fähigkeiten zur kritischen Reflexion über die Informationen – insbesondere über die Produktionsbedingungen der Informationen – damit einhergehen müssten. Im Strukturplan wird diskutiert, ob dafür ein extra Schulfach eingerichtet werden sollte, was abgelehnt wird. Vielmehr sei es eine Querschnittaufgabe. Wenn die Menschen aber diese Fähigkeiten nicht lernen würden, würden sie von den Informationen überwältigt und die Gesellschaft sei nicht mehr in der Lage, sich selber zu steuern.

Ich weiss nicht, wie Sie das sehen; aber für mich klingt diese Argumentation fast genauso, wie die für die ganzen Debatten und Projekte um „Informationskompetenz“, die in den letzten Jahren in Bibliotheken geführt wurden und zu unzähligen Angeboten, Strukturen und Personalstellen geführt haben. Man könnte diskutieren, wie wichtig heute noch die Frage der kritischen Reflexion genommen wird oder ob die Debatte nicht heute einen anderen Fokus hat. Aber ansonsten scheint mit das doch erstaunlich. Wenn Bibliotheken heute über „Informationskompetenz“ sprechen, ist die implizite Vorstellung, dass es die Verbreitung des Internets wäre, die es notwendig machen würde, diese Fähigkeiten zu lehren und das es das Internet wäre, das zu zu vielen Informationen geführt hätte, während es zuvor eher zu wenig Informationen gegeben hätte. Aber dann finden Sie die gleiche Argumentation schon in den 1970ern. Für mich stellt sich die Frage, wie das sein kann. Ist es vielleicht so, dass die Gefahr in den 1970ern gesehen wurde, die Menschen dann aber doch mit den ganzen Informationen klar kamen? Was würde das für die heutige Situation bedeuten?

Was stimmt ist, dass heute Bibliotheken eher aus diesen Vorstellungen heraus Angebote entwickelt haben. Ich muss Ihnen die ja gar nicht aufzählen, Sie alle kennen garantiert mindestens drei Standards für Informationskompetenz und so weiter. In den 1970ern finden Sie diese Ideen aber auch schon in bibliothekarischen Texten, nur halt mehr in pädagogischen.

Wieder geht es mir hier nicht darum, zu diskutieren, ob die Vorstellung falsch wäre. Mein Argument ist wieder, dass sich die Vorstellung wiederholt, ohne das dies bislang diskutiert oder wahrgenommen wird.

 

Folie 10

Beispiel Benutzer/innen/forschung

  • Projekt Federführung Uni HH (BMBF) und Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (neu gegründet) (1970-1976)

–> Frage: Wer nutzt die Bibliothek wie? Kann man ein Instrument erstellen, um das kontinuierlich in den Bibliotheken zu erfassen?

–> Methoden: Umfragen und Beobachtungen („moderne Forschungsmethoden“)

–> Ziel: Verstehen, wer in die Bibliothek kommt; Angebote der Bibliotheken danach ausrichten

 

–> Instrument (Fragebögen und Auswertung) waren „zu kompliziert“

–> Daten liegen vor aus einigen Stadt- und Universitätsbibliotheken

 

Noch ein letztes Beispiel, die Forschung zu Nutzerinnen und Nutzern. Das ist etwas, was wir an der HTW Chur in den letzten Jahren versucht haben, anzustossen. Es erschien uns logisch; das, was bisher gemacht wird, sind oft Befragungen und Umfragen, dabei könnte man viel mehr Methoden anwenden. Wir haben das vor allem über Bachelorarbeiten und in Projektkursen machen lassen, aber mit der Überzeugung, etwas Neues zur Bibliotheksforschung beizutragen. Und dann sind mir diese drei Bücher untergekommen (Heidtmann 1971, Fischer 1973, Fischer 1978) – mit quasi genau der gleichen Idee, vielleicht sogar etwas weiter. Anfang der 1970er gab es offenbar die Vorstellung, dass es in den Bibliotheken nicht genügend Wissen über die tatsächliche Nutzung gab und das dies mit damals modernen Forschungsmethoden angegangen werden könnte. Dabei sind vor allem die beiden Bücher von Fischer (1973, 1978) interessant, weil die ein Projekt beschreiben, dass damals vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, und gleich mit dem Anspruch antrat, ein Instrument entwickeln zu können, dass von den Bibliotheken selber angewandt werden sollte. Die Idee war, dass die Bibliotheken Umfragebögen erhalten sollten, die sie dann regelmässig selber einsetzen uns auswerten könnten und dabei auch vergleichbare Werte erhalten würden. Im ersten Buch (Fischer 1973) wird das noch sehr ausführlich dargestellt: Die Bibliotheken erheben die gleichen Werte, dann vergleichen sie sich untereinander und können daraus lernen.

Auch das ist nicht ungehört in den letzten Jahren im Bibliothekswesen. Der jetzt eingestellte BIX hatte am Ende die gleiche Vorstellung, nur kam er aus einer anderen Richtung (halt der BWL, im Gegensatz zur Sozialwissenschaft wie bei Fischer). Aber auch seit den 1970ern scheint diese Idee zu bestehen, dass der regelmässige Vergleich von Daten, die in Bibliotheken erhoben werden, einen Lerneffekt darstellen könnte und für die Steuerung der Bibliotheken wichtig wäre. Deshalb finde ich es auch interessant, dass weder dieses Projekt noch der BIX lange über die Projektförderung hinaus bestanden haben. Das Projekt in den 1970er wurde, so heisst es im späteren Buch (Fischer 1978) eingestellt, weil sich herausgestellt hätte, dass das Umfrageinstrument zu komplex für die Bibliotheken sei. Was das genau heisst oder was wirklich passiert ist, steht da nicht. Mir scheint die Parallele aber beachtlich.

Das dritte Buch (Heidtmann 1971) ist dann für mich persönlich eine Erkenntnis gewesen. Das ist eine Studie zur Nutzung der Bibliothek der Technischen Universität in Berlin, ebenso durchgeführt mit damals modernen Umfragemethoden. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass wir grundsätzlich etwas Ähnliches in den letzten Jahren in Chur versucht haben. Das Projekt in Berlin wurde von Frank Heidtmann geleitet, der vielleicht den meisten von Ihnen nichts sagt. Aber: Das war mein Doktorvater, er hat schon meine Magisterarbeit betreut gehabt und ich habe auch bei ihm studiert. In all den Jahren aber ist diese Studie und die ganze Richtung Nutzungsforschung nicht aufgekommen. Wir haben damals in den 2000ern bei ihm stattdessen Buchillustrationsgeschichte gelernt. Erst jetzt, einige Jahre nach meiner Promotion, bin ich überhaupt auf das Buch gestossen. Was mir das gezeigt hat: Offenbar gibt es Themen und Vorschläge, die sich in der bibliothekarischen Literatur wiederholen, ohne dass die, die sich einmal mit einem Thema beschäftigt haben, es unbedingt als notwendig erachten, darauf hinzuweisen. Sicherlich, dass ist alles ein sehr grosser Zufall, dass ich jetzt ähnliches versucht habe, wie mein Doktorvater, ohne das mit zu bekommen. Aber es hat mich schon irritiert. Gerade als Forschender denkt man ja gerne, man wäre am Puls der Zeit, weit vorne. Aber offenbar stecke ich erstmal in den gleichen Denkstrukturen fest. Offenbar ist solches „Vergessen“ im Bibliothekswesen normal und nicht reiner Zufall. Aus solchen „Normalitäten“ kann man am Besten heraustreten, wenn man sie sich bewusst macht.

 

Folie 11

Andere Themen (aus Zeitgründen ausgelassen):

  • Bibliotheksarchitektur (flexibel, offen, kommunikativ)
  • Grosse Infrastrukturprogramme, die auf „die technischen und ökonomischen Veränderungen reagieren“ sollen (Fachinformationszentren)
  • Offen Wissenschaft (Wissenschaftsläden)

 

  • Frage, ob „die neuen Medien“ die Bibliothek obsolet machen
  • Vorstellung, dass die Bibliothek potentiell dem Ende zugeht

 

Es gäbe noch eine ganze Reihe von anderen Beispielen, die ich aus Zeitgründen auslasse. Dabei hätte ich gerade zur Bibliotheksarchitektur einiges zu sagen, weil mich das sehr fasziniert, dass die Anforderungen an Bibliotheksräume in den 1970ern fast gleich klingen wie die Anforderungen, die heute in der Bibliotheksliteratur genannt werden – weil das wieder die Frage aufwirft, wie das sein kann. Hat sich die Vorstellung, was „flexibel“ und „offen“ heisst, so sehr verändert? Wurden die Bibliotheken in den 1970ern dann doch nicht so gebaut, wie gefordert? Oder wurde sie in der Zwischenzeit wieder „unflexibler“ gemacht – und wenn ja, wieso?

Wichtig ist mir nur noch mal zu sagen, dass das alles Beispiele sind, die mir persönlich im Rahmen anderen Projekte oder allgemeiner Lektüre untergekommen sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass es noch einige mehr gibt, die man mit einer systematischen Lektüre finden würde.

 

Folie 12

Warum gibt es diese „Wiederholungen“? (Noch ein paar Thesen)

 

Ich möchte in diesem Teil des Vortrags ein paar Thesen dazu vorstellen, warum es diese Wiederholungen gibt. Wenn Sie von den Beispielen nicht davon überzeugt sind, dass sich dies zumindest zu untersuchen lohnt, wird Sie dieser Teil nicht interessieren. Ich denke aber, gerade wenn es um Bibliothekswissenschaft geht, ist es auch eine Aufgabe, zu schauen, ob diese auffälligen Gemeinsamkeiten irgendwie erklärt werden können und nicht nur Zufälle sind. Mir scheint schon klar zu sein, dass es hier nicht um irgendwelche Versäumnisse oder Verheimlichungen geht, also das irgendwer bestimmte Sachen verstecken wollen würde. Wir gesagt: Die Beispiele finden sich alle in der bibliothekarischen Literatur, die heute noch in Bibliotheken steht. Ich habe vor allem Bestände aus Zürich und Berlin benutzt, aber ich bin mir sicher, dass sich auch in Bibliotheken anderer Städte noch genügend dieser Literatur finden lässt. Wenn Sie daran Spass haben, können Sie ja mal schauen, was bei Ihnen noch im Magazin steht.

Zu diesen Thesen ist allerdings zu sagen, dass sie noch lange nicht fertig durchdacht oder ausformuliert sind. Es ist eher so, dass ich je nach Tag, Stimmung und Thema mal zu der einen oder anderen These neige. Sie werden auch merken, dass die Thesen sehr grob sind. Ich präsentiere sie Ihnen, um sie für die Diskussion vorzulegen, auch um Sie gemeinsam zu testen, wie sich das ja für einen wissenschaftlichen Diskurs gehört. Aber schon, dass sich die Thesen je nach Tagesstimmung ändern, zeigt, dass noch keine theoretisch gesättigt ist.

 

Folie 13

Die Nietzsche-These:

  • Die ewige Wiederkehr des Gleichen (d.h. das ist normal und wird immer wieder passieren)
  • Aber was ist mit den Unterschieden (z.B. dem Ziel Demokratisierung?)

 

Die erste These (und die muss ich wohl haben, wenn ich in Graubünden arbeite) lehnt sich an der Vermutung an, die Sie bei Nietzsche finden. Selbstverständlich, bei Nietzsche geht es im Zarathustra um Fragen der menschlichen Geschichte und die Konstitution des Menschen (Nietzsche 1994), mir geht es darum zu verstehen, warum sich Behauptungen, Vorstellungen und Ansätze in der bibliothekarischen Diskussion seit den 1970ern wiederholen. Das sind sehr unterschiedliche Fallhöhen. Trotzdem finden Sie, sehr wirkmächtig, bei ihm die These, dass sich die Geschichte in Zirkeln wiederholt, dass es also normal ist, wenn sich Situationen und Behauptungen, die es schon mal gab, immer wieder neu finden. Wenn das stimmt, sind diese Wiederholungen nicht viel mehr, als eine normale Entwicklung und könnten auch als solche verstanden werden. Wir müssten dann auch sehr einfach vorhersagen können, welche Themen und Argumentationen als nächstes in der bibliothekarischen Diskussion auftauchen werden.

Zum Beispiel könnte man vermuten, dass einfach jede neuere Technik, die sich verbreitet, dazu führt, dass eine Anzahl von Beiträgen erscheinen, die postulieren, dass die Menschen jetzt die Fähigkeiten lernen sollten, diese Technik zu beherrschen, ansonsten würden sie von der Technik beherrscht. Dann wären die Debatten um „Informationskompetenz“ nur eine weitere Variante dieses Spiels. (Und wenn Sie sich erinnern, hat ironischerweise gerade Nietzsche im Bezug auf Schreibmaschinen ähnliches angedacht.)

Manchmal könnte man dies vermuten, aber es überzeugt auch nicht ganz. Warum passiert das bei bestimmten Techniken (Informationsverarbeitung, Internet, vielleicht auch Schreibmaschinen), aber anderen nicht. Oder habe ich einfach Debatten um die Auswirkungen der Videogeräte übersehen? Fanden die einfach nur ausserhalb des Bibliothekswesens statt? Und selbst dann, warum finden sich bestimmte Themen in diesen „Wiederholungen“ nicht mehr. Wo ist zum Beispiel die breite Debatte um die Demokratisierung und Erhöhung der Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen geblieben, die in den 1970ern die Debatten um die Nutzung der Informationsverarbeitungstechnologien mit prägte? Das gibt es bei den Debatten um die Informationskompetenz ja quasi nicht mehr oder nur sehr am Rande, als Kritik, das es fehlt, unter dem Stichwort „critical information literacy“, was aber in der deutschsprachigen Literatur so gut wie nicht beachtet wird.

Ich zumindest, und ich weiss nicht, wie es Ihnen da geht, bin nicht wirklich überzeugt. Zumal mir scheint, dass die Wiederholungen mit den 1970ern beginnen und nicht „schon immer“ zu finden sind.

 

Folie 14

Die Hegel/Marx-These:

Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Marx: 18 Brumaire…)

  • Sind die heutigen „Wiederholungen“ Farce, weil nicht (mehr) historisch gedacht wird? Kann man das verhindern? Sollte man es verhindern?

 

Eine andere wirkungsmächtige These über Wiederholungen in der Geschichte ist die, die auf die auf dieses Zitat aus der „18 Brumaire Napoleons“ von Marx zurückgehen. (Marx 1965) Auch hier ist die Fallhöhe wieder sehr unterschiedlich. Marx wollte, auf der Basis der Hegelschen Philosophiegeschichte, den, nun sagen wir mal: Verrat Napoleons an der Französischen Revolution untersuchen, Hegel ging es um antike griechische Philosophie. Mir geht es um Wiederholungen im bibliothekarischen Diskurs. Da steht nicht so viel auf dem Spiel. Und Sie wissen auch, dass sowohl Hegels als auch Marx’ens Thesen heute nicht unbestritten sind. Aber darum geht es mir hier nicht, sondern darum, dass durch diese Bemerkung von Marx eine Vermutung über die geschichtlichen Entwicklungen in die Welt gesetzt wurde, die immer wieder einmal als erklärungsmächtig wahrgenommen wird. Egal, was Sie dann persönlich von Napoleon und seiner Politik denken.

Diese Vermutung ist, dass Geschichte nicht in Zirkeln verläuft, sondern linear – das haben Sie so ja bei Hegel eine Grundthese – und es gleichzeitig möglich ist, aus der Geschichte zu lernen (und sie damit auch zu gestalten, wobei bei Marx nicht ganz klar ist, wie viel gestaltet werden kann; aber auch das ist hier nicht Thema). Insoweit lassen sich „Wiederholungen“ auch als Möglichkeiten verstehen, Dinge besser zu machen. Ansonsten, so die Vermutung, werden sie zur Farce. Oder: Wenn sie das erste Mal scheitern, war es ein ehrenhafter Versuch, die Geschichte zu gestalten, weil niemand wusste, wie es ausgehen würde. Wenn es wieder versucht wird, ohne das aus der vorliegenden Geschichte gelernt wurde, dann ist es eine Farce. Es wäre die Aufgabe der Menschen, indem sie über die Geschichte nachdenken – und eben nicht nur über das vorliegende „Problem“, auf das reagiert werden muss –, es nicht zur Farce kommen zu lassen.

Vor allem, wenn ich über Schulbibliotheken nachdenken – und das Thema lässt mich nicht los, auch wenn ich es immer wieder versuche, davon weg zu kommen –, scheint es mir manchmal, dass Marx und Hegel zumindest mit dieser Vermutung Recht haben könnten. Wenn in den 1970ern Bibliotheken (und Teile der Literaturwissenschaft) antreten, um – sicherlich mit dem besten Zielsetzungen und Wünschen – moderne Schulbibliotheken zu entwerfen und den Schulen als notwendig zu erklären, obwohl es in den Schulen so nur ganz selten ankommt und obwohl die Interessen der Schulen zurückstehen, kann man das etwas pathetisch als Tragödie verstehen. So viele Menschen wollten so viel gutes für die Schülerinnen und Schüler, für die Schulen und die Bibliotheken – und agierten offenbar aneinander vorbei. Wenn aber später, heute noch, quasi die gleichen Argumente und Ziele angestrebt werden, ohne das aus dem – trotz Ausnahmen – weitflächigen Scheitern, solche Schulbibliotheken umzusetzen, gelernt wird, dann lässt sich das manchmal als Farce verstehen. Weil es nicht nötig wäre. Nach all den Jahrzehnten wäre es möglich zu wissen, dass all dies Argumente – die Sie bei uns in der Schweiz ja auch noch handlich zusammengefasst in den „Richtlinien für Schulbibliotheken“ (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) finden, die aber ausserhalb des Bibliothekswesens kaum beachtet werden – nicht zu „modernen Schulbibliotheken“ in allen Schulen führen, egal wie oft man die – wieder mit den besten Zielsetzungen und Wünschen – vorbringt. Zumindest in diesem Fall scheint es oft, als könnte man sehr einfach aus der Geschichte lernen, wenn man sie als geschichtliche Entwicklung wahrnimmt und sich eben nicht nur auf das vorliegende „Problem“, dass die Schulen oft andere Entscheidungen im Bezug auf Schulbibliotheken treffen, als das Bibliothekswesen gerne hätten, fokussiert.

An manchen Tagen und für manche Themen klingt diese These recht überzeugend, aber an anderen Tagen und für andere Themen nicht.

 

Folie 15

Die „Neoliberalismus“-These:

Der Neoliberalismus basiert auch darauf, ständig zu behaupten, „neu“ zu sein und auf der Seite des Fortschritts zu stehen –> alles andere sei „alt“ und abzulehnen

Diese Rhetorik ist zum Teil (nicht unbedingt mit dem gleichen Zielen) im Bibliothekswesen zu finden

–> Eine solche Rhetorik ist überzeugender, wenn nicht überprüft wird, ob es wirklich „neu“ (und besser) ist

–> wer keine Geschichte kennt, kann einfacher innovativ sein und / oder Angst vor der Zukunft haben / verbreiten

 

Eine andere These, die mir gerade an Tagen, wenn ich sehr polemisch gestimmt bin, als sinnvoll erscheint, nennen ich, wie Sie sehen, die Neoliberalismus-These. Auf der nächsten Folie gibt es diese in einer weniger polemischen Form. Auch hier geht es mir nicht darum, zu diskutieren, was ist Neoliberalismus, wie wirkt er und so weiter. Mir geht es um einen Teilaspekt.

Wenn Sie die Literatur lesen, die sich als kritisch zum Neoliberalismus versteht, beispielsweise sehr ausformuliert bei Naomi Klein (Klein 2007), dann finden Sie immer wieder die Kritik, dass der Neoliberalismus als Diskursformation und Begründungszusammenhang intellektuell eigentlich sehr dürftig ist, das er aber wirkmächtig wird, weil seine Vertreterinnen und Vertreter Krisensituationen ausnutzen. Im Grossen und Ganzen: Wenn heftige Krisenmomente auftreten, tauchen Vertreterinnen und Vertreter auf, die argumentieren, dass alles, was bislang gewesen wäre, falsch, unmodern und ineffektiv gewesen sei und deshalb abzulehnen wäre und dass das, was sie anbieten, radikal anders, neu und zielführend sei. Diese Interventionen würden Sie immer wieder finden: nach dem Zusammenbruch der DDR, nach wirtschaftlichen Zusammenbrüchen wie in den Argentinien Ende der 90er oder auch gerade jetzt in der Ukraine. Die Beraterinnen und Berater würden die Reformen, die sie vorschlagen, vor allem argumentativ durch diese Diskreditierung der Vergangenheit absichern. Weil es eine Krise gibt, sei alles, was davor war falsch. Punkt. Gerade wenn es wirklich eine Krise gibt, kann das sehr überzeugend klingen. Gleichzeitig stimmt das meistens nicht: Die Situation ist oft komplexer, nicht alles, was war, ist wirklich falsch; nicht alles, was als neu vorgeschlagen wird, ist neu oder zielführend. Damit beschäftigt sich dann die Literatur zum Neoliberalismus.

Was Sie aber sehen ist, dass es einfacher ist, solche Behauptungen aufzustellen, wenn man ein sehr einfaches Bild von der Vergangenheit malt, zum Beispiel die Bürokratie ohne Unterschied als ineffektiv und korrupt darstellt oder die Lohnkosten und die soziale Absicherung an sich als Problem. Was ja so nie stimmt. Es gibt ja immer auch Gründe für die Bürokratie, für die Lohnkosten, für soziale Sicherungssystem. Aber es ist einfacher, sich als neu und gut darzustellen und die eigene Vorschläge als modern und zukunftsweisend, wenn man die Geschichte vereinfacht oder ganz ignoriert. Wenn niemand weiss, dass bestimmte Debatten schon einmal geführt wurden oder das bestimmte Dinge schon ausprobiert wurden, ist es einfacher, diese als neu und innovativ zu verstehen. Ebenso: Wenn man nicht mehr weiss, dass bestimmte Krisen oder Ängste schon einmal durchgestanden wurden, ist es leichter, vor ihnen Angst zu haben. (Oder umgekehrt: Es ist einfacher, vor ihnen keine Angst zu haben, wenn klar ist, dass sie auch schon zuvor durchgestanden wurden, dass zum Beispiel die Mikroelektronik oder die Kinos die Bibliotheken nicht obsolet gemacht haben und das es deshalb „das Internet“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht machen wird.)

Und wir haben im Bibliothekswesen eine Reihe von Personen, die sich zum Teil sehr laut äussern, welche eine ähnliche Rhetorik verwenden, die also oft von der Zukunft als grosse Veränderung reden, die Vergangenheit der Bibliotheken als sehr einfach darstellen und dann Dinge als neue Herausforderungen oder mögliche Enden der Bibliotheken oder so darstellen. Mir geht es bei meinem Argument hier um diese Rhetorik und die Darstellung von „Neuheit“. Ich will niemandem eine politische Agenda unterstellen. Darum geht es hier gerade nicht. Es geht mir auch gar nicht um einzelne Personen, sondern um diese Argumentationsform: (1) Die Vergangenheit wird als unmodern, falsch und krisenhaft bezeichnet – und das auch schon seit den 1970ern, auch da finden Sie Texte, wo behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen, aber jetzt, 1970, müsste das anders werden, sonst würde die Bibliothek untergehen, was solche Argumente nur noch komischer macht, wenn Jahrzehnte später wieder behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen und würde untergehen, wenn sie sich nicht verändert. Weil: Entweder stimmt das Argument nicht und die Bibliothek ist oder war nie dieser „Bücherspeicher“ oder sie ist schon längst untergegangen. Aber dieser Widerspruch fällt erst dann auf, wenn man die bibliothekarische Diskussion über einen längeren Zeitraum betrachtet. (2) Es wird dann aus der angeblichen oder tatsächlichen Krise geschlossen, die Bibliothek müsste sich in eine Richtung entwickeln, sonst würde sie untergehen. Und oft scheint das Argument da zu enden. Die vorgegebene Richtung wird als richtig und modern verstanden, weil sie anders sei, als die „unmoderne“ Bibliothek zuvor, die ja in der Krise steckt. Mir scheint, dass diese Argumente daraus an Überzeugungskraft gewinnen, weil sie nicht mit den schon mal geführten Debatten gegengeprüft werden. Und wie gesagt, gerade an „polemischen Tagen“ scheint mir, dass diese These viele Debatten und Wiederholungen im Bibliothekssystem erklären kann.

 

Folie 16

Die „Vorwärts immer“-These:

Der Blick von Bibliotheken, gerade bei strategischen Entscheidungen, scheint in die Zukunft gerichtet zu sein

–> wirkliche Veränderung und Konstanz ist so nicht mehr feststellbar

–> Es entsteht die Annahme, dass sich ständig etwas verändern würde und / oder man selber etwas ändern müsste, sonst würde man untergehen

–> Diese Angst ist Antriebskraft (Aber ist das gut? Übersieht man dann nicht wirkliche Veränderungen?)

 

Es gibt eine andere Form dieser These, eine für weniger polemische Tage. Schauen wir einmal in die zeitgenössische bibliothekarische Diskussion, realistisch, fällt schnell auf, dass sich heute Bibliotheken immer wieder nach vorne, in die Zukunft hin, orientieren. Das haben wir ja hier auf dieser Tagung direkt vor Augen gehabt. Immer wieder ging es darum, was Bibliotheken in Zukunft machen werden, wie sie sich entwickeln werden, wie sie auf Herausforderungen reagieren werden. Fast immer verbunden mit der Überzeugung, dass Bibliotheken das schaffen werden. Und das spricht für Bibliotheken. Egal, wie sehr sie selber manchmal Angst davor zu haben scheinen, von Entwicklungen überrollt zu werden, sind sie heute sehr agil und veränderungsbereit.

Aber: Das hat offenbar seinen Preis. Der ständige Blick nach vorne scheint mir ein Grund zu sein, dass es zu Wiederholungen von Vorhersagen, Annahmen und Projekten kommt. Wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, nach vorne zu schauen und sich zu fragen, wie man sich verändern muss und kann, ist man vielleicht nicht mehr in der Lage, die Konstanz in der eigenen Arbeit und dem bibliothekarischen Diskurs festzustellen. Man fragt nicht danach, was schon war und überwunden ist, man schaut nicht wirklich, ob Dinge funktionieren und warum, sondern man hantiert mit der These, dass man immer nicht gut genug ist und sich jetzt, sofort, auf der Stelle weiterentwickeln muss. Wenn die Vergangenheit überhaupt angeschaut wird, dann entweder als überwunden oder als Basis zur Weiterentwicklung – und vor allem, immer sehr einge Begriffe und Punkte reduziert.

Mein Argument hier ist nicht, dass es per se falsch wäre, sich zu verändern. Mein Argument ist, dass mit einem solchen, unhinterfragten Blick, sich eine Art Tunnelblick einstellt, der gar nicht mehr wirklich in der Lage ist, die eigene Vergangenheit zu befragen oder auch nur die Gegenwart danach, warum sie so ist, wie sie ist. Dieser Blick ist vielleicht notwendig, um sich zu entwickeln. Das weiss ich nicht. Aber er stellt eine radikale Verengung der Fragemöglichkeiten und damit auch Lerngelegenheiten dar. Ein Beispiel dafür scheinen mir die Vorstellungen rund um die Notwendigkeit von „Informationskompetenz“ darzustellen. Der Blick nach vorne scheint die Bibliotheken dahin geführt zu haben, in diesem Feld aktiv zu werden – und wir wissen alle, mit welchem Elan dies geschehen ist –, aber offenbar ohne sich zu fragen, ob das so eingängige Argument, das Internet würde bedingen, dass neue Kompetenzen gelernt werden müssten, wirklich ein Neues ist oder ob es nicht eine Wiederholung darstellt. Das hätte, um konkret zu werden, zum Beispiel dazu führen können, dass man viel früher hätte merken können, dass selbstverständlich die Schulen sich für solche „Kompetenzvermittlungen“ zuständig fühlen würden – wie sie es auch in den 1970ern getan haben. Stattdessen hat man neben den Schulen Angebote entworfen, die manchmal positive Ergebnisse hatten und manchmal auch nicht.

 

Folie 17

Die „Postmoderne“-These:

Eventuell sind wir einfach in einer Zeit angekommen, „in der alles geht“ und es ist egal

  • Aber warum dann immer die gleichen / ähnlichen Ideen?
  • Warum keine Referenz auf die eigene Geschichte, sondern auf Behauptungen über Entwicklungen (die Postmoderne wäre mehr „Hipster“ und würde Geschichte ironisch nutzen)

 

Zwei weitere Thesen noch. Die eine drängt sich oft auf, wenn all die Beispiele von Wiederholungen und die immer wieder vorgebrachten Argumente im bibliothekarischen Diskurs zu viel werden. Es gibt diese Behauptung, dass wir in der Postmoderne leben und in der Postmoderne alles irgendwie geht und deshalb irgendwie auch egal wäre. Das sind zwei Behauptungen, gerade die letzte stimmt eigentlich nicht, denn die Postmoderne – für die gerade der oder die „Hipster“ mit ihrer ironisch-kritisch-affirmativen Haltung prototypisch ist –, ist nicht beliebig, sondern zitiert sehr aktiv und auf der Basis eines Wissens um Geschichte (wenn auch manchmal der Geschichte komischer Themen wie popkultureller Phänomene) und eines recht von sich selbst bewussten Weltbildes, um daraus eine Identität zu prägen. Auch wenn sich an manchen Tagen die These aufdrängt, die Wiederholungen in den bibliothekarischen Diskursen seine einfach „postmodern“, scheint mir das die eine These zu sein, die man einfach zurückweisen kann. Eine „es ist doch heute egal, weil alles geht“ kann nicht erklären, warum diese Wiederholungen scheinbar in den 1970er Jahren einen Bruchpunkt haben und auch nicht, warum die heutigen Wiederholungen praktisch ohne einen Rückgriff auf die Geschichte der Bibliotheken daherkommen.

 

Folie 18

Die These von den ungelösten Problemen:

Eventuell haben sich Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten „nur“ mit anderen Fragen (z.B. Computerisierung) auseinandergesetzt und alte Fragen „beiseitegeschoben“. Nachdem Fragen der Computerisierung u.a. einigermassen geklärt sind, tauchen die alten Fragen und Thesen wieder auf, weil sie ungeklärt sind.

 

Eine letzte These und ehrlich gesagt die unspannendste. Aber vielleicht ist sie ja gerade deshalb richtig, weil sie so unspannend und irgendwie einfach ist. Auch diese These hat mit dem Projekt in St. Gallen zu tun, dass ich vorhin kurz erwähnte. Im Rahmen dieses Projektes haben ich Weiterbildungen, die in den letzten Jahrzehnten für Bibliotheken im Kanton angeboten wurden, durchgeschaut. Die Unterlagen der Kommissionen, welche diese Weiterbildungen organisierten und nachher die der Kantonsbibliothek, wo die eine Kommission angesiedelt wurde, sind recht vollständig erhalten. Was mir dabei auffiel war, dass sich die Weiterbildungen in den 1970er und frühen 1980er Jahren recht modern lesen. Der Fokus lag auf der Leseförderung, der Zusammenarbeit von Schule und Bibliothek, der Einführung von neuen Medien und so weiter. Zumindest eine Zeit lang scheinen diese Weiterbildungen gut funktioniert zu haben. Zumindest wurden sie immer wieder neu aufgelegt. Und dann, nicht sofort, aber doch stetig im Laufe der 1980er Jahre, ändert sich das. Die einst ausgebuchten Weiterbildungen hören auf, dafür gibt es neue Kurse zu neuen Themen, namentlich die Einführung von EDV in den Bibliotheken. Das ist dann auf einmal über Jahre hinweg das grosse Thema. So als ob sich in den 1980er Jahren in sanktgallischen Bibliotheken niemand mehr für das Lesen, aber alle für die Computer interessieren würde. In den 1990ern scheint noch die strategische Planung hinzuzutreten. Aber jetzt, nach 2000, tauchen Themen aus den 1970er Jahren wieder auf.

Ein Grund dafür könnte sein, dass einfach die Probleme mit der Einführung der EDV gelöst sind. In jeder Bibliothek stehen Computer, das Internet ist etabliert. Das ist kein Problem mehr. Das haben Sie ja auch auf dieser Tagung gesehen. Es wurde die Performance von Bibliothekssystemen verglichen und über die Präsentation von Lernplattformen in Öffentlichen Bibliotheken berichtet, aber niemand hat mehr darüber diskutiert, was die Einführung von Computern in Bibliotheken so verändern wird. Sie müssen auch heute eigentlich keiner Bibliothek mehr sagen, dass sie sich entwickeln soll und das sie das besser strategisch tut. Auch das ist gesetzt.

Vielleicht waren diese Probleme einfach wichtiger oder schwieriger und jetzt, nachdem sie gelöst sind, tauchen Fragen wieder auf, die gar nicht gelöst, sondern von anderen Fragen zur Seite gedrängt wurden. Beispiel Schulbibliotheken: Vielleicht hat man in den 1970ern gar nicht geklärt, was eine gute oder moderne Schulbibliothek ist, sondern hat das Thema praktisch zur Seite gelegt, weil erst einmal andere Fragen geklärt werden mussten. Und jetzt taucht es wieder auf, wo sich zeigt, dass die bibliothekarischen Vorstellungen die Schulen kaum überzeugen.

Falls diese These von den „ungelösten Problemen“ stimmt, wäre es sinnvoll zu schauen, was in den 1970ern alles diskutiert wurde. Hierfür ein Beispiel: In den 1970ern und frühen 1980ern wurde über „Soziale Bibliotheksarbeit“ diskutiert, ein Thema waren Bringdienste Öffentlicher Bibliotheken für hausgebundene Menschen. Die Diskussion hörte dann Anfang der 1980er Jahre auf. Eine Redaktionskollegin aus der LIBREAS hat in den frühen 2000ern zur Sozialen Bibliotheksarbeit ihre Abschlussarbeit geschrieben (Schulz 2009), zwei weitere haben ein Buch zu Sozialer Bibliotheksarbeit herausgegeben (Kaden / Kindling 2007), in welchen das Thema mit erwähnt wird. Aber mir scheint, das war es dann auch schon mit der bibliothekarischen Literatur in den letzten Jahren. Es scheint einfach so, als wären die Bringedienste „tot“. Dabei ist diese Frage nie vollständig geklärt worden: Sollten die Bibliotheken solche Angebote machen und wenn ja, wie sollten die aussehen? Jetzt habe ich eine Bachelorarbeit betreuen dürfen, die sich angeschaut hat, ob es überhaupt solche Bringdienste in Deutschland gibt und diese Arbeit konnte mit einer Internetrecherche – also noch nicht mal mit tiefgehenden Nachfragen nach nicht so einfach sichtbaren Angeboten, sondern „nur“ nach solchen, die öffentlich sichtbar sind –, über 100 solcher Dienste nachweisen, die aktuell betrieben werden. Davon wurde eine Anzahl seit den 1970er oder 1980er Jahren kontinuierlich weitergeführt, aber viele wurden auch erst in den letzten Jahren begründet. Offenbar ist das Thema gar nicht gelöst und fertig, sondern taucht wieder in der bibliothekarischen Praxis auf, obwohl es in der bibliothekarischen Literatur aktuell nicht vorkommt. Ich denke, dass ist zumindest ein Hinweis darauf, dass die These von den „ungelösten“ oder „aufgeschobenen“ Problemen stimmen könnte.

 

Folie 19

FAZIT (I)

  • Neue These: Niemand drängt Bibliotheken wirklich, sie drängen auch wenig. Vielmehr deuten sie bestimmte Entwicklungen als „Antreiben“ oder Gefahr, aber das ist ihre Interpretation.
  • Bibliotheken interpretieren immer wieder die gleichen / ähnlichen Gefahren / Innovationsgründe / gesellschaftlichen Entwicklungen und finden darauf immer wieder ähnliche Antworten (zumeist, ohne „die alten Antworten“ zu kennen)
  • Der Eindruck, gedrängt zu werden, kommt auch daher, dass man nicht fragt, was sich eigentlich wirklich verändert und wie die Bibliotheken wirklich sind –> eher eine Rhetorik von „wir müssen uns verändern, sonst gehen wir unter“, die offenbar überzeugt, aber nicht unbedingt den Fakten entspricht

 

Lassen Sie mich noch ein Fazit ziehen, ein vorläufiges. Ich habe mehrfach gesagt und betone das gerne nochmal, dass dies hier ein Diskussionsangebot ist; dass ich Ihnen zeigen wollte, was mir aufgefallen ist, und gerade nicht sagen, wie die Welt funktioniert. Ich würde mich freuen, wenn das klar geworden ist. Gerne würde ich wissen, ob es dieses Phänomen der ständigen Wiederholungen in der bibliothekarischen Debatte, vor allem mit dem Bruch in den 1970ern, wirklich gibt oder ob das überinterpretiere (oder vielleicht einen viel wichtigeren Bruch übersehen habe). Mir scheint das alles überzeugend, aber vielleicht bin ich der Einzige. Falls nicht, würde ich auch gerne darüber diskutieren, warum das so ist. Wie gesagt, einige grosse Vorschläge fallen mir sehr schnell ein, wenn ich über Geschichte und deren Strukturen nachdenke, aber passen die und wenn ja, wie? Vor allem, was heisst es dann für die bibliothekarischen Debatten? (Und habe ich vielleicht eine bessere Erklärung übersehen?) Wie Sie gewiss auch gemerkt haben, sind die anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die es in den 1970er Jahren gab, in meinem Vortrag nicht vorgekommen. Ich habe kurz auf sie verwiesen, als Kontext, aber die Frage, ob vielleicht dieses Phänomen gar kein rein bibliothekarisches ist, sondern für andere Diskurse auch festgestellt werden kann, habe ich gar nicht gestellt, weil die Zeit begrenzt ist. Selbstverständlich sollte sie aber gestellt werden. Sie sehen, ich sehe grosses Diskussionspotential.

Aber zum Fazit. Der erste Teil des Fazits bezieht sich auf das Motto der Tagung: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Ich hoffen, es ist ersichtlich geworden, warum ich zu der These neige, dass die Bibliotheken weder getrieben werden noch selber treiben, sondern dass sie sich vielmehr immer wieder neu vorstellen, angetrieben zu werden. Bestimmte Entwicklungen werden als „Antreiben“ oder als Gefahr interpretiert, aber das ist eine Interpretation – eine, die Bibliotheken dazu bringt, sich Gedanken über Veränderungen zu machen, aber doch eine Interpretation, die von Bibliotheken vorgenommen wird. Bibliotheken antworten auch immer wieder auf ähnliche Weisen auf diese wahrgenommen „Gefahren“, ohne zu reflektieren, dass diese Antworten schon mal gegeben wurden und dass ähnliche „Gefahren“ schon durchgestanden wurden.

Es überzeugt, aber stimmt nicht immer. Ich denke, Bibliotheken könnten als Gesamtsystem ruhiger und vor allem weniger kurzfristig reagieren, wenn sie das wahrnehmen würden. Dazu bedarf es selbstverständlich, nicht nur nach vorne zu schauen oder nur auf die vorliegenden „Probleme“, sondern sich Zeit zu lassen, schon um ganz banal auch mal ältere Texte zu lesen. Hat dafür jemand Zeit? Weiss ich nicht. Sollten wir uns dafür Zeit nehmen? Das denke ich schon. Wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese Aufklärung der Bibliotheken über sich selber und ihren eigenen Diskurs zu betreiben? Gewiss, aber das müsste als Aufgabe gefasst und organisiert – heute auch finanziert – werden.

 

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FAZIT (II)

  • Um das Bibliothekswesen zu entwickeln, benötigt es Kenntnisse über die Geschichte der Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten (nicht einfach Annahmen darüber, wie die Bibliothek „früher war“)
  • Die hier vorgetragenen Thesen benötigen weiterer Überprüfungen.
  • Insgesamt braucht es für eine Entwicklung von Bibliotheken mehr Ruhe. „Untergangsszenarien“ und „das ist modern, alles andere ist alt“-Behauptungen weniger ernstnehmen, dafür einen etwas weiteren Blick entwickeln, kann gut helfen.
  • Irgendwas ändert sich immer. Das alleine ist noch kein Grund für irgendwas; es bedürfte immer einer weitergehenden Begründung, warum es wirklich etwas verändert.

 

Zweiter Teil des Fazits. Etwas, was sehr einfach gemacht werden könnte, wäre im bibliothekarischen Diskurs zu akzeptieren, dass es eines Wissens darüber bedarf, wie sich die Bibliotheken in den letzten Jahren wirklich entwickelt, was sie wirklich diskutiert und ausprobiert haben. Wenn wir das nicht wissen, sollten wir nicht versuchen, das mit Bildern von „alten“ oder „unmodernen“ Bibliotheken, die es früher einmal angeblich gegeben hätte, auszufüllen. Diese Bilder stimmen meist nicht. Die Behauptung, eine Bibliothek sei früher schlecht gewesen und würde jetzt erst richtig entwickelt – was, wie gesagt, auch schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder neu behauptet wird –, ist meistens für das Ziel, dass man erreichen will oder für das Argument nicht nötig. Will man zum Beispiel begründen, warum die Bibliothek einen Makerspace haben soll, kann man das auch, ohne zu behaupten, die Bibliothek hätte zuvor nichts in Richtung Aufbau von Communities oder so gemacht. Man kann auch einfach sagen, man hätte gerne einen Makerspace. Oder man kann auch gut und gerne sagen, man würde lieber elektronische Medien anbieten, ohne zu unterstellen, die Bibliotheken hätten sich bislang nie Gedanken dazu gemacht, welche Medienformen sie anbieten sollten.

Grundsätzlich wäre es bestimmt gut, in den bibliothekarischen Debatten mehr Ruhe zu bewahren. Die Bibliotheken werden nicht untergehen, das wurde schon so oft behauptet, ohne das ein eintrat. Die Bibliotheken werden nicht „unmodern“ werden, auch das sind einfach eine sehr alte, beständig wiederholte Behauptungen. Vor allem sollte man sich aber mehr Zeit nehmen, die Vorstellungen über die notwendigen Entwicklungen besser zu begründen und zu verstehen, vielleicht auch zu revidieren, bevor man anfängt, aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Mir scheint aber, dass wir in einer Zeit leben, in der es manchmal schon ausreicht zu behaupten, irgendetwas verändert sich, zum Beispiel in der Medienwelt, deswegen müssten die Bibliotheken das und das tun. Möglichst sofort. Aber das ist, dass sollte klar geworden sein, oft nicht wahr. (Und auch hier ist das Argument nicht, dass man nicht auf Veränderungen schauen und Dinge ausprobieren sollte. Das Argument ist, dass die Behauptung oder Feststellung, etwas sei neu oder hätte Potential, irgendetwas anders zu machen, als bislang, noch keine Begründung dafür ist, warum es Bibliotheken und deren Umfeld verändern wird, vor allem so, dass Bibliotheken darauf reagieren müssen. Der Begründungszusammenhang sollte viel genauer und komplexer sein, dass ist es auch viel besser möglich, über ihn zu diskutieren und tatsächliche Veränderungen von fehlgeleiteten Vorstellungen, übergrossen Versprechen oder einfach auch Hypes und Missverständnissen zu trennen.)

Irgendwas verändert sich immer, aber am Ende nie so, dass es nicht ein paar Jahrzehnte wieder neu auftauchen könnte. Man muss schon verstehen, was sich wirklich ändert und ob es überhaupt einen Einfluss auf Bibliotheken haben wird. Mir scheint, gerade bei Aussagen über die Zukunft von Bibliotheken sollte das Denken komplexer werden.

Ich danke Ihnen.

 

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Literatur, Primär

  • Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen (Empfehlungen der Bildungskommission). Stuttgart, 1970
  • Doderer, Klaus et al. (1970): Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell (Schriften zur Buchmarkt-Forschung, 19). Hamburg, 1970
  • Fischer, Bodo (1973): Profil der Benutzer öffentlicher Bibliotheken : eine Analyse von Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und sozialen Determinanten der Bibliotheksbenutzer : quantitative Vorstudie (AfB-Materialien, 3). Berlin, 1973
  • Fischer, Bodo (1978): Die Benutzer öffentlicher Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland : Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung (AfB-Materialien, 21). Berlin, 1978
  • Glaser, Hermann (1976): Vorwort. In: Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion. Bonn, 1976, 6-7
  • Heidtmann, Frank (1971): Materialien zur Benutzerforschung : aus einer Pilotstudie ausgewählter Benutzer der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin (Bibliothekspraxis, 3). München-Pullach, 1971

 

Literatur, Sekundär

  • Foucault, Michel (2001). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 184). Frankfurt am Main, 2001 [1975]
  • Kaden, Ben ; Kindling, Maxi (Hrsg.) (2007). Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. Berlin, 20007
  • Klein, Naomi (2007). The shock doctrine: the rise of disaster capitalism. New York, 2007
  • Marx, Karl (1965). Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Sammlung Insel, 9). Leipzig, 1965 [1852]
  • Müller, Sonja (2014): Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, 88). Frankfurt am Main, 2014
  • Nietzsche, Friedrich (1994). Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. Stuttgart, 1994 [1886]
  • Schulz, Manuela (2009). Soziale Bibliotheksarbeit: „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit in öffentlichen Bibliotheken. Berlin, 2009
  • Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken (Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst, 3). Bern, 1973
  • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Die moderne Schulbibliothek. Bestandsaufnahme und Modell (1970). Die erste grosse Untersuchung und der davon losgelöste, grosse Entwurf (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XV)

Am Anfang der Entwicklung zeitgenössischer Schulbibliotheken und vor allem der Diskurse um diese im deutschsprachigen Raum steht eine Monographie, welche 1970 weder von bibliothekarischer noch von pädagogischer Seite publiziert wurde, sondern im Rahmen eines Projektes des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt am Main) entstand: Die moderne Schulbibliothek. Bestandsaufnahme und Modell. (Doderer et al., 1970) Zuvor waren – sowohl in der DDR und Österreich als auch historisch früher in der Weimarer Republik – schon andere Monographien zu Schulbibliotheken erschienen, aber diese Publikation und insbesondere das dazugehörige Projekt hatte einen längerfristigen Einfluss.

1975 wurde es von der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen übernommen, insoweit gab es Verbindungen des Projekteams mit bibliothekarischen Strukturen, dennoch war es nicht, wie viele folgende Projekte, ein von bibliothekarischer Seite durchgeführtes.1 Die Arbeitsstelle wurde später zum Deutschen Bibliotheksinstitut und nahm in einer gesonderten Abteilung bis 2000 Aufgaben der Beratung für Schulbibliotheken war. Die heutige Expertengruppe Schule und Bibliothek im dbv steht in einer gewissen Kontinuität zu dieser Abteilung. Wenn auch nicht ganz ohne Friktionen verlaufen, besteht eine Kontinuität von diesem Projekt aus dem Jahr 1970 – und damit dem hier zu besprechenden Buch – und der heutigen dbv-Gruppe. Zumindest zum Teil scheint dies auch für die Argumentationen und Blickwinkel, die im Bezug auf Schulbibliotheken eingenommen werden, zu gelten.

Zugleich wurde im Rahmen des Projektes eine Zeitschrift begründet, die zuerst als Materialien für den Schulbibliothekar und später als schulbibliothek aktuell kontinuierlich von 1974 bis 2000 erschien.2 Anders gesagt: Das Projekt, welches von 1970 bis 1975 lief, etablierte relativ langlebige Strukturen zur Unterstützung von Schulbibliotheken, zuerst in der BRD und nach 1989 in Gesamtdeutschland. Das dazugehörige Buch, Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell, legte Diskurse fest, an denen lange argumentativ festgehalten wurde, auch wenn bestimmte Teile der Argumentationen der Studie fallen gelassen und später kaum noch reproduziert wurden. Es ist ein grundlegendes Buch. Nicht zuletzt bietet es, da es auf zahlreichen Besuchen in Schulen basiert, einen Einblick in die Situationen von Schulbibliotheken in der BRD im Jahr um 1970.

Kontext Bildungsreform

Um das Buch und das dahinter stehende Projekt nachzuvollziehen, ist es wichtig, sich zu erinnern, dass die später 1960er und frühen 1970er Jahre in der Bundesrepublik unter anderem eine Zeit massiver Bildungsreformen war. Dabei wurde unter anderem eine Demokratisierung des gesamten Bildungssystems angestrebt, inklusive des direkten Abbaus sozialer Ungleichheiten, dem Aufbau eines meriokratischen Schulsystems, dass gleichzeitig junge Menschen zu selbstständigen Bürgern und Bürgerinnen – und nicht zu Menschen, die untertänig schweigen – ausbilden sollte. Zudem sollte das Bildungssystem, dass zum Teil über das Schulsystem hinaus geplant wurde, modern werden, dass heisst auch moderne Techniken und moderne pädagogische Theorien nutzen. Die gesamte Planung war von einem heute erstaunlichen Pathos des Fortschritts und der Demokratisierung getragen; gleichzeitig wagte sich die Bildungspolitik und -planung an heute fast unfassbare Grossentwürfe. (Deutscher Bildungsrat, 1970) Beispielsweise wurde in Opposition zu den bestehenden Schulformen die Gesamtschule als neue Schulform, die auch gleich neue pädagogische Räume umfassen und neue Lehrerinnen und Lehrer benötigen würde, entworfen.

Es war offenbar eine spannende Zeit, in der nicht sicher war, wie sich die Bundesrepublik und das bundesdeutsche Bildungswesen wirklich entwickeln würden. Im Rückblick ist sichtbar, dass die Veränderungen weitgehend, aber lange nicht so radikal waren, wie vielleicht um 1970 zu vermuten gewesen wäre – oder zumindest viel länger dauerten, als damals vermutet worden wäre. (Friedburg, 1989) Aber 1970 war dies noch nicht sichtbar. Vielmehr beteiligten sich zahllose Gruppen, Initiativen und Institutionen mit unterschiedlichen Möglichkeiten an den utopischen Diskussionen zur Reform des Bildungswesens, wobei diese Diskussionen eingelassen waren in ebenfalls zum Teil massive gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.

Das im folgenden zu besprechende Buch ist in seinem Entstehen nur aus dieser Zeit heraus zu verstehen, ebenso die Entwürfe, die ihm gemacht werden. So war es in Zeit der Bildungsreform, als es Usus war zu konstatieren, dass das bisherige Bildungssystem gescheitert sei – beispielsweise bislang statt zur Demokratie zum Untertanengeist erzogen hätte oder statt Chancengleichheit herzustellen die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert hätte – normal, den bisherigen Zustand in den Schulen nicht nur negativ zu bewerten, sondern als gänzlich falsch zu verurteilen, auch weil es leicht möglich war, sich eine viel bessere Bildungslandschaft als anzustrebendes Ziel vorzustellen und von diesem als Idealbild ausgehend die Schulrealität zu bewerten. Eine solche Radikalität erschien zum Teil als notwendig. Gleichzeitig war sie aber nicht unbedingt immer fair gegenüber der Arbeit in den Schulen selber. Der Gestus dieses radikalen Verwerfens verlor mit der Zeit bis Mitte der 1970er seine Berechtigung.3

DieModerneShulbibliothek

Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell

„In Sorge um die Verbesserung der schulischen Bildungsformen unserer heutigen Jugend ist die vorliegende Untersuchung über die Schulbibliotheken entstanden, und in der Hoffnung auf Beachtung und Realisierung sind die hier vorgelegten Vorschläge zur Entwicklung von zentralen Bildungsbibliotheken in den Schulen der Bundesrepublik ausgearbeitet worden. Es gilt, auf diesem Gebiet den Anschluß an den internationalen Stand hochentwickelter Erziehungssysteme zu gewinnen. Die bisher schon erstaunlich große und zustimmende Resonanz auf unsere Vorstellungen läßt uns zuversichtlich die Einsicht der betroffenen Stellen und der Öffentlichkeit erwarten.“ (Doderer et al., 1970, 9)

Der zitierte Absatz eröffnet das hier zu besprechende Buch. Er beschreibt die Zielsetzung der gesamten Studie: Es geht um nicht weniger, als darum, einen neuen Typ von Schulbibliothek für die Schulen in der Bundesrepublik zu entwerfen. Grund dafür sei die „Sorge um die Verbesserung der schulischen Bildungsformen unserer heutigen Jugend“ (Doderer et al., 1970, 9), eine Formulierung, die in den frühen 1970er Jahren so weit verbreitet war, dass sie nicht wirklich erklärt werden musste. Es galt als ausgemacht, dass das Bildungssystem veraltet sei und, für die Jugend, radikal verändert werden müsste. Diese Vorstellung war so verbreitet, wie vor einigen Jahren noch die Behauptung, die Bildungssysteme müssten die Lesekompetenz fördern oder Bibliotheken müssten innovativ sein: Aussagen, die für eine gewisse historische Zeit als allgemeine, fast unwidersprechbare Wahrheiten gelten (und die dann allerdings mit der Zeit an Überzeugungskraft verblassen und durch neue Aussagen dieser Art ersetzt werden).4 Man würde erwarten, dass dieser Punkt im weiteren ausgeführt wird, das beispielsweise erklärt würde, warum es eine Sorge um die Jugend gibt und welcher Art diese Sorge wäre – aber das passiert nicht. Es war 1970 auch nicht notwendig, dies zu erklären.

Wichtig ist zudem, dass nicht etwa bessere Schulbibliotheken entworfen, werden, sondern gleich die (neue) Form von „zentralen Bildungsbibliotheken in den Schulen der Bundesrepublik“ (Doderer et al., 1970, 9). Diese waren in der Vorstellung der Projektteams weit mehr, als die vorhandenen Schulbibliotheken. Aber auch dies war 1970 nicht ungewöhnlich. Der Deutsche Bildungsrat legte im selber Jahr einen Strukturplan für das Bildungswesen (Deutscher Bildungsrat, 1970) vor, der gleich das Schulwesen und den Unterricht in allen Schulen, zudem die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer verändern wollte. Insoweit war der Entwurf gänzlich neuer Schulbibliotheken zeitgenössisch. Interessant ist in diesem Zusammenhang eher, dass die Studie behauptet, diesen Entwurf auf der Basis einer Analyse von realen Schulbibliotheken in der Bundesrepublik sowie Schulbibliothek in „hochentwickelten Erziehungssysteme[n]“ (Doderer et al., 1970, 9) vorgenommen hätte. Dies ist, wie noch zu zeigen sein wird, zu hinterfragen.

Der letzte Satz des zitierten Absatzes ist vor allem im Vergleich zu späteren Versuchen, Schulbibliotheken auszubauen, interessant. In immer neuen Projekten wurde und wird versucht, Schulbibliotheken zu fördern und dabei davon ausgegangen, dass vor allem politisch Verantwortliche zu überzeugen wären. Bei Doderer et al. (1970) scheint es aber so, als wäre das Interesse in den Ministerien schon lange vorhanden, was eventuell auch mit der spezifischen Situation in den 1970er zu tun hatte. Gleichwohl führte dieses Interesse nicht dazu, dass das vorgeschlagene Modell einer modernen Schulbibliothek weithin aufgegriffen worden wäre, vielmehr fanden sich später fast nur in Neubauten, insbesondere in Gesamtschulen, aber auch bei diesen wäre zu untersuchen, was sie vom Modell selber übernahmen.

Der Aufbau der Studie ist auf den ersten Blick klar und einfach. Im Teil A werden die Grundfragen geklärt, im Teil B wird von Besuchen in einer Anzahl von Schulbibliotheken in der Bundesrepublik und West-Berlin (so die Diktion im Buch selber) berichtet, im Teil C dann das Modell einer modernen Schulbibliothek und Strategien zur Durchsetzung desselben dargestellt. Abgeschlossen wird die Studie mit einem umfangreichen Anhang von Dokumenten, die im Laufe der Studie gesammelt wurden. Gleichwohl gibt es einen erstaunlichen Bruch zwischen Teil B und Teil C. Relevant ist, dass sich dieser Aufbau auch in späteren Projekten findet. Erst wird eine Analyse des Status Quo der Schulbibliotheken unternommen, dann daraus ein Modell für moderne Schulbibliotheken entworfen – wobei nicht immer klar ist, wie die Auswahl der untersuchten Schulen vorgenommen oder die Kriterien, nach denen die jeweils modernen Schulbibliotheken entworfen wurden, gebildet wurden.5

Die Situation der Schulbibliotheken, 1970

Auch dieses Studie wählte, wie späterhin viele andere Studien zu bibliothekarischen Fragen, die sich an „internationalen Beispielen“ orientieren, als Vergleichsstaaten nicht irgendwelche, sondern die USA, England sowie einige skandinavische Länder (Dänemark, Schweden). Allerdings, und das unterscheidet die Studie wieder von späteren, bibliothekarischen, wurden auch Frankreich, die UdSSR und die DDR einbezogen. Es findet sich keine Begründung für diese Auswahl. Zeichnen sich diese Staaten durch ein besonders gutes Schulbibliothekssystem aus? Frankreich tat dies zumindest 1970 nicht. USA und UdSSR waren 1970 weltweit die bestimmenden Staaten, was zumindest vermuten lässt, dass sie deshalb einbezogen wurden (inklusive Besuchen in Washington und Moskau), aber warum wurden die anderen Staaten einbezogen? Und warum andere nicht? Wenn die DDR wegen der gleichen Sprache einbezogen wurde, warum dann nicht zum Beispiel auch Österreich und die Schweiz? Solche Unklarheiten durchziehen die gesamte Studie. Sie ist in einer Struktur geschrieben, die eine Vollständigkeit suggerieren, welche nicht gegeben ist. Offensichtlich wurden im Rahmen der Studie immer wieder Entscheidungen getroffen, die im Nachhinein nicht begründet werden. Dies bezieht sich nicht nur auf die Auswahl der ausländischen Beispiele, sondern auch darauf, was dargestellt wird und was nicht. Letztlich scheint dies sehr interessensgesteuert geschehen zu sein. Gleichwohl ist nicht klar, wozu diese internationalen Beispiele, zum Teil mit sehr umfangreichen Dokumenten im Anhang, dargestellt werden. Für den weiteren Text der Studie haben sie keinen weiteren Einfluss.

Dabei beginnt die Studie mit einem nachvollziehbaren Forschungsplan. In einem ersten Schritt wurde versucht, in den Kultusministerien der Länder mit den Verantwortlichen für Schulbibliotheken Interviews zu führen, die einen ersten Überblick zur Situation der Schulbibliotheken geben sollten. In diesen Interviews sollten zudem Schulbibliothek erfragt werden, die als vorbildlich gelten können, um sie anschliessend zu besuchen. (In der heutigen Diktion wären dies wohl eine „Best Practice Analyse“.) Allerdings war es schon schwierig, in den Ministerien Verantwortliche für Schulbibliotheken zu lokalisieren. Die Zuständigkeiten waren selten geklärt, kaum gab es jemand speziellen, der oder die ein Wissen über die Schulbibliotheken im jeweiligen Bundesland hatte. Deshalb konnte das Projektteam auch kaum vorbildliche Schulbibliotheken ausmachen, sondern bekam stattdessen vorbildliche Schulen genannt, bei denen vermutet wurde, dass sie auch gute Schulbibliotheken hätten. Anschliessend besuchte das Team diese insgesamt 55 Schulen und bewertete sie anhand eines Leitfadens; gleichzeitig informierte es sich über die Situation den oben genannten Ländern.

Der längste Teil der Studie beschreibt die Ergebnisse dieser Besuche. Die Ergebnisse seien ernüchternd, genauer: Die Schulbibliotheken seien, wenn sie vorhanden sind, nicht modern. Die wenigen offiziellen Texte zum Thema sowie die meisten Schulbibliotheken selber seien daraufhin ausgerichtet, der Jugend „gute Literatur“ zur Verfügung zu stellen, nicht aber, den modernen Unterricht oder die Selbstarbeit der Jugendlichen zu befördern. Die Schulen würden nicht verstehen, dass Schulbibliotheken für den Unterricht genutzt werden könnten, vielmehr „[wurde i]n den zahlreichen Gesprächen […] sichtbar, wie tief die Vorstellung von der Übereinstimmung von Schülerbüchereien und Unterhaltungs- und Freizeitbüchereien im Denken der Lehrerschaft verwurzelt scheint.“ (Doderer et al., 1970, 49)

Im Gegensatz zur Vorstellung des Projektteams, die Schulbibliotheken in der Schule integriert sehen wollen, würde von den Lehrerinnen und Lehrern oft den Kolleginnen und Kollegen, welche die Schulbibliothek betreuten, damit Respekt gezollt, dass ihnen nicht in die Arbeit hinein geredet wurde – oder anders, dass sie machen konnten, was sie wollten, ohne das dies Einfluss auf den restlichen Schulalltag haben musste.

Sowohl in den Schulen als auch in Öffentlichen Bibliotheken fanden sich Stimmen, die sich für eigenständige Schulbibliotheken und solche, die sich für die starke Zusammenarbeit von Schulbibliotheken und Öffentlichen Bibliotheken aussprachen. Dabei würde den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren teilweise das notwendige pädagogische Wissen abgesprochen, eine Schulbibliothek zu führen. Eine einheitliche Meinung zu dieser Frage fand sich aber nicht.

Moderne Schulbibliotheken, 1970

Wie erwähnt, bewertete das Projektteam die vorgefundenen Schulbibliotheken, vor allem von den eigenen Vorstellung einer modernen Schulbibliothek ausgehend, negativ. Allerdings ist auch diese moderne Schulbibliothek eher skizziert, als klar dargestellt. Im ersten Teil der Studie – also noch vor der Darstellung des Status Quo – werden dazu einige Behauptungen aufgestellt. Schulbibliotheken müssten zentrale Einrichtungen einer Schule sein. Ohne solche zentralen Schulbibliotheken sei es nicht möglich, im Unterricht eine sinnvolle Didaktik zu entwickeln, die auf wissenschaftliches Arbeiten abzielt und zum eigenständigen Umgang mit Büchern und anderen Informationsmitteln zu erziehen.6 Zentrale Schulbibliotheken wären Teil demokratischer Schulen, die Kinder und Jugendliche dazu erziehen würden, selbstständig zu denken und zu entscheiden.7

„Es geht im Umgang mit einer Bibliothek um die Erkenntnis und das tägliche Durchüben des »know how«, was zur Entwicklung der geistigen Selbständigkeit des Menschen unerläßlich ist. Es geht damit zugleich auch um eine Entromantisierung des literarischen Bewußtseins, das sich manchmal heute noch mit unreflektierten Affirmationen begnügt, statt kritische Reflektionen in Gang zu setzen.“ (Doderer et al., 1970, 14)

Diese zentralen Schulbibliotheken sollten sich dadurch auszeichnen, dass sie (a) grundsätzlich für alle Schultypen gleich sein müssten (da sie die gleichen Chancen bieten sollten), wobei sie in den (geplanten) Gesamtschulen ihre grösste Wirkung entfalten würden, (b) für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer zugleich konzipiert wären, und keine spezielle „Lehrerbücherei“ mehr zuliessen, (c) der Zugang zu ihnen demokratisch, also für alle gleich, geregelt und pädagogisch (und nicht auf „das gute Jugendbuch“ hin) orientiert wäre, und sie (d) grundsätzlich auf eigenständige Bildung der Jugendlichen ausgerichtet seien.

„[Die] Freigabe des Buches ist eine notwendige Forderung auch innerhalb des Demokratisierungsprozesses, den unsere Schule durchzumachen hat, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, nämlich mündige Bürgen von morgen heranzubilden.“ (Doderer et al., 1970, 12)

Diese Schulbibliotheken wären sinnvoll in die Didaktik moderner Schulen, inklusive Gruppenarbeiten und selbstständigen Lernen, zu integrieren. Sie würden als Lernwerkstätten funktionieren. Autoritäre Lehrmethoden würden hingegen keine modernen Schulbibliotheken benötigen. (Mit dieser These können „alte“ Schulbibliotheken auch als Einrichtungen verstanden werden, die autoritäre Lehrmethoden fördern würden.)

„Eine Schule, die den Schülern also [mittels autoritärer Didaktik] auf das genormte Lehrbuch und auf den überhöhten Wissensvorsprung des Lehrers anlegt, bedarf in ihrer hierarchischen Ordnung prinzipiell auch keiner jedermann zugänglichen Bibliothek.“ (Doderer et al., 1970, 16)

Insoweit schliesst das Projektteam, dass moderne, zentrale Schulbibliotheken Teil der Bildungsreform sein müssten. Nur mit ihnen seien deren Ziele – nämlich demokratische Schulen – zu erreichen.

„Es wird höchste Zeit, daß die Schulreform sich dieses Gebietes annimmt. Wir brauchen überall moderne zentrale Schulbibliotheken!“ (Doderer et al., 1970, 17)

Exkurs: Erstaunlich ist mit dem Blick von heute, dass sich die Argumentationen für Schulbibliotheken immer noch gleichen: Der jeweils aktuelle Diskurs über Bildung wird aufgerufen und es wird postuliert, nur mit Schulbibliotheken sei dieser zu bedienen, dabei wird zumeist auf modernen Lehrmethoden verwiesen, die sich in der Schulbibliotheken sinnvoll durchführen liessen, wobei sich diese „modernen Lehrmethoden“ kaum unterscheiden, sondern über Jahrzehnte immer wieder Teamarbeit, Projektarbeit und selbstständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler mit den jeweils aktuellen Medien und Informationsmitteln bedeuten. Dabei wird die existierende Situation fast vollständig als defizitär beschrieben und kritisiert. Hingegen werden hohe Forderungen an Schulbibliotheken – sowohl was ihre Aufgaben und angenommen Wirkungen als auch was ihre Infrastruktur angeht – gestellt, die selber nur zum Teil begründet sind und gleichzeitig von kaum einer Schulbibliothek in Deutschland erfüllt werden. Zudem wird in vielen Texten der Eindruck erzeugt, es wäre „jetzt“ notwendig, zu handeln. Dies unterscheidet die Studie (Doderer et al., 1970) nicht wirklich von aktuellen Äusserungen. (Deutscher Bibliotheksverband 2015; Lücke & Sühl, 2015; Kirmse, 2012)

Rabiate Thesen

Teil C der Studie beginnt dann, nach der Schilderung des Status Quo, ohne weitere Ankündigung, mit Thesen zur modernen Schulbibliothek, gefolgt von einigen kurzen Ausführungen zu diesen. Wie diese entstanden sind, ist nicht ersichtlich. Der Logik des Buches folgend, hätten sie aus dem Status Quo der Schulbibliotheken (Teil B) entwickelt werden müssen, aber dies ist offenbar nicht geschehen. Stattdessen erhebt das Projektteam mit diesen Thesen bestimmte Forderungen, die kaum begründet sind. Wie gesagt, findet sich in den darauf folgenden Jahrzehnten eine ähnliche Struktur in weiteren Texten und Projekten wieder. Diese Praxis, einer Schilderung der Situation von Schulbibliotheken direkt Forderungen anzuschliessen, um diese Schulbibliotheken grundlegend zu verändern, scheint in dieser Studie ihren Ausgangspunkt gehabt zu haben.

Die Thesen seien hier in Gänze zitiert:

„Neun Thesen zum Modell einer modernen Schulbibliothek

1. Die Schulbibliothek steht zentral im schulischen Leben. Das erfordert ihre entsprechende räumliche Gliederung.

2. Die Schulbibliothek dient Schülern wie Lehrern gleichmaßen als Informations-, Lese- und Arbeitsstätte, aus der sich Schüler wie Lehrer ständig neue Impulse für die Unterrichtsarbeit holen können.

3. Soll die Schulbibliothek die an sie gestellten Forderungen erfüllen, muß sie von sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren geleitet werden.

4. Die Schulbibliothek steht Schülern wie Lehrern während der gesamten Unterrichtszeit (am besten ganztägig) zur Verfügung,. Sie muß die notwendigen Voraussetzungen bieten, um von Schülern oder Lehrern jederzeit für individuelle Studien oder Gruppenarbeit genutzt werden zu können.

5. Quantität und Qualität des Buchbestandes müssen der zentralen pädagogischen Bedeutung der Schulbibliothek gerecht werden. Zehn Titel pro Schüler sind zu fordern. Die Titelauswahl hat nach den Belangen der unterrichtlichen und gesamtpädagogischen Konzeption der betreffenden Schule zu erfolgen.

6. Die Katalogisierung und Aufstellung der Bücher soll in allen Bundesländern einheitlich sein. Die Schulbibliothek erfordert ein an ihren Funktionen orientiertes eigenes Katalogisierungssystem, das geeignet ist, die Schüler auf die spätere Nutzung von Öffentlichen, Wissenschaftlichen, Fach- und Spezialbibliotheken vorzubereiten, dessen Konstruktion aber auch das unterschiedliche Auffassungsvermögen von Schülern der verschiedenen Schulstufen berücksichtigt. Jede Schulbibliothek braucht einen Autoren-, Sach-, Titel- und Standortkatalog.

7. Um eine möglichst große Effektivität der Schulbibliothek zu gewährleisten, müssen Buch- und Bibliothekskunde in den Arbeits- und Stundenplan einbezogen werden.

8. Die Schulbibliothek kann ihre Funktionen nur erfüllen, wenn alle an der Schule beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und Personen (Schulleiter, Lehrer, Schulbibliothekar, Schüler und Eltern) in aufgeschlossener Weise zusammenarbeiten.

Dem Aufbau der Bibliothek und ihrer Integration in den Unterricht ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

9. Die moderne Schulbibliothek soll die Demokratisierung der Bildung im heutigen Schulwesen ermöglichen helfen und den jungen Menschen frühzeitig durch Bereitstellen von Quellentexten zum selbständigen Erwerb von Informationen und intellektuellen Erfahrungen als Grundlage kritischen Urteilsvermögens befähigen.“ (Doderer et al., 1970, 88f.)

Diese Thesen zeichnen einen Bibliothek, die vom Grundgedanken der „Demokratisierung der Bildung“ ausgehend eine zentrale Einrichtung innerhalb der Schule darstellt; insbesondere soll sie die Rolle als Arbeitsplatz für selbstständige Arbeiten darstellen und zugleich als bibliothekarisch geführte Einrichtung den Bestand an Unterricht und dieser Selbstbildung orientieren. Zudem soll die Schulbibliothek mit der Schulgemeinschaft zusammenarbeiten. Diese Thesen klingen nicht unbedingt, als wären sie veraltet; vielmehr werden sie auch heute noch erhoben. (Deutscher Bibliotheksverband, 2015) Einzig die neunte These, diejenige, in der es um Demokratisierung geht, wird heute nicht mehr genannt.

Das Projektteam hat diese Thesen erstellt, um eine Einrichtung zu skizzieren, welche in einer demokratischen Schule ihrer Meinung nach bestmöglich funktionieren würde. Das Problem ist allerdings, dass sie in ihrer eigenen Studie keine Einrichtung dieser Art gefunden haben. Im Rahmen der Bildungsreform scheint das nicht erstaunlich: Wenn die Schulen, wie sie vorgefunden werden, normalerweise als unzureichend angesehen und nur utopisch entworfene Schulen der (nahen) Zukunft als richtig angesehen werden, ist es auch verständlich, die vorgefundenen Schulbibliotheken als unzureichend anzusehen und utopische Modelle von Schulbibliotheken – deren Sinn sich den zeitgenössischen Schulen noch nicht erschlossen haben kann, weil diese ja unzureichend seien – zu entwerfen. Die Aufgabe der Umsetzung dieser Thesen wird dann, wie in den frühen 1970er Jahren normal, dem Staat zugeteilt. (Hierbei kommt dann auch das Wort „Übergangslösungen“ (Doderer et al., 1970, 105) auf, dass dann in späteren Texten zu Schulbibliotheken eine Rolle spielen wird.) Das ist aus der historischen Situation, in der diese Studie entstand, heraus zu erklären.

Dennoch ist der Sprung erstaunlich. In der ganzen Studie gibt es zum Beispiel, ausser dem Verweis, dass es in einigen anderen Staaten, aber nicht allen, so gehandhabt würde, keine Herleitung, warum die Schulbibliothek, die von einer bibliothekarisch ausgebildeten Person geführt wird, besser für die Schule (oder die Demokratisierung der Bildung) wäre, als andere Formen von Schulbibliotheken. Dies wird einfach behauptet. Dies gilt auch für die anderen Thesen. Sie stellen eine Wunschvorstellung dar, die man selbstverständlich entwickeln kann, gerade in Zeiten, in denen utopische Entwürfe gefragt sind.8 Aber es ist nicht ersichtlich, warum sie einer umfangreichen Studie zum Status Quo bedurften. Erstaunlich ist auch, dass nicht wirklich gezeigt wird, wie diese „modernen Schulbibliotheken“ den Schulalltag verändern würden, sondern das einfach behauptet wird, dass sie es tun werden.

Fazit: Langfristige Wirkungen für das Denken über Schulbibliotheken

Wenn in diesem Text immer wieder auf die Zeit, in welche die besprochene Studie entstand, verwiesen wurde, hatte dies vor allem den Grund, zu zeigen, dass der Aufbau und das Vorgehen der Studie auch in dieser Zeit der Bildungsreform in der Bundesrepublik verankert war. Dies ist bedeutsam, da, wie ebenfalls mehrfach betont, die Studie am Anfang eines Projektes stand, dass langfristige Wirkungen hatte. Im Buch wird die These aufgestellt, dass es eine Zeit dauern wird, bis Politik und Verwaltung vom Nutzen zentraler Schulbibliotheken überzeugt wären und es gälte, die Zeit bis dahin zu gestalten. (Doderer et al., 1970, 105ff.) Hätte dies zugetroffen, dann wäre der Verdienst der Studie, diese Entwicklung angestossen zu haben. Aber dies ist nicht, was späterhin eintrat. Sicherlich wurden in den nächsten Jahren, zumeist zusammen mit Gesamtschulen, einige zentrale Schulbibliotheken gegründet, teilweise sind diese noch heute aktiv oder in eine andere Form überführt worden. Andere sind währenddessen wieder geschlossen worden. Aber der Grossteil der Schulen ist auch bis heute ohne diese ausgekommen, Verwaltung und Politik sind nicht überzeugt.

Die langfristige Wirkung der Studie scheint eher, dass sie ein Denken über Schulbibliotheken strukturell vorbereitet hat, dem insbesondere im bibliothekarischen Rahmen in den deutschsprachigen Ländern lange gefolgt wurde. Ausläufer sind bis heute zu finden, auch wenn es – beispielsweise durch die Landesarbeitsgemeinschaften für Schulbibliotheken – zum Teil relevante Gegendiskurse gibt. Die Vorstellung, dass Schulbibliotheken immer wieder neu als bibliothekarische Einrichtungen zu entwerfen seien, dass andere Formen von Schulbibliotheken als unzureichend abgelehnt werden müssten, das Schulbibliotheken vor allem das selbstständige Lernen unterstützen würden und auf der Seite des Fortschritts (wenn schon nicht des gesellschaftlichen, dann des pädagogischen oder technischen) stehen würden, findet sich das erste Mal so klar ausformuliert in dieser Studie und wird dann immer wieder reproduziert. Allerdings, und das ist das erstaunliche, wird sehr schnell die Begründung für diese „modernen Schulbibliotheken“ fallen gelassen. Vielmehr scheint es, als würden die Behauptungen über die Bedeutung von Schulbibliotheken immer wieder dem gerade aktuellen Diskurs angepasst. War der Entwurf 1970 noch erstellt worden, um einen demokratischen Zugang zu Medien und damit in den Schulen ein Lernen und Lehren „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen, scheint dies im Laufe der Zeit fallen gelassen zu sein. Aktuell ist es – noch – die Lesekompetenz, aber auch schon die Medienbildung, die von Schulbibliotheken unterstützt werden soll, in den Jahren dazwischen die jeweils vorherrschenden Themen. (Deutscher Bibliotheksverband 2015; Lücke & Sühl, 2015; Kirmse, 2012) Das macht die Behauptungen zumindest fragwürdig: Die Schulbibliotheken, die als jeweils modern beschrieben werden, werden nicht mehr von den Aufgaben, die sie erfüllen sollen, ausgehend hergeleitet, sondern immer wieder dem aktuellen Diskurs angepasst. Gleichzeitig ändert sich die Vorstellung davon, was diese Bibliothek sein soll, nicht.

Insoweit ist die Argumentation für Schulbibliotheken mit der Zeit schwächer geworden. War sie 1970 aus dem vorherrschenden Diskurs heraus, mit der gleichen ungeduldigen Haltung entworfen worden, wie zahlreiche andere Programme im Bildungswesen der damligen Zeit, scheint sie heute an die Debatten „angehangen“ zu werden und ist, im Vergleich mit anderen Reformvorschlägen, ungewöhnlich rabiat und fordernd. Gleichzeitig ist sie immer noch so schwach an die Realität in den Schulen gebunden, wie 1970. Wie gesagt: 1970 war es normal, die vorgefundenen Schulen und damit auch die vorgefundenen Schulbibliotheken als unzureichend zu verwerfen. Aber nach einigen Jahrzehnten lässt sich feststellen, dass es einen Grund geben muss, wenn Schulbibliotheken sich nicht so entwickeln, wie immer wieder aus dem bibliothekarischen Kontext heraus gefordert. Wenn Schulen sich nicht immer, aber doch beständig für andere Formen von Schulbibliotheken entscheiden, muss es dafür Gründe geben. Eine These wäre, dass sie sich die Schulbibliotheken schaffen, die sie benötigen. Zumindest wäre es sinnvoll, die Realität in den Schulen selber stärker wahrzunehmen.

Die Studie von 1970 ist von historischer Bedeutung, da sie die heutige Diskussion über Schulbibliotheken strukturiert hat. Aber sie ist historisch und bedarf einer Neufassung. In einer vergleichbaren Studie, die heute durchgeführt würde, wäre es notwendig, Schulbibliotheksmodelle, die als „modern“ entworfen werden, aus dem Schulalltag und den Aufgaben der Schulen heraus zu entwerfen (was in der Studie von 1970 getan wurde, nur dass sich diese Aufgabe, nämlich die Demokratisierung von Bildung, extrem in den Hintergrund geschoben wurde), vor allem würden Entscheidungen (Wieso wurden bestimmte Länder, Schulen, Schulbibliotheken besucht? Wieso wurden bestimmte Bewertungen getroffen? Wieso wurden den „modernen Schulbibliotheken“ bestimmte Charakteristika zugeschrieben und andere nicht?) begründet. Nicht zuletzt würde die historische Erfahrung mit Forderungen für „moderne Schulbibliotheken“ und den Umsetzungsversuchen, die es währenddessen gegeben hat, mit einbezogen.

Literatur

Arbeitsgemeinschaft multimediale Schulbibliothek; Schöggl, Werner ; Hofer, Stephan ; Hujber, Wendelin ; Macho, Margit ; Rathmayer, Jürgen ; Sygmund, Bruno ; Funk, Sabine (2003). Die multimediale Schulbibliothek. Wien : Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2003, https://www.bmbf.gv.at/schulen/service/bibl/SB_Multimedia_11285.pdf?4f2jk2

Deutscher Bibliotheksverband (2007). Der Ausbau schulbibliothekarischer Arbeit als Herausforderung für das deutsche Bibliothekswesen. Ein Positionspapier des dbv. Deutscher Bibliotheksverband, 2007, http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/Kommissionen/Kom_BibSchu/Publikationen/2007-07-30_Positionspapier_schulbiblioth_Arbeit.pdf

Deutscher Bibliotheksverband (2015). Lesen und Lernen 3.0: Medienbildung in der Schulbibliothek verankern!. Deutscher Bibliotheksverband, 2015, http://www.schulmediothek.de/fileadmin/pdf/DieFrankfurterErklaerung.pdf

Deutscher Bildungsrat (1970). Strukturplan für das Bildungswesen: Empfehlungen der Bildungskommission. Stuttgart : Klett Verlag, 1970

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Gattermann, Jutta ; Siegling, Luise (1970). Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung ; 19). Hamburg : Verlag für Buchmarkt-Forschung, 1970

Friedeburg, Ludwig von (1989). Bildungsreform in Deutschland : Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1989

Kirmse, Renate (2012). Mission impossible: Oder: Vom Aufbau einer Schulbibliothek in 154 Tagen. In: Bibliotheksdienst 46 (2012) 11, 894–902

Lücke, Birgit ; Sühl, Hanke (2015). Schulbibliotheken als Dreh- und Angelpunkt medienpädagogischer Arbeit: Die Frankfurter Erklärung: Lesen und Lernen 3.0. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 67 (2015) 08-09, 540–541

Fussnoten

1 Vgl. den letzten Post zur Geschichte der Schulbibliotheken: Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek (1975) Alles muss einheitlich sein. (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIV), https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2015/06/11/theorie-organisation-und-praxis-der-schulbibliothek-1975-alles-muss-einheitlich-sein-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-xiv/

2 Heute existiert sie als unregelmässig bediente Rubrik in der kjl&m weiter.

3 Das ein ähnlicher Gestus dann in den 1990er Jahren wiederkehrte, der vor allem in allen möglichen Zusammenhängen vorgebliche Ineffizienz und Bürokratie bemängelte, Krisensituation ausmachte, zum Teil auch eher behauptet statt nachwies, um dann vor allem betriebswirtschaftliche Lösungen anzubieten, ist bemerkenswert. Aber es gibt wichtige Unterschiede: Ging es Ende der 1960er, Anfang der 1970er auch im Bildungswesen vor allem um eine bessere, demokratischere, sozialere Welt, die angestrebt wurde, ging es ab den 1990ern um eine effizientere Gesellschaft, zumeist aus Gründen der Effizienz selber.

4 Oder mit einem anderen Wort: Ideologeme.

5 Nicht nur in Deutschland, ein gutes Beispiel ist das Projekt „Multimediale Schulbibliothek“ aus Österreich (Arbeitsgemeinschaft multimediale Schulbibliothek, 2003), dass erst mittels Fragebogen den Status Quo erhob und dann daraus Schlüsse zog, wie diese zu verändern seien.

6 Bemerkenswert ist wohl, dass auch 1970 nicht von Büchern alleine gesprochen wurde, sondern andere Informationsmittel explizit erwähnt wurden. Zumindest die vom Projektteam entworfenen Schulbibliotheken beschränkten sich nicht nur auf „traditionelle“ Medien. Wenn dann noch in den 2010er Jahren teilweise argumentiert wurde, dass Bibliotheken „jetzt“ aufhören müssten, Buch-orientiert zu sein, scheint dies anachronistisch. Neu war die Forderung nicht, also muss es einen Grund gehabt haben, dass sie sich zumindest bei einigen Bibliotheken auch bis in die 2010er Jahren nicht durchgesetzt hatte – oder aber, die Feststellungen in den 2010er Jahren waren nicht situationsgerecht.

7 Aus der heutigen Diskussion erscheint es absurd, Jugendliche zum selbstständigen Denken „erziehen“ zu wollen; vielmehr würde heute davon ausgegangen, dass sie nicht „erzogen“, sondern auf ihrem Lernweg unterstützt werden müssten. Aber dieser Widerspruch war 1970 nicht unbedingt verbreitet.

8 Auf Seite 90 (Doderer et al., 1970, 90) findet sich zum Beispiel auch die Vorgabe, dass das Projektteam für eine moderne Schulbibliothek mit 10 Büchern pro Schülerin und Schüler (im Buch nur „Schüler“) rechnen würden. Diese Zahl ist nirgendwo begründet, aber von dieser Studie ausgehend wird sie anschliessend – zumeist ohne Quelle – in Texten zu Schulbibliotheken immer wieder reproduziert.

Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek (1975) Alles muss einheitlich sein. (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIV)

1974, in einer Zeit, in der in der damaligen BRD (und West-Berlin) intensiv über umgreifende Bildungsreformen gesprochen wurde – beispielsweise über die Arbeit des „Deutschen Bildungsrates“ oder das Wirken von Ludwig von Friedeburg als hessischem Bildungsminister, der damals daran ging, das dreigliedrige deutsche Schulsystem abzuschaffen – beschloss die Kommission „Schulbibliotheken“ in der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (die später zum Deutschen Bibliotheksinstitut wurde) die Arbeit für die folgenden Jahre. Grund dafür war unter anderem, dass die Arbeitsstelle im Januar 1975 eine „Beratungsstelle für Schulbibliotheken“ übernahm, die seit 1970 in einem Projekt an der Universität Frankfurt am Main aufgebaut worden war. (Doderer et al., 1970) Der Zeitpunkt ist bedeutsam: Die Bildungsreform, die Mitte der 1960er mit grossem Effort begonnen worden war, neigte sich einem Ende zu. Im Nachhinein kann festgehalten werden, dass in dieser Reform – in Verbindung mit den Reformen, die innerhalb der Gesellschaft durchgesetzt wurden – viel erreicht wurde: Bildungseinrichtungen wurden in grossem Masse aufgebaut worden (Schulen, Universitäten etc.), als Ziel von Bildung galten jetzt grundsätzlich selbstbewusste, kritischen Schülerinnen und Schüler, der Ausgleich von sozialen Ungleichheiten wurde angestrebt, neue Unterrichtsformen – sowohl solche, die demokratischer waren als zuvor als auch solche, die auf neue technische Möglichkeiten setzten – waren nicht nur erprobt, sondern teilweise auch durchgesetzt worden, Schulen und Universitäten in Ansätzen demokratisiert. Gleichwohl: 1975 war auch das Jahr, in welchem der Bildungsrat seine Arbeit einstellen musste, Dezember 1974 war von Friedeburg wegen heftiger Proteste gegen seine Bildungspolitik zurückgetreten, in der grossen Politik ging die Ära Brandt zu Ende, die Ära Schmidt begann. Es ging immer mehr um das Erhalten des Erreichten als um weitere Veränderungen.

Genau in dieser Umbruchszeit legte die Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, nachdem dies in der Beratung 1974 besprochen wurde, 1975 eine Publikation vor, welche vom Anspruch her den Leitfaden für den Aufbau eines alle Schulen der damaligen BRD umfassenden Schulbibliotheksnetzwerkes und für die Arbeit der Arbeitsstelle selber darstellen sollte: Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek: Ein Diskussionsbeitrag (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975). Dieser Text hatte eine grossen Einfluss, indem er das Denken des deutschen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken zum Teil bis in die 2000er Jahre hinein prägte. Eine Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Text – genannt werden im Impressum Birgit Dankert, Horst Meyer, Klaus Schleusener, Erich H. Wurster, Peter Zimmermann, Wolgang Dittrich und Helga Goedecke – waren lange Jahre mit Schulbibliotheken beschäftigt (Birgit Dankert lehrte beispielsweise bis 2007 in Hamburg und publizierte noch 2009 einen Text zu Schulbibliotheken in der BuB (Dankert, 2009).), gleichzeitig finden sich Angaben und Vorstellungen aus dieser Publikation später in vielen Texten wieder (z.B. Hoebbel & Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts, 2003). Zudem hatte er, durch seine Veröffentlichung durch den Deutschen Bibliotheksverband selber, eine quasi-offiziellen Charakter.

Die gesamte Publikation ist auf der einen Seite vom Geist der Bildungsreform, insbesondere vom damaligen Planungsoptimismus, der praktisch davon ausging, dass Bildungseinrichtungen einfach einheitlich geplant werden können und auch sollten, durchzogen. Gleichzeitig ist die Publikation praktisch bei ihrem Erscheinen schon überholt: Der Zeitgeist, welcher die Bildungsreform, aber auch die anderen gesellschaftlichen Reformen, getragen hatte, hatte sich gewandelt. (Nur zur zeitlichen Verortung: 1975 war beispielsweise auch das Jahr, in dem sich die Auseinandersetzung um die erste Generation der RAF im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim zuspitzt, 1974 mit dem ersten Toten im Hungerstreik und sich auch der „Deutsche Herbst“, der dann 1977 voll beginnt, ankündigt. Die Euphorie des Aufbruchs vor vorbei, überall.) Gleichzeitig passt der Text in seine Zeit: Auf der einen Seite – insbesondere bei der Darstellung der zukünftigen Schulpädagogik – ist er fortschrittlich, auf der anderen Seite ist er erstaunlich autoritär.

Idee: Überall muss eine Schulbibliothek sein

Der Text geht grundsätzlich von der Annahme aus, dass es ein Schulbibliothekswesen für die gesamte BRD (über die damals nachgedacht wurde) geben müsse und auch würde. Es wurde angenommen, dass diese Schulbibliotheken grundsätzlich dem Öffentlichen Bibliothekswesen beigeordnet sein müssten, dass sie in allen Schulen errichten werden müssten und das der Text aufzeigen müsse, wie ein solches Schulbibliothekssystem aussehen sollte. Dabei fällt auf, dass es nur eine sehr kurze Begründung dafür gibt, warum Schulbibliotheken überhaupt eingerichtet werden müssten; vielmehr wird, mit Rückgriff auf ein damals oft zitiertes Gutachten der „Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung“ (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, 1973) über Öffentliche Bibliotheken sowie den „Bibliotheksplan 1973“ (Deutsche Bibliothekskonferenz, 1973), einfach angenommen, dass es praktisch eine überall geteilte Position sei, dass dieses Netz an Schulbibliotheken aufgebaut würde. Dies kann für den gesamten Text nicht stark genug betont werden: Es geht nicht darum, zu begründen oder abzuwägen, was Schulbibliotheken sein könnten oder wozu sie sinnvoll wären, sondern es gibt ein Idealbild – jede Schule in der BRD mit einem einheitlichen Angebot – von dem aus alles andere bewertet wird. Zugleich erhebt die Arbeitsstelle mit dem Text den Anspruch, die Institution zu sein, welche über Schulbibliotheken und deren Ausstattung entscheiden könne. Dies macht einen grossen Teil der autoritären Haltung des Textes aus.

Beispielsweise – und das wird in den folgenden Jahren, zum Teil bis heute, ein, wenn auch nicht immer ausgesprochener, Konfliktpunkt zwischen Aktiven in Schulbibliotheken und dem Öffentlichen Bibliothekswesen sein – werden nur Schulbibliotheken, die als Spezialfall von Öffentlichen Bibliotheken wirken, dem Öffentlichen Bibliothekswesen eingegliedert sind, von bibliothekarischem Personal geführt werden und bibliothekarischen Regeln folgen, wirklich als Schulbibliotheken anerkannt.1 Alle anderen Einrichtungen gelten als unfertig. Sie seien in einer „Übergangszeit“ zu akzeptieren, aber eigentlich nicht hinzunehmen. Dies ist keine Überspitzung, sondern erscheint in ähnlichen Formulierungen, insbesondere mit dem Begriff „Übergang“, immer wieder im Text. Gleichzeitig werden alle Projekte, die in den Jahren zuvor im Bereich Schulbibliotheken unternommen wurden, als Vorläufer der eigenen Arbeit interpretiert. Beklagt wird allerdings, dass diese Projekte und Ansätze uneinheitlich seien.

Grundsätzlich alles wird im Bezug auf diese Idealbild bewertet, gleichzeitig scheint die Vorstellung vorzuherrschen, dass dieser Zustand in absehbarer Zeit erreicht werden würde. Im Nachhinein ist das absurd, da die Bildungsreform – für die, man denke nur an die zahlreichen Universitätsgründungen dieser Jahre, tatsächlich relativ viel Geld in Hand genommen wurde – praktisch vorbei war, als der Text entstand. Ob dies in der damaligen Zeit auch so erlebt wurde, ist eine andere Frage. Grundsätzlich schwierig sind an dieser Haltung aber zwei Dinge: Zum einen hat sich diese Vorstellung indirekt bei einem Teil der aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen heraus für Schulbibliotheken Tätigen über lange Jahre erhalten. So wurde lange Schulbibliotheken, die zum Beispiel von Lehrerinnen und Lehrern oder Ehrenamtlichen geführt wurden, als unvollständig angesehen. (Siehe nochmal als gesammeltes Beispiel solcher Haltungen, Hoebbel & Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts, 2003) In den Jahren nach 1975 hätte aber klar werden müssen, dass ein solcher Aufbau von Schulbibliotheken nicht zu erwarten wäre. Zum anderen verzichtet diese Haltung darauf, zu fragen, was Schulen eigentlich genau mit Schulbibliotheken anfangen sollen, wie diese im Schulalltag zu welchen Zwecken und mit welchen Effekten eingebaut werden sollten. Auch diese Haltung wird in späteren Texten immer wieder auftauchen: Anstatt sich um die mögliche Arbeit in Schulbibliotheken Gedanken zu machen, wird oft darüber geredet, wie diese ausgestattet sein müssten und das dies bislang nicht geschehen sei. Im Endeffekt verstellt das Idealbild also einen Blick auf die Realität in den Schulen, da es Schulbibliotheken offenbar nur als spezialisierte Öffentliche Bibliotheken verstehen kann.

Es wäre ein Aufgabe zu untersuchen, wie diese Haltung zustande kam. Zum Teil wird dies aus den Diskursen und Vorgehensweisen in der Bildungsreform zu erklären sein – der oben erwähnte Ludwig von Friedeburg war beispielsweise auch dafür bekannt, Pläne, die er richtig fand, einfach gegen jede Kritik durchdrücken zu wollen2 –, aber das kann nicht die alleinige Erklärung sein. Das Buch, welches am Anfang des Projektes in Frankfurt am Main stand (Doderer et al., 1970) ist beispielsweise noch nicht so einseitig.

Gleichwohl ist der Ton des Textes an vielen Stellen auch optimistisch. Es wird auf eine rege Diskussion zum Thema Schulbibliotheken im Bibliothekswesen verwiesen (bezeichnenderweise nicht auf Diskussionen in pädagogischen oder bildungspolitischen Zusammenhängen), es werden Projekte angeführt, die schon laufen oder demnächst beginnen sollen. Es wird behauptet, dass Schulbibliotheken Thema in der bibliothekarischen Ausbildung geworden seien. Offenbar sind die Autorinnen und Autoren zum Zeitpunkt der Publikation davon überzeugt, dass die Entwicklung umstandslos in Richtung ihres Idealbildes gehen würde und nur noch eine „Übergangszeit“ überbrückt werden muss.3

Zudem ist der Text an einigen Stellen irritierend fortschrittlich, insbesondere an den Stellen, an den es um pädagogische Fragen geht, beispielsweise um die neuen Aufgabe von Schulen, und gerade nicht um die Schulbibliotheken selber.

Aufbau und Begründung

Der Publikation folgt einem logischen Aufbau: Nach einigen einleitenden Worten wird die Situation von Schulbibliotheken dargestellt – immer von der Annahme ausgehen, sich in einer „Übergangszeit“ zu befinden –, anschliessend eine Herleitung der Aufgabe von Schulbibliotheken aus den pädagogischen Aufgaben der Schulen versucht. Der grössere Teil der Arbeit wird darauf verwendet, die Richtwerte und Leitlinien zukünftiger Schulbibliotheken darzustellen, anschliessend Angaben zum Betrieb und Personal dieser Schulbibliotheken zu machen. Allerdings ist das Verhältnis nicht ausgeglichen: Die Herleitung selber ist wenig überzeugend und vor allem kurz, während die Angaben zur Organisation der Schulbibliotheken ausführlich sind.

Die Broschüre greift die Grundtendenzen der zeitgenössischen Schulreformen auf und beschreibt den modernen Unterricht als einen, der selbstständig entscheidende Schülerinnen und Schüler hervorbringen will. Zudem werden die Ziele in einer Weise beschrieben, die gerade heute wieder (als innovative, jetzt von gesellschaftlichen Zielen und Debatten losgelöste) moderne Pädagogik beschrieben wird: Kompetenzorientiert und konstruktivistisch.

„Lehrer sollten sich nicht nur als Mittler von Wissen verstehen, sondern vor allem als Organisatoren und Anreger von Lernvorgängen; ihre Funktion ist eher beratend als instruierend. Die Schüler sind dementsprechend nicht mehr einseitig Informationsträger, sondern werden selbst aktiv durch Mitarbeit bei der Formulierung von Lernzielen und bei der Auswahl der Lerninhalte und -methoden. […]

Anzustreben ist eine Vermittlung und Anwendungen dieser Fähigkeiten [Grundfertigkeiten im Umgang mit Informationen, KS.] in möglichst allen Schulfächern, damit nicht nur Techniken erlernt werden, hinter denen die Inhalte zurückstehen, sondern daß die Inhalte bestimmen, welche Grundfertigkeiten gelernt oder angewendet werden.“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:17)

In diesem Zusammenhang findet sich auch die These, dass Schulbibliotheken, in denen die Medien enthalten wären, welche die Lehrerinnen und Lehrer für ihre Unterrichtsplanung benutzen, allen Schülerinnen und Schülern ermöglichen würden, diese auch zu nutzen und sich somit demokratisierend auf die gleiche Ebene zu begeben, wie die Lehrenden. Ohne Schulbibliothek sein dies nur den Lernenden aus privilegierten Elternhäusern möglich. Schülerinnen und Schüler würden durch den Zugang zu Medien in der Schulbibliothek und einer aktiven Medienpädagogik dazu angehalten, die Distanz zu Medien abzubauen und den „relative[n] Charakter aller Medien, die notwendige Subjektivität aller ihrer Aussagen und Information“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:22) verstehen. Der Text spricht explizit von einer „Profanisierung der Medien“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:22) und postuliert, dass „Informationen […] im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit allen dienen [könnten]“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1973:22). Solche Aussagen und Anspielungen auf marxistische Theoretiker (hier Walter Benjamin) sind noch schwache Verweise auf die vorhergehenden Debatten um Bildung in der breiten Gesellschaft.

Ansonsten sei die Schulbibliothek nötig, weil der moderne Unterricht auf den Einsatz vielen unterschiedlicher Medien und Medienformen angewiesen sei. Dies sei neu mit Schulbibliotheken „systematisch“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:21) möglich.

Mit diesen Aussagen erschöpft sich aber die Begründung für Schulbibliotheken. Sie werden inhaltlich an die Bildungsreform gebunden, die dann einige Zeit später ausläuft.4 Gleichzeitig wird diese Verbindung nur behauptet, nicht nachgewiesen. Andere Möglichkeiten, wozu Schulbibliotheken im Alltag sinnvoll sein könnten, kommen gar nicht erst in den Blick. Vielmehr fährt die Broschüre damit fort, Einführungen in die Schulbibliothek zu entwerfen, die wenig mit dem zuvor geäusserten demokratisierenden Zielen, sondern eher mit der „richtigen“ Benutzung von Bibliotheken zu tun haben. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:25-31) Anschliessend folgt im Text die konkrete Arbeit der Schulbibliothek, teilweise sehr umfangreich. So wird der Schulbibliothek zum Beispiel die Aufgabe zugeschrieben, beständig Auswahl-Listen für Unterrichtsmaterial zu pflegen oder Medienpakete zusammenzustellen. Ganz offensichtlich wird hier die Schulbibliothek als kleine Öffentliche Bibliothek verstanden.

Erstaunlich ist auch, dass zwar an Stellen der Broschüre betont wird, dass eine Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrern notwendig wäre (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:29), aber gleichzeitig grosse Bereiche der Bestandsentscheidungen dem bibliothekarischen Personal vorbehalten werden: „Das Entscheidungsrecht der Pädagogen sollte […] solche Materialien nicht einbeziehen, die zur freien Nutzung bereitgestellt werden.“ (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:56)

Wie die Schulbibliotheken sein sollen

Wie schon mehrfach betont, geht der Text davon aus, dass der intensive Aufbau eines Schulbibliothekssystems bevorstehen würde. Dieses System entwirft der Text. Im Rückblick ist es erstaunlich, wie hoch die gestellten Forderungen sind. Grundsätzlich sollte es ein einheitlichen System von Schulbibliothek geben, mit gemeinsamen Richtlinien, die sich mit der Zeit aus den Erfahrungen der Schulbibliotheken ergeben sollten (der Text nennt zwar eine Anzahl von Werten, betont aber, dass es „zu früh“ sei, diese festzuschreiben), wenn auch nicht zu sehr standardisiert. (Hier widerspricht sich der Text, an einer Stelle wird die Standardisierung als unmöglich beschrieben, an anderen werden Richtlinien als notwendig angesehen.)

Grundsätzlich sollte es in jeder Schule der BRD eine Schulbibliothek geben – nur für die angebliche „Übergangszeit“ und für sehr kleine Schulen im ländlichen Raum werden Ausnahmen zugestanden –, die fachlich von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden sollten. Eingebunden wären diese Schulbibliotheken als Sonderformen von Öffentlichen Bibliothek in das Öffentliche Bibliothekssystem, nicht in das Schulsystem. Gleichwohl, und das ist Nachhinein wohl eine der erstaunlichsten Forderungen, sollte die laufenden Kosten aus dem Schuletat getragen werden. Oder anders: Die Öffentlichen Bibliotheken hätten über die Arbeit der Schulbibliotheken entschieden, die Lehrerinnen und Lehrer hätten in bestimmten Bereichen kooperieren dürfen, die Schulen hätten das bezahlt und unter anderem die Räume zur Verfügung gestellt. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:46) Diese Forderung wird mehrfach in unterschiedlicher Form erhoben, gleichzeitig wird, wie angedeutet, den Schulen kaum klargemacht, warum eine solche Schulbibliothek für die Schulen überhaupt sinnvoll wäre.

Eine der wenigen klaren Angaben, die sich in der Broschüre zugetraut wird, ist die vorläufige Personalplanung: für Schulen mit bis zu 500 Schülerinnen und Schülern wird eine bibliothekarische Fachkraft für 10 Wochenstunden und eine Bibliotheksangestellte / ein Bibliotheksangestellter für 20 Wochenstunden veranschlagt, für grosse Schulen (ab 2000 Schülerinnen und Schülern) eine Fachkraft für 40 Wochenstunden und zwei Angestellte für insgesamt 80 Wochenstunden.5 (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:79) 1975 gab es in der BRD (mit etwas mehr als 3000 Schulkindergärten) rund 29.000 Schulen.6 Es ist einfach zu sehen, wie hoch die Forderung in der Broschüre eigentlich war: irgendwo zwischen 58000 und 87000 Stellen (teilweise in Teilzeit) wurden auf diese Weise geplant.

Die Schulbibliothek sollten weiterhin Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen (SBA) beigeordnet sein. Diese Arbeitsstellen – deren heute noch bestehende Vorzeigeeinrichtung in Frankfurt am Main geplant und aufgebaut wurde, als die Broschüre entstand – erhalten im Text klar definierte Aufgaben zugeschrieben. Soweit ersichtlich, findet sich in diesem Text die umfassendste Darstellung der allgemeinen Aufgaben dieser SBAs. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:48) Sie sollten:

  • Die Einrichtung der Schulbibliotheken (Bauberatung, Planung der Einrichtung) vornehmen.

  • Für den Bestandsaufbau Empfehlungslisten für Grundbestände zusammenstellen und diese pflegen, zugleich Modellbestände vorhalten.

  • Die Medien katalogisieren.

  • Den Austausch von Beständen unter den Schulbibliotheken in „ihrem“ Bereich ermöglichen.

  • Investitionsmittel für neue Schulbibliotheken verwalten.

  • Die Dienste „ihrer“ Schulbibliotheken entwickeln.

  • Fort- und Ausbildung des Schulbibliothekspersonals organisieren.

  • Die Fachaufsicht über dieses Personal übernehmen.

Im Nachhinein wurden unterschiedliche SBAs geplant und aufgebaut, nach 1990 auch noch einmal in Ostdeutschland, aber die meisten dieser Einrichtungen sind heute geschlossen oder haben sich in Richtung anderer Aufgaben entwickelt. (Zum Teil sind auch nicht bei bibliothekarischen, sondern schulischen Stellen angesiedelt.) In der Broschüre von 1975 hingegen werden sie beschrieben als notwendig für alle Städte; einzig in kleinen Gemeinden sollen bibliothekarische Fachstellen die Aufgaben der SBAs übernehmen. Auch bei diesem Konzept ist schnell ersichtlich, dass die Schulbibliotheken als faktische Filialen Öffentlicher Bibliotheken konzipiert wurden. Dafür allerdings ist, ohne eine richtige Begründung, im Konzept vorgesehen, dass die SBAs von Lehrkräften geleitet und erst die Stellvertretenden eine bibliothekarische Ausbildung haben sollen.

Wie schon angedeutet, wird, von diesem Konzept ausgehend, jede andere Form von Schulbibliotheken nur als Notbehelf verstanden und als „Übergang“ bezeichnet. Allerdings lässt sich auch die Frage stellen, ob nicht einfach das Konzept so ausgreifen ist, dass quasi jede andere Situation als unvollständig angesehen werden muss.

Fazit: Eine falsche Grundfrage, nachhaltige Wirkung

Die Broschüre hat, wohl auch dadurch, das sie für weitere Texte über Schulbibliotheken ab 1975 – insbesondere in der von 1975 bis 2000 erschienenen Zeitschrift schulbibliothek aktuell – als Grundlage diente, einen nachhaltigen Einfluss gehabt. Über lange Zeit wurden in Texten aus dem Bibliothekswesen Schulbibliotheken vor allem von der Idee her bewertet, dass sie als Sonderform der Öffentlichen Bibliotheken zu gelten hätten, diesen fachlich untergeordnet aber trotzdem wie diese ausgestattet sein müssten. Alles andere wurde niedrig geschätzt. Dieser Blickwinkel verhindert selbstverständlich, die Schulbibliotheken, die an den Schulen zumeist ohne Verbindung zu Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet wurden, als sinnvolle Lösung auf Fragen, die sich in diesen Schulen stellten, zu verstehen.7

Dabei muss noch einmal betont werden, dass die Grundfrage der Broschüre offensichtlich falsch ist: Es wurde offenbar einfach davon ausgegangen, dass die Bildungsreform weitergehen würde und nach den neugebauten Universitäten, Volkshochschulen und Schulen die Schulbibliotheken eine weitere Institution wären, die massiv ausgebaut und gefördert werden würden. Das dies nicht passieren würde, hätte eigentlich klar sein können. Die oben angeführten Debatten um Ludwig von Friedeburgs Bildungspolitik und die sich formierende Opposition dagegen waren zum Beispiel nicht zu übersehen und werden im Nachhinein auch oft als ein Endpunkt der Reformprozesse wahrgenommen. Die Broschüre allerdings macht es sich zur Aufgabe, ein System von Schulbibliotheken zu skizzieren, dass für Aussenstehende wenig nachvollziehbar ist. Selbst wenn zugestanden wird, dass in der Zeit selber das Ende der Reformprozesse nicht sichtbar gewesen wäre, ist es erstaunlich, dass die rabiate Grundhaltung und -konzeption auch noch in den folgenden Jahrzehnten beibehalten wurde.

Dabei sind Schwachpunkte der Broschüre nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass teilweise widersprüchlich argumentiert wird – gegen Standardisierung, aber für Richtlinien et cetera – fehlen einfach die unterschiedlichen Blickwinkel der Schulgemeinschaften vollständig. Es wird vorausgesetzt, dass Schulbibliotheken in den Schulen genutzt würden. Lehrerinnen und Lehrer kommen im Text nur selten vor, selbst dann soll mit ihnen vor allem kooperiert werden. Ob sie das überhaupt wollen oder ob das überhaupt sinnvoll ist, ist nicht ersichtlich. Gänzlich fehlen – und das ist nach den kurzen Ausführungen zur Demokratisierung der Schulen besonders auffällig, weil widersprüchlich – im Text die Schülerinnen und Schüler selber. Obwohl fürh im Text ein Bekenntnis dazu abgelegt wird, dass sie auf gleicher Augenhöhe mit den Lehrerenden sein sollen, wird dann offenbar im Bezug auf Schulbibliotheken wieder über deren Köpfe hinweg entschieden.

Eine weitere Sache, die einfach fehlt, ist die „Theorie der Schulbibliothek“, welche im Titel der Broschüre angekündigt wird. Als gibt in ihr keine theoretische Auseinandersetzung, sondern vor allem ein aufeinander aufbauendes Aufzählen von Forderungen und Behauptungen. Ebenso ist nicht mehr sichtbar, ob die Diskussion, die im Untertitel „Ein Diskussionsbeitrag“ eingefordert wird, überhaupt geführt wurde. (Zumindest wurde sie es nicht in den bibliothekarische Zeitschriften der damaligen Zeit.)

Gleichwohl die Schwächen des Ansatzes dieser Broschüre und der Broschüre selber beim heutigen Lesen offensichtlich sind, hat sie über Jahrzehnten – mindestens bis in die ersten Jahre nach dem deutschen „PISA-Schock“ – das Denken über Schulbibliotheken in Deutschland geprägt. Wie schon in der Broschüre angelegt, war dies zumeist ein Denken innerhalb der bibliothekarischen Profession, in weiten Strecken ohne pädagogische Beiträge. Die Grundlinien werden zum Teil heute weiter reproduziert, obgleich andere Stimmen laut geworden sind, die Schulbibliotheken anders verstehen.

Literatur

Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, Deutscher Bibliotheksverband (1975) / Theorie, Organisation und Praxis der Schulbibliothek : Ein Diskussionsbeitrag (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 14). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes

Dankert, Birgit (2009) / „Und sie bewegt sich doch…“ : Bibliotheca Johannei: Die neue Schulbibliothek der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 61 (2009) 7/8, 519–521

Deutsche Bibliothekskonferenz (1973). / Bibliotheksplan 1973 : Entwurf eines umfassenden Bibliotheksnetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Deutsche Bibliothekskonferenz

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung

Hoebbel, Niels ; Kommission für Schulbibliotheken des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts (Hrsg.) (2003) / Schulbibliotheken: Grundlagen der Planung, des Aufbaus, der Verwaltung und Nutzung (Beiträge Jugendliteratur und Medien, Beiheft, 14). Weinheim: Juventa-Verlag

Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (1973). Öffentliche Bibliothek : Gutachten (Materialien der Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1). Berlin: Publikationsabteilung des Deutschen Bibliotheksverbandes

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1979). Statistisches Jahrbuch 1978 für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart ; Mainz: W. Kohlhammer, http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/?PPN=PPN514402342_1978

Fussnoten

1 Ein aktuelles Beispiel findet sich in der Broschüre „Tipps für den Aufbau einer Schulbibliothek“ aus dem letzten Jahr (Büchereizentrale Niedersachsen (Hrsg.) (2014). Tipps für den Aufbau einer Schulbibliothek: Eine Arbeitshilfe für Öffentliche Bibliotheken in Niedersachsen . Lüneburg : Büchereiverband Lüneburg-Stade e. V, 2014, http://www.bz-niedersachsen.de/download-s.html?&file=tl_files/bz-niedersachsen/Content/Arbeitshilfen/Arbeitshilfe.Schulbibliotheken.pdf), in der sich weiterhin Schulbibliotheken eingeteilt werden in „Selbstständige Schulbibliothek“, „Schulbibliothek als Teil der Öffentlichen Bibliothek“ und „Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek kombiniert “. (ebenda:4) Diese Dreiteilung ist nicht sinnvoll, wenn man sich die unterschiedlichen Formen der Schulbibliotheken anschaut, die sich entwickelt haben und in Deutschland fast durchgängig „Selbstständige Schulbibliotheken“ (also solche ohne Anbindung an Öffentliche Bibliotheken) darstellen. Geht man aber, wie der Text von 1975, davon aus, dass Schulbibliotheken nur dann vollständig sind, wenn sie fachlich von den Öffentlichen Bibliotheken geleitet werden, ergibt sich eine solche Dreiteilung, weil damit die „Reife“ einer Schulbibliothek bestimmt werden kann. (Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen, 1975:51) Allerdings wird dies in der Broschüre aus Niedersachsen nicht so offen gesagt.

2 Wobei er damit in vielen Fällen aber auch Recht hatte, immerhin musste er sich als linker Sozialdemokrat in einer Gesellschaft durchsetzen, für die Bildung in vielen Teilen noch Erziehung zur Konformität hiess. Es ist nicht so eindeutig.

3 Dies erinnert, aber das mag eine sehr subjektive Einschätzung sein, an die Haltung, die Jürgen Kuczynski (In: Kuczynski, Jürgen (1989 [1983]). Dialog mit meinem Urenkel : neunzehn Fragen und ein Tagebuch. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf) gerade im Bezug auf den Kommunismus macht. Kuczynski betont in seinem Dialog ständig, dass er als Kommunist wisse, dass der Kommunismus am Ende kommen würde und sich nur frage, wann das endlich der Fall wäre. Diese Haltung mag insbesondere für Intellektuelle in der DDR hilfreich und aufbauend gewesen sein, aber heute hinterlässt sie eine komischen Eindruck. Nicht, weil es um den Kommunismus geht, sondern weil diese eschatologische Idee offensichtlich blind macht für die realen Situationen. Wenn man davon ausgeht, dass Ende zu kennen, ist es einfach, nicht mehr danach zu fragen, ob man damit Recht hat. So fragt die Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen auch gar nicht danach, ob vielleicht Schulen ohne Schulbibliotheken oder mit anderen Schulbibliotheken, als sie sich vorstellen, sinnvoll sein könnten oder ob Gründe gegen „ihre“ Schulbibliotheken vorliegen könnten; ähnlich so wie Kuczynski (der ja zum Beispiel um Stalin einen grossen Bogen macht) nicht fragt, ob eine andere Gesellschaftsform sinnvoll sein könnte (wie gesagt, er hat auch gute Gründe dafür, insbesondere weil er als Historiker wusste und gezeigt hat, was der Kapitalismus alles anrichten kann – aber es geht hier einmal nicht darum, sondern um die grundsätzliche Parallele, nämlich darum, warum die Haltung, die in der hier besprochen Publikation zu Schulbibliotheken vertreten wird, komisch ist.)

4 Auch hier gibt es eine Parallele zu späteren Projekten. In Hamburg wurde 2009-2011 ein Schulbibliotheksprojekt aufgegleist, dass eng mit der angestrebten Schulreform des schwarz-grünen Senats verknüpft war und mit dem vorzeitigen Ende dieses Senats auch auslief.

5 Und auch hier wieder eine historische Note: 1974/1975 waren Forderungen nach einer 35 Stundenwoche schon laut geworden, 1978 kommt es dann sogar schon zu den ersten Streik mit dieser Forderung. Die Broschüre ignoriert diese Diskussion und geht von einer 40 Stundenwoche aus.

6 Statistisches Bundesamt, 1979:338.

7 Dazu hat aber nicht nur das Bibliothekswesen, sondern auch die Bibliothekswissenschaft beigetragen. Diese hat sich in Deutschland nur selten für die Schulbibliotheken interessiert, und wenn, dann zumeist aus dem hochtrabenden Blickwinkel, der in dieser Broschüre angelegt war. Diese Haltung, die bis nach 2000 in vielen Texten durchscheint, war überhaupt ein Grund, warum ich 2006 meine Magisterarbeit über Schulbibliotheken in Deutschland geschrieben habe: Weil mir diese Haltung so realitätsfern vorkam und diese Texte mir ein Unbehagen bereiteten.

Am Beginn der modernen Schulbibliotheksentwicklung (in den USA) (Zur Geschichte der Schulbibliotheken XIII)

„Today’s school library is not a dusty tomb of silence, but a beehive of varied, quiet, activity. Gone is the Victorian ‚keeper of the books‘, replaced by a dynamic, skilled professional with a keen knowledge of the age groups with which he works.“ (Joseph G. Hibbs in: Bowers, 1971:VII)

Die Zentralbibliothek Zürich hält, aus Gründen die wohl nicht mehr zu rekonstruieren sein werden, fünf Bücher aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu Schulbibliotheken in den USA, veröffentlicht im gleichen US-amerikanischen Verlag, Scarecrow Press, und zudem alle von der gleichen Person – Albert Daub – gespendet. (Bowers, 1971; Lowrie, 1970; Saunders, 1968; Saunders & Polette, 1975; Swarthout, 1967) Diese kleine Sammlung erscheint nicht ganz zufällig, aber sie ist nur eine Auswahl der Bücher welche in diesem Zeitraum zu US-amerikanischen Schulbibliotheken erschienen. Auffällig ist zum Beispiel, dass Medien aus anderen Verlagen nicht vorhanden sind. Angesichts dessen, dass die Zentralbibliothek Zürich in gewisser Weise darauf stolz ist, keine Medien auszusondern, sondern die einmal erworbenen zu behalten, scheint dies intendiert gewesen zu sein. Offenbar wurden die Medien der anderen Verlage nicht angeschafft. Wieso es gerade diese Bücher sind, die es nach Zürich geschafft haben, ist aber schwer zu sagen.

Dennoch vermitteln sie zusammengenommen einen Einblick in eine interessante Zeit der Schulbibliotheksentwicklung, nämlich den Zeitpunkt, an welchem in den USA Schulbibliotheken im modernen Sinne etabliert wurden; nur etwas früher als in den deutschsprachigen Staaten, wenn auch viel nachhaltiger. Zusammengenommen wird in den fünf Büchern sichtbar, dass diese Zeit zuerst von einem grossen gesellschaftlichen Reformwillen getragen war, der sich auch auf Schulbibliotheken niederschlug, vor allem von einem grossen Optimismus bezüglich der Möglichkeit, gesellschaftliche Infrastrukturen im grossen Rahmen planen und für eine gerechtere Gesellschaft zu nutzen. Gleichzeitig – hier vor allem im Vergleich von Saunders (1968) mit Saunders & Polette (1975) – wird auch sichtbar, wie schnell dieser Optimismus umschlug in ein „professionelles“, an der Verwaltung des Bestehenden orientiertes Denken. In der historischen Rückschau ist es ein wenig ein Blick in eine mögliche Zukunft, die dann – aus Gründen, die mit Schulbibliotheken wenig, aber mit gesellschaftlichen Umschwüngen viel zu tun hatten – nicht eintraten und gleichzeitig auf den Anfang der Wege, in denen sich heute Schulbibliotheken bewegen.

Bemerkenswert sind zwei Dinge: Erstens, wie modern die meisten dieser Texte heute noch klingen. Vieles findet sich in ähnlicher Diktion, wenn auch teilweise mit abweichenden Terminologien, noch heute in Texten zu Schulbibliotheken – nur oft vor einer anderen gesellschaftlichen Realität und ohne den Verweis oder auch das Wissen, dass die Aussagen nicht neu sind, sondern schon einmal getroffen wurden. Zweitens zeigen die Bücher auch, dass Schulbibliotheken, so wie heute über sie geredet wird, keine Einrichtungen sind, die unendlich weit in die Schulgeschichte zurückreichen, sondern um Einrichtungen, die so, wie sie heute existieren, erst mit den gesellschaftlichen Umschwüngen Ende der 1960er Jahre möglich wurden, insbesondere mit der Betonung der Individualität der Schülerinnen und Schüler und dem Ziel von Schulen, deren individuelle Entwicklungen zu unterstützen.

Umbruchzeiten

Mehrere der Bücher berichten in kurzen Abrissen davon, wie sich Schulbibliotheken zumindest auf der offiziellen Ebene in den 1960er entwickelten.

Standards und Gesetze

1960 wurden von der American Association of School Librarians (AASL), die damals rund zehn Jahren als eigenständiges Mitglied der American Library Association (ALA) existierte, in Zusammenarbeit mit einer Reihe von pädagogischen und bibliothekarischen Vereinigungen und staatlichen Einrichtungen „Standards for School Library Programs“ formuliert. Zuvor gab es eine kleine Anzahl von „Statements“ der AASL, die eine Verankerung von Bibliotheken in Schulen forderten. Wichtig war offenbar für die Standards – die ja per se noch nichts bedeuten, weil ihnen niemand folgen müsste – ein Projekt der ALA, das School Library Development Project, in welchem das Erstellen von solchen langfristigen Programmen für Schulbibliotheken in einzelnen Bundesstaaten finanziert wurde, die auf der Basis des allgemeinen Standards von mehreren Akteuren in den einzelnen Staates erarbeitet werden sollten. Dies führte – so zumindest die Darstellung bei Saunders (1968) und Saunders & Polette (1975) – dazu, dass diese auch verbreitet wurden. Zudem wurden 1965 der „Elementary and Secondary Education Act of 1965“ erlassen, der es unter anderem ermöglichte, Bundesgelder für Bibliotheken in allen Schulen der USA einzusetzen. Bei diesem Gesetz handelte es sich um das bis dahin umfangreichste und einflussreichste Werk dieser Art für die US-amerikanische Bildungspolitik; Schulbibliotheken kamen im Gesamt eher am Rande vor.

1969 wurden dann die Standards, die Saunders (1968) und Saunders & Polette (1975) als wichtige Meilensteine ansehen, überarbeitet und mit den „Standards for School Media Programs“ – die umfangreiche Forderungen zur Ausstattung von Schulbibliotheken stellten – ersetzt. In Saunders & Polette (1975) wird versucht, den Einfluss dieser Publikation positiv darzustellen, aber dies gelingt kaum:

„[…] the publication entitled Standards for School Media Programs was an attempt to define clearly the roles of the members of the library/media center team and to provide both quantitative and qualitative standards for library/media programs. […] However, many educators studied primarily the quantitative standards and reacted negatively to what they considered a [sic!] utopian view of materials, staffing and facilities. They ignored the rationale behind the Standards and thus, these Standards did not have quite the impact of the 1960 Standards.” (Saunders & Polette, 1975:5)

Die Standards scheinen – vielleicht vergleichbar mit dem Schicksal des kurz später in der Bundesrepublik erschienen der Bibliotheksplan ’73 – die eigentlich angesprochenen Verantwortlichen nicht überzeugt zu haben, egal wie sie argumentierten.

1975 zumindest wurden schon die nächsten, stark reduzierten Standards publiziert. Auch wenn Erfahrungen nicht direkt aus der US-amerikanischen Geschichte in europäische Verhältnisse übertragen werden können, ist es doch beachtlich, dass die Wirkungen der Standards – vor allem ohne finanzielle Rückendeckung – offenbar innerhalb weniger Jahre nicht mehr überzeugend waren, während heute in der Schweiz auf Richtlinien für Schulbibliotheken gesetzt und dies für Deutschland auch immer wieder als positives Beispiel hingestellt wird.

Knapp Foundation Project

Ein Projekt, dass – in zwei Phasen – von 1963 bis 1967 lief und von einer Knapp Foundation finanziert wurde, taucht in den fünf Büchern mehrfach auf. Dieses Knapp Foundation Project wurde in gewisser Weise umfangreicher, als heutige vergleichbare Projekte konzipiert: In einer ersten Phase wurden insgesamt acht Schulbibliotheken in Elementary Schools mithilfe des Geldes der Stiftung massiv ausgebaut, was nicht nur einen materiellen, sondern auch inhaltlichen Aufbau bedeutete. In einer zweiten Phase dienten diese Schulbibliotheken als Demonstrationseinrichtungen, die von über 100 Personen aus anderen Schulen jeweils einen Tag lang – inklusive Gesprächen mit den Schulkräften und Bibliothekspersonal – besucht wurden (wobei die Kosten für diese Besuche auch vom Geld der Stiftung getragen wurden).

In einem Artikel, der auf den Archivmaterialien zu diesem Projekt aufbaut, beschriebt Cara Bertram dessen Ziele wie folgt:

„The project had four objectives: The first was to demonstrate the educational value of school libraries. The second was to promote improved understanding and use of library resources by teachers and administrators. The third objective was to guide other libraries to develop their own programs by having them observe the demonstration schools. And the last objective was to increase interest and support for school library development by producing and circulating information about the program and the demonstration schools.“ (Bertram, 2014)

Diese Ziele lesen sich wie die ähnlicher Projekte, die seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum durchgeführt werden, zuletzt 2009-2011 in Hamburg (Schuldt, 2012): Schulbibliotheken werden mit finanzieller Unterstützung aufgebaut und relativ intensiv gefördert, dies wird mal mehr mal weniger dokumentiert und sich dann erhofft, dass dies dazu führt, dass anderswo eigenständige Schulbibliotheken in der gleichen Form entwickelt werden. Gleichzeitig wird gehofft zu zeigen, dass Schulbibliotheken funktionieren können, weil angenommen wird, dies sei bislang nicht ausreichend geschehen. Das Knapp Project ging darin weiter, direkt die Verbreitung des Wissens aus den geförderten Schulbibliotheken heraus zu organisieren.

Wenn es in den fünf Büchern erwähnt wird, dann mit grossem Wohlwollen. Offensichtlich versprachen sich in den USA diejenigen, die zu Schulbibliotheken publizierten, viel von diesem Projekt. Die Auswirkungen des Projektes sind aus den Büchern allerdings nicht zu ersehen, interessant ist aber, dass grundsätzlich – wenn auch oft auf der Seite „Verbreitung der Ergebnisse“ vermindert – viele Projekte im Schulbibliotheksbereich immer noch so funktionieren, wie in den 1960er Jahren (obgleich sie – aber das ist Projektlyrik, die so sein muss, um überhaupt Geld zu beantragen – immer wieder behaupten, innovativ zu sein).1

Das Wachstum der Schulbibliotheken und das Moderne der modernen Schulbibliotheken

Das Buch von Jean Elizabeth Lowrie (Lowrie, 1970), welches die ZB Zürich besitzt, ist die zweite Auflage. Die erste wurden 1960 publiziert, Besuche in Grundschulbibliotheken, die als Grundlage des Buches dienten, fanden 1957 statt. Die Autorin reflektiert die Entwicklung zwischen diesen Besuchen und der zweiten Auflage als rasantes Wachstum von Schulbibliotheken in den USA und gleichzeitig als eine Zeit, in welcher sich diese als unabkömmliche Einrichtung etablierten:

„The growth of the elementary school library program over the past three decades has been tremendous. It has become a segment of the modern elementary school program which has more than justified its existence in situations where it has been allowed to come to fruition. This can be attributed to research in child growth and development, to new methods of teaching, and to changes in the concepts of school library service.” (Lowrie, 1970:12)

Diese Darstellung vermittelt eine Haltung, die sich auch in den anderen Büchern – ausser in Saunders & Polette (1975) – findet: Die Überzeugung, dass die modernen Schulbibliotheken sich ungefähr in den 1960er Jahren verbreitet und etabliert hätten. Die Bücher, die zum Teil eigentlich den Anspruch haben, die Entwicklung von Schulbibliotheken zu unterstützen – ebenso wie das Knapp-Projekt – scheinen deshalb in gewisser Weise „zu spät“ erschienen zu sein: Nämlich nach dem Wachstum, mit dessen Auswirkungen umzugehen ist. Auffällig ist, dass sich durch die gesamten Texte eine optimistische Grundhaltung finden lässt, einzig die spätere Publikation von Saunders & Polette (1975) – die ebenso eine überarbeitete zweite Auflage darstellt – ist weniger optimistisch und klingt eher fordernd; so, als ob die Zeit des Neubeginns vorbei sei und jetzt Professionalität herzustellen wäre.

Was alle der Bücher versuchen, ist, die modernen Schulbibliotheken – auch in Abgrenzung zu den Schulbibliotheken zuvor, die es offenbar auch gab, wenn auch lange nicht so verbreitet – zu beschreiben:

  • Lernen in den Elementary School hiesse Lernen in vielen unterschiedlichen Kontexten, unter Einbezug von verschiedenen Medien, sowohl individuell als auch in Klassen, Problem-solving statt Faktenlernen, Kinder würden als Individuen ernst genommen. Einen solchen Kontext müssten die Kinder eine Schulbibliothek haben, um sowohl Lesen zu lernen als auch Nachschlagewerke nutzen zu können. (Lowrie, 1970)

  • Eine moderne Schulbibliothek würde bestehen als space (inklusive Arbeitsplatz für Klassen, „Space is necessary to help create the friendly, helpful, pleasant climate that will both attract patrons to the facility and be condicive to a healthy study and browsing environment.“ (Bowers, 1971:9)), material (alle Medien der Schule, die direkt zur Verwendung bereitstehen würden), service (Schulbibliotheken seien definiert durch die Services, die sie zum „educational program of the school“ (Bowers, 1971:10) beitragen würde, sowie speziellen Angeboten), instructional center (für die Bibliotheksbenutzung und das für das Lesen) sowie dem personnel (bibliothekarisch ausgebildet, aber mit Unterrichtserfahrung, denn „The professional librarian should be many things to a school, but first and above all he is a teacher.“ (Bowers 1971:13))

  • Schulbibliotheken würden benötigt, da es immer mehr Materialien gäbe, die im Unterricht benutzt würden (Bowers 1971)

  • Unter den neuen Medien, die von der Schulbibliothek zu verwalten wären, würden sich vor allem audiovisuelle Medien finden, wobei Bücher beziehungsweise Texte für moderne Unterrichtsformen weiter notwendig wären. (Swarthout, 1967)

  • Schulbibliotheken würden den Unterricht verändern, nicht nur ergänzen, können: „Good school libraries make curriculum change and educational innovation possible: Their collections of materials make it possible to extend the scope of learning beyond that available from any single textbook. To achieve its potential for curriculum development, the school library must become a fully functioning part of the instructional system.“ (Swarthout, 1967:205)

  • Schulbibliotheken müssten das Ziel haben, effektiv zu arbeiten und alle Mitglieder der Schulgemeinschaft zu erreichen: „The goal of the school library administrator is effective utilization of the materials and services by every student and teacher in the school; consequently, all other activities of the library lead to this objective.“ (Saunders, 1968:3)

Oder anders: Grundsätzlich scheinen sich die Versprechen davon, was Schulbibliotheken können und die Forderungen, was für und mit ihnen zu tun wäre, die in den 1960er und 1970er Jahren in den USA publiziert wurden, kaum von dem zu unterscheiden, was heute (noch) in Deutschland oder der Schweiz über Schulbibliotheken gesagt wird. Ebenso scheint der „moderne“ Unterricht in den späten 1960ern sich nicht so sehr von „modernen“ Unterricht, wie er in den letzten Jahren etabliert wurden oder zumindest werden sollte, zu unterscheiden. (Was auch erstaunlich ist: Hat sich das mit dem „Kinder als Individuen anerkennen“ in den 1970ern einfach nicht durchgesetzt? Ist es zurückgegangen? Oder warum wird das heute wieder betont?) Der „grosse Bruch“ scheint nicht in den letzten Jahren, sondern in den 1960er und 1970er Jahren stattgefunden zu haben.2

Utopien sterben

Interessant ist der Unterschied von The Modern School Library: Its Administration as a Materials Center (Saunders, 1968) und The Modern School Library (Saunders & Polette, 1975). Ersteres ist ein Versuch, alles, was für das Führen einer Schulbibliothek benötigt wird, zusammenzufassen, letzteres ist die Überarbeitung dieses Buches, wobei relativ weitläufige Änderungen vorgenommen wurden.

Das erste Buch spriesst über von Optimismus und Begeisterung. Die Autorin gliedert das Buch zwar in Kapitel, aber ansonsten springt sie thematisch immer wieder zwischen der Schilderung grosser, teilweise abstrakter Zusammenhänge und der Schilderung einzelner Beispiele und Projekte. Jedes Kapitel enthält eine lange Liste von Quellen. Teilweise will das Buch Überzeugen, teilweise Anleiten. Es ist nicht immer stringent, aber motivierend. Die Überarbeitung ist das Gegenteil. Hier ist der Text auf eine einheitliche Abstraktionshöhe getrimmt, es wird wenig argumentiert, dafür werden klarere Anweisungen gegeben. Alles ist klarer: Es werden nur noch wenige, genauer ausgewählte Quellen genannt und das auch nur an einer Stelle. Der Text ist aufgeräumter. Die Schulbibliothek wird als professionell geführte Einrichtung beschrieben, aber es gibt keinen Ausblick auf Entwicklungen oder Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Schulbibliotheken mehr. Schulbibliotheken gelten als gut, also müssen sie geführt werden. Es ist ein wenig so, als wäre das erste Buch die Widerspiegelung des von den Hippies und sozialen Bewegungen geprägten Aufbruchs in eine besser Gesellschaft, in der Zukunftsentwürfe und der persönliche Einsatz zählten und das zweite Buch dann eine Widerspiegelung eines scheinbar abgeklärten, aber wenig einfallsreichen und vor allem nichts mehr gross verändernden Liberalismus – oder anders: als würden die beiden Bücher die grundsätzlichen Entwicklungen der US-amerikanischen Gesellschaft der damaligen Jahre mitvollzogen haben. Das ist schon erstaunlich, beziehen sie sich doch nicht auf Gesellschaft, Kunst oder Musik – und vermeiden es zum Beispiel, über den Vietnam-Krieg zu reden –, sondern auf Schulbibliotheken.

Scheinbar ist das Schreiben über Schulbibliotheken – auch wenn es sich um Handbücher dreht – sehr stark an die vorherrschenden gesellschaftlichen und pädagogischen Diskurse gebunden, was die Frage aufwirft, was genuin „schulbibliothekarisch“ an den Texten über Schulbibliotheken ist. Das sichtbarste Zeichen dieser Verschiebung ist das jeweils letzte Kapitel der beiden Bücher. Bei Saunders (1968:176-191) heisst dieses „The Future: A Forecast of Things to Come“ – wobei quasi alle Vorhersagen falsch sind, insbesondere die, dass in den folgenden Jahren Soziale Gerechtigkeit ein Hauptthema der US-amerikanischen Gesellschaft sein würde –, bei Saunders & Polette (1975:162-181) „Evaluation of the LMC [Library Media Center, KS.] Program and Personnel“. Ging es Ende der 1960er Jahre noch um die Zukunft, geht es Mitte der 1970er um die Überprüfung der Arbeit von Schulbibliotheken und um wenig mehr.

Literatur

Bertram, Cara (2014). Knapp School Libraries Project. In: American Library Association Archives at the University of Illinois Archives (Blog), http://archives.library.illinois.edu/ala/knapp-school-libraries-project/

Bowers, Melvyn K. (1971). Library Instruction in the Elementary School. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1971

Lowrie, Jean Elizabeth (1970). Elementary School Libraries. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1970

Saunders, Helen E. (1968). The Modern School Library: Its Administration as a Materials Center (First Edition). Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1968

Saunders, Helen E. ; Polette, Nancy (1975). The Modern School Library (Second, completely revised Edition). Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1975

Schuldt, Karsten (2012). Doppelarbeit und Wiederholungen beim Versuch, Schulbibliotheksnetzwerke aufzubauen. In: LIBREAS. Library Ideas 20 (2012) 1, http://libreas.eu/ausgabe20/texte/03schuldt.htm

Swarthout, Charlene R. (1967). The School Library as Part of the Instructional System. Metuchen, N.J. : The Scarecrow Press, 1967

Fussnoten

1 Es existiert ein Evaluationsbericht – Sullivan, Peggy (ed.) (1968) / Realization : the final report of the Knapp School Libraries Project. Chicago : American Library Association –, aber den an den bin ich bislang nicht gelangt. Falls jemand den zur Hand hat, würde ich ihn gerne einmal ausborgen.

2 Ähnliches findet sich in deutschsprachigen Publikationen ab den 1970er Jahren. Zuvor wurden Schulbibliotheken beispielsweise oft mit der Aufgabe in Verbindung gebracht, gegen „Schundliteratur“ vorzugehen. Das findet sich nach 1970 nicht mehr.