Im Bündner Kunstmuseum in Chur – dem unter anderen grossartige Werke vom Angelika Kaufmann (weil in Chur geboren), Ernst Ludwig Kirchner (insbesondere dem Spätwerk, das er um die Ecke in Davos fertigte) und den Giacomettis (insbesondere Augusto Giacometti, den zu entdecken sich wirklich lohnt) gehören, weshalb ein Besuch unbedingt immer angeraten ist – findet aktuell die Ausstellung Library of Sculpture von Vaclav Pozarek statt.
Pozarek sammelt neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit seit Jahren Medien zu Skulpturen und Bildhauerei. Im Kunstmuseum, genauer in der Villa Planta, die selbst ein Kunstwerk aus der Neorenaissance darstellt, materialisiert der Künstler auf einer gesamten Etage diese Bibliothek. Sicherlich: Diese Bibliothek ist keine Bibliothek, wie sie von heutigen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren verstanden wird. Pozarek rekurriert vielmehr auf ein Bild der Bibliothek als Sammlung von Wissen (beziehungsweise Informationen, die als Wissen genutzt werden können) und Ort des Einfühlens, Lernens und Eintauchens in ein Thema.
Die Frage, welche sich dem Künstler offenbar stellt, ist, wie sich sich die Geschichte und Realität von Skulpturen vermitteln lässt. Eine Institution schwebt ihm vor, aber keine konkrete. Vielmehr unternimmt er mehrere Anläufe, die sich in jeweils einem weiteren Raum der Ausstellung finden. Insbesondere die Manie, Dutzende von Versuchen zu einem Logo der Library zu produzieren (etwas, was bei realen Bibliotheken eher am Ende steht), zeigt, wie unterschiedlich an die Institution herangegangen werden kann. Bedeutungsvoll ist, dass in allen Räumen der Versuch einer objektiven Darstellung und eines objektiven Zugangs an das Thema an der Subjektivität des Künstlers scheitert. Im ersten Raum findet sich beispielsweise ein Tisch mit einer repräsentativen Auswahl von zwölf Werken zur Bildhauerei. Das sieht auf den ersten Blick umfassend aus, aber es ist es nicht. Weder sind alle Stilrichtungen abgedeckt, noch ist klar, warum gerade bestimmte Werke bestimmte Themen repräsentieren (und warum gerade zwölf). Die subjektive Auswahl des Künstlers prädeterminiert die Objektivität. Selten wird so massiv klar, wie sehr alle objektiven Darstellungen von Wissensbeständen am eigenen Anspruch scheitern müssen – und wie wenig uns dies davon abhält, es doch immer wieder zu versuchen.
Gleichzeitig nutzt der Künstler die zahlreichen Bücher anders, als es Bibliotheken tun würden. Hier sind sie wieder Symbol für etwas, sondern stehen für ein Wissen, dass schon vorhanden sein muss, bevor man sich ihnen nähert. „Die Zürcher Konstruktivisten“ steht zum Beispiel unter einem Bild (in einem Raum, der den Zugang zum Thema über Porträts versucht), aber man darf nicht erwarten, das in der Ausstellung erklärt würde, wer das wäre oder was ihre Bedeutung war. Vielmehr sind die unterschiedlichen Medien Repräsentationen von Informationen, die immer wieder neu angeordnet werden. Bücher sind nicht zum Gelesen-werden da, sondern zum Darstellen von Etwas. Genauso wie Photos, Ausschnitte, Skulpturen, Sitzmöbel, eine Zeitung zur Ausstellung, ein Katalog. In einem Raum werden Bücher in einer Form aufgestellt, die sie selber zu Objekten einer Skulptur werden lässt. Hier siegt die Ästhetik über den Inhalt.
Dies liegt nicht nur im Gebiet dieser Bibliothek begründet. Sicherlich muss eine Library of Sculpture auch Skulpturen enthalten. Aber es zeigt sich auch ein nicht-bibliothekarisches Verständnis von Bibliothek, welches ernst genommen werden muss: Die Bibliothek wird nicht von den Medien her definiert, auch nicht von Wissen, das sich in ihr erarbeitet werden könnte, sondern als Erinnerungs- und Ordnungsraum (auch wenn diese Ordnung offenbar nie genügt, sondern immer neu angegangen werden muss). Dies schliesst an einem Verständnis von Bibliotheken als Fortführung der Wunderkammern an. Und obgleich Kunst nicht auf Aussagen zielen muss, lässt sich doch direkt etwas für den bibliothekarischen Diskurs ableiten: Diese Vorstellung von Bibliothek als Wunderkammer und Gelehrtenraum ist nicht tot. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage.
Library of Sculpture (18. Februar – 6. Mai 2012): Bündner Kunstmuseum, Chur, Postplatz (Eintritt 12 CHF)
Publikation: LOS. Vaclav Pozarek. Library of Sculpture, mit Texten von Stephan Kunz und Max Wechsler, Zürich: Scheidegger & Spiess, 128 Seiten, ca. 85 Abbildungen, CHF 48.- / CHF 40.- für BKV-Mitglieder. (Nach der Ausstellung CHF 54.-)
Öffentliche Führungen durch die „Library of Sculpture“: An den Donnerstagen, 23. Februar, 8. März, 29. März, 19. April , 26. April, 3. Mai, jeweils 18 Uhr
Vortragsreihe im Rahmen der Ausstellung „Library of Sculpture“ in Zusammenarbeit mit der Kantonsbibliothek Graubünden
Jan-Andrea Bernhard: Bibliotheken in Bündner Patrizierhäusern: Repräsentationsmittel der Adligen, oder Arbeitsmittel der Gelehrten?, Donnerstag, 8. März, 19 Uhr
Dorothée Bauerle-Willert: Aby Warburgs Bibliothek: ein Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte, Donnerstag, 15. März, 19 Uhr
Iso Camartin: Die Bibliothek von Babel. Die wirklichen und die erträumten Bücher des Jorge Luis Borges, Donnerstag, 19. April, 19 Uhr
Max Wechsler: Das Museum John Soane in London, Donnerstag, 26. April, 19 Uhr
Susanne Bieri: Dem Künstlerarchiv verschrieben: «… Darin alles was sonst mit Worthen gegeben auch den Augen vorgestellet wird», Donnerstag, 3. Mai, 19 Uhr