Was ist das: critlib?

Zu: Mehra, Bharat & Rioux, Kevin (edit.) (2016). Progressive Community Action. Critical Theory and Social Justice in Library and Information Science. Sacramento: Library Juice Press, 2016

Einer der aktuellen Trends im englischsprachigen Bibliothekswesen und der englischsprachigen Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist – zumindest soweit ich das sehe, aber vielleicht folge ich auch nur einer sehr ausgewählten Gruppe an Aktiven – „critlib“ beziehungsweise „critical librarianship“ (oder auch „critical library science“), gerne auch als #critlib. Neben einzelnen Initiativen, Treffen und Panels auf grösseren Konferenzen, ist ein Zentrum dieses Trends der Verlag Litwin Books und dessen Imprint Library Juice (Imprint) aus Sacramento. Dieser Verlag hat unter anderem eine eigene Zeitschrift – Journal of Critical Library and Information Studies – für diesen Trend gegründet, die allerdings bislang keine Nummer herausgegeben hat. Ansonsten erscheinen dort regelmässig Sammelbände und Monographien, die sich selber der „critlib“ zuordnen, unter anderem – als eines der aktuellen Beiträge – das hier angesprochene Buch. Die Publikation ist ein gutes Beispiel für die Stärken aber auch Schwächen dieser, nun ja, Bewegung.

Schwäche: Was ist das genau?

Zuerst zu den Schwächen: critlib klingt gut. Der Anspruch ist, innerhalb der Bibliothek und von der Bibliothek ausgehend, kritisch zu sein; kritisch im Sinne von links, antirassistisch, feministisch, kritisch gegenüber dem Neoliberalismus und seinen Zumutungen etc. Dabei erheben viele der Publikationen den Anspruch, nicht nur „irgendwie“ kritisch zu sein, sondern sowohl auf der Basis der tatsächlichen bibliothekarischen Arbeit kritische Analysen vorzunehmen als auch auf der Basis kritischer Theorie(n) aufzubauen. Okay. Was heisst das genau? Das ist sehr, sehr offen.

The LIS [Library and Information Science] field has long had a commitment to social responsibility, which has been a core value of the American Library Association, as is expressed in the profession’s service orientation, and from the civil rights era, in professional advocacy for equitable information access. However, we are now turning the corner and finding a voice that questions inequity and normativity, names the inequities, represents the oppressed, and speaks clearly and loudly of action that can be modeled or structural barriers that need to be eradicated. In one breath, when we utter diversity, we also now state or understand that it engages the work of inclusion, equity, and social justice.1

Theorie. Welche Theorie? All of the theories. ALL of them!

Ein gutes Beispiel für diese Offenheit ist die theoretische Basis, auf die verwiesen wird. In den Texten – beispielsweise der „Introduction“ zu diesem Buch (Kevin Rioux & Bharat Mehra: Introduction. In: dies. 2016:1-10) – taucht immer wieder die Vorstellung auf, dass critlib mit der Zeit eine gemeinsame theoretische Basis aufbauen würde, die auf schon vorhandener kritischer Theorie aufbaue. Ein erster Verweis, der oft gegeben wird, ist der auf die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule, wobei bei critlib viel eher an Jürgen Habermas gedacht wird als an Adorno und Horckheimer. Aber das ist eine Nebenkerze, quasi. Dass es der Frankfurter Schule (vor Habermas) um eine Neuformulierung des Marxismus nach der Shoa und gegen den Stalinismus ging, taucht in den critlib-Texten zum Beispiel nie auf. Genauer: Trotz dem ständigen Verweis findet sich eigentlich keine theoretischen Anschlüsse z.B. an die „Dialektik der Aufklärung“ oder „The Authoritarian Personality“ (einer Studie, die in und über die USA geschrieben wurde, also sogar kulturell passen würde).2 Die Frankfurter Schule wird eher, ausser Habermas, genamedropt, und daran anschliessend Listen weiterer „kritischer Literatur“ genannt.3 Alleine in diesem Buch kommen George Lukács, Antonio Gramsci, die Operatisten (hier „Autonomist Marxist“ genannt, explizit Antonio Negri), Marx, Henry Giroux und Ivan Illich vor. In anderen Sammelbänden werden gerade zeitgenössische Feministinnen, z.B. Judith Butler, die französischen Poststrukturalisten, vor allem Michel Foucault, Bildungstheoretiker wie John Dewey oder Bildungssoziologen wie Pierre Bourdieu angeführt.4 Alles in allem ein grosser Mischmasch, der trotz ständiger Behauptungen, dass alles irgendwie zusammengehört, doch recht offen und unverbunden dasteht. An sich ist es, trotz dem öfter vorkommenden Namedropping, oft nicht möglich, die theoretische Grundlage in den dann geschriebenen Texten wiederzufinden.

All das wäre per se nicht falsch: In der critlib-Literatur wird oft und offen darüber geredet, dass es notwendig sei, sich erst einmal (wieder) als kritische Bewegung zu finden, nachdem der Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten auch die Bibliotheken und deren Diskurse nachhaltig gestört hätte. Insoweit sind Suchbewegungen zu erwarten und die Idee, dass man sich als Bewegung versteht und dadurch empowert fühlt, sich Gedanken zu machen und Orte zu suchen, wo diese Gedanken vorgestellt und diskutiert werden können, verständlich. Was aber irritiert, sind die oft behaupteten Ansprüche an die eigenen Texte, insbesondere im Bezug auf „Theorie“, die fast nie eingehalten werden. Teilweise, so auch bei diesem Buch, scheint es eine Einladung zum intellektuellen Austausch zu sein, der dann aber nicht wirklich stattfindet. Dabei wäre critlib auch so möglich, ohne ständig Theorien zu „namedroppen“. Wenn man z.B. gar nicht über „Entfremdung“ nachdenken will, zu diesem Zeitpunkt, warum dann überhaupt die verschiedenen Marxismen zitieren?

I saw the light?

Erstaunlich ist die in machen Texten (in diesem Buch z.B. der von Wendy Highby, siehe weiter unten) auftauchende Sprachfigur, nach der andere Texte aus dem critlib-Zusammenhang einzelne Bibliothekarinnen und Bibliothekare dazu ermuntert hätten, endlich ihr Stimme zu erheben und selber aktiv zu werden. Das klingt oft religiös, wie eine Erleuchtungsgeschichte (als hätte sie zuvor jemand daran gehindert, sich auf kritische Theorie zu beziehen). Verständlich ist es vielleicht als befreiendes Gefühl, wenn Personen bemerken, dass sie mit ihrer kritischen Anmerkungen oder Beobachtungen im bibliothekarischen Alltag nicht allein sind und das es möglich ist, sich kritisch und kohärent zu äussern. Vielleicht. Es bleibt aber immer wieder ein negativer Beigeschmack.

Positives: So offen, es regt zum Nachdenken an

Die Offenheit der Themen und Zugänge ist aber wohl auch eine Stärke der „Bewegung“. Wie gesagt: Alles, was irgendwie als zeitgenössisch und kritisch im Bibliothekswesen (und der Informationsnutzung) gilt, passt hinein. Ein Merkmal der Texte scheint auch zu sein, dass sie oft vom konkreten Fall ausgehend versuchen, zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Nicht immer gelingt dies nachvollziehbar, aber „die Bewegung“ scheint immer wieder dazu zu ermutigen, es zu versuchen.

Gedanken über die heutigen „Funktionen“ und den Alltag in Bibliotheken hinaus

Ein gelungenes Beispiel dafür scheint der Beitrag von Zachary Loeb im Buch.5 Loeb versucht, an Ivan Illich – dem Schul- und Bildungskritiker – anzuschliessen und versteht Bibliotheken als gesellschaftliche Tools, also Einrichtungen, die von der Gesellschaft genutzt werden. In diesem Zusammenhang interpretiert er die teilweise auftretende kritische Haltung in Bibliotheken zu Technologien nicht als Rückständigkeit, sondern als gesellschaftliche Funktion, die tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten und die Sinnhaftigkeit von Technologien zu beachten. Das ist alles recht interessant zu diskutieren, aber am bemerkenswertesten ist ein Teil des Texten, in dem Loeb über Illich hinausgeht und die „activist libraries“ – also solche, die bei sozialen Protesten, die einen festen Ort finden, immer wieder entstehen; hier vor allem die Peoples Library von Occupy Wallstreet – als Ausdruck dieser Funktion zu verstehen versucht. Er postuliert, dass an diesen Bibliotheken abgelesen werden kann, was Menschen in einer Gesellschaft eigentlich wirklich an einer Bibliothek wertschätzen (weil sie die Funktionen herstellen/bauen und anderes weglassen). Von dieser These ausgehend begreift er Bibliotheken – was insbesondere in den activist libraries sichtbar würde, aber von diesen ausgehend für andere Bibliotheken abgeleitet werden kann – als „Prototypen“ einer kommenden (nicht-kapitalistischen) Gesellschaft. Muss man dieser Überlegung folgen? Sie ist zumindest diskutabel und so voll nur möglich, weil ein Rahmen geschaffen ist, in welcher man über den Alltag direkt hinaus laut über kommende Gesellschaften nachdenken kann.

Dieser Rahmen ermöglicht auch, Thesen zur Diskussion zu stellen und zu prüfen, die an Grundüberzeugungen, wie sie aktuell vertreten werden, rütteln. Dabei geht es nicht um „alles ist falsch, ich weiss wie die Bibliotheken richtig funktionieren werden“-Texte, die sich als radikal generieren, um doch nur immer wieder bei den gleichen „Innnovation, Innovation, Innovation“-Thesen anzukommen; sondern um Fragen, die sich am Politischen orientieren – politisch im Sinn von „Wie wollen wir leben? Wie sollen wir die Gesellschaft gestalten?“ Gabriel Gomez stellt in seinem Beitrag zum Beispiel die Frage, was für ein Menschenbild eigentlich hinter den Debatten um Big Data und Informationskompetenz steht.6 Er unterstellt, dass dieses Menschenbild ein sehr mechanistisches ist, welches in behavioristischen Lerntheorien aufgeht, die Wissen über Information instrumentell verstehen (das und das ist zu machen, so und so ist es zu machen). Stattdessen müsste es eine Aufgabe von „Informationskompetenz“-Angeboten sein, dieses mechanische Menschenbild sichtbar und damit kritisierbar zu machen. Seine implizite Kritik ist, dass die bisherigen „Informationskompetenz“-Arbeit von Bibliothek dies nicht tun würde, aber das ist nicht der Punkt seines Textes. Vielmehr geht es Gomez darum, durchzudenken, wie die Diskurse um Big Data etc. tatsächlich wirken.

Jonathan Cope arbeitet innerhalb dieses Rahmen sein Unbehagen über die Entwicklung der Bibliotheken in den letzten Jahren durch.7 Sein Postulat ist, dass Bibliotheken Demokratie nicht einfach nur als eine Aufgabe behaupten und dann zum „Alltagsgeschäft“ übergehen dürften, sondern diesen Anspruch, eine demokratische Einrichtung zu sein, ernst nehmen müssen. Sie sind von der Gesellschaft, in der sie sich befinden, und den sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen um Macht und Deutungshoheiten in diesen geprägt. Es wäre ihre Aufgabe, dies sichtbar zu machen. Hier verweist er kurz auf den „general intellect“, also die gesellschaftlich erbrachte Information- bzw. Wissensgenerierung, die Marx in den „Grundrissen der Kritik der politische Ökonomie“ angeführt hat. Dieses gesellschaftlich erbrachte Wissen würde, so Marx, im Kapitalismus abgeschöpft, das heisst genutzt, um gleichzeitig Fortschritt voranzubringen und Kapital zu generieren (also vor allem in Produkte umgesetzt). Die Grundrisse sind ein Fragment, insoweit ist die Interpretation, was der „general intellect“ genau ist, schon seit ihrer Erstpublikation umstritten. Bei Cope ist es das Wissen, dass zum Beispiel auf Facebook „entsteht“, indem Menschen Informationen teilen und dies von Facebook als Wissen abgegriffen wird.8 Es wäre Aufgabe von Bibliotheken, in einer demokratischen Gesellschaft, dass aufzuzeigen. Nicht unbedingt, es zu verhindern, aber es klar zu machen. Was genau „demokratisch“ als Arbeit für Bibliotheken heissen soll, bleibt bei Cope eher oberflächlich beschrieben. Er benutzt den Raum eher, um zu fordern, dass dies theoretisch durchdrungen werden soll. Was ihm wichtig ist, ist darauf zu verweisen, dass seiner Meinung nach Bibliotheken sich im Alltagsgeschäft eher versuchen, an die BWL anzulehnen, die aktiv bestreitet, dass eine Gesellschaft und in dieser Gesellschaft soziale Auseinandersetzungen gäbe, also quasi vorschlägt, in einem gesellschaftlichen Vakuum zu operieren. Dies geht für ihn nicht einher mit dem Anspruch von Bibliotheken, demokratische Orte zu sein. Der Text ist eine Kritik an der Praxis und ein Versuch, ein Nachdenken anzuregen. (Laut dem Autor auch ein „framework“ (107) für dieses Nachdenken.)

critlib als Ermutigung zum Denken und Handeln

Um einen weiteren Text herauszugreifen, der die Möglichkeiten zeigt, die dieser Diskursraum critlib eröffnet: Wendy Highby beschreibt in ihrem Text den persönlichen Weg, den sie genommen hat, um als Bibliothekarin einer Universität in Colorado mit Informationsarbeit aktiv zu werden, als ihre Unileitung beschloss, dass Gelände, auf dem die Universität steht für das „Fracking“ (also die Methode der Erdöl-Förderung, die im Ruf steht, umweltschädlicher und gesundheitsgefährdender, dafür aber auch profitabler als andere zu sein) freizugeben.9 Quasi wurden die Lagerstätten unter der Uni zur Ausbeutung freigegeben (von einem Standort ausserhalb des Geländes, der aber auch nahe bewohnter Häuser liegt), während auf der Oberfläche der Lehr- und Forschungsbetrieb weitergeht. Highby war irritiert von dieser Entscheidung, fühlte sich aber auch alleine mit dieser Meinung. Die Unileitung hatte den Diskurs etabliert, dass nur auf diese Art die finanziellen Probleme der Einrichtung zu lösen wären und gleichzeitig die Methode risikolos für die Beschäftigten und Studierenden sei. Durch die Literatur von Henry Giroux (auch dies liesst sich zum Teil als Erweckungserlebnis) kam sie dazu, aktiver zu werden.

Sie bestimmte ihre Situation an ihrer Einrichtung, sie wies – Giroux folgend – die Vorstellung zurück, dass es eine und tatsächlich nur eine Lösung für ein Problem gäbe (hier Fracking, um die Finanzprobleme zu lösen) und das damit alle Seiten der Debatte abgedeckt wären. Zudem suchte sie andere Personen an der Uni, die ähnliche Zweifel hatten. Zusammen – hier die bibliothekarische Komponente – recherchierten sie weitere Informationen zum Fracking, zur Situation der Hochschule, zu den Auswirkungen des Fracking ausserhalb der Uni, zum Beispiel der working class area, in welcher der Standort des Fracking angesiedelt sein sollte. Über die Formierung einer Ad-Hoc-Gruppe forderten sie Rederecht bei der Universitätsleitung ein und erhielten nach einem Vortrag, bei sie strategisch betonten, dass zu der Zeit, als die Leitung ihre Entscheidung traf, noch nicht alle Informationen vorlagen, die jetzt vorliegen würden, die Möglichkeit eine nicht-offizielle aber irgendwie doch von der Leitung etablierte Arbeitsgruppe zum Thema zu formieren, welche eine Beratungsfunktion einnimmt. Damit wurden die Probleme, die mit dem Fracking aufkommen, nicht behoben; aber der Diskurs („es gibt nur diese Lösung“) verschoben hin zu einem komplexeren Bild. Ausgewirkt hatte sich das zum Zeitpunkt des Verfassen des Textes dahin, dass die Unileitung nun höhere Sicherheitsstandards für das Fracking unter dem Unigelände und beim Standort ausserhalb des Geländes einforderte.

Keine perfekte Lösung; aber Highby stellt in ihrem Text dar, wie sie über die Literatur von Henry Giroux und critlib als Diskursraum überhaupt den Antrieb gefunden hat, aktiv zu werden und zu sehen, dass sie einen Einfluss haben kann. Schon durch das Sehen, dass anderswo das Sprechen und Sich-Melden mit Informationen eine erfolgreiche Intervention darstellen kann, motivierte sie, dass auch bei sich vor Ort als möglich zu verstehen.

Was ist es nun, dieses critlib?

Gerade der letzte besprochen Text zeigt wohl, was critlib bislang in seinen besten Momenten ist: Ein Diskursraum, in welchem diejenigen im bibliothekarischen Feld, die sich als irgendwie links, progressiv, fortschrittlich sehen (und das ist heute ja schon zu verstehen als sich als demokratisch im Sinne von „es gibt in der Gesellschaft soziale Auseinandersetzungen und wir können sie besser durch demokratische Prozesse regeln, als durch Ignorieren“ und sich nicht single-minded auf ein „no alternative“-Mindset einlassend), austauschen und gegenseitig befruchten können. Ganz offensichtlich ist das für viel motivierend. Die Texte sind durchzogen von der Vorstellung, durch critlib aktuell zu einer neuen Agency für diese Themen zu gelangen, nachdem in den letzten Jahrzehnten das neoliberale Denken (also in diesem Zusammenhang vor allem die „singled-mindness“ auf ökonomische Aspekte und Erklärungen, die Vorstellung, dass nur eine ökonomische orientierte Lösung für alle Probleme möglich wäre, das Bestreiten von gesellschaftlichen Strukturen und das Überbetonen individualisierte Lösungen und Verantwortungen) vorgeherrscht und das alternative Denken an den Rand gedrängt hätte. Dabei ist es nicht mal wichtig, ob diese Vorstellung wirklich und vollständig der Realität entspringt. Es ist so oder so eine Vorstellung, die offenbar viele der Aktiven überhaupt zum Schreiben und Diskutieren motiviert.

Gleichzeitig ist critlib aktuell beschränkt auf einen US-amerikanisch/kanadischen Diskurs. Ob die „Bewegung“ jemals über diesen Rahmen hinausgehen wird, ist schwierig zu sagen. Zurzeit hat es nicht den Anschein. Beispielsweise lässt sich für die deutsch-sprachige bibliothekarische Diskussion auch eine starke Abstinenz von Theorie und gesellschaftlicher Diskussion – allerdings nicht unbedingt von Praxis, die auf soziale Herausforderungen zielt – sprechen, die manchmal den Wunsch aufkommen lässt, dass es anders wäre.10 Aber das heisst ja nicht, dass critlib deswegen tatsächlich aufgegriffen würde. (Evidence based librarianship, die vor allem kanadisch geprägte „bibliothekarische Bewegung“ der letzten Jahre, die sogar viel mehr Anschluss an ökonomisierte Diskurse bietet und deren kritischen Spitzen erst in der konkreten Anwendung sichtbarer werden, wurde ja auch nicht aufgegriffen.) Für Frankreich, wo in den Bulletin des Bibliothèques de France, der Bibliothèque(s) (also den beiden grossen Fachpublikationen) und der Presses de l’enssib (also dem Verlag der grossen Ausbildungseinrichtung für das Bibliothekswesen) ständig auch Artikel und Monographien zu sozialen Themen, mit Bezug auf Sozialwissenschaft und Philosophie erscheinen, scheint mir das recht unwahrscheinlich. Das, was im US-amerikanisch/kanadischen Bereich critlib als Diskursraum erst etabliert, scheint mir in Frankreich zu existieren.11 Ist deshalb das französische Bibliothekswesen „progressiver“ als das US-amerikanische und kanadische?

Verwirrend, aber vielleicht muss das am Anfang einer „Bewegung“ wir critlib so sein, ist der immer wieder vorgebrachte Anspruch, an kritische Theorien anzuschliessen und selber Theorie – also Erklärungen, wie die Gesellschaft und wie die Bibliotheken in der Gesellschaft funktionieren – zu produzieren, im Vergleich mit der theoretischen Beliebigkeit und Ungenauigkeit, die in den Texten offensichtlich wird. Oft scheint es sogar von Nachteil zu sein, die jeweils referenzierte Theorie tatsächlich zu kennen. Sinnvoller ist es wohl, die jeweils genamedroppten Theorien als ungefähren Ausgangspunkt für die jeweiligen Überlegungen anzusehen. Dann können diese Überlegungen zu interessanten Thesen führen – z.B. die oben zitierte von den activist libraries als Ausdruck dessen, was der Gesellschaft an Bibliotheken wichtig ist –, vor allem aber ermöglichen sie etwas, was Highby für ihren Fall schildert: Sie machen das Denken über Bibliotheken gerade auch an Punkten möglich, wo es scheint, als gäbe es nur eine Lösung, die verfolgt werden könnte, als gäbe es keine Auswirkungen dieser Lösungen, die zu beachten wäre und als gäbe es keine Alternativen. critlib erinnert daran, dass es immer andere Möglichkeiten gibt und das es eine Verantwortung ist, sich für eine (und damit gegen andere) zu entscheiden und diese Entscheidung mit ihren jeweiligen Auswirkungen zu tragen.

 

Fussnoten

1 Clara M. Chu: Preface. In Mehra & Rioux 2016:VIII-X, VIII.

2 Horkheimer, Max & Ardono, Theodor W. (2002 [1944]). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Sonderausgabe). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ardono, Theodor W. ; Frenkel-Brunswik, Else ; Levinson, Daniel & Sanford, Nevitt (1950). The authoritarian personality (Studies in prejudice). New York: Harper & Row, 1950.

3 Bekanntlich wird die „Frankfurter Schule“ in den USA gerne auf Habermas reduziert, während in der deutsch-sprachigen Literatur eher die früheren „Generationen“ als Frankfurter Schule, und Habermass als jemand mit anderer Entwicklung angesehen werden. Das ist Interpretationssache. Aber gerade die „Introduction“ in diesem Buch scheint über diese unterschiedliche Interpretation hinaus inhaltlich falsch zu sein. Es wird z.B. behauptet, die Generation um Adorno und Horckheimer hätte sich vor allem mit der deutschen Gesellschaft in den 1920er beschäftigt und wäre vor allem im „german idealism“ (5) verankert gewesen. Die zweite Generation hätte „elements of American pragmatism“ (5) eingeführt, zudem würden Lukács und Gramsci zu dieser Generation gehören. Das ist eine sehr gewagte Darstellung. Die „erste Generation“ ist eher dafür bekannt, sich mit der Shoa und deren Auswirkungen sowie mit Pädagogik befasst zu haben, als Marxisten würden sie sich gewiss nicht als Teil des „german idealism“ sehen; Lukács und Gramsci gehören eher anderen marxistischen Strömungen an (mit gegenseitigen Einflüssen). Obwohl man dies lange diskutieren könnte, ist all das am Ende egal: obwohl sie in der Introduction angeführt werden, taucht eigentlich nur noch Habermas im restlichen Buch auf. Es ist verwirrend, insbesondere wenn man die angeführten Autoren (in anderen Büchern auch Autorinnen) selber gelesen hat.

4 Zum Beispiel: Estep, Erik & Enright, Nathaniel (edit.): Class and Librarianship. Essays at the Intersection of Information, Labor and Capital. Sacramento: Library Juice, 2016. Schroeder, Robert (edit.): Critical Journeys. How 14 Librarians Came to Embrace Critical Practice. Sacramento: Library Juice, 2014. Schroeder, Robert & Hollister, Christopher V.: Librarians’ Views on Critical Theories and Critical Practices. In: Behavioral & Social Sciences Librarian 33 (2014) 2:91-119.

5 Zachary Loeb: Beyond the Prototype. Libraries as Convivial Tools in Action. In: Mehra & Rioux 2016:15-39.

6 Gabriel Gomez: Will Big Data’s Instrumentalist View of Human Behavior Change Understandings of Information Behavior and Disrupt the Empowerment of Users Through Information Literacy?. In: Mehra & Rioux 2016:41-73.

7 Jonathan Cope: The Labor of Informational Democracy. A Library and Information Science Framework for Evaluating the Democratic Potential in Socially-Generated Information. In: Mehra & Rioux 2016:75-118.

8 Vergleiche auch für die Position, dass sich daraus eigentlich die Forderung ableiten müsste, diese Arbeit sichtbar zu machen und Lohn einzufordern: Fuchs, Christian (2014): Digital Labour and Karl Marx. New York ; Abington: Routledge, 2014.

9 Wendy Highby: Beyond the Recycling Bin. The Creation of an Environment of Educated Hope on a Fracked Campus in a Disposable Community. In: Mehra & Rioux 2016:123-180.

10 Ich gebe zu, ich verstehe das oft nicht, wie man auf die Idee kommen kann, eine Einrichtung als „sozialen Treffpunkt“, „demokratische Institution“, „Ort für alle“ verstehen und konzipieren zu wollen, ohne sich Gedanken darum zu machen, wie diese Gesellschaft funktioniert. Mir ist zum Beispiel nicht klar, wie man eine „Bildungseinrichtung“ sein will, man nicht zu verstehen versucht, wie „Bildung“ überhaupt funktionieren soll. Der Rückzug auf individualisierte Ansätze wie Psychologie oder – erschreckenderweise tatsächlich vertreten – Biologie kann ja nur einen kleines Stück weit helfen. Deshalb würde ich in der bibliothekarischen Diskussion immer mehr, wenn schon nicht Diskussion über „die Bibliotheken in der kommenden Gesellschaft“ und die „kommende Gesellschaft“, so doch zumindest Bezug zu soziologischen Themen und Theorie erwarten. Aber vielleicht sehe ich das falsch und es ist einfach nur ein persönlicher Wunsch.

11 Sicherlich ist die Frage, warum nicht Kolleginnen und Kollegen aus Grossbritannien, Australien, Neuseeland an critlib partizipieren, offen. Ganz zu schweig von denen aus englisch-sprachigen Staaten des globalen Südens. Das gilt aber auch bei anderen „Bewegungen“. Offenbar ist nicht nur die Sprache ein Grund.

Über einige Bibliotheken in Ontario, Kanada

So, also, der Urlaub hat die Kollegin Eliane Blumer und mich dieses Jahr nach Ontario, Kanada (und ein wenig nach Quebec) gebracht, sowohl in die Metropole Toronto als auch 300-400 Kilometer höher in den Norden, um das Kleinstadtleben und die Parks zu sehen; so mit richtigen Touridingen wie den Niagarafällen und mit richtig kanadischen Dingen wie schlechtem Essen und echten Bären, die auf der Strasse stehen. Alles ganz nett und entspannend, aber am Rand haben wir selbstverständlich auch die Bibliotheken besucht, die sich auftaten. Nicht alle, in Toronto gibt es z.B. über 100 Branches der Public Library, die alle zu besuchen ein eigenes Projekt wäre;1 sondern eher eine Zufallsauswahl, wenn es sich halt unterwegs ergab. (Deshalb leider auch keine Bibliothek in Quebec, weil die zu hatten, als wir gerade vorbeikamen.) Die ganzen Besuche waren auch Besuche ohne Vorbereitung, d.h. ohne vorherige Anmeldung oder Recherche. Einerseits soll man im Urlaub eh nicht so viele Pläne machen, sonst wäre es kein Urlaub. Andererseits: Wenn man sich anmeldet kriegt man manchmal nicht die alltägliche, normale Nutzung mit, die mir aber immer interessanter erscheint, als vorbereitete Touren. So sieht man zwar nicht unbedingt immer die spannendsten Dinge und hört nicht unbedingt von den allerneusten, allerinnovatisten Plänen, die Bibliotheken so haben, aber man sieht die Bibliotheken so, wie sie tatsächlich genutzt werden.

Ich kann das immer nur empfehlen für längere Urlaubsreisen. Man erfährt so anderes, als in Überblicktexten zu den Bibliothekswesen in bestimmten Ländern oder in Berichten zu gerade als innovativ geltenden Bibliotheksbauten. (Protipp: reingehen, jemand finden, die oder der Verantwortlich aussieht und sich vorstellen – „We are librarians from Switzerland on a holiday trip through Canada. We take a look on every library we see.“ – und fragen, ob man Bilder machen kann. Es ist in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich, was man sozial „darf“ oder nicht darf, deshalb ist nachfragen immer gut. Oft hat man dann auch nette Gespräche, weil so eine Vorstellung ein guter Gesprächsöffner ist. Und dann einfach durchgehen und offen beobachten, nicht gleich werten – weder positiv noch negativ –, sondern akzeptieren, dass das, was man sieht, sich aus Gründen so entwickelt hat, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kennt.)

Hier ein kurzer Überblick zu diesen Besuchen.

Allgemein

Der allgemeine Eindruck ist, dass die Bibliotheken in Ontario grundsätzlich gut ausgestattet sind und auch von ihren jeweiligen Communities genutzt werden – wobei wir selbstverständlich vor allem die Nutzung während der Urlaubszeit gesehen haben – und etabliert sind. Die Standardangebote, die man in schweizerischen oder deutschen Bibliotheken der jeweils ähnlichen Grösse erwarten würde, fanden sich auch in Ontario: Gedruckte und andere Medien, Arbeits- und Leseplätze, Kinderecken, E-Books, WLAN etc. Teilweise schienen sich auch noch ältere Angebote erhalten haben, zumindest von den Infrastruktur her. Es hatte manchmal den Eindruck, als wären die 90er nicht so richtig vorbei, mit den vielen Mikrofichereadern, Hinweisschildern in Folie an den Wänden etc. Die ganz grossen Bibliotheken (insbesondere die Toronto Reference Library, die grösste Öffentliche Bibliothek in Toronto) verstehen sich explizit als innovativ. Als wir dort waren, liefen z.B. gerade die Vorbereitungen für den Maker-Day am nächsten Tag. Aber ansonsten scheint die Nutzung sehr, tja— sagen wir einmal: traditionell.

Während die deutschsprachigen bibliothekarischen Debatten von der Vorstellung geprägt scheinen, dass (a) die gedruckten Medien weniger und die anderen Nutzungsweisen mehr Raum benötigen würden und (b) man ständig neue Angebote entwerfen müsse, um „neue Zielgruppen“ „zu gewinnen“, scheinen die Bibliothek in Ontario ihren Fokus auf Bücher und Zeitschriften nicht aufgegeben zu haben und sich auch eher mit lange etablierten Angeboten zu beschäftigen. Die Öffentlichen Bibliotheken verschiedener Grössen und Communities – also in Toronto’s Innenstadt und weiter draussen, bei einer First Nation und auch in kleineren Gemeinden im Norden – waren alle mit dem gleichen Sommerleseprogramm beschäftigt. Nicht nur war dieses landesweit organisiert, sondern auch viel weiter beworben, z.B. in den U-Bahnen und Strassenbahnen Torontos, viel stärker etabliert und organisiert – bei der Nipissing First Nation wurde z.B. der Schulbus eingesetzt, um Kinder aus anderen Siedlungen für diese Veranstaltung zur Bibliothek zu bringen (während der Ferien, die gerade waren) – , als die Lesesommer-Programme in deutschen und schweizerischen Bibliotheken (die selbstverständlich für sich genommen grossartig sind), und war zudem stark inklusiv angelegt; nicht nur im „liberalen“ Toronto, sondern auch in den kleinen Bibliotheken fanden sich z.B. die Flyer dazu in Braille. Zudem war das Progamm so etabliert, dass es als vollkommen selbstverständlich galt.

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Die Bibliotheken, zumindest die Öffentlichen, haben allesamt Veranstaltungen und kleine Angebote, die zur jeweiligen Community zu passen scheinen, z.B. Veranstaltungen dazu, wie man Library Ressorces nutzen könnte, um ein kleines selbstständiges Unternehmen aufzubauen in Toronto (in der grossen Bibliotheken gleich beim Financial District) oder die Ausleihe von Angelsachen in North Bay (das direkt am Nipissing und zwischen zahllosen anderen Seen und Flüssen liegt). Aber diese Angebote standen alle relativ am Rand. Die Bibliotheken scheinen nicht so sehr davon besessen zu sein, wir in Europa, noch mehr „öffentlich“ zu werden, als sie es schon sind. Nur die grosse ÖB und die Universitätsbibliothek in Toronto (aber nicht die in North Bay) hatten ein Cafe bzw. eine Cafeteria. Die anderen… einfach nicht.

Zudem boten die Öffentlichen Bibliotheken immer einen Bestand über die lokale Geschichte, meist Sammlungen von Broschüren und Zeitungsausschnitten in einem gesonderten Schrank. Ich habe niemand gesehen, der oder die diese Sammlungen benutzte, aber auch sie gehören offenbar einfach zu einer ÖB in Ontario (und ich vermute mal, auch im Rest von Kanada).

Akzeptiert scheint, dass die Bibliotheken Angebote für Kinder machen. Sonst vor allem: Bücher, Bücher, Bücher und Plätze zum Lesen.2

Dabei, dass muss man sagen, sind die Bibliotheken sehr gut besucht. Ausserhalb der Kinderabteilungen war es überall erstaunlich ruhig, aber nicht, weil keine Menschen da waren, sondern weil sie ruhig dasassen und lasen bzw. am Rechner sassen (eher an Bibliotheksrechnern als am eigenen Laptop) bzw. durch die Regalen gingen. Eine Bibliothek haben wir z.B. besucht, gleich nachdem sie nach der Mittagspause aufmachte3 und während wir uns mit der Bibliothekarin unterhielten, kamen mehrere ältere Menschen, nahmen eine Zeitung, setzten sich in die Ecke und liessen sich von nichts mehr ablenken. Das geschah so ruhig, dass ich sie erst nach dem Gespräch bemerkte, als wir Bilder der Bibliothek machten; obwohl die Bibliothek nur aus einem (grossen) Raum bestand.

Es gibt selbstverständlich auch in Kanada Kolleginnen und Kollegen, die ständig Neues versuchen, aber ich habe von den Besuchen auch mitgenommen, dass gute Bibliotheken in Kanada, wenn sie etabliert in ihrer Community sind, nicht unbedingt ständig innovativ etc. sein müssen, sondern von vielen Menschen offenbar als offener Raum mit vielen Büchern, Arbeitsplätzen, Computern, einer ruhigen Atmosphäre und Angeboten für Kinder geschätzt und genutzt werden. (Das ist nicht polemisch gemeint. Etabliert heisst wirklich etabliert. Als es an einem Tag überheiss war, bemerkte die Moderatorin im lokalen Radio z.B., dass die Bibliothek ein super Ort wäre, um den Tag im Innern zu verbringen; eine Bibliothek, die aussah, wie seit den 1980ern nicht mehr gross verändert, aber doch so etabliert, dass für sie von anderen Werbung gemacht wird.)

Die Bibliotheken

University of Toronto: Robarts Library, iSchool, Thomas Fisher Rare Book Library

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In diesem Auswuchs des Brutalismus (was eine wirkliche Architektur-Richtung ist) befindet sich die University Library der University of Toronto (Robarts), in einem Seitenflügel die Thomas Fischer Rare Book Library und in einem anderen die iSchool, also die School of Library and Information Science.
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Auch vom Nahen ist es eine „Festung der Bücher“ (eine Bezeichnung, die sich im Gebäude tatsächlich findet).
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Man sieht dem Gebäude die 80er Jahre an. In der Bibliothek bewegt man sich frei zwischen den Etagen, aber es hat den Eindruck einer Parallelwelt.
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Ein bedienter Tresen.

Die iSchool

Thomas Fischer Rare Book Library

Der interessanteste Teil des Gebäudes ist die Rare Book Library. Hier sind die Bücher noch einmal durch einen gesonderten Zugang gesichert. Aber… imposant. Gleichzeitig ist dies (wie auch andere Teile des Gebäudes) Platz für Ausstellungen, aktuell über Lesepropaganda unter Mao.

Art Gallery of Ontario, Library

Die Art Gallery of Ontario zeigt u.a. viele kanadische Kunst (Wobei, was ist kanadische Kunst? Das ist so einfach nicht zu beantworten, da lange ein Grossteil der Kunst, die in Kanada gemacht wurde entweder ignoriert wurde – wenn sie von First Nations kam – oder sehr europäisch war, und selbst dann, als sie – mit der Gruop of Seven, wie wir gelernt haben – „kanadisch“ wurde, sehr am skandinavischer Kunst orientiert war, halt nur besessen von der „great canadian landscape“… Aber das ist eine andere Frage.) und hat eine Museumsbibliothek, die auch für die langfristige Nutzung von Forschenden genutzt wird.

Toronto Reference Library

Die grösste Öffentliche Bibliothek in Toronto ist die Reference Library. Vorne mit Café (eine Kette) und Buchladen (spezialisiert auf gut gedruckte Bücher), selber mehrere Etagen hoch und beeindruckend weitläufig, mit Infrastruktur wie Veranstaltungsflächen und schliessbare Glaskästen zum ruhigen Lernen, zudem Computercentre und Mediaspace, in dem man selber Bücher drucken kann. Teile sind offensichtlich renoviert und neu gemacht (dann auch oft mit Namen der Sponsoren), aber im ganzen hat sie auf den Charme einer etwas verbrauchten Einrichtung, die gut genutzt wird. Es ist erstaunlich ruhig. Gleichzeitig mit vollem Programm.

Die Bibliothek liegt an einer Ecke, in der aktuell die richtige Stadt (also die lebendige, mit Wohnhäusern, kleinen Geschäften, Leben auf der Strasse) von Condos und Finanzbauten (die dann selber mehrere Dutzend Etagen hoch sind) „vertrieben“ wird (d.h. abgerissen und überbaut). Das wird sich die Nutzung der Bibliothek auswirken.

Toronto: High Park Public Library, Beaches Branch Public Library

Diese beiden Filialen der Öffentlichen Bibliothek in Toronto sind beide noch in Original-Gebäuden, die als „Carnegie-Bibliotheken“ geplant und finanziert wurden untergebracht (es gibt noch eine dritte im Stadtgebiet). Carnegie hatte damals ja strenge Regeln, für welche Bibliotheken er Geld zuschoss, so dass die Strukturen immer gleich sind. Das sieht man auch in diesen Branches (die beide später Anbauten erhielten und beide fast 100 Jahre alt sind): zwei Etage, unter die Kinder und ein Veranstaltungsraum, oben der Pult an zentraler Stelle mit Überblick in den Raum, Kamin, lichtdurchlässig, diese zweite Etage auch auf das stille Lesen ausgerichtet. Obwohl umgebaut, ist die Grundstruktur immer noch klar zu sehen.

High Park Public Library

Beaches Branch Public Library

Temagami Public Library

Temagami ist eine Siedlung mit rund 850 Einwohnerinnen und Einwohnern (und, wenn ich das richtig verstanden habe, noch einer Zahl Menschen drumherum, für die diese Siedlung ein Zentrum darstellt). Direkt am Lake Temagami gelegen gibt es ein Community Center mit einer Bibliothek (es gibt auch ein Post Office, Supermarkt und Imbissstände; erstaunlich viel für 850 Personen). Angesichts dieser Lage ist die Bibliothek erstaunlich gross und hat ein sehr komplettes Angebot.

North Bay Public Library

North Bay ist eine Stadt von rund 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, etwas weniger als 400 Kilometer nördlich von Toronto, mit einer gewissen Zentrumsfunktion. Im Vergleich zu anderen Städten der Region, die wir besucht haben, erstaunlich gut funktionierend. Die kulturelle Infrastruktur ist schon erstaunlich, z.B. Hipster-Bar, Health-Shop, Comicladen etc. Die Bibliothek liegt gleich neben der City Hall (wobei die City dort steht, wo lange eine Carnegie-Library stand, die dann als City Hall genutzt wurde, als 1966 das neue Bibliotheksgebäude eröffnet wurde. Der Eindruck ist komisch: Einerseits sieht die Bibliothek verbraucht und irgendwie in der Zeit irgendwann in den 80er, 90er Jahren steckengeblieben; andererseits ist sie voll und etabliert.

Nipissing First Nation Public Library

Die Nipissing First Nation ist ebenso eine kleine Gemeinschaft von rund 1500 Menschen, in deren Siedlung Garden Village, direkt am Nipissing, gibt es neben dem Community Centre eine Public Library, untergebracht in einem eigenen Gebäude, dass von aussen nicht sehr gross, von innen dann aber doch ausreichend gross aussieht. (Benutzt wird in dieser Bibliothek die DDC. Ich hatte zuvor von der Brian Deer Classification gelesen, die von First Nations in Kanada, USA, Australien und Neuseeland verwendet werden und ganz anders funktionieren soll, als die DDC. Aber leider habe ich die nicht „in Aktion“ gefunden.)

Harris Learning Library, Nipissing University Library, North Bay

Die Nipissiong University hat einen eigenen Campus, der zwar auf dem Stadtgebiet von North Bay liegt, aber so gebaut ist, dass man sich eigentlich nicht von ihm fortbewegen muss, d.h. alles Nötige ist da: Unterrichtsräume, soziale Angebote wie Sporträume, Wohnungen, Mensa, Blick auf den See und in die Wälder, und auch einen Bibliothek. Man sieht, dass sie recht neu ist und mit Platz nicht sparen muss (was kanadisch zu sein scheint: ausser in der Mitte Torontos ist einfach alles viel grösser und weiter). Sichtbar ist auch, dass die Bibliothek eine Bibliothek zum Lernen ist, erstaunlich ist aber auch hier, wie viele Bücher in dern Regalen stehen. Zudem gibt es, was sich aus der Ausbildung von Lehrpersonen erklärt, Sammlungen von Lehrmitteln.

Sudbury, Ontario: Free Speech

Sudbury ist die nächste grosse Stadt von North Bay aus, 160.000 Einwohnerinnen und Einwohner und ganz anders als North Bay eine der Städte, wie man sie aus der Literatur von untergehenden nordamerikanischen Städten kennt. Keine Ahnung, wie die wirtschaftliche Situation tatsächlich ist, aber die Innenstadt sieht aus, als wäre sie tot. Viele freie Flächen, viele geschlossene Geschäfte und Häuser, die verfallen, viele billige Läden, eine grosse Anzahl von Menschen, die obdachlos und/oder Teil der offenen Drogenszene sind. Dazwischen aber erstaunliche Restaurants, in die man eintritt und dann in einer ganz anderen Welt ist. Wir waren in einem, dass neben leeren Geschäften liegt, von aussen aussieht, wie eine Bierkneipe, aber dann drinnen auf einmal ein italienisches Restaurant mit Comic-Stil ist. Das Essen erstaunlich gut (aber viel zu viel, diese Megaportionen). Geht man raus, füllt man sich wieder wie in einem untergehenden Stadtzentrum.

Sudbury hat Öffentliche Bibliotheken, wir haben keine besucht. Aber ich fand diesen, well, interessanten Flyer an der Ampel, der dazu einlud, den revolutionären Kommunismus kennenzulernen, mit dem man den eigenen Boss, den Vermieter, die Bullen und andere Klassen-Feinde überwinden kann. Grossartig, oder? So einfach ist es offenbar. Und vierfarbig gedruckt, weil dass ist es, wie man sich revolutionären Kommunismus vorstellt. Was ich interessant fand, war, dass die drei Veranstaltungen dazu nicht irgendwo stattfanden, sondern in drei Branches der Public Library. Ich bin mir fast sicher, dass dies nicht passiert, weil die Bibliothekarinnen und Bibliothekare dem revolutionären Kommunismus anhängen, diese Räume für die Revolution enteignet und zu „richtigem Volkseigentum“ gemacht haben, sondern weil die Bibliotheken sich als das verstehen, was in den bibliothekarischen Ethik-Text immer wieder steht: Als Ort der Freien Meinungsäusserung.

(Hier steht mehr zu der Gruppe. Vielleicht ist der Plan doch nicht so gut, wie er dargestellt wird. Überraschend…)

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Fussnoten

1 Bzw., jemand hat das schon getan und ein Ausmal-Buch daraus gemacht: http://allthelibraries.ca/.

2 Man muss aber auch erwähnen, dass wir erstaunlich viele Buchhandlungen gesehen und besucht haben. Nachdem man über die USA hört, dass dort ausserhalb der grossen Städte fast alle Buchhandlungen eingegangen seien, war es doch erstaunlich – obwohl Kanada selbstverständlich nicht die USA ist –, wie viele Bücher zu kaufen waren. Fast überall. In North Bay, dass nur etwas grösser ist als Chur, gibt es z.B. eine riesige Second Hand Buchhandlung, nach Eigenangaben mit rund 2.5 Kilometern laufenden Büchern, zudem einen Comic-Buchladen und bestimmt noch mehr Shops, die wir nicht gesehen haben (weil die Koffer eh schon zu voll waren). Und Toronto… zu viele Bücher, um sie zu tragen. Aber alleine auf dem Weg zum Glad Day – der als ersten Gay Book Store der Welt gilt, keine Frage, das der besucht werden musste – sind wir an zwei anderen Buchläden vorbei (okay, hinein) und haben andere gekonnt ignoriert. Der Tod des Buches durch die E-Books… nicht in Kanada. Das wird sich auch auf die Bibliotheken auswirken.

3 Ja, Mittagspause, wo die Bibliothek geschlossen hatte. Und das war nicht nur in dieser Bibliothek so, sondern scheint in den kleinen Gemeinden normal. Nicht nur für Bibliotheken, sondern auch z.B. für Post Offices (weshalb ich keine Postkarte aus Nöelville schicken konnte, was sehr ärgerlich ist, weil… Nöelville; wer will denn keine Post aus einer Weihnachtsstadt schicken?). Aber mit einer Diskussion um Sonntagsöffnungszeiten muss man in diesen Gemeinden gar nicht erst anfangen. In Toronto ist die Situation selbstverständlich anders.

Erinnerung: Stammtisch „Armut und Bibliotheken“ beim Bibliothekskongress, 14.03.2016

Werte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

beim letzten Bibliothekstag in Nürnberg organisierten wir einen Workshop zum Thema „Armut und Bibliotheken“, dessen Ergebnisse in der Informationspraxis 02/2015 veröffentlicht wurden (https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/ip/article/view/24186).

Gerne würden wir daran anschliessen und das Thema auf der Agenda halten. Deshalb laden wir zum Bibliothekskongress 2016 in Leipzig alle Interessierten zum Themenbereich „Armut / soziale Fragen und Bibliotheken“ zu einem zwanglosen Treffen ein. Wir würden uns gerne mit Ihnen austauschen und insbesondere die Frage besprechen, was getan werden kann, damit das Thema selber in bibliothekarischen Kreisen präsent / präsenter wird.
Wir treffen uns gerne mit Ihnen am Montag, den 14.03.2016, ab 19.00 Uhr im Café Barbakane, in der Moritzbastei (Universitätsstraße 9, Leipzig) und sind selber sehr gespannt, was ein solches Treffen bringen wird.

m.f.G.
Karsten Schuldt und Bruno Wüthrich

 

PS: Auch gerne noch einmal der Verweis auf die Mailingliste zum Thema: https://de.groups.yahoo.com/neo/groups/ArmutUndBibliothek/info.

Mailingliste „Armut und Bibliotheken“, Start

Im Rahmen des Workshops zu „Armut und Bibliotheken“, den der Kollege Wüthrich und ich auf dem Bibliothekstag in Nürnberg angeboten haben, erwähnten wir auch mehrfach, dass wir anstreben, eine Mailingliste zum Thema zu etablieren. Es gibt selbstverständlich schon zahlreiche andere Mailinglisten, aber wir haben den Eindruck, dass Fragen um Armut, Soziale Gerechtigkeit et cetera im Bezug auf das Bibliothekswesen in diesen Listen oft einigermassen untergehen. Gleichzeitig haben wir nicht nur auf dem Workshop den Eindruck gewonnen, dass es eine ganze Zahl von Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich mit dem Thema auseinanderzusetzen wünschen – sowohl im Praktischen (Was kann getan werden? Was wird getan?) als auch im Theoretischen (Was ist möglich, was nicht? Et cetera).

Wir haben den Eindruck, dass es sinnvoll wäre, eine gesonderten Ort für diese Diskussionen zu schaffen. Deshalb: Die Mailingliste ist offen für alle, die sich zum Thema äussern und austauschen wollen. Was genau dort besprochen wird, weiss noch niemand. Moderiert wird die Liste vom Kollegen Wüthrich und mir, die Infoseite findet sich hier: https://de.groups.yahoo.com/neo/groups/ArmutUndBibliothek/info, dort kann sich auch, wer möchte, eintragen unter armutundbibliothek-subscribe@yahoogroups.de. Alles weitere wird sich finden.

Neues Buch: Bibliotheken erforschen ihren Alltag.

BibliothekenerforschenihrenAlltag_Cover
Wie zu erkennen: Das Cover.

Ein bisschen Eigenwerbung: Dieser Tage erschien – wieder einmal im Simon Verlag – mein neues Buch Bibliotheken erforschen ihren Alltag. Ein Plädoyer.

Was ich mit diesem Buch tun wollte, war sehr einfach: Die Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den deutschspachigen Ländern dazu anzuregen, selber dort zu forschen, wo sie arbeiten; vor allem in den Öffentlichen Bibliotheken. Ich bin der Überzeugung, dass das möglich ist. Forschen ist eine sinnvolle Tätigkeit, die uns mehr über das Funktionieren der Gesellschaft informieren kann. Forschen ist auch eine Tätigkeit, die intellektuell anregt und den Blick schärft. Und vor allem ist Forschung nichts, was nur Menschen an Hochschulen überlassen werden muss.

Zudem gibt es eine gute Anzahl von Beispielen, in denen ausserhalb der etablierten Forschungsinstitutionen geforscht wird und das mit Erfolg, Elan und relevanten Erkenntnisfortschritten, unter anderem in Schulen im deutschsprachigen Raum oder in Bibliotheken des Auslandes, vor allem Kanadas. Alles was ich mit dem Buch tun wollte, war, dass zu zeigen und gleichzeitig denen, die in Bibliotheken arbeiten und sich über bestimmte Dinge wundern (z.B. Warum nutzen gerade diese Menschen unser Bibliothekscafe? Wie funktioniert die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Jugendgruppen bei uns? Welchen Einfluss hat das Wetter wirklich auf die Nutzung unserer Bibliothek?), zu sagen: Untersuch es doch mal. An einem etwas abwegigen Beispiel wird das im Buch mit unterschiedlichen Methoden und Fragestellungen durchgespielt, aber das ist nicht das Wichtige. Wichtig ist, dass ich einmal sagen wollte, dass niemand einen Dr. oder MA vor dem Namen (oder M.A. hinter dem Namen braucht), um sich in die methodische Beantwortung von Fragen im Bezug auf die eigene Bibliotheken zu stürzen. Wozu das führen kann? Zu mehr Wissen über das Funktionieren von Bibliotheken, zu mehr und abgesicherteren Diskussionen im Bibliothekswesen, zu mehr Spass beim Arbeiten in Bibliotheken. So zumindest meine Hoffnung (aber manchmal bin ich auch etwas naiv, ich weiss).

Ich bin dem Verlag tatsächlich dankbar, dass ich dies auch einmal in Buchform tun konnte.

Bücher-Box und Lesebank in Graubünden. Zwei Beispiele

In der Schweiz – zumindest in den kleineren Gemeinden, nicht unbedingt in der Sündenpfulhen Basel, Bern, Genf, Lausanne oder gar Zürich – scheint man teilweise mehr Vertrauen in die Ehrlichkeit der Nutzerinnen und Nutzer zu haben, als, sagen wir mal, in Berlin.

Exkurs: Caféstühle

Nicht ganz zu unrecht. Nur mal meine prägende Erfahrung: Am dem Platz, an dem ich in Chur wohne, ist am Wochenende abends immer Durchgangsverkehr von jungen Menschen auf dem Weg von dem einen Hotspot Churs (Goldgasse / Untere Gasse) zum anderen Hotspot (Welschdörfli). Das sind ungefähr fünf Minuten Laufzeit. Auf diesem Platz nun findet sich ein Café, dass zu dieser Zeit dann schon längst geschlossen hat. Dieses Café hat Stühle und Tische draussen stehen. Unabgeschlossen. Die stehen einfach da. Und jeden Freitag, Samstag und Sonntag Morgen stehen die immer noch da. Sowas würde in Berlin nie passieren. Die Tische und Stühle wären binnen kurzem in den WGs um das Cafe drumherum verteilt, auch ohne bösen Willen. (Einer meiner Mitbewohner in einer Vorstadt Berlins hat es mal fertig gebracht, in unserer Küche fünfzehn Stühle zu stappeln, die er alle nach und nach, wenn er angetrunken an einem bestimmten Café vorbeikam, mitgenommen hatte. Einfach, weil ihm das als das natürlichste Verhalten der Welt erschien, nicht etwa weil das Café schlecht gewesen wäre. Später haben wir Platz für neue Stühle gemacht, indem wir die fünfzehn Stück in der Nacht zurückbrachten.) So anders ist die Schweiz dann doch. (Vielleicht gibt es Teile Deutschlands, wo das auch klappen würde mit den Stühlen unangeschlossen lassen. Maybe. In der Schweiz erscheint das natürlicher.)

Bücher-Boxen

Deshalb gibt es aber neben mehreren Bücherschränken in kleinen schweizerischen Gemeinden Bücher-Boxen oder Lesebänke, die von Öffentlichen Bibliotheken betrieben werden. In diesen Boxen befinden sich je eine kleine Anzahl von Bibliotheksmedien sowie ein kurzer Hinweis, dass man die Bücher bitte nach dem Lesen wieder zurücklegen sollte. Ausserdem ein Heft, in welchem die Leserinnen und Leser Nachrichten hinterlassen können. Die Boxen selber stehen oft an touristisch bedeutsamen Orten, an denen aber auch Einheimische verweilen, weil es so schön ist.

Interessant ist, dass viele Bibliotheken, die solche Boxen betreiben, dies nirgends erwähnen. Nicht auf ihren Homepages, nicht in der Bibliothek (soweit ich das bisher überprüfen konnte), nicht einmal unbedingt in den Jahresberichten. Auch in der Fachpublikation für Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz, SAB-Info/Info-CLP, habe ich sie jemals erwähnt gesehen.

Zugeben muss ich, dass ich auch noch nie gesehen habe, wie jemand die Bücher-Boxen benutzte. (Daneben sitzen und knutschen, ja, dass kann man des Öfteren sehen. Aber Lesen – nein.) In den Heften allerdings stehen oft Hinweise, dass irgendwer doch Bücher aus den Boxen gelesen hat und sich jetzt dafür bedankt. Insoweit mag ich auch immer nur zur falschen Zeit geschaut haben.

Ich würde hier gerne zwei Beispiele (eines aus Arosa, eines aus Chur) zeigen, auch um darauf hinzuweisen, wie einfach dieses Angebot umgesetzt werden kann. Zumindest dann, wenn man den potentiellen Nutzerinnen und Nutzern dabei vertraut / vertrauen kann, dass die Medien nicht verschwinden oder zerstört werden, ist es eine nette Möglichkeit, die Bibliothek in der Gemeinde sichtbar zu machen. Ein wenig Risiko ist dabei, aber dafür ist das Bild, dass man von der Bibliothek vermittelt, ein sehr Gutes.

Hübsch is es, oder? Bücher-Box am Obersee in Arosa.
Die gleiche Box geöffnet. Wirklich wenig Aufwand für eine nettes Angebot.
Bitte legen Sie die Bücher wieder zurück, wenn Sie sie gelesen haben. Keine Drohung mit einer Betreibung, kein Verweis auf ein Amtsverbot. Einfach nur eine Bitte. Und ein Hinweis auf die Bibliothek auf der anderen Seite des Sees, die Strasse (und den Berg) rauf.
Eine weitere Bücher-Box in Arosa.
Lesebank auf dem Arcas (Chur). Die Ausstattung ist schon etwas aufwändiger als in Arosa. (Eine weitere Lesebank dieser Art steht im Fontanapark, wo aktuell noch eine Ausstellung, „Säen, Ernten, Glücklich sein“ zu sehen ist. Die Medien in der dortigen Lesebank bestehen aus Monographien und Bildbände der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler.)
Die geöffnete Lesebank. Rechts in der Box das Notizheft und eine „Anleitung“.
Die „Anleitung“. Ebenfalls etwas aufwendiger als in Arosa. Aber auch nicht wirklich schwer selber zu machen. Wozu auch? Alles was zu sagen ist, steht drauf.

Eine Bibliothek als Zentrum der Community (Mount Gambier)

Die Text- und Beispielsammlung Museums, Libraries and Urban Vitality [Kemp, Roger L. ; Trotta, Marcia (edit.) / Museums, Libraries and Urban Vitality : A Handbook. Jefferson ; London : McFarland Publishers, 2008] basiert auf einer einfachen, oft wiederholten These: Eine Bibliothek kann, wenn sie dazu gemacht wird, zum kulturellen Zentrum einer Community werden. Allerdings kann auch ein Museum diese Funktion einnehmen. Und: Diese These bezieht sich vor allem auf US-amerikanische (teilweise auch kanadische und australische) Kleinstädte und Settlements, nicht auf europäische Gemeinden oder auf Grossstädte. In all den Beispielen, die in diesem Buch angesprochen werden, geht es darum, dass in vielen kleinen Communities – egal ob Vorstadt, Stadtteil oder eigenständiger Gemeinde – keine wirklichen öffentlichen Plätze mehr bestehen würden. Ohne öffentliche Plätze keine Möglichkeit einer Gemeinschaft, so die Vorstellung. In solchen Gemeinden aber würden Bibliotheken und Museen die Rolle eines Community-Centres bilden können. Sie würden der Öffentlichkeit als Treffpunkt dienen, an dem sich überhaupt Gemeinschaft bilden könnte. (Und sie würden den kleinen Firmen wirtschaftliche Beratung und Daten geben können. Das ist eine weitere These, die in dem Buch mehrfach ausgebreitet wird.)

Aber stimmt das überhaupt? Erstaunlicherweise ja. Zumindest erinnerte mich das Buch an eine Bibliothek, die ich während meines Urlaubs besuchen konnte. Was mich traurig gemacht hat, den der Urlaub ist es schon eine so lange Weile her und jetzt ist wieder die Arbeit angesagt… Anyway.

Ich war damals von der Bibliothek begeistert, aber zu faul etwas über sie zu schreiben, also hole ich das mal nach.

Mount Gambier

Mount Gambier ist keine wirklich grosse Stadt, aber wirklich grosse Städte gibt es in Australien eh nur wenige (Wie auch, wenn von 22,5 Millionen Menschen allein in Sydney 3,6, 3,4 in Melbourne, 1.2 in Adelaide und 1.6 in Perth wohnen?). 23.400 Menschen, gelegen in South Australia, praktisch direkt an der Grenze zu Victoria und auch direkt am Ozean. Das Stadtzentrum eher weitläufig. Und interessanterweise ist dieses Stadtzentrum jetzt auch nicht wirklich unwirtlich, zumindest nicht so, wie in anderen Städten an der Küste. Im Zentrum der Stadt findet sich sogar ein kleiner, aber sehr schöner viktorianischer Park, Cave Garden, welcher sich um eine kleine Grotte gruppiert, in der täglich eine Show zur Stadtgeschichte und eine Aboriginal Dream Time stattfinden. (Berühmt ist eigentlich auch ein Vulkansee in der Stadt, aber ehrlich… der Park ist imposanter.)

Cave Garden (Mount Gambier)
Cave im Cave Garden (Mount Gambier)

Ansonsten ist die Stadt flach, eingeschossige Gebäude prägen – wie fast überall in Australien ausserhalb der Grossstädte – das Stadtbild, was nach einer Weile langweilig werden kann. Aber: Mittendrin steht, auf den ersten Blick unauffällig, die Bibliothek, ebenfalls auf einem Geschoss untergebracht. Auffällig an der Einrichtung ist zuerst das Café welches direkt in der Bibliothek betrieben wird.

Blick ins Café. So sieht das aus in der Bibliothek…

Beim zweiten Blick fällt auf, wie neu die gesamte Bibliothek eigentlich ist. Insbesondere, da wir auf unserem Trip die ganzen Tage vorher zwar auch immer Bibliotheken in Melbourne und den kleinen Städten an der Great Ocean Road gesehen haben, die aber eher so aussahen, als wären sie das letzte Mal in den 1980er Jahren renoviert worden.

Warum ist das so? Eine Kollegin in der Bibliothek war so nett, es mir zu erkläutern. Noch vor einigen Jahren hatte auch Mount Gambier eine solche eher veraltete Bibliothek, dann aber wurde beschlossen, sie zu erneuern. Diese Erneuerung ging einher mit mehreren Befragungen und Informationsveranstaltungen bei und für die lokale Bevölkerung. Gefragt wurde, welche Einrichtung die Bevölkerung als sinnvoll ansehen würde. Heraus kam eine Bibliothek, die wohl den internationalen Debatten um die (Öffentliche) Bibliothek als Raum entspricht, aber auch in dieser Form von der Bevölkerung gewünscht wurde.

Zuerstallererst versteht sich die Bibliothek als community space:

Our place reinvents ‚library‘ as a state-of-the-art multipurpose community space totally relevant to its location. It’s a place where practicality takes on fantasy to draw people of all ages to an information-rich gathering place at the heart of our community, adding immeasurably to creative and intellectual life. [Mount Gambier Library / Learn – Connect – Explore (ohne Jahr), p. 2]

Dies zeigt sich darin, dass die Bibliothek vor allem für eine flexible Nutzung ausgelegt ist. Gruppenräume, Rückzugsecken, Jugendbereich (beziehungsweise: „A youth lounge area, complete with PlayStation 3 consoles, magazines, televisions and three specially commissioned ‚youth chairs’“ [Mount Gambier Library, a.a.O., p. 12], eine Kinderzone, die gleichzeitig Platz für Familien zum Spielen hat, das schon beschriebene Cafe direkt in der Bibliothek, ein ständiges Veranstaltungsprogramm, Infopanels, die Veranstaltungen und Kurse anpreisen, helle Farben, eine Bibliothekarin, die durch die Gänge streunt und gezielt Hilfe anbietet. Ausserdem der in Australien verbreitete Brauch, dass niemand Jacken oder Taschen abzugeben braucht, um eine Bibliothek zu benutzen, der relaxte und offene Umgang, die Freundlichkeit des Personals (Obgleich die sehr australisch zu sein scheint. Wer schon glaubt, in der Schweiz wären die Leute so viel freundlicher als in Deutschland wird sich in Australien wundern, wie offen und nett Menschen sein können. [Solange man sich selber nicht als Arsch benimmt, was über Backpacker leider oft berichtet wird – oder halt die falsch Hauptfarbe hat. Alles ist auch nicht gut dort unten, man sagt das Wort racism nicht, aber…])

Gleichzeitig, so erklärt die schon zitierte Broschüre der Bibliothek, aber auch die Kollegin vor Ort, versteht sich die Bibliothek als offener Treffpunkt, was auch in der Architektur, die mittels einer enormen Terasse weit über die Bibliothek selber hinausgreift, vermittelt wird. Hier findet sich auch der einzige Ort in der Stadt, wo es schnelles und kostenlosen Internet gibt (für uns TouristInnen glücklicherweise ohne jede Anmeldung). Das mag in Europa niemand erstaunen, aber das Internet in Australien ist so erstaunlich 1990er, dass es relevant ist. In Australien zahlt man immer noch extra für schnelleres Internet, an vielen Orten wird die Nutzung noch immer nach Downloadmenge berechnet. (In Hotels heisst „freies Internet“ zumeist 50 MB pro Tag, 200 MB pro Tag. Alles andere kostet extra.) Selbst in Melbourne ist schnelles unnd freies Internet eine Ausnahme. Eigentlich ist es nur in Universitäten, Bibliotheken und am Federation Square zu finden. [Zum Projekt, welches dieses Problem endlich angehen will, siehe Dias, Marcos Pereira / Australia’s project for universal broadband access: From policy to social potential. In: First Monday 17 (2012) 9, http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/view/4114/3299]

Der Bibliothek in Mount Gambier, um darauf zurückzukommen, gelingt es so tatsächlich einen Mittelpunkt der Community zu bilden, direkt bei den Einkaufmöglichkeiten. (Oder genauer: direkt an der Grenze zwischen den Multistores wie Target und den kleinen Geschäften in der Innenstadt.)

Eingang zur Mount Gambier Library
Beim Target auf dem Parkplatz stehen, die Library sehen.

Wir besuchten die Bibliothek an einem späten Vormittag unter der Woche, dass heisst über die Nutzung die gesamte Woche entlang (oder auch nur der Kulturveranstaltungen der Bibliothek) kann ich nichts sagen. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt sassen im Café mehrere Gruppen von Seniorinnen und Senioren, die das offensichtlich des Öfteren dort tun, in die ruhigen Orte der Bibliothek hatten sich Personen zum Lesen und Lernen zurückgezogen, einige Familien spielten in der Familienzone.

Falls eine Bibliothek tatsächlich, wie es in Museums, Libraries and Urban Vitality postuliert wird, dazu beitragen kann, die Communities in kleinen Städten zu beleben, dann solche Einrichtungen, wie die in Mount Gambier.

Zielführend ist dabei offenbar gar nicht so sehr, sich an anderen Bibliotheken zu orientieren, sondern sich auf die lokale Gemeinschaft einzulassen. Das dabei immer wieder ähnliche Lösungen herauskommen (viele der in Museums, Libraries and Urban Vitality beschriebene Bibliotheken ähneln der in Mount Gambier), hat seinen Grund wohl darin, dass die Interessen der Communities ähnlich sind.

Trend zur Gemeinschafts-Orientierung

Dabei ist Mount Gambier nicht alleine mit dieser Entwicklung. Wie gesagt: Eine ganze Anzahl der Bibliotheken in Australien sieht – wie allerdings eh vieles in diesem Land – aus, als wären sie direkt aus den 1980er Jahren herübergebeamt worden. Aber das scheint sich auch zu ändern. Die State Library of South Australia in Adelaide hat zum Beispiel an ihre Eingangstür folgendes geschrieben:

Our vision: To provide unique, flexible, accessible, community focused facilities that inspire and stimulate community life“

Man beachte: Nicht Standards, nicht bibliothekarische Werte, nicht irgendwelche Rankingplätze, sondern „to inspire and stimlate community life“ steht im Mittelpunkt. Nicht die Bestandswünsche von Nutzerinnen und Nutzern, nicht die Informationskompetenz, sondern ein vitales „community life“ gilt als Leitziel. Und das, obwohl diese Bibliothek an vielen Stellen selber historisch aussieht.

Eingang der (noch) geschlossenen State Library of South Australia (Adelaide).

Auch in Bendigo, einer Kleinstadt „in der Nähe“ von Melbourne (was halt so Nähe heisst in Australien, zwei Stunden zügige Fahrt, zweieinhalb, wenn man die Mautstrassen umfährt) wird aktuell die Bibliothek komplett umgebaut und zwar genau zu dem Community Center, dass in Mount Gambier quasi schon steht. Insoweit scheint es sich um eine gewisse Tendenz zu handeln, auf die Community zu hören.

Ankündigung: Die Library in Bendigo wird ganz anders.
Ankündigung: Für die Bauzeit wird umgezogen.
Hier (direkt an die Hauptstrasse gegenüber dem grossen Park in der Mitte der Stadt) zieht sie solange hin.

Wie gesagt: Nicht alles ist perfekt down under, aber einige Bibliotheken sind grossartig. Zu fragen wären, ob daraus auch etwas für kleine Gemeinden in Europa zu lernen ist. Das ist keine einfache Frage. In Museums, Libraries and Urban Vitality wird immer wieder die These aufgestellt, dass europäische Städte, auch kleine, eine urbane Lebendigkeit hätten, die in den USA, Kanada oder Australien teilweise erst (wieder) über Bibliotheken oder Museen hergestellt werden müsste. Nimmt man das ernst, bräuchte es in Europa keine Bibliotheken als Community Center. Mir scheint aber, dass die Vorstellung von der urbanen Lebendigkeit in kleinen Gemeinden in Europa vom US-amerikanischen Fokus der meisten Autorinnen und Autoren her in dem Buch vollkommen überschätzt wird. Zudem ist die lokale Gemeinschaft auch nicht alles. Aber: Das ist eine andere Diskussion. Ich kann hie rnur kurz andeuten, dass sie geführt werden sollte.

Jetzt erstmal: Wer zufällig mal in Mount Gambier (oder demnächst auch Bendigo) vorbeikommt, sollte in die dortigen Bibliotheken schauen. Sie sind sehr erfrischend offen und lebendig.