Sollten (auch) Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

In diesem Blogpost möchte ich eine Frage diskutieren, bei der ich mir schon denken kann, dass sie nicht allen gefällt. Mir ist klar, dass irgendjemand zumindest denken wird, wie falsch das ist, dass ich ausgerechnet als Deutscher in die Schweiz komme und dann den Schweizer Bibliotheken dieses Thema auftische (auch wenn es jetzt erstaunlicherweise schon zehn Jahre sind, die ich hier bin). Und dennoch, die Frage drängt sich immer wieder auf. In den Kunstmuseen der Schweiz wird sie jetzt laut thematisiert. Selbst wenn ich sie nicht anspreche, wird irgendjemand anders es machen. Sie ist einfach zu naheliegend.

Deshalb: Sollten Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

Die Frage impliziert, dass sie es bislang nicht tun. Ich kann da falsch liegen, aber mir ist kein Projekt, kein Arbeitsgang, kein Ansatz dazu bekannt. Zumindest als grösser besprochenes Thema ist es mir noch nicht untergekommen. Ich werde im Folgenden (1) kurz thematisieren, wie sich die Situation gerade in Kunstmuseen der Schweiz darstellt, (2) wie sie in deutschen und österreichischen Bibliotheken ist, (3) dann diskutieren, ob die schweizerischen Bibliotheken sich überhaupt die Frage stellen sollten, ob sie auch vom NS-Regime in den Nachbarländern profitiert haben. Ganz am Ende (4) gehe ich nochmal darauf ein, wie Bibliotheken in der Schweiz vorgehen könnten, wenn sie die Initiative übernehmen wollen (und nicht erst darauf warten wollen, dass es zu einem Skandal kommt und sie dann dazu getrieben werden).

1. Das kontaminierte Museum

Ein Buch, dass aktuell recht gut herumgeht, ist «Das kontaminierte Museum» von Erich Keller (Keller 2021). In diesem geht es um die Sammlung Bührle, welche jetzt für zwanzig Jahre im Kunsthaus Zürich ausgestellt ist. Emil Bührle war, wie man aus dem Buch lernt – wenn man es nicht schon vorher wusste –, einer der Industriellen, welche von der Schweiz aus während des NS die deutsche Wehrmacht mit bewaffnete (und vorher, dafür ist er erst aus Deutschland in den Schweiz eingewandert, illegal die Bewaffnung dieser Armee während der Weimarer Republik): In seinen Fabriken wurden in der Schweiz Waffen und Munition hergestellt, die zu grossen Teilen an die Wehrmacht verkauft wurden (später aber auch an die Alliierten, als dies geographisch möglich war).

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Gewinnen dieser Geschäfte der Aufbau einer privaten Kunstsammlung finanziert. Dabei profitierte Bührle direkt und indirekt vom nationalsozialistischen Staat. Der Kunstmarkt in Europa war damals davon geprägt, dass Menschen direkt und indirekt gezwungen wurden, die Kunstwerke, die ihnen gehörten, zu verkaufen (zum Beispiel um überhaupt fliehen zu können oder um im Exil zu überleben). Und davon, dass Kunstwerke beschlagnahmt und in grossen Massen wieder direkt im Auftrag des NS-Staats verkauft beziehungsweise versteigert wurden. Dies hatte Auswirkungen bis nach 1945.

Bührle konnte so für relativ wenig Mittel eine Sammlung anlegen und sich gleichzeitig als Mäzen des Kunsthauses Zürich etablieren. Im Buch von Keller geht es darum, wie diese Sammlung – die lange in einem Privatmuseum gezeigt wurde – quasi moralisch «gewaschen» wurde und heute als unbedenklich im aktuellen Neubau des Kunsthauses gezeigt wird. Es geht im Buch auch darum, wie die Politik in eine Studie zur Herkunft der Sammlung eingriff, wie die Familie und Stiftung Bührle versuchte, sich selber moralisch rein zu waschen und auch, wie sich die Sammlung in die Konzepte der Aufwertung der Stadt Zürich einfügte. (Er skandalisiert auch, dass dies gerade in einer rot-grün regierten Stadt passierte.)

Es ist also ein angriffiges Buch, aber mit gutem Grund. Was mich hier aber interessiert sind zwei Sachen: Keller zeigt anhand der Bührle-Sammlung, dass in der Schweiz selbstverständlich auch direkt und indirekt vom NS profitiert wurde. (Das ist nicht neu, es macht aber den Eindruck, als müsste man erstaunlich oft daran erinnern.) Und gleichzeitig zeigt er auch, wie Provenienzforschung dazu genutzt werden kann, die historische Verantwortung, die mit diesem Fakt einhergeht, zu verdecken oder aber anzugehen. Die Bührle-Stiftung legte nämlich eine eigene Forschung vor, die zeigen sollte, dass praktisch alle Bilder in der Sammlung eine ausreichend gesicherte Provenienz haben – und sprach sich dabei immer wieder von moralischen Fragen frei.

Dem entgegen steht, wieder bezogen auf die Schweiz, vor allem das Kunstmuseum Bern und das Kunstmuseum Basel. Beide betreiben seit einigen Jahren auch Provenienzforschung und gehen dabei anders vor als die Bührle-Stiftung und das Kunsthaus Zürich. Bei ihnen geht es nicht darum, möglichst keine moralischen Fragen aufkommen zu lassen, sondern sich diesen zu stellen. Im Fokus steht oft das Kunstmuseum in Bern, welches 2014 in den Besitz der Gurlitt Sammlung gelangte, nachdem es ihr im Testament Cornelius Gurlitts‘ zuerkannt wurde.

Zur Erinnerung: Cornelius Gurlitt war der Sohn des Kunsthändlers Hildebrandt Gurlitt. Dieser wurde 1930 unter anderem durch die NSDAP aus seinem Amt als Leiter des König-Albert Museums in Zwickau entlassen, weil er dort vor allem moderne Kunst förderte und weil er jüdische Vorfahren hatte. Er arbeitet dann nach 1930 und während des NS als Kunsthändler – und zwar auch als einer derer, welche vom NS-Staat eingesetzt wurden, um im grossen Stil beschlagnahmte Kunst zu veräussern. 2012 dann wurden bei Cornelius Gurlitt rund 1500 Werke der Sammlung seines Vaters entdeckt, die praktisch dann erst einmal alle unter Raubgut-Verdacht standen. Die Situation Gurlitts, des Vaters, einerseits gut in der Kunstszene der 1920er und 1930er vernetzt gewesen zu sein, andererseits sich mit dem NS arrangieren zu können, liess nicht klar erkennen, woher diese Bilder stammten und unter welchen Umständen sie erworben wurden. Als das Kunstmuseum Bern dieses Erbe annahm, übernahm es auch die Verantwortung, die Provenienzen dieser Bilder zu klären. Bislang bestätigte sich der Raubkunstverdacht nur bei wenigen Werken, bei anderen ist die Provenienz nicht zu klären.

Es ist also auch in der Schweiz möglich, dass ein Museum sich zu fragen beginnt, woher eigentlich die Werke in seinem Besitz stammen und welche moralischen Fragen sich an diesen Besitz knüpfen. Die Gurlitt Sammlung kam von aussen an das Museum und es ist auch auffällig, dass erst damit eine regelrechte Provenienzforschung eingerichtet wurde. So, als wäre es bei der anderen Sammlung in Bern nicht notwendig gewesen. Dem steht aber nicht gegenüber, das die Bührle-Stiftung es immerhin als notwendig ansah, moralischen Verdacht an ihrer Sammlung (mehr oder weniger erfolgreich) auszuräumen, sondern auch, dass das Kunstmuseum Basel von sich aus in den letzten Jahren begann, die Herkunft der eigenen Sammlung zu hinterfragen und auch – wie das Kunstmuseum Bern – Werke zu restituieren, wenn sich ein Raubkunstverdach erhärtet.

Es gibt also verschiedene Möglichkeiten und es ist eine Entscheidung der Museen (und vielleicht der Politik der jeweiligen Stadt und anderen Träger), wie mit diesem historischen Erbe umgegangen wird.

Was diese Beispiele aber auch zeigen, ist, dass ein Verdrängen der Fragen nur den Zeitpunkt verschiebt, wann sie auftauchen und angegangen werden. Man kann nicht einfach hoffen, dass sie verschwinden werden, sondern muss als Einrichtung immer damit rechnen, dass sie wieder auftauchen. Oft als Skandal. Nur, wenn sich ihnen aktiv gestellt wird, kann man dies irgendwann ausschliessen. (Ganz abgesehen von der moralischen Frage, ob man überhaupt hoffen sollte, dass sie irgendwann, irgendwie vergessen gehen.)

Und: Es ist ja auch nicht so, als hätte die Schweiz keine Erfahrung mit problematischen Geschichten, die verdrängt wurden und dann doch wieder auftauchten. In den letzten Jahren sind zum Beispiel so viele Publikationen zur Verbindung der Schweiz zum Kolonialismus (direkt (Falk et al. 2013, Purtschert & Fischer-Tiné 2015) und indirekt (Schär 2015)) erschienen, dass niemand mehr ernsthaft behaupten kann, dass es diese Verbindungen nicht gegeben hätte. Und jetzt – wieder sichtbarer in Museen als in anderen Bereichen – muss sich damit auseinandergesetzt werden. Vorher war es die Geschichte der «Verdingkinder» und der „Administrativen Versorgungen“ in der Schweiz, mit der sich die Öffentlichkeit und die Strukturen von Politik, Verwaltung und Jugendhilfe auseinandersetzen mussten. (beispielsweise Leuenberger et al. 2011, Guggisberg 2016, Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen 2019)

2. Provenienzforschung in deutschen und österreichischen Bibliotheken

Auch in Deutschland und Österreich dauerte es Jahrzehnte, bis sich Bibliotheken der Verantwortung im Bezug auf den NS stellten. Wirklich begann dies erst Ende der 1990er Jahre, unterstützt durch die «Washingtoner Principles» (zu denen siehe zum Beispiel bei Sarr & Savoy 2018, Hoffrath 2020), nachdem längst alle Beteiligten das Bibliothekswesen verlassen hatten (entweder in Rente waren oder tot). Aber was damals als Einzelprojekte begann, ist heute eine gewissermassen professionelle Organisation:

  • Bibliotheken haben sich Wissen dazu angeeignet – mit Rückgriff auf historische Methodiken, aber auch der Arbeit am Bestand selber – wie vorzugehen ist, um mögliche Problemfälle im Bestand zu identifizieren und zu überprüfen, um Forschungen zur Herkunft von Büchern anzustellen und, im Falle, dass sich ihre Provenienz als problematisch herausstellt, Kontakt zu Erben herzustellen und mit ihnen über die Rückgabe der betroffenen Bücher zu verhandeln. Es gibt etablierte Arbeitsabläufe.
  • Das es solche Bestände gibt und das es notwendig ist, die moralische Schuld zu übernehmen, ist heute im deutschen und österreichischen Bibliothekswesen eine etablierte Position. Auf Konferenzen werden Veranstaltungen zum Thema organisiert, auf denen es oft mehr um Detailfragen beim methodischen Vorgehen oder um Fragen der Ausweitung der Provenienzforschung geht und gar nicht mehr – weil das geklärt ist – um moralische Fragen. Publikationen zum Thema – sowohl als Monographien als auch eigenständige Artikel – sind so zahlreich, dass sich kaum noch zu überblicken sind. (nur drei: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern 2007, Bödeker & Bötte 2008, Hoffrath 2020) Mit der «DBV Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung», der «VÖB AG NS-Provenienzforschung» und – etwas umständlich – der AG Provenienzforschung in Bibliotheken im Arbeitskreis Provenienzforschung (sonst eher von Museen geprägt) existieren auch etablierte Strukturen für dieses Thema.
  • Die Erfahrung ist zweigeteilt: Erstens findet sich sehr viel «NS-Gut» in den deutschen und österreichischen Bibliotheken, wenn man nur genau schaut. Nicht nur solches, dass direkt Opfern des NS entzogen und in Bibliotheken untergebracht wurden, sondern auch solches, bei dem es mehrere Schritte gab zwischen diesen Opfern und den Bibliotheken, in denen die Bücher jetzt stehen (beispielsweise den Antiquariatsbuchhandel oder auch andere Bibliotheken). Es ist auch klargeworden, dass es nicht eine oder zwei Opfergruppen gibt, von denen Bücher entzogen worden. Es geht nicht nur um Bücher, die Jüd*innen entzogen wurden, sondern auch um solche von, zum Beispiel, Freimauer-Logen, sozialistischen, kommunistischen, sozialdemokratischen und ähnlichen Parteien, Gruppen, Gewerkschaften, oder auch aus Bibliotheken besetzter Länder. Zweitens aber zeigt sich auch, dass eine Provenienz als NS-Gut nicht immer heisst, dass diese Bücher aus dem Bestand der Bibliothek entfernt werden müssen. Eine Anzahl von Erben nehmen die Bücher wieder an sich – was ja auch ihr gutes Recht ist –, aber andere lassen die Bücher in den Bibliotheken stehen, mit einem Verweis in den Büchern und Katalogen. Warum wird unterschiedliche Gründe haben, aber oft wird erwähnt, dass es darum geht, eine Erinnerung an die Opfer an den Orten zu lassen, in denen sie lebten (oder als Organisationen aktiv waren). Oft sind also Einigungen möglich – wenn sich Bibliotheken ihrer Verantwortung stellen.
  • In den letzten Jahren weiten sich auch die Themen aus, über die in der Provenienzforschung gesprochen wird. Schaut man heute auf die Homepage der erwähnten DBV-Kommission, werden neben dem NS auch im Zweiten Weltkrieg «verlagertes Gut», Kolonialismus und DDR-Unrecht erwähnt. Die – im Falle dieser Kommission deutsche – Geschichte ist voller Verbrechen (die man nicht miteinander vergleichen sollte, sie sind alle für sich zu bewerten), in denen es auch oft um Bücher und Wissen ging. Es werden wohl noch einige dazukommen, mit denen sich die Kommission in Zukunft beschäftigen wird.

3. Ist die Schweiz so «schuldig», dass Bibliotheken sich damit beschäftigen müssen?

Wenn ich gerade gesagt habe, dass die deutsche Geschichte noch eine ganze Zahl an Verbrechen oder moralisch schwierige Punkte hat, auf die die bibliothekarische Provenienzforschung auch noch stossen wird, ist das kein Problem für mich. Das ist das Land, aus dem ich stamme (also, auch nicht wirklich – geboren und aufgewachsen in der DDR ist das auch noch mal eine besondere Situation), und ich war nie mit ihm oder seiner Politik zufrieden (auch wenn es immer schlimmer sein könnte). Schwierige Punkte der deutschen Geschichte aufzählen – da kann ich immer mitmachen.

Aber zumindest bislang habe ich die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht. Ein wenig habe ich schon Bedenken, vor allem mit der deutschen Geschichte im Rücken, als jemand daherzukommen und die Bibliotheken hierzulande moralisch zu bewerten. Ich hoffe, dass sie es selber machen. (Im Museumsbereich passiert dies ja.)

Denn, wie schon bei der Bührle-Sammlung zu lernen war, geht es nicht unbedingt um rechtliche Fragen. Es geht auch nicht darum, welche Bibliothek damals «etwas falsch gemacht hat». Fast alle Beteiligten sind – wie hart das auch klingen mag – jetzt tot. Es geht um moralische Fragen, nicht mehr darum, wer für per Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es geht, so wie es Keller (2021) in seinem Buch über die Bührle-Sammlung darstellt, um die Entscheidungen, die heute in der schweizerischen Gesellschaft getroffen werden.

Deshalb möchte ich hier, in diesem Abschnitt, aber etwas anderes fragen, dass nicht gleich als moralischer Vorwurf verstanden werden kann: Wie wahrscheinlich ist denn überhaupt, dass in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut steht?

Ein Argument nämlich, dass – wie man am Beispiel der Bührle-Sammlung lernen kann – vorgebracht werden könnte, ist, dass die Schweiz nicht am NS beteiligt gewesen sei, sondern ein demokratischen Hafen geblieben wäre. Das ist selbstverständlich historisch falsch: Die Schweiz war immer Teil von Netzwerken mit den umgebenden Ländern (Tanner 2015) und die waren, mit Ausnahme Liechtensteins, halt über mehrere Jahre nationalsozialistisch oder faschistisch. Das die Schweiz mit dieser Realität umgehen musste und dabei nicht immer die moralisch richtigsten Entscheidungen getroffen hat, ist eigentlich seit dem Abschlussbericht der Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002) etabliertes Wissen. Nicht zuletzt wurde oben ja schon mit Emil Bührle eine Person angesprochen, die genau von dieser Situation profitierte. (Keller 2021)

Aber es ist richtig: Es wäre überraschend, wenn Bibliotheken in der Schweiz direkt und ohne Umwege zum Beispiel von der Gestapo Bestände, die von Opfern des NS eingezogen wurden, überlassen worden wärem. Das passierte eher in Deutschland in seiner damaligen Ausdehnung. (Ob es wirklich nicht vorkam, das könnte man aber nur mittels historischer Forschung klären.)

Aber indirekt können schweizerische Bibliotheken sehr wohl profitiert haben. Der NS führte auch zu moralischen Problemen, die über ihn hinausgingen. Ein Beispiel, über das Anatole Stebouraka (2019) berichtet: Am Ende des Zweiten Weltkrieges konfizierte die Rote Armee in Deutschland unter anderem Buchbestände und Kunstobjekte in grosser Zahl, die alle in die Sowjetunion verbracht wurden. Die Begründung dafür war, dass diese als Reparationen für die Sammlungen dienen sollten, welche die Nazis aus der Sowjetunion entwendet oder zerstört hatten. Genauso wie das Vorgehen der Nazis war dieses Vorgehen nach internationalem Recht nicht wirklich gedeckt. Die Haager Landkriegsordnung steht dem entgegen. Aber – die moralische Position war für die Rote Armee haltbarer. Die systematische Zerstörung der Bibliotheken in der Sowjetunion war Realität gewesen. Die Idee, dafür Bücher aus deutschen Bibliotheken als Ausgleich zu konfizieren, ist zumindest nachvollziehbarer. Und: Ohne NS wäre es dazu nie gekommen.

Allerdings, das ist der Punkt bei Stebouraka, ist dies moralisch durch die verflossene Geschichte noch schwieriger geworden. Sie arbeitet selber in der belorussischen Nationalbibliothek in Minsk, dort lagern immer noch einige der damals von der Roten Armee konfizierten Bestände. Weissrussland ist ein Nachfolgestaat der Sowjetunion – aber ist es auch der moralische Nachfolger? Und: Die Bestände dort in Minsk sind in Teilen nicht direkt aus Deutschland, sondern offensichtlich zuerst von den Nazis aus französischen Bibliotheken zusammengetragen worden. Die Rote Armee hat also einmal gestohlene Bestände noch einmal gestohlen. Sollten die jetzt nach Frankreich zurückgegeben werden? Sollte dafür dann zum Beispiel von Deutschland oder Österreich eine Reparation eingefordert werden, weil sie ja eigentlich als Ersatz für zerstörte sowjetische Bestände galten? Stebouraka hat keine Antwort darauf. Aber ihre Geschichte zeigt, wie verzweigt die Fragen sein können. Es geht nicht nur um direkte Beziehungen zum NS-Staat.

Nimmt man zusammen, was man zum Beispiel über den Kunstmarkt während des NS, aus der Provenienzforschung in Bibliotheken, aus der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert und halt solche Geschichten wie der eben erzählten weiss, so finden sich mehrere theoretische Möglichkeiten, wie Bibliotheken in der Schweiz von Notlagen, die der NS geschaffen hatte, profitiert haben könnten:

  • Der Buchmarkt in Europa war, durch die ständigen Konfizierungen, «überschwemmt», genauso wie der Kunstmarkt: Der NS-Staat versuchte bekanntlich die Kunst, die er offiziell ablehnte, zu verkaufen, um Mittel für andere Zwecke zu erhalten. Gleichzeitig waren immer mehr Menschen gezwungen, selber Mittel aufzubringen, um vor den Nazis fliehen zu können, und mussten in dieser Notlage nicht nur für ihre Kunstwerke, sondern zum Beispiel auch für ihre Bücher, praktisch jeden Preis annehmen. Bücher, genauso wie Kunst, waren auf einmal in den 1930ern und 1940er Jahren in grosser Zahl und zu geringen Preisen auf dem Buchmarkt zu erhalten. Es wäre erstaunlich, wenn Bibliotheken in der Schweiz diese Möglichkeiten nicht auch genutzt hätten (schon weil die meisten dieser Bücher wohl in Landessprachen der Schweiz geschrieben waren) – zumal sie nicht einmal direkt über deutsche Antiquariate gehen mussten, falls sie moralische Bedenken gehabt haben. Auch, zum Beispiel, in Frankreich profitierte der Kunstmarkt und wohl auch der Buchmarkt. Und selbstverständlich konnte auch der schweizerische Buchhandel als Schnittpunkt agieren. (Keller 2018 deutet dies z.B. gerade für den kommunistischen zürcher Buchhändler Theo Pinkus an.)
  • Bibliotheken in Deutschland erhielten direkt Bücher aus den Konfizierungen oder aber konnten bei Versteigerungen, Verkäufen und so weiter billig an diese gelangen. Ein guter Teil davon werden Dubletten gewesen sein, die dann im normalen Dublettentauschen zwischen Bibliotheken eingesetzt werden konnten. Auch auf diesem Weg konnte NS-Raubgut in schweizerische Bibliotheken gelangen.
  • Einige Menschen konnten dem NS entfliehen und von diesen wieder einige konnten Teile ihres Eigentums mitnehmen. Auch in die Schweiz. Dort waren sie dann darauf angewiesen, ihr Überleben irgendwie zu sichern. Viele taten dies zumindest für eine Zeit, indem sie das veräusserten, was sie hatten. Auch so konnte (das wieder ein Beispiel aus der Bührle-Sammlung (Keller 2021)) zum Beispiel Kunst billig erworben werden – weil Menschen irgendwie überleben mussten. Es ist gut möglich, dass dies auch für Bücher galt. Waren diese Verkäufe, falls es sie gab, rechtlich einwandfrei? Bestimmt. Die Frage wäre aber, waren sie es dann auch moralisch?

4. Wie könnten schweizerische Bibliotheken vorgehen?

Ist das überzeugend? Vielleicht nicht für alle. Aber ist es nicht zumindest so, dass der Verdacht stark ist, dass auch in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut und Bücher, die dort nur wegen der Zwangslagen, die der NS produzierte, stehen, zu finden sind? Zumal grosse Bibliotheken in der Schweiz grosse historische Sammlungen haben, weil sie auch heute noch wenig aus dem Bestand entfernen – also auch Bücher, die in den 1930ern und 1940ern erworben wurden, noch zu grossen Teilen erhalten sind. Mir scheint, der Verdacht wird solange bestehen, solange er nicht untersucht wurde – wohl am Besten mit den Methoden der Provenienzforschung, die jetzt in Deutschland und Österreich etabliert sind. Welche Entscheidungen dann aus den Ergebnissen dieser Forschung gezogen werden, dass wäre dann (nochmal der Verweis auf das unterschiedliche Vorgehen der Kunstmuseen in Zürich, Bern und Basel) eine Aufgabe für die betroffenen Bibliotheken. (Und, ich sehe schon mal voraus, dass sich, falls sich Bestände finden, garantiert auch welche im gemeinsamen Bestand in der Speicherbibliothek in Büron finden werden – was nur noch mehr Fragen aufwerfen wird. Wer darf denn über die entscheiden?)

Aber mir scheint, es gibt auch eine gute Seite: Die schweizerischen Bibliotheken müssten für eine solche Provenienzforschung nichts neu erfinden. Historische Forschungen, die den Kontext für solche Arbeit und dann vielleicht später zu treffende Entscheidungen über aufgefundene Bestände, liefern, wurden schon durchgeführt. Methoden wurden auch schon entwickelt. Bibliotheken müssten dies nur zusammenführen: Man müsste die Kolleg*innen aus Deutschland und Österreich, die ja auch schon in Strukturen organisiert sind, einbeziehen, ebenso die Forschenden, die sich mit der schweizerischen Geschichte dieser Jahre befasst haben.

Wichtig wäre zuerst wohl, einen Überblick zu bekommen, viele Bücher (und vielleicht andere Medien) überhaupt in Betracht kommen für diese Provenienzforschung. Im Verdacht stehen – so war das in deutschen und österreichischen Bibliotheken auch – erstmal alle, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden (aus Italien wohl auch schon früher) und wohl auch einige, bei denen es einige Jahre später passierte. Eine Anzahl davon wird man schneller vom Verdacht befreien können. Aber wie viele, wird wohl nur eine Autopsie am Bestand selber zeigen.

Wer sollte das organisieren, wer finanzieren? In Deutschland und dann Österreich begann es mit kleinen Projekten in einzelnen Bibliotheken, teilweise in der Freizeit von Bibliothekar*innen durchgeführt, teilweise von den Bibliotheken finanziert. Heute ist die Situation etwas besser: Es gibt Fördermöglichkeiten und, wieder mit den erwähnten Strukturen, auch eine gewisse Lobby, um solche Fördermöglichkeit von der Politik oder Forschungsförderung – die in diesen Staaten, im Gegensatz zu Schweiz, eine Tradition der Infrastrukturförderung hat – einzufordern. Es ist aber weiterhin eine Mischsituation: Viel Eigeninitiative, viel Finanzierung durch die Bibliotheken selber, ein wenig Förderung durch den Staat. (Ich wäre nicht erstaunt, wenn Studierende, nicht nur aus Bibliotheksstudiengängen, sondern auch der Geschichtswissenschaft, mittels Praktika, Projekten oder Abschlussarbeiten dafür auch herangezogen werden.)

Wichtig ist, dass mehr und mehr Personen und Strukturen Verantwortung übernehmen und dass mit den Strukturen, Publikationen und Treffen sich über Erfahrungen ausgetauscht wird. So entsteht unter anderem auch ein Überblick dazu, was noch nicht untersucht wurde.

Aber ja: Falls mich jemand fragen würde, wie in der Schweiz vorgegangen werden sollte, wäre das meine Antwort:

  1. Bibliotheken sollten Arbeitszeit dafür bereitstellen.
  2. Es sollte eine Struktur ähnlich der in Deutschland und Österreich gegründet werden (eine Kommission oder Arbeitsgruppe von bibliosuisse würde sich anbieten).
  3. Es sollte sich über diese Strukturen in Deutschland und Österreich darüber informiert werden (das kann auch über die zahlreichen Publikationen geschehen, aber… warum nicht direkt fragen?), wie dort vorgegangen wird und dies dann auf die Schweiz übertragen werden.

Wie würde das ausgehen? Da wage ich keine Vorhersage. Meine Wahrnehmung der Schweizer Geschichte ist, dass dieses Land so vernetzt mit der Geschichte all der umgebenden Länder ist, dass sie an allen Anteil hat. Auch, aber nicht nur, dem Schlechten. Insoweit würde es mich wohl überraschen, wenn sich keine problematischen Bestände fänden. Aber wohl weniger, als in deutschen oder österreichischen Bibliotheken.

Was ich mich traue vorherzusagen, ist, dass sich die Provenienzforschung nicht auf den NS beschränken wird. Nicht nur, weil das in Deutschland schon passiert ist (siehe oben). Sondern, weil es sich aufdrängt: Wenn die Schweiz so vernetzt mit der ganzen europäischen Geschichte (im mindesten) ist, wird es auch eine Reihe weiterer Themen geben, bei denen Bibliotheken in der Schweiz von problematischen Situationen profitiert haben – und einige davon werden moralisch schwierig oder falsch gewesen sein. (Andere wieder vielleicht nicht. Die Schweiz hat immer auch viel von Personen profitiert, die von anderswo flohen und dann hierzulande ihre Kompetenzen einsetzen konnten. Das kann auch zum Beispiel bei Personal in Bibliotheken der Fall gewesen sein.)

Entkommen wird man dem aber nicht. Irgendwann kommen die Themen auch so auf. Weil, wie auch schon gesagt, die Geschichte voll solcher Situationen ist und weil Verdrängtes sich schon immer seinen Weg sucht, wieder aufzutauchen.

Literatur

  • Bödeker, Hans Erich ; Bötte, Gerd-J. (Hrsg.) (2008). NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek: Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. Berlin, Boston: K. G. Saur, 2008
  • Falk, Francesca ; Lüthi, Barbara ; Purtschert, Patricia (2013). Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012
  • Guggisberg, Ernst (2016). Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsverein 1948-1965. Baden: hier + jetzt, 2016
  • Hoffrath, Christiane (2020). Provenienzforschung und Provenienzerschließung in Bibliotheken: ein Rück- und Ausblick. In: Bibliotheksdienst 54 (2020) 10: 820-832, https://doi.org/10.1515/bd-2020-0095
  • Keller, Erich (2021). Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle. Zürich: Rotpunktverlag
  • Keller, Erich (2018). Der totale Buchhändler: Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie, 26 (2018) 2:126-148, https://doi.org/10.7788/ha-2018-260203
  • Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hrsg.) (2007). Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution: Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2007
  • Leuenberger, Marco ; Mani, Lea ; Rudin, Simone ; Seglias, Loretta (2011). „Die Behörde beschliesst“ – Zum Wohl des Kindes?: Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912-1978. Baden: hier + jetzt, 2011
  • Purtschert, Patricia ; Fischer-Tiné, Harald (edit.) (2015). Colonial Switzerland: rethinking colonialism from the margins. Zürich: seismo, 2015
  • Sarr, Felwine ; Savoy, Bénédicte (2018). Restituer le patrimoine african. Paris: Philippe Rey /Seuil, 2018
  • Schär, Bernhard C. (2015). Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015
  • Stebouraka, Anatole (2019). Livres français spoliés dans les collections de la Bibliothèque nationale du Bélarus. In:Poulain, Martine (coor.) (2019). Où sont les bibliothèques françaises spoliées par les nazis ?. Villeurbanne: presses l´enssib, 2019: 81-98, https://books.openedition.org/pressesenssib/7892
  • Tanner, Jakob (2015). Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2015
  • Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (2019). Organisierte Willkür: Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930-1981. (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A) Zürich, Chronos; Neuchâtel, Éditions Alphil; Bellinzona, Edizioni Casagrande, 2019
  • Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002). Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo, 2002

Urban Gardens und Community vergleichbar mit Bibliotheken und Community?

Urban Gardening hat einen guten Ruf. Es wird sich von diesen Gärten, und den Aktivitäten um sie herum, sehr viel versprochen: Sie sollen die soziale Kohärenz verstärken, Natur in die Stadt holen, zur Nahrungsmittelsicherheit beitragen, Prozesse von Partizipation und Demokratie erfahrbar machen, den jeweiligen Ort wohnbarer machen (oder aufwerten), soziale oder räumliche Gerechtigkeit befördern und vieles mehr. Es gibt hier und da die Vermutung, dass die Aufwertung auch zur Gentrifizierung beiträgt (Eizenberg 2019), aber ansonsten ist die Kritik am Urban Gardening und Urban Gardens gering.

Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice (Certomà, Noori & Sondermann 2019) versammelt Artikel aus einem Netzwerk von Forschenden, welche in Europa zu Erfahrungen mit Urban Gardens gearbeitet haben. Es ist einigermassen durchwachsen, auch weil pro Artikel immer wieder mit neuen theoretischen Ansätzen und Fragen an das Thema herangegangen wird und auch, weil die Definition, was als Urban Gardening zählt, sehr weit ist, somit auch sehr unterschiedliches (beispielsweise von staatlicher Seite angelegte, legale, selbstorganisierte, nicht angemeldete und «versteckte Gärten») untersucht wird.1 Es enthält auch viele, wieder sehr unterschiedlich angegangene, Case Studies.

Urban Garden, Berlin, 2017

Welche Communities?

Was mich interessiert, ist das sich durch die ganzen Texte ziehende Thema der «Community». Urban Gardens sollen immer «die Community» ansprechen, zusammenbringen, verstärken und so weiter. Deshalb werden sie von unterschiedlichsten Akteur*innen (im Buch: staatliche Agenturen, Gemeinden, selber zusammengefundene Gruppen, Anarchist*innen) überhaupt eingerichtet und unterhalten. Das erinnert selbstverständlich stark an den Diskurs um «Communities», welche in Öffentlichen Bibliotheken im DACH-Raum zumindest bis zur aktuellen Pandemie geführt wurde: Auch in Bibliotheken wird sich von unterschiedlichen Aktivitäten versprochen, «die Community» anzusprechen, zusammenzubringen, zu verstärken, auf sie zu reagieren. Egal, ob mit Makerspaces oder «partizipativen Methoden» bei der Planung von Neubauten. Und gleichzeitig ist nicht immer klar, was damit in Bibliotheken gemeint ist (Burch 2019) oder genau angestrebt wird. Insoweit werden Bibliotheken wohl auch davon lernen können, was die Forschenden in diesem Buch über «Communities» und Urban Gardens festhalten.

Wenig konkrete Wirkungen

Wie gesagt, es wird im genannten Buch mehrfach festgehalten, dass die Erwartungen an die Wirkung von Urban Gardens auf die jeweilige lokale Community gross ist. (Certomà, Sondermann & Noori 2019) Ein Thema, dass sich durch die Texte zieht, ist aber, dass diese Erwartungen nicht erfüllt werden. In mehreren Fällen gehen die Forschenden praktisch aus dem Garten heraus und fragen dort Leute nach ihrer Wahrnehmung der jeweiligen Gärten. (U.a. Aliperit & Sarti 2019; Hardmann et al. 2019) Das Ergebnis ist immer wieder ähnlich: Grundsätzlich gibt es von vielen, aber nicht allen, eine positive Haltung gegenüber den Gärten, aber keine grössere Erwartung. Es ist eher so, dass von Ferne okay gefunden wird, dass jemand diese Gärten betreibt. Aber beteiligen möchte sich auch kaum jemand, ausser denen, die schon dabei sind. (Wright & Young 2019) Es bedient sich zum Beispiel auch niemand an den Früchten, die extra dafür gepflanzt werden, dass sich alle an ihnen bedienen können. (Hardmann et al. 2019) Die Veranstaltungen, die in vielen Urban Gardens angeboten werden, werden auch nur manchmal und ohne grössere Konsequenzen (also ohne zum Beispiel neue Netzwerke zu bilden oder sich später selber in den Gärten zu engagieren) besucht. Oft sind die Gärten oder die Strukturen dahinter (Wer macht das? Wozu? und so weiter) gar nicht bekannt. Wenn die Community mit den Gärten angesprochen werden soll, um «zur Natur» zu finden, Zugang zu frischem Obst und Gemüse zu erhalten und zusammenzukommen, um die soziale Kohärenz zu verstärken, dann scheitern die Gärten oft.

In einigen Fällen kommt es durch die Gärten auch zur Verdrängung anderer Gruppen. Beispielsweise wurden durch Gärten, die eine staatliche Agentur in Kopenhagen angelegt haben, um Migrant*innen eine Möglichkeit zu bieten, aus den eigenen, zu kleinen Wohnung herauszukommen (was in diesem Fall tatsächlich passiert), Flächen umgenutzt, die zuvor von Obdachlosen benutzt wurden, um wild zu campieren. (Roy 2019) Der Gewinn ist hier nicht gleich verteilt.

Ein Text in diesem Buch beschäftigt sich mit der Frage, welche Community eigentlich durch die Urban Gardens angesprochen wird. (Pitt 2019) Die Autorin stellt fest, dass die Gärten dabei scheitern, eine Community, die sich vor Ort findet, anzusprechen. Oder anders: Es wird immer wieder angenommen, dass es schon eine Community gäbe, die mit solchen Gärten «aktiviert» werden könnte. Das findet nicht statt. Gleichzeitig schaffen es die Gärten aber, andere Communities herzustellen, nämlich «Communities of Practice» aus den Leuten, die sich in den Gärten engagieren. Oft sind es dabei Menschen, die gar nicht wirklich lokal wohnen, sondern erst zu den Gärten fahren müssen. Auch übersetzen sich diese Netzwerke kaum in andere Ebenen, sondern beschränken sich auf die Gärten und die dortige Arbeit selber. Thema der Gespräche seien auch immer die Arbeit in den Gärten, nicht weiterführende Thema. Letztlich bilden diese «Communities of Practice» also neue Strukturen, die sich nicht in andere Strukturen übertragen.

Übertragungen ins Bibliothekswesen

Kann man aus diesen Ergebnissen etwas für Bibliotheken lernen? Ich denke schon: Die Voraussetzungen und damit wohl auch die Ergebnisse sind ähnlich. Auch, wenn Bibliotheken über Communities reden, steckt dahinter oft die Vorstellung, dass es diese schon lokal gäbe und man die irgendwie ansprechen, aktivieren und so weiter müsste. All die Veranstaltungen, Angebote oder auch partizipativen Projekte zielen darauf, in dieser jeweiligen Community etwas zu bewirken: Sie mehr zum Lesen zu führen, zu Innovation, als Lernort für Demokrat und Partizipation zu wirken. Die Erwartungen, wenn man die ganzen Texte dazu ernst nimmt, sind bei Bibliotheken nicht weniger hoch als bei Urban Gardens – nur, dass es nicht um Natur und Essen geht, sondern eher um Lesen, Literatur, andere Medien. (Und ja, selbstverständlich sind auch Bibliotheken bei Urban Gardens aktiv, was die Erwartungen nur zusammenführt. Siehe zum Beispiel Schumann (2016) und Scott Banks & Mediavilla (2019))

Aber wen erreichen Bibliotheken überhaupt mit den Veranstaltungen und so weiter wirklich? Ist es nicht eher so, dass auch sie «Communities of Practices» herstellen, die sich dann nicht in weitere Funktionen über die jeweilige Veranstaltungen / Angebote übertragen? Ist die Situation, dass Personen zwar eine grundsätzlich positive Position dazu haben, dass es Gärten gibt, aber auch nicht viel mehr damit in Kontakt kommen wollen, nicht auch für Öffentliche Bibliotheken gegeben? Und ist es nicht so, dass es in Bibliotheken immer schon eine gewisse Gruppe von Menschen gibt, welche diese (intensiv) nutzen, die eher herausgedrängt und eben nicht integriert werden, wenn Bibliotheken neue Angebote – sagen wir nochmal einem neuen Makerspace – einrichten?

Das scheint alles sehr ähnlich: Die grossen Erwartungen lassen sich nicht erreichen. Was genau mit Community gemeint ist, wird kaum geklärt. Dafür entstehen neue Communities, die sich aber um spezifischen Angebote gruppieren und auch (nur) die zum Thema haben. Wenn das in Urban Gardens so ist, wäre es nicht unerwartet, wenn das in Bibliotheken auch zu wäre? (Aber es gibt kein Netzwerk, dass einmal diese Frage angeht, insoweit bleibt es leichter unthematisiert.)

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Sowohl bei Urban Gardens als auch bei Öffentlichen Bibliotheken heisst das nicht, dass das per se schlecht ist. Auch wenn Urban Gardens nicht dazu beitragen, dass zum Beispiel die Nahrungsmittelsicherheit besser wird oder die lokale Community aktiviert wird, ist es ja trotzdem so, dass sich in ihnen Menschen zusammenfinden, gemeinsam Entscheidungen treffen, etwas anbauen, gemeinsam Tage verbringen und so weiter. Ebenso mag es in Bibliotheken so sein, dass nicht die «lokale Community» eingebunden wird, wenn mit Design Thinking neue Bibliotheksräume geplant werden oder Makerspaces eingerichtet werden, aber trotzdem kommen am Ende Pläne für Räume raus oder haben Leute Spass beim rumprogrammieren an Robotern. Es ist nur so, dass die Erwartungen falsch sind, was zu schnell übersehen werden kann: Wenn ein «erfolgreicher» Urban Garden, im Sinne von Menschen kommen, gärtnern und ernten am Ende, nicht heisst, dass die lokale Community aktiviert wird, merkt man das vielleicht eher dann, wenn man spezifisch danach fragt. Ansonsten sieht das alles doch sehr belebt und erfolgreich aus. Ähnlich bei Bibliotheken: Nur weil der Makerspace benutzt wird, heisst das nicht, dass die lokale Community erreicht wird, aber auch das merkt man erst, wenn man nachschaut.

Es ist wohl eher so, dass sich in der Praxis gefragt werden sollte, welche Erwartungen erfüllt werden, welche man erfüllen will und vielleicht auch, welche Konsequenzen auf den ersten Blick als positiv wahrgenommene Angebote haben. Vielleicht ist es ausreichend, Communities of Practices zu bilden – aber man sollte sich dann klar sein, dass das andere Probleme nicht löst, schon gar keine Grossen.

Literatur

Aliperti, Giuseppe; Sarti, Silvia (2019). Urban gardening and spacial justice from a mid-size city perspective: the case of Ortobello Urban Garden.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 74-90

Burch, Carina (2019). Community – eine Untersuchung was es im Kontext von allgemein-öffentlichen Bibliotheken bedeutet. (Churer Schriften zur Informationswissenschaft, 100) Chur: HTW Chur, https://www.fhgr.ch/fileadmin/fhgr/angewandte_zukunftstechnologien/SII/churer_schriften/sii-churer_schriften_100-Community.pdf

Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019

Certomà, Chiara; Sondermann, Martin; Noori, Susan (2019). Urban gardening and the quest for just uses of space in Europe.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 1-21

Eizenberg, Efrat (2019).The foreseen future of urban gardening.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 154-165

Hardmann, Michael; Adams, Mags; Barker, Melissa; Beesley, Luke (2019). Food for all? Critically evaluating the role of the Incredible Edible movement in the UK.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 139-153

Nikolaidou, Sofia (2019). Temporary urban landscapes and urban gardening: re-inventing open space in Greece and Switzerland.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 59-73

Pitt, Hannah (2019). Limits to growth? Why gardening has limited success growing inclusive communities.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 91-107

Roy, Parama (2019). Community gardening for integrated urban renewal in Copenhagen: securing or denying minorities‘ right to the city?.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 91-107

Schumann, Tim (2016). Urban Gardening und Öffentliche Bibliotheken: Konzeption einer Veranstaltungsreihe in der Stadtbibliothek Bad Oldesloe. In: Informationspraxis 2 (2016) 1, https://doi.org/10.11588/ip.2016.1.23822

Scott Banks, Carrie ; Medivilla, Cindy (2019). Libraries and Gardens: Growing Together. Chicago: ALA editions, 2019

Wright, Lucy Rose; Young, Ross Fraser (2019). Community gardening for integrated urban renewal in Copenhagen: securing or denying minorities‘ right to the city?.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 22-37

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Fussnote

1 Dies hat auch mit der Finanzierung des Netzwerks als EU-COST-Action zu tun, bei der «nur» die Zusammenarbeit in Konferenzen und Treffen, aber nicht die eigentliche Forschung finanziert wird; diese also von den beteiligten Forschenden jeweils aus anderen Quellen und damit in unterschiedlichen Höhe, mit unterschiedlichen Fragestellungen et cetera finanziert werden müssen. In so einem Netzwerk ist es dann zum Beispiel schwer, sich auf gemeinsame theoretische Grundsätze zu einigen. (Aber als jemand, der auch für jedes noch so kleine Forschungsprojekt nach Drittmitteln suchen muss, habe ich fraglos grosses Verständnis dafür, dass am die Chance ergreift, wenn es möglich ist, solch eine Finanzierung zu nutzen.)

Ist die Bibliothek ein Ort, der Armut ausgleicht?

Ein Blogpost zu etwas, was mich immer wieder irritiert und, ehrlich gesagt, mehr und mehr auch ärgert.

Letztens hörte ich wieder einmal folgende Argumentation: Bibliotheken würden Menschen in Armut Zugang zu Medien ermöglichen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Deshalb könne man sagen, dass Bibliotheken gegen Armut helfen.

Dieses Argument wird immer wieder einmal gebracht. Es is falsch. Aber vor allem ist das Bringen dieses Arguments, dass dann auch oft das letzte Wort zum Thema Armut ist, Ausdruck einer meiner Meinung nach problematische Argumentationsstruktur. Einer, die Probleme reproduziert anstatt über sie nachzudenken oder gar anzugehen.

Was hier passiert ist nämlich, dass Bibliotheken als gut, sinnvoll, richtig erklärt werden (zumeist aus dem Bibliothekswesen selber, aber nicht nur) und dann aber die konkreten Verhältnisse gar nicht angeschaut werden. Nutzen den Menschen in Armut die Bibliothek so? Sehen sie die auch so oder anderes? Was denken die über Bibliotheken? Das wird bei dieser Argumentation übergangen.

Vielmehr wird die Reflexion der Realität schon abgebrochen, bevor solche überhaupt Fragen aufkommen oder gar Menschen in Armut sich irgendwie äussern könnten. Das ist einerseits gefährlich, weil das Überzeichnen der Realität nie dazu führt, dass diese Realität weggeht, sondern vielmehr dazu, dass diese immer wieder abgewehrt werden muss. Dazu muss viel intellektuelle Energie aufgebracht werden, um die Realität, die sich dem einfachen Argument nicht unterordnet, abzuwehren, aktiv zu ignorieren oder umzudeuten. Andererseits ist es auch traurig, weil sich so nichts ändert und viele (tatsächlich bestehende) Potentiale vergeben werden.

Struktur und Effekt des Arguments

Dröseln wir das einmal auf. Wie ist diese Struktur (gleich, um sie sichtbarer zu machen, ein wenig vom Thema Armut abstrahiert)?

  1. Es wird ein irgendwie positives Ziel benannt (hier: Bibliotheken sollen Menschen in Armut helfen).

  2. Das Ziel wird nicht als Ziel begriffen, dass man anstreben sollte. Vielmehr wird behauptet, dass dieses schon Realität wäre.

  3. Damit wird auch jede potentielle Diskussion abgeschnitten. Weder wird so ermöglicht, über das Ziel an sich zu diskutieren (hier zum Beispiel nicht: Was könnte die Bibliothek eigentlich für Menschen in Armut bedeuten? Sollte sie vor allem ein Ort sein, der Medienzugang ausgleicht? Oder sollte es andere Ziele geben? Vielmehr wird das Thema „Armut‟ wird sofort auf „Zugang zu Medien‟ eingeengt), noch wird so ermöglicht, diese Aussage irgendwie zu überprüfen. So etabliert man – eigentlich ohne Notwendigkeit – eine gewisse Blindheit für die Realität.

  4. Die von dieser Aussage tatsächlich Betroffenen werden übergangen. Sie werden nicht gefragt, ihnen wird nicht zugehört, es wird noch nicht mal überlegt, wie deren Alltag eigentlich tatsächlich ist. Zudem wird sofort ein bestimmtes Bild von Ihnen vermittelt, dass nicht der Realität entsprechen muss (hier: Menschen in Armut würden den gleichen Zugang zu Medien haben wollen, wie alle anderen auch – was zum Beispiel einfach als gegeben setzt, dass alle Menschen dieses gleiche Ziel hätten).

  5. Das Thema gilt dann meisten mit diesem Argument auch als beendet, was auch heisst, dass das Bild vermittelt wird, das Bibliotheken nichts ändern müssen.

Was sind die Effekte dieser Struktur?

  1. Grundsätzlich schreibt man so nicht nur der Bibliothek eine Wirkung zu, die nicht überprüft wird. Man beendet damit auch Diskussionen um die Entwicklung und Wirkung von Bibliotheken. Ebenso schneidet man Diskussionen über politische Ziele und Aufgaben von Bibliotheken ab.

  2. Man übergeht die Betroffenen.

  3. Man postuliert so nicht nur, dass Veränderung nicht notwendig wäre, sondern in gewisser Weise auch, dass sie nicht möglich wäre. Warum darüber nachdenken, etwas zu verbessern, wenn es schon gut ist?

Es muss einen Grund dafür geben, dass dieses Argument immer und immer wieder reproduziert wird. Ich würde vermuten, dass es eher darum geht, das Bibliotheken sich gegenseitig ihrer eigenen Identität versichern, als das es um Menschen in Armut geht. Aber wenn das so ist: Wozu das? Oder gibt es einen anderen Grund? (Gibt es Menschen, die davon überzeugt werden? Von was?)

Evidenzen gegen das Argument

Es gibt, um zum Thema Armut zurückzukehren, eine ganze Reihe Evidenzen dafür, dass diese Aussagen nicht stimmt (nicht umsonst habe ich ein Buch dazu geschrieben (Schuldt 2017)):

  • Schon der Fakt, dass diese Aussage so oft wiederholt wird, ohne sie zu untermauern, ist ein Hinweis darauf, das ihre Funktion nicht ist, die Realität darzustellen. Vielmehr scheint, als ob sich hier vor allem Bibliotheken untereinander immer wieder gegenseitig ihrer Bedeutung versichern. Wäre es anders, würde wohl schon jemand losgehen und zum Beispiel Testimonials einholen von Menschen in Armut, die genau das sagen, was im Argument gesagt wird. Aber die gibt es praktisch nicht. Genauso wenig, wie in Umfragen von Bibliotheken überhaupt nach sozialer Schicht oder ökonomischen Möglichkeiten von Nutzer*innen gefragt wird – also auch jedesmal versäumt wird, überhaupt Daten zu erheben, um das Argument zu überprüfen.

  • Die paar Untersuchungen, die herangezogen werden können, um zu klären, ob diese Argument überhaupt stimmt, beziehen sich fast alle auf Obdachlose / Menschen ohne festen Wohnsitz und stammen praktisch immer aus anderen Staaten als dem DACH-Raum. Aber sie bieten zumindest einen Hinweis, dass die Situation nicht so eindeutig ist, wie das Argument unterstellt. Lo, He und Yan (2019) zeigten zum Beispiel – für eine andere Fragestellung –, dass Menschen ohne festen Wohnsitz in Shanghai die Öffentliche Bibliothek vor allem nutzen, um „Zeit tot zu schlagen‟, nicht um Medien auszuleihen. Provence et al. (2020) stellten fest, dass für die USA gesagt werden kann, dass Menschen in dieser Lage sich mehr für Informationen interessieren, die sich auf ihre konkrete Situation beziehen lassen – wie sie an Unterstützung gelangen et cetera –, aber das sich ihre Interessen ansonsten mit denen anderer Personen decken. Zhang & Chawner (2018) kritisierten, dass die Stimmen von Menschen in dieser Situation im Bibliothekswesen praktisch nicht gehört werden und befragten deshalb solche in Auckland, Neuseeland. Für diese sind auch nicht der Zugang zu Medien, sondern Regelmässigkeit und Vertrauen wichtig: Sie versuchten, ihr Leben zu strukturieren und einen lebbaren Alltag herzustellen – das ist ihnen wichtig. Wenn die Bibliothek dabei hilft, nutzten sie diese. Tinker Sachs et al. (2018) stellten wieder für die USA fest, dass Menschen ohne festen Wohnsitz nicht nicht lesen, sondern vielmehr recht viel und sehr breit Medien konsumieren, dass ihnen aber gleichzeitig oft nicht bewusst ist, welche Möglichkeiten ihnen zum Beispiel in Bibliotheken offen ständen. So geht das weiter: Das Bild ist nicht per se negativ (es gäbe also wohl viele Potentiale dafür, dass Bibliotheken im Leben von Menschen eine positive Wirkung haben könnten, wenn sie das forcieren), aber es ist lange nicht so eindeutig, wie es das oben genannte Argument unterstellt. Würden Daten zu Menschen in Armut, aber mit festen Wohnsitz – also der viel, viel grösseren Gruppe – zur Verfügung stehen, wäre das Bild wohl noch uneindeutiger.

  • Mit dem Argument wird auch so getan, als bestände das Problem von Menschen in Armut nur darin, zu wenige ökonomische Mittel zu haben, um die gleichen Dinge erwerben zu können, wie andere Menschen. Das ist immer ein unterkomplexes Bild: Weit weniger Mittel als der Durchschnitt zur Verfügung zu haben, ist nur ein Teil von Armut. Vielmehr ist das Leben in ständiger Prekarität und mit ständige Bedrohung des Status quo, dessen Zusammenbruch weitreichende Konsequenzen für das eigene Leben haben kann, etwas, was Armut ausmacht. Es geht nicht um reine materielle Defizite, die man nur irgendwie ausgleichen müsste, damit die Menschen in Armut ein besseres Leben führen können. Insoweit ist selbstverständlich auch nicht davon auszugehen, dass es im Bezug auf Bibliotheken und Medien nur darum gehen würde, materielle Defizite auszugleichen, um dann schon für Menschen in Armut sinnvolle Arbeit zu leisten. (Schuldt 2017) Es ist bestimmt komplexer. (Nicht zuletzt auch, weil ein anderes Ziel für Menschen in Armut oft ist, aus dieser Situation herauszukommen; nicht einfach in der Situation selber verharren zu müssen. Das kommt bei diesem Argument auch nicht vor.)

Das Argument erzeugt eine diskursive Situation, indem es so scheint, als sei das Problem schon recht gut gelöst und man könne zu anderen Fragen übergehen. Aber nehmen wir einfach mal an, Menschen in Armut würden nicht unbedingt (nur) Zugang zu Medien suchen, sondern vor allem eine Institution, auf die sie sich verlassen können – das würde mit dem Argument nicht mal thematisierbar. Die Bibliotheken hören oft mit diesem einem Argument auf, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Menschen in Armut haben so gar keine Möglichkeit, Hinweise dazu, was sie benötigen würden, zu hinterlassen. Alle Ansätze in Bibliotheken sind mit dem Argument auf eine Lösung (Zugang zu Medien) zugeschnürt.

Die Betroffenen können sich nicht äussern, die Bibliotheken fühlen sich gut in ihrem Tun, aber können sich so auch nicht ändern. Und das, obwohl es in so einem Fall noch nicht mal schwer wäre und es, wie gesagt, grosses Potential gäbe: Bibliotheken könnten sehr wohl zu verlässlichen Institutionen werden, die Menschen in Armut nutzen könnten, um ihr Leben besser abzusichern. Schon dadurch, die sie verlässlich da sind und immer die gleichen Angebote haben. Das würde helfen. Man müsste gar nicht viel verändern. Aber (a) Bibliotheken müssten wohl aufhören, sich gegenüber zu behaupten, dass sie in Bezug auf das Thema Armut in gewissem Sinne schon „perfekt‟ sind, (b) sie müssten offen sein, nicht über, sondern mit den Betroffenen zu reden und auch denen vielmehr Lead dabei zu überlassen zu sagen, was sie wichtig finden und wie sie grundsätzlich die Situation wahrnehmen, (c) und ja – sie müssten akzeptieren, dass sie nicht perfekt sind, sondern sich ändern können.

Kann man das besser machen?

Könnte man es anders machen? Ja, klar. Es wäre noch nicht einmal schwer.

  1. Wichtig wäre, dass man aufhört, zu behaupten, das bestimmte politische Ziele (hier, das Menschen in Armut geholfen wird) als schon die bestehende Realität darstellen. Man kann gerne sagen, Bibliotheken sollten Menschen in Armut helfen – aber erstmal sollte man das als Utopie begreifen, als „so sollte es sein‟. Das (a) macht das überhaupt einmal diskutierbar (Sind alle dieser Meinung? Ist das ein von der Profession geteilter Wert?) und (b) schliesst Diskussion nicht sofort ab, sondern eröffnet sie.

  2. Wirklich wichtig ist, den Gestus abzulegen, etwas, was man gerne hätte, als schon gegeben darzustellen – vor allem dann, wenn es einen nicht direkt betrifft. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass es nicht so ist, wie man es gerne hätte und sich zu fragen, wie man es erreichen kann. Versucht man zu verstehen, ob die Situation so ist, wie man sie gerne hätte, ohne gleich darein zu verfallen, sie so, wie sie ist verteidigen zu wollen, lernt man viel mehr über die Realität und kann die Einrichtung Bibliothek auch viel besser verändern. [Ein Vorgehen bei wissenschaftlichen Studien ist bekanntlich, (begründete) Hypothesen aufzustellen und dann zu versuchen, sie zu widerlegen. Schafft man das nicht, gelten sie erstmal als gültig – aber beim Versuch sie zu widerlegen lernt man meisten viel über das Thema. So sollte man auch mit offensichtlichen Wünschen, wie denen, die sich hinter dem genannten Argument zu verbergen scheinen, umgehen.] Das geht am Besten selbstverständlich, wenn man die Perspektive der Bibliothek verlässt und mit denen spricht, die – hier, in diesem Fall, von Armut – betroffen sind.

  3. Wenn man die Situation geklärt hat (also hier: Wenn klar ist, dass die spezifische Bibliothek oder das ganze Bibliothekswesen Menschen in Armut unterstützen sollte UND man weiss, wie die Situation eigentlich ist, vor allem, was Menschen in Armut eigentlich benötigen), kann man überlegen, wie man dazu kommt, dieses Ziel zu erreichen. Es wird dann garantiert ein anderes sein, als das einfache „die Bibliothek substituiert materielle Voraussetzungen beim Zugang zu Medien‟. Aber wichtig ist, dass man nur so überhaupt klärt, ob und was geändert werden müsste. Oder ob die ganze Idee vielleicht nicht hinreichend war / ist.

  4. Relevant dafür wäre auch, den Blick zu ändern: Nicht davon auszugehen, dass die Bibliothek schon an sich gut / perfekt wäre und dann „nur‟ versuchen, dass irgendwie zu verteidigen. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür. Nichts ist perfekt.

Eine Frage wäre, ob das alles nur für dieses eine Argument über Armut gilt. Selbstverständlich nicht – es gibt eine ganze Anzahl von Argumenten, die in bibliothekarischen Diskussionen und Selbstdarstellungen immer wieder reproduziert werden und bei denen behauptet wird, dass Bibliotheken bestimmte Dinge erfüllen / sind / tun und die nicht hinterfragt werden: Wenn Behauptungen darüber aufgestellt werden, dass Bibliotheken bestimmte Kompetenzen „vermitteln‟ würden. Wenn postuliert wird, dass die Bibliothek ein offener Raum für alle wäre (und sich dann gefragt wird, warum sich so wenig Menschen, die nicht der Mehrheitsgesellschaft gehören, bewerben würden – als wäre das ein Fehler dieser Menschen). Wenn gesagt wird, dass Bibliotheken „Orte der Begegnung‟ wären (für alle), „Orte der Integration‟ und so weiter. Armut ist als Thema eher zufällig herausgegriffen, weil ich dazu Einiges zu sagen habe. Aber vielmehr irritiert und ärgert mich die Struktur. Ich kann sie mir nur als Arbeit an der bibliothekarischen Identität erklären – aber eine, die die eigentlichen Potentiale von Bibliotheken für eine, well, bessere Gesellschaft verbauen.

Wer behauptet, Bibliotheken wären schon perfekt, verhindert, dass sie sich entwickeln. Wer über Menschen redet, statt mit ihnen, reproduziert oft nur die Strukturen, von denen Menschen betroffen sind. So wird nichts besser.

Literatur

Lo, Patrick ; He, Minying ; Liu, Yan (2019). „Social inclusion and social capital of the Shanghai Library as a community place for self-improvement‟. In: Library Hi Tech 37 (2019) 2: 197–218, https://doi.org/10.1108/LHT-04-2018-0056

Provence, Mary A. ; Wahler, Elizabeth A. ; Helling, John ; Williams, Michael A. (2020). „Self-Reported Psychosocial Needs of Public Library Patrons: Comparisons Based on Housing Status‟. In: Public Library Quarterly (2020) (Latest Articles) https://doi.org/10.1080/01616846.2020.1730738

Karsten, Schuldt (2017). „Armut und Bibliotheken: Anmerkungen zu einer notwendigen Diskussion‟. 2017, http://hdl.handle.net/10760/31084

Tinker Sachs, Gertrude ; McGrail, Ewa ; Lewis Ellison, Tisha ; Dukes, Nicole Denise ; Walsh Zackery, Kathleen (2018). „Literacy scholars coming to know the people in the parks, their literacy practices and support systems‟. In: Critical Inquiry in Language Studies 15 (2018) 1, https://doi.org/10.1080/15427587.2017.1351880

Neue Hygienedispositive – werden wohl auch die Bibliotheken verändern

Das Buch „Un siècle de banlieue japonaise‟ von Cécile Asanuma-Brice (2019) hat die Geschichte der ständigen Um- und Neubauten der Vorstädte Tokios seit der Meiji-Restauration (1868) zum Thema. Diese ist geprägt von rasanten Veränderungen nicht nur des Bauens, sondern auch der Vorstellungen über gutes Wohnen, über die Organisation von Stadt und Umland oder auch der Frage, wer für das Bauen guter Wohnungen zuständig ist (der Staat oder der Markt). Als ich es letztens gelesen habe, fiel mir aber noch etwas ständig Wiederkehrendes auf: Die Bedeutung je neuer Dispositive um Hygiene, die sich vor allem als Antwort auf Gesundheitskrisen (konkrete Epidemien und der sich wandelnde Blick auf Problemlagen, die je neu als Krisen, wahrgenommen wurden, die anzugehen wären1) etablierten und dazu führten, dass anders geplant, gebaut und dann auch gelebt wurde.

Das ist in der Geschichte der Stadtentwicklung ein ständiges Thema (Lévy 2012), aber mit der Beschleunigung von Entwicklungen und Veränderungen in der Moderne seit dem 19. Jahrhundert halt auch eines mit beschleunigter Dynamik. (Ich erinnere mich an meine alte Nachbarin in Neukölln, die Ende der „Nuller Jahre‟ rund 50 Jahre in der gleichen Wohnung lebte und sich jeder Renovierung widersetzte, deshalb aber mit Kohlen heizte und als einzige im Haus noch ein Etagenklo nutzte – was vollkommen aus der Zeit gefallen war, obwohl es kein Menschenleben vorher offenbar in diesem Haus vollkommen normal war, wie man im Treppenhaus sieht, wo die Aussparungen für die Etagenklos weiterhin sichtbar sind.) Es ist mir nur beim Lesen dieses Buches wieder aufgefallen. Beispielsweise auch in der ständigen Ausstellung des gerade wieder geöffneten Musée Historique hier in Lausanne über die Entwicklung dieser Stadt kommen Gesundheitskrisen, sich etablierenden Hygienedispositive und dann darauf teilweise langsam, teilweise schnell reagierende Umbauten prominent vor. Die Überbauung der beiden Flüsse Louve und Flon Ende des 19. Jahrhunderts, um weitere Typhus-Ausbrüche zu verhindern – die ja auch in vielen anderen Städten stattfand –, nimmt in dieser Ausstellung einen grossen Raum ein. Ebenso, wie der Umbau der Häuser in den proletarischen Quartieren, so dass alle Wohnungen fliessend Wasser und ausreichende Sanitäreinrichtungen erhielten. Oder die Schaffung von städtischen Strukturen für das sanitäre System Ende des 19. Jahrhunderts.

Andere Hygiene – andere Formen des Alltags

Oft ist auch schon darauf hingewiesen worden, dass solche Umbauten, die zuerst aus Gründen der Hygiene vorgenommen wurden, im Anschluss dazu führten, das sich neue, unerwartete Möglichkeiten zu wohnen oder die Stadt zu nutzen ergaben. (Zum Beispiel Hardy 2005, Lévy 2012) Menschen und die Gesellschaft haben sich da immer wieder angepasst (oder, wie meine alte Nachbarin, widersetzt, sind aber dann damit recht aus der Zeit gefallen). Die immer wieder erzählte Geschichte davon, wie Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Planung von Baron Haussmann die Strassen und Viertel in Paris auch umgebaut wurden, damit Militär bei Aufständen nicht in engen Gassen manövrieren muss, aber gleichzeitig die Hygiene so sehr verbesserten, dass sich an diesen Strasse zahllose Cafés mit offenen Flächen ansiedeln konnten, in denen sich dann besser und schneller revolutionäre Gedanken entwickeln und verbreiten liessen, als vorher, ist eindrücklich, aber auch nicht originär. (Sennett 2018) Ähnliche unvorhergesehene Veränderungen des Alltags kamen immer wieder vor. Schon, dass heute allgemein überall fliessend Wasser und Sanitäreinrichtungen erwartet werden – nicht nur in der Wohnung, sondern überall, selbst auf dem schmutzigsten Festival – und alle mit ihrem Vorhandensein planen, ist ein Hinweis darauf, wie sehr Einrichtungen, die der Hygiene wegen etabliert werden, sich in unser Leben integrieren.

Mir scheint sehr klar, dass auch die COVID-19-Pandemie dazu führen wird, dass sich neue Hygienedispositive etablieren. Die Frage scheint mir gar nicht, ob man die jetzt gut oder schlecht finden wird, sondern nur, wann und welche. Aktuell sehe ich zum Beispiel viele Bilder, wo Sitzplätze (in Schulen, in Cafés, aber auch in Bibliotheken) auseinander geschoben und in ihrer Zahl verringert werden. Gleichzeitig haben wir alle vielleicht jetzt neu gelernt, Hände zu waschen und überall Desinfektionsmittel vorzufinden. Das Tragen von Gesichtsmasken wird sich vielleicht auch als Normalität – nicht für alle, aber für die, die es wollen oder als notwendig ansehen – etablieren (zumindest haben andere Epidemien in anderen Gesellschaften bekanntlich dazu geführt). Vielleicht wird es sich auch etablieren, dass Menschen allgemein im Alltag mehr Distanz einfordern werden. Wer weiss.

Rasante Veränderungen. Nicht nächste Woche, aber vielleicht nächstes Jahr

Sicherlich, gerade stellen sich Leute wieder sehr, sehr nah, weil Leute den Eindruck zu haben scheinen, dass die Krise vorbei wäre. Oder, weil sie es nicht mehr aushalten, achtsam zu sein. Hier in der Schweiz durften zum Beispiel die Clubs dieses Wochenende wieder öffnen und bei dem direkt hier vor der Tür konnte man sehen, wie sich niemand in der Schlange an irgendeine Distanz gehalten hat. Für eine kurze Zeit scheinen viele Menschen vergessen zu haben, dass wir weiterhin eine Pandemie haben, die sich vor allem durch Nähe zwischen Menschen überträgt. Aber man sollte die mittelfristigen Veränderungen nicht unterschätzen. (Ebenso wie man die ersten Tage nicht überschätzen sollte. So voll, wie dieses Wochenende, ist der Club sonst nie. Da war „Nachholebedarf‟, wie woanders wohl auch – aber der ist irgendwann auch befriedigt.) Spätestens eine zweite Welle dieser Pandemie oder halt die nächste Pandemie (die mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen wird, wir sind ja in den letzten Jahren nur knapp an anderen „vorbeigeschrammt‟) wird – wenn die Geschichte eine Struktur zeigt – dazu führen, dass sich Dispositive und damit auch das Verhalten ändern werden.

Bibliotheken

Aktuell scheint auch bei Bibliotheken die Vorstellung vorzuherrschen, dass man über kurz oder lang wieder zur gleichen Nutzungsweise von Bibliotheken und Bibliotheksräumen übergehen wird, wie vor der Pandemie. Das also alles eher eine Frage der Zeit sei. Und, zugegeben, ich bin nicht gut darin, treffende Vorhersagen zu machen. Aber: So, wie wir bislang gelebt haben, hat es ja zur Pandemie geführt. Mir ist nicht klar, wie es sicher und sinnvoll sein kann, wieder dahin zurückzukehren.

Ich kann auch nur vermuten, was passieren wird. Mir scheint aber, es wäre sinnvoll, wenn Bibliotheken das zumindest mal andenken würden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in kurzer Zeit Menschen nicht mehr von der Idee angetan sein werden, in ein „Wohnzimmer der Stadt‟ zu gehen, wenn das Bilder von ungewollter Nähe vermittelt. Auch die Vorstellung, Communities herzustellen, indem man Menschen in Workshops, Veranstaltungen und so weiter zusammenbringt, dürfte jetzt zumindest mehr Raum benötigen. Ebenso scheinen mir Arbeitsplätze in Lesesälen nebeneinander, in langen Reihen, potentiell tendenziell weniger beliebt zu werden. Kann auch gut sein, dass mehr Menschen anfangen, sich mehr Gedanken darum zu machen, wie Viren „funktionieren‟ (so, wie man sich heute grundsätzlich auch mehr Gedanken darum macht, was man isst) und dann darauf zu achten – was immer dieses „darauf achten‟ heissen wird.

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass in den letzten 150 Jahren oder so sich immer wieder schnell, aufgrund von Gesundheitskrisen, neue Hygienedispositive etabliert haben und dann zum Beispiel dazu führten, dass die Vororte Tokios umgebaut oder überall in Lausanne Sanitäreinrichtungen installiert oder ganz grundsätzlich neue Verhaltensregeln etabliert wurden. Oder, dass Wohnungen so gebaut wurden, dass man sie lüften kann. Oder das Städte Parks und Grünflächen erhielten. Solche Veränderungen kamen nicht in zwei-drei Wochen, aber doch – wie zum Beispiel im oben erwähnten Buch von Asanuma-Brice (2019) dargestellt wird – zum Teil rasend schnell. Ich schaue immer wieder auf Bilder von Bibliotheken aus verschiedenen Jahrzehnten. Wenn man darauf achtet, zeigen sich in diesen die jeweiligen zeitgenössischen Hygienevorstellungen selbstverständlich auch. Bibliotheken sind von den Veränderungen in der Nutzung öffentlicher Einrichtungen nie ausgeschlossen.

Aktuell scheinen Bibliotheken, wenn sie über mögliche Veränderungen durch die Pandemie reden, vor allem über digitale Angebote, Homeoffice und so weiter nachzudenken. Schön und gut. Aber sie sollten sich darauf vorbereiten, dass sich mittelfristig auch die Dispositive dazu, was akzeptable Räume (nicht nur von Bibliotheken) sind und wie sie zu nutzen sind, ändern wird. Bislang können wir zu den bevorstehenden Veränderungen – aber das ist ja auch bei anderen Themen so – nur ein paar Vermutungen äussern. Aber ich würde mich wundern, wenn es nicht diesen Monat in einem Jahr ein intensiv diskutiertes Thema wäre. Einfach so, wie es „vorher‟ war, wird es nicht werden. Die Menschen werden sich (mit Ausnahmen) beginnen, anders zu verhalten.

 

Literatur

Asanuma-Brice, Cécile (2019). „Un siècle de banlieue japonaise: Au paroxysme de la société de consommation‟. Genève: Mētis Presses, 2019

Elsig, Alexandre (2015). „La ligue d’action du bâtiment – L’anarchisme à la conquête des chantiers genevois dans l’entre-deux-guerres‟. (Coédition Collège du travail) Lausanne: Editions d‛en bas, 2015

Hardy, Anne (2005). „Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit : Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts‟. (Kultur der Medizin, 17) Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2005

Lévy, Albert (2012). „Ville, urbanisme & santé: les trois révolutions‟. (Société et santé) Paris: Pascal / Mutualité Française, 2012

Sennett, Richard (2018). „Building and dwelling : ethics for the city‟. London: Allen Lane, 2018

1Alexandre Elsig (2015) stellt in seiner Geschichte einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft im Genf der 1930er unter anderem da, wie die Wohnverhältnisse der Arbeiter*innen zu einem politischen Thema wurden und die Gewerkschaft irgendwann begann – als direkte Aktion – „Typhus-Häuser‟ abzureissen, weil ihrer Meinung nach die Regierung sich nicht schnell genug darum kümmerte, diese Häuser zu verbessern. Auch hier hatte sich in wenigen Jahren die Vorstellung etabliert, dass bestimmte Formen des Wohnens – die vorher noch akzeptabel schienen – ein Gesundheitsrisiko darstellten.

Eine untergegangene Tradition der bibliothekarischen Arbeit: Lesesoziologie

Ich möchte in diesem Blogpost (Essay?) gerne über einen Teil der Arbeit öffentlicher Bibliotheken (kleines ö, wird gleich thematisiert) reden, der lange Zeit ganz normal dazugehörte, aber seit einigen Jahrzehnten verschwunden ist. Das hat mit meinem Versuch zu tun, ein bibliothekshistorisches Buch zu schreiben, welches die Diskurse um öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum nachzeichnen soll. Im Rahmen der Recherchen dazu fallen solche abgebrochenen Traditionen selbstverständlich auf.

Diesen Teil der Arbeit, den ich besprechen möchte, nenne ich hier Lesesoziologie. So wurde er oft genannt. Aber es gab auch viele andere Bezeichnungen, zum Beispiel „Lesekunde‟, „Literatursoziologische Untersuchungen‟, „Leseforschung‟. Heute, wie gesagt, gibt es diese Tradition nicht mehr. Es gibt weiterhin eine Literatursoziologie in der Soziologie und Literaturwissenschaften miteinander verbunden sind, aber die – obgleich interessant – stellt andere Fragen. Mir geht es um die Lesesoziologie, die von Bibliotheken und bibliothekarischen Infrastrukturen betrieben wurde.

Ich spreche von öffentlichen Bibliotheken mit kleinem „ö‟, weil es um alle Bibliotheken mit dem Anspruch geht, eine gewisse Öffentlichkeit zu erreichen. Gerade für die Jahre vor 1933 (beziehungsweise den 1950ern in der Schweiz) gilt, dass es sehr verschiedene Bibliothekstypen gab, die das versuchten; nicht nur die, die am Ende die heutigen Öffentlichen Bibliotheken wurden. Auch bewegungsgebundene Bibliotheken („Arbeiterbibliotheken‟, Bibliotheken des politisch organisierten Katholizismus) oder „kommerzielle Leihbibliotheken‟ teilten sich diese Tradition. Ich spreche hier aber nicht von den Wissenschaftlichen oder Spezial-Bibliotheken.

Themen und Praktiken der Lesesoziologie

Es ist nicht ganz einfach zu sagen, wenn die Tradition der Lesesoziologie anfing und wann sie endete. Wie immer bei solchen Enden gibt es kein Dokument, dass sagt: „Jetzt ist Schluss.‟ So etwas passiert gradueller. Aber ich würde sagen, dass sie mit dem modernen Bibliothekswesen, also ungefähr in den 1880er Jahren aufkam und bis in die 1970er, vielleicht auch 1980er betrieben wurde. Mit merklichen Häufungen an Publikationen um die Jahrhundertwende und in den 1960er Jahren.

Wie und warum die Lesesoziologie betrieben wurde, veränderte sich – parallel zu den Bibliotheken selber – während dieser Zeit. Aber die Grundfragen war immer die gleichen: Was lesen die Lesenden? Die, die in die Bibliothek kommen und die, die nicht in die Bibliothek kommen? Oft wurde auch nach dem Warum lesen sie das? gefragt und lange Zeit auch: Welche Wirkung hat dieses Gelesene auf die Lesenden? (Letztes änderte sich mit der Zeit, siehe nächster Abschnitt.)

Es wurden verschiedene Methoden genutzt, um Antworten auf diese Fragen zu finden: Empirische (Umfragen, Auswertungen von Ausleihen, Befragungen) und theoretische (Auswertung der in Bibliotheken verliehenen Literatur, beispielsweise mit Modellen von „Schmutz und Schund‟ auf der einen, „Kunst und Technik‟ auf der anderen Seite). Es wurden Untersuchungen ganz verschiedener Grössenordnungen durchgeführt: Auf der Basis eine Bibliothek, einer Stadt oder eine Landes. Mal mit wenigen Themen, mal mit möglichst viel. Die bibliothekarische Literatur, die auf uns gekommen ist, ist voll von Ergebnissen solcher Studien: Artikel, Broschüren, Teile von Jahresberichten informieren über diese. Eine Anzahl von Abschlussarbeiten bibliothekarischer Ausbildungsgänge mit lesesoziologischen Studien existieren auch. Gerade die Vielzahl grauer Literatur lässt vermuten, dass es noch weit mehr Broschüren und Abschlussarbeiten gab, die vielleicht gar nicht überliefert wurden oder sich noch in dunklen Ecken von Magazinen und Archiven befinden.

Teil bibliothekarischer Arbeit

Eines ist wichtig zu betonen: Die Lesesoziologie war keine Aufgabe von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Sie war vorrangig Teil der normalen bibliothekarischen Arbeit und wurde vor allem von Bibliotheken selber durchgeführt, in allen öffentlichen Bibliothekstypen1 und offenbar auch von Bibliotheken aller Grössen. In älteren bibliothekarischen Lehrbüchern werden sie auch (aber eher nebenher, als wichtige, aber nicht immer durchzuführende Arbeit) thematisiert. Es war nicht so, das die paar Forschungseinrichtungen, die von Zeit zu Zeit gab, Hauptproduzenten dieser Studien gewesen wären.

Vielleicht auch deshalb sind die theoretischen Hintergründe der Arbeiten nicht immer leicht ersichtlich, selten reflektiert und vor allem sind die Studien methodisch nicht immer perfekt. Aber das mussten sie auch nicht. Es ging in ihnen nicht darum, wissenschaftliche Qualifikation nachzuweisen, sondern Wissen zu generieren, das oft den jeweiligen Bibliotheken zu Gute kommen sollte. (Allerdings ist es schon auffällig, wie viele Bibliothekare, spätere auch Bibliothekarinnen, sich zutrauten, solche Studien durchzuführen. Vom heute gerne mal postulierten geringen Selbstbewusstsein der Bibliotheken ist in den Studien nichts zu spüren.) Dafür wurden in der bibliothekarischen Literatur Kolonen über Kolonen von Zahlen und Titeln ausgeborgter Werke produziert, dargestellt und diskutiert.

Die Überzeugung, die sich auch in vielen Quellen explizit so ausgedrückt findet, war, dass Bibliotheken ihre Arbeit nur effektiv und sinnvoll durchführen könnten, wenn sie wüssten, was ihre Leser*innen lesen, beziehungsweise was die Menschen, die sie zu erreichen hofften lesen und warum. Nur dann könnten Bibliotheken (a) ihren Bestand sinnvoll aufbauen und (b) die Lesenden beraten. Ohne dieses Wissen können man nur mit Annahmen und den eigenen, immer unvollständigen, Vorstellungen arbeiten. Aber, das wird in den Quellen auch deutlich, selbst in Zeiten, als die Bibliothekare (männlich) stark der Meinung waren, dass sie bestimmen könnten, was gute und schlechte Literatur sei, welche Literatur zu welcher „Lesestufe‟ passen würde und welche (noch) zu komplex für für welche Lesenden war, gab es immer die Vorstellung, dass die (potentiellen) Lesenden Personen mit eigenem Willen seien, denen man nicht einfach Literatur aufzwingen könne. Mag das in der Realität auch anders gehandhabt worden sein, in den Quellen werden die Literaturinteressen immer erst einmal akzeptiert, um dann an ihnen zu arbeiten. Selbst, wenn man mit den Bibliotheken Menschen erziehen wollte, wurde es als notwendig angesehen, erst einmal zu wissen, was sie lesen.

Entwicklungen

Die Lesesoziologie entwickelte sich. Auch das wird in den Quellen sichtbar. Je nachdem, was die einzelnen Bibliotheken als ihre Aufgabe ansahen, entwickelte sich auch, was und wie genau gefragt wurde.

Lange Zeit war es üblich, die Aufgabe der Bibliotheken darin zu sehen, die jeweiligen Lesenden zu einer besseren Nutzung von Literatur zu erziehen. Nicht unbedingt als Selbstzweck. Im Diskurs der Lesehallen war zum Beispiel verankert, dass sie helfen sollten, vor allem in den unteren Sozialschichten Menschen, die das Talent dazu hatten und sich selber engagierten, den Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Das sollte diesen Menschen, aber auch der Gesellschaft im Allgemeinen helfen. Arbeiterbibliotheken sollten dazu beitragen, dass die organisierten Arbeiter*innen in die Lage versetzt würden, eine sozialistische (kommunistische, anarchistische und so weiter) Gesellschaft aufzubauen. Bibliotheken im Nationalsozialismus sollten dazu beitragen, dass sich Menschen ihre angeblich natürlichen Rolle in der „Volksgemeinschaft‟ und „Rasse‟ klar würden. Und so weiter. Lesesoziologie wurde eingesetzt, um den Erfolg solcher Aufgaben zu überprüfen. Borgten die Lesenden im Laufe der Zeit mehr „qualitätsvolle‟ und / oder politisch richtige Literatur aus? Verzichteten sie auf die falsche Literatur (lasen sie beispielsweise mehr sozialkritische Romane und weniger Liebesromane)? Wie wirkte sich die Arbeit der Bibliotheken jeweils darauf aus?

In den späten 1910er, frühen 1920er Jahren änderte sich die Vorstellung davon, wie Lesen funktioniert und was die Aufgabe von Bibliotheken ist. Nicht vollständig, nicht überall, aber doch merklich. Der demokratische Geist der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik zeigte sich auch in den Bibliotheken, obgleich es dort viele konservative Tendenzen gab. Man ging weniger davon aus, dass das Lesen der Menschen gesteuert werden könne, sondern das es eine Lesebiographie gäbe, deren Entwicklung man unterstützen müsse. Das lässt sich auch in den Lesesoziologie nachvollziehen. Immer mehr wird nicht danach gefragt, ob die richtige Literatur gelesen wird, sondern eher danach, welche Wege die Lesenden nehmen. Das Ziel ist oft immer noch, dass sie am Ende die richtige Literatur (was immer das in der jeweiligen Bibliothek ist) gelesen wird. Aber die Lesenden sollen praktisch selber dahinkommen und auf dem Weg dorthin unterstützt werden. Gesteuert, aber selbstbestimmt. (Das erscheint uns heute vielleicht nicht logisch, aber ist wichtig, diese Entwicklung auch als Entwicklung anzusehen. Bibliothekare, und auch die ersten Bibliothekarinnen, machten sich sehr wohl Gedanken über ihre Arbeit und veränderten ihre Vorstellungen. Das war nie eine feste Meinung, die für immer feststand und von allen geteilt wurde.)

Und auch, als sich nach dem Nationalsozialismus (beziehungsweise der Geistigen Landesverteidigung in der Schweiz) und den restaurativen Jahren dann Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die Auffassung durchsetzte, dass es die Aufgabe der Bibliotheken sei, die Interessen der potentiellen Lesenden zu unterstützen, ihnen Fortbildungsmöglichkeiten und „sinnvolle Freizeitbeschäftigung‟ zu bieten, aber sie auch nicht zu zwingen, wurde dem in der Lesesoziologie gefolgt. Weiterhin wird in diesen Jahren gefragt, was gelesen wird, von wem und warum. Es werden Thesen über die weitere Entwicklung der Literatur aufgestellt, da man davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche und technologische Entwicklungen auch darauf niederschlagen werden, was und wie viel gelesen wird. (Stichwort: Mehr Freizeit.)

Auffällig ist auch, dass die jeweilige Lesesoziologie sich mit den Aufgaben der Bibliotheken verbindet. In der DDR gab es beispielsweise immer wieder „parteiliche‟ Auswertungen, in denen aus den gesammelten Daten vor allem die der „Werktätigen und Kollektivbauern‟ herausgehoben wurden. Bekanntlich sollten die gefördert werden, damit sie die sozialistische Gesellschaft aufbauen könnten. (Und dann wären alle in der sozialistischen Gesellschaft, auch die, die nicht gesondert gefördert würden.) Hier verband sich Politik und Bibliotheksarbeit ganz direkt.

Aber, und das ist mir hier wichtig: Die Grundfragen der Lesesoziologie blieben. Was lesen die Leute und warum? Die Studien und Inhalte entwickelten sich mit den Bibliotheken,. Aber die Grundüberzeugung, dass eine sinnvolle Bibliotheksarbeit nur möglich wäre, wenn es Antworten auf diese Frage gibt, wurde die ganze Zeit beibehalten. (Das ist wichtig für die Frage ganz unten, ob sich Lesesoziologie wieder etablieren lässt.)

Gesellschaft und Lesesoziologie

Eine Sache, die in der ganzen Lesesoziologie auffällt, ist, dass sie immer einen Blick auf die Gesellschaft hatte. Egal, wer die Studien betrieb, egal in welchem Jahrzehnt oder für welchen Bibliothekstyp: Es gab immer ein klares Verständnis davon, dass die soziale Schicht und die konkreten sozialen Umstände, aus denen die betreffenden Lesenden kamen, eine grosse Bedeutung für die jeweilige Lesebiographie hatten. Sowohl dafür, was gelesen wurde als auch dafür, was als sinnvolle Lektüre galt. Nicht nur Arbeiterbibliotheken – bei denen das zu erwarten war, immerhin waren sie Teil einer marxistischen Bewegung – gingen davon aus, dass verschiedene soziale Schichten einen unterschiedlichen Zugang zum Lesen hatten, sondern praktisch alle taten dies. Sicherlich betonten andere Bibliotheken mehr die individuellen Entscheidungen der Lesenden. Aber praktisch galt immer:

  1. Prinzipiell können alle Menschen lernen, alle Literatur lesen.
  2. Menschen in verschiedenen sozialen Schichten haben unterschiedliche Möglichkeiten dazu. Deshalb ist es wichtig, nach den sozialen Umständen zu fragen.

Oft wurde zum Beispiel betont, dass Arbeiter*innen gar nicht so viel Zeit hätten, um sich umfassende literarische Kenntnisse anzueignen. Oder das der Alltag von Bäuer*innen durch die „Zeitläufe der Natur‟ geprägt sei und somit auch die Anregungen zur Beschäftigung mit Literatur andere wären als die der städtischen Mittelschicht. Das galt auch für Bibliotheken, die zum Beispiel einen „sozialen Ausgleich‟ im Ständestaat unterstützen sollten. Nicht nur für solche, die in Kategorien des Klassenkampfes dachten.

So oder so: Es war ein soziologisches Verständnis von Gesellschaft, das hinter der Lesesoziologie stand. Soziologisch in dem Sinne, dass die Gesellschaft begriffen wurde als in verschiedene soziale Schichten eingeteilt und dass die Literaturinteressen als von den sozialen Umständen dieser Schichten bedingt gedacht wurde (nicht determiniert, immer galt es auch die individuellen Interessen zu beachten). Deshalb zum Beispiel wurde intensiv diskutiert (in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen), ob der Zuwachs an Freizeit für Arbeiter*innen in Fabriken in den 1950er / 1960er Jahren zu anderen Leseinteressen dieser Schicht führen würden: Weil sich deren soziale Umstände veränderten.

Vom Verschwinden der Lesesoziologie

Heute gibt es, pauschal gesagt, keine Lesesoziologie mehr. Vor allem nicht mehr als Teil bibliothekarischer Arbeit. Sie kommt in der Ausbildung nicht vor. Sie kommt bei der Festlegung der Bestandsstrategien nicht vor und sie wird auch nicht bei den strategischen Prozessen von Bibliotheken benutzt. Wann ist das passiert und wieso?

Wie oben gesagt: Genau lässt sich das nicht sagen. Es scheint eher, als sei diese Tradition ausgelaufen. Wie so oft bei öffentlichen Bibliotheken scheint sich diese Veränderung in den 1970er zu vollziehen. Spätestens in den 1980er Jahren scheint die Tradition mehr oder minder „tot‟ gewesen zu sein. Sie taucht in den bibliothekarischen Publikationen nicht mehr auf.

Ist sie von etwas anderem ersetzt worden? Auffällig ist, dass, als diese Tradition verschwindet, das Konzept und der Begriff des „Kunden‟ (heute selbstverständlich auch „Kund*innen‟) auftaucht. Die Leute, die die Bibliothek nutzen, werden nicht mehr als Lesende, Benutzer*innen und so weiter verstanden, sondern als Kund*innen. Auch das nicht sofort, nicht vollständig. Aber wenn man ein Datum setzen will, dann wäre der Beginn des Engagements der Bertelsmann-Stiftung im deutschen Bibliothekswesen 1985 ein guter Termin. Das würde zeitlich passen. (Aber nicht erklären, warum es in Österreich, der Schweiz und auch der DDR mit dieser Tradition gerade dann vorbei zu sein scheint. Man kann das Engagement der Stiftung vielleicht als Katalysator einer Entwicklung, die auch so stattgefunden hätte, interpretieren.)

Was diesen Begriff unter anderem auszeichnet ist, dass die Menschen als einzelne Individuen begriffen werden, die eigne Interessen ausprägen. Soziale Unterschiede werden dabei eingeebnet: Warum die Individuen ihre Interessen ausprägen, warum sie das mögen und das nicht, wird als grundsätzlich egal angesehen. Sie werden Atomisiert. Es wird bei Kund*innen eher nach Trends gefragt, die sich entwickeln und auf die man reagieren müsste und nicht mehr nach sozialen Umständen, welche die Trends hervorbringen. Zumindest als These lässt sich aufstellen, dass die Lesesoziologie mit ihrem Fokus darauf, warum Menschen was lesen, nicht in ein solches Denken passt. Wenn die gesellschaftlichen Umstände die Literaturinteressen mitbestimmen, kann man sie nicht als Kund*innen verstehen. Die Fragen der Lesesoziologie passen nicht zum neoliberalen Denken.

Aber das kann nicht die ganze Erklärung sein: Das Wahrnehmen von Menschen als atomisierte Individuen, und nicht als geprägt von sozialen Schichten, muss überzeugt haben. Sonst wäre es nicht so angenommen worden. Und die Lesesoziologie – die, dass muss man erwähnen, oft zeigte, dass die Anstrengungen der Bibliotheken wenig Einfluss auf das Leseverhalten hatten – mussten weniger überzeugt haben.

Should we revive Lesesoziologie?

Bibliotheken heute wissen überhaupt nicht, welche Menschen aus welchen sozialen Schichten welche Literatur (oder welche anderen Medienformen) bevorzugen. Sie wissen nicht, ob sich das Interesse an bestimmten Medien, Genres und so weiter grob an sozialen Schichten orientiert oder nicht. Wenn überhaupt, dann wird gefragt, ob bestimmte Altersstufen und das Interesse an bestimmten Medien zusammenhängt. (Vor allem bei Kindern und Jugendlichen, nicht bei anderen Altersgruppen.2)

Die Lesesoziologie basierte auf der Annahme, dass man wissen müssen, was Menschen lesen und warum, um überhaupt den Bestand und die restlichen Aktivitäten der Bibliothek sinnvoll planen zu können. Das war keine falsche Überzeugung. Heute hingegen scheinen die meisten Entscheidungen von Bibliotheken über den Bestand und über die Angebote der Bibliothek auf kaum fundierten Vorstellen, Behauptungen und Hoffnungen (die sich halt auch oft zerschlagen) aufzubauen. Dadurch, dass die Tradition der Lesesoziologie aufgegeben wurde, haben sich Bibliotheken (gewiss ungewollt) eher in die Hände von meinungsstarken Einzelpersonen begeben. Sie sind dadurch strukturell dümmer geworden (im Sinne von: Sie wussten früher mehr).

Eventuell ist ein Grund dafür, dass sie ihre strategischen Entscheidungen mehr und mehr nicht an Medien, sondern an Angeboten, die weniger mit Medien zu tun haben, ausrichten, der, dass sie sich kaum noch Daten darüber erarbeiten, was Menschen eigentlich alles mit Medien machen. Die Abwertung der konkreten Mediennutzung (also dem lautstark thematisieren Interesse am Lesen und ähnlichen Aktivitäten) im bibliothekarischen Diskurs scheint auch mit dem Niedergang der Lesesoziologie einigermassen parallel zu laufen.

Deshalb drängt sich Frage auf (auch, weil die These vom Ende des Neoliberalismus in unseren Gesellschaften in der Luft hängt), ob es sinnvoll und möglich wäre, die Lesesoziologie wiederzubeleben. Sollte man Bibliotheken raten, sich wieder Studien darüber zuzuwenden, was und warum ihre potentiellen Nutzer*innen lesen?

Ja, aber der Zeit und unserem Wissen über die Medienrezeption angepasst. Es ist offensichtlich, dass in den letzten Jahrzehnten, in denen Bibliotheken versucht haben, Angebote neben der „reinen Mediennutzung‟ aufzubauen, die Nutzung der Medien – und vor allem immer noch das Lesen von ausgeborgten, gedruckten Büchern – weiterhin die Hauptaktivität in Bibliotheken geblieben ist. Das ist nie weggegangen. Deshalb sollte man auch wieder anfangen, Daten über diese Aktivitäten zu erheben und für die bibliothekarische Arbeit zu verwenden.

Wie oben diskutiert wurde die Lesesoziologie immer im Rahmen dessen durchgeführt, wie die Bibliotheken jeweils ihre Aufgaben definierten. Lesesoziologie ist also wandelbar. Was wäre heute anders?

  1. Sicherlich würde man heute die verschiedenen Medienformen, die in Bibliotheken vorhanden sind, integrieren. Das wäre keine Innovation. Als in Bibliotheken Angebote an Zeitschriften und Zeitungen aufgebaut wurden, wurden auch sie in die lesesoziologischen Befragungen integriert. (Sie würde dann vielleicht auch anders heissen. Aber Lesesoziologie ist ja, wie oben dargestellt, eh nur der Begriff, den ich gewählt habe. Insoweit wäre auch das kein Problem.)
  2. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herrschte eine recht direkte Vorstellung davon, wie Literaturrezeption funktioniert vor. Man ging davon aus, dass man aus dem Text selber herauslesen konnte, wie dieser auf die Lesenden wirken würde. Literatur würde praktisch eins zu eins interpretiert, Romane praktisch als Abbildung der Realität gelesen (und damit zum Beispiel falsche Vorstellungen vermitteln oder aber gerade ungewohnte Einblicke ermöglichen). Das stimmt selbstverständlich nicht. Die Literaturwissenschaft (oder auch die Filmwissenschaft, die Musikwissenschaft und so weiter) haben komplexere Rezeptionsmodelle erarbeitet und auch empirisch untermauert. Wir wissen zum Beispiel heute, dass Lesende jeweils mitbestimmen, wie ein Medium wahrgenommen wird und das Bedeutung eines Textes (Films, Musikstücks und so weiter) von diesen bei der Rezeption co-produziert wird.3 Solche Rezeptionsmodelle müssten sinnvoll in die Lesesoziologie integriert werden.
  3. Es gibt heute mehr Forschungseinrichtungen um Bibliotheken drumherum als früher. All die Fachhochschulen, aber auch mietbaren freien Forschungsinstitute wären wohl in der Lage, lesesoziologische Untersuchungen durchzuführen. Aber: Die Stärke der Lesesoziologie war, dass sie direkt von Bibliotheken durchgeführt und dann wohl auch eher genutzt wurde. Nur Daten über die Mediennutzung zu erheben, verändert die Bibliotheksarbeit noch nicht. (Es gibt ja zum Beispiel regelmässige Studien zur Nutzung digitaler Medien. Wie werden die den genutzt.) Wenn Bibliotheken solche Studien durchführen, müssen sie sich selber klar werden, was sie eigentlich wieso und wie fragen, auswerten und so weiter. Das ist es, was wiederbelebt werden sollte.

Was sich allerdings ändern würde durch eine solche „neue Lesesoziologie‟ wäre wohl, dass einige in den letzten Jahrzehnten liebgewonnene Vorstellungen über Bibliotheken aufgegeben werden müssten: Es würde sich zeigen (weil sich das in anderen soziologischen Studien auch immer wieder zeigt), dass sich die Interessen an bestimmten Medien, Genres, Inhalten und so weiter stark an den sozialen Schichten anlehnen. Die Grundvorstellung, dass es in unseren Gesellschaften nur „Kund*innen‟ gäbe, müsste aufgegeben werden. Ausserdem würde sich wohl zeigen, dass es weiterhin die Mediennutzung ist, welche die meisten Besuche von Bibliotheken motiviert. Es ist seit den 1980ern normal geworden, zu behaupten, Bibliotheken müssten sich auf andere Angebote konzentrieren (heute Makerspaces, aber auch das ist nicht neu, sondern eine Tradition). Es würde sich wohl zeigen, dass diese Behauptungen argumentativ davon profitieren, dass sie kaum empirisch überprüft werden. Wie gesagt zeigte sich in den lesesoziologischen Untersuchungen oft, dass die Bemühungen der Bibliotheken mit spezifischen Angeboten, Beratungen, Lenkungsversuchen und so weiter die Lesenden zu beeinflussen, immer nur geringe Effekte hatten,. Immer kamen Menschen vor allem, um das zu lesen was sie interessierte. Wenn sich also in neuen lesesoziologischen Untersuchungen zeigen würde, dass das auch heute gilt, wäre das nur gut. Es würde die Bibliotheksarbeit erden.

 

Fussnoten

1 In meinem Artikel zu Arbeiterbibliotheken in der vorletzten LIBREAS habe ich auch Beispiele angeführt, wo solche Studien zu polemischen Zwecken genutzt wurden. Zum Beispiel Abbildung 4 und 5, wo die Arbeiterbibliotheken Wiens anführen, welche Autor*innen und welche Arten von Beständen bei Ihnen ausgeliehen wurden, um zu zeigen, dass sie die Kultur der Arbeiter fördern würden. (Schuldt, Karsten (2019). „Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts‟. In: LIBREAS. Library Ideas 35 (2019), https://libreas.eu/ausgabe35/schuldt/).

2 Es gab auch die kurze Zeit, wo einige Bibliotheken auf den antifeministischen Zug aufzuspringen versuchten und angebliche „Literatur für Jungen‟ anbieten wollten. Das ist zum Glück untergegangen, wohl auch weil die Vorstellungen davon, was „Jungenliteratur‟ sein soll, auf keinen Daten – sondern auf hinterwäldlerischen und antifeministischen Annahmen – beruhte.

3 Das wäre übrigens die „richtige‟ Verwendung von „co-produziert‟ (richtig im Sinne von: hierfür gibt es einen Definition). Ich weiss, dass Bibliotheken diesen Begriff aktuell auch benutzen, aber mir ist nicht klar, was sie damit meinen. Offenbar nicht das.

Wie schnell oder langsam sollen sich Bibliotheken verändern? [Vortragsskript]

Skript zu einem Vortrag auf der Herbsttagung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare Graubündens (organisiert von Lesen.GR – KJM Graubünden) am 18.09.2019, Bergün.


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Werte Damen und Herren,

gerne ich möchte heute zu Ihnen über ein Thema sprechen, von dem ich denke, dass es für die Bibliothekspraxis relevant ist, auch wenn es nicht sofort praktisch klingt: Ich möchte gerne diskutieren, wie schnell sich Bibliotheken verändern können und sollen. Dabei geht es mir nicht darum, wie Sie merken werden, Anweisungen zu geben über Veränderungen – das können andere viel besser, selbstbewusster. Stattdessen möchte ich mir mit Ihnen die Realität anschauen, die wir wirklich in Bibliotheken vorfinden und daraus Schlüsse ziehen.

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Das ist meine Agenda. Zuerst möchte ich die jetzige Situation skizzieren, auf die man trifft, wenn man über Veränderungen in Bibliotheken, vor allem Öffentlichen Bibliotheken redet. Das geht sonst oft unbeachtet im Alltag einfach unter, aber ich denke, das Problem, über das ich mit Ihnen nachdenken möchte und die Grundfrage hinter dem Thema wird schnell sichtbar, wenn wir uns einmal diese Skizze anschauen. Wir werden unterschiedliche Positionen vorfinden. Ich möchte dann schauen, ob eine dieser Positionen argumentativ so untermauert werden kann, dass sie als Richtig gelten muss, oder aber – das ist dann eher meine These, wie Sie schon in der Agenda sehen – ob wir es mit einer Struktur zu tun haben, die dem Bibliothekswesen eigen ist. Wir werden uns dabei in einer gewissen Abstraktionsebene bewegen, deshalb werde ich das Ganze anschliessend nochmal an einigen ausgewählten Beispielen besprechen. Ich denke, mit diesen wird die abstrakte Diskussion verständlicher werden. Und zuletzt möchte ich ganz kurz zusammenfassen, was Bibliotheken aus all dem mit in den Alltag nehmen können.

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Schauen wir uns die Situation an. Was passiert, wenn man in Bibliotheken versucht, über Veränderungen zu sprechen?

Sie finden dann immer Kolleginnen und Kollegen, welche mehr oder minder rabiat die Meinung vertreten, dass Bibliotheken sich praktisch gar nicht verändern würden, es aber unbedingt sehr schnell müssten. Bibliothek würden schon lange den Entwicklungen in der Gesellschaft, der Technik, der Pädagogik und so weiter hinterherhinken – und das sei ein Problem. Zudem äussern diese Kolleginnen und Kollegen oft den Eindruck, dass Veränderungen in Bibliotheken oft blockiert und hinterfragt würden, dass sie sich oft sehr alleine bei ihrem Drang nach vorne fühlen und das sie oft den Eindruck haben, dass andere Kolleginnen und Kollegen lieber alles so bleiben lassen würden, wie es ist.

Gleichzeitig – schon, weil dies auch in anderen Bereichen wie der Wirtschaft, oder hier in Bergün, wie wir gerade wieder gehört haben, dem Tourismus,1 gilt – sei es notwendig, dass sich Bibliotheken verändern, sonst würden sie nicht mehr lange bestehen. Das wird mal mit mehr, mal mit weniger Verve vorgetragen.

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Andere Kolleginnen und Kollegen hingegen haben ein anderes Gefühl: Bibliotheken, so ihre Ansicht, würden sich schon ständig verändern, viel zu schnell, viel zu unstet. Sie haben oft eher den Eindruck, dass sie gar keine Ruhe für „normale‟ Arbeit mehr hätten und stattdessen immer aufgefordert würden, noch Mehr, noch Neueres, noch Innovativeres zu tun. Es ist ihnen oft unverständlich, wieso, da vieles von dem, was Bibliotheken tun, zu funktionieren scheint. Wenn die vorher besprochenen Kolleginnen und Kollegen oft das Gefühl zu haben scheinen, dass sie in ihrer Arbeit aufgehalten werden, haben Kolleginnen und Kollegen mit dieser Position oft das Gefühl, dass ihre eigentlich Arbeit nicht wertgeschätzt wird.

Dabei können Sie sich darauf berufen, dass Bibliotheken überhaupt nicht so schnell untergehen, wie das manchmal als Szenario gezeichnet wird. Auch bisherige Veränderungen hätten Bibliotheken gut überstanden.

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Und wieder andere Kolleginnen und Kollegen befinden sich in einer Position zwischen diesen beiden, sagen wir einmal, Extremen. Einerseits verstehen sie, dass Bibliotheken sich verändern müssen, andererseits haben sie auch den Eindruck, dass das passiert. Oft scheinen Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, nicht immer fassbar. Wenn sie darüber nachdenken, können sie Dinge benennen, die sich verändert haben – nicht nur kleine in ihrer eigenen Bibliothek, die auch mal renoviert wurde oder wo der Bestand umgestellt wurde, sondern auch grundsätzliche Dinge. Aber gleichzeitig erinnern sie sich schnell an Hypes, die es auch gab, wo behauptet wurde, dass diese sich bald durchsetzen würden – aber… es dann doch nicht taten. Diese Kolleginnen und Kollegen sind oft etwas unsicher in Bezug auf Veränderungen: Ja, aber wie? Und welche? Welche nicht?

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Das sind, etwas überzeichnet und zusammengefasst, die Positionen, die Sie vorfinden, wenn Sie in Öffentlichen Bibliotheken, zumindest hier in der Schweiz, über Veränderungen reden.2 Ich möchte versuchen zu klären, wer Recht hat. Das ist die erste Aufgabe in diesem Vortrag. Den, wenn wir das sagen können, dann hat das Auswirkungen auf die Bibliotheken.

Dabei, dass möchte ich kurz vorher klären, schaue ich auf die Bibliotheken als Bibliothekswissenschaftler, nicht als Bibliothekar. Das ist – für diese Frage – eine privilegierte Position. Ich muss zum Beispiel nicht im Alltag Entscheidungen treffen darüber, ob eine bestimmte Veränderung umgesetzt wird oder nicht. Ich muss mich auch nicht mit dem Gemeinderat oder so über den Etat auseinandersetzen. Dafür bin ich immer etwas ausserhalb: Ich sehe Veränderungen, Trends, Entwicklungen, Kontinuität in vielen Bibliotheken auf einmal, nicht unbedingt den praktischen Alltag, den Umgang mit den Nutzerinnen und Nutzern. (Und muss dafür andere Entscheidungen treffen, zum Beispiel Noten geben. Aus dem Entscheidtreffen kommt man wohl nicht raus.)

Gleichzeitig habe ich immer, einen etwas historischen Blick auf Bibliotheken. Das werden sie an den Beispielen vielleicht merken. Nicht so sehr auf die alten Bibliotheken im Barock oder so; aber auf die modernen Bibliotheken so ab 1880, 1890, der Industrialisierung, der Moderne. Mich interessieren die Diskussionen und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Ich kann schon vorwegnehmen, dass sich unsere Frage wohl nicht mit einem einfach Ja oder Nein beantworten lässt. Aber das ist auch zu erwarten: Die meisten Fragen, wenn man etwas über sie nachdenkt, sind das nicht. Doch auf dem Weg zu unserer komplexeren Antwort werden wir hoffentlich genügend Neues lernen.

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Wie ist die Situation also jetzt? Sie sieht schon stark nach einer Struktur aus, also nach etwas, was nicht die Verantwortung, Schuld etc. einzelner Personen ist, die sich richtig oder falsch verhalten, sondern nach einer Anordnung von Positionen, die sich zu einem System ergänzen.

Zuerst: Die drei Positionen, die ich Ihnen am Anfang genannt habe, laufen im Bibliothekswesen im Alltag gut nebeneinander her, ohne sich gegenseitig aufzuheben, obwohl sie das ja eigentlich inhaltlich tun. Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Positionen können Bibliotheken, zum Teil die gleiche Bibliothek miteinander, betreiben, ohne dass damit die Arbeit dysfunktional wird. Erst dann, wenn es wirklich um Veränderungen geht – und selbst dann nicht immer – kommt es zu Friktionen. Es scheint aber, dass das Bibliothekswesen als Ganzes gut mit diesen unterschiedlichen Positionen leben kann.

Dann ist die Situation aber natürlich unbefriedigend. Kolleginnen und Kollegen sind in dieser Frage oft unsicher: Veränderung, welche Veränderung? Und teilweise, wie wir gesehen haben, fühlen sie sich auch nicht ernst genommen, ausgebremst, zumindest schlecht behandelt. Dabei, dass kann ich Ihnen versichern, wollen eigentlich alle, dass die Bibliothek gut funktioniert. Wenn sie sich nicht darum Gedanken machen würden, was gut ist für die Bibliothek, wären sie nicht so involviert, dass man immer und immer wieder so emotionale Aussagen hören würde. Dann wäre es ihnen wohl viel eher egal. Aber alle wollen etwas Positives für die Bibliothek, alle finden die Situation, wie sie sie jetzt sehen, nicht gut. Das ist unbefriedigend. Aber es ist erinnert auch an viele, viele andere Situationen in unserer heutigen Gesellschaft: Alle verlieren irgendwie ein bisschen, dann funktioniert es.

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Doch gehen wir einmal die drei genannten Positionen durch und schauen wir, ob sich eine davon bestätigen lässt. Das ist jetzt vielleicht, weil ich als Wissenschaftler arbeite und man in der Wissenschaft so vorgeht. Aber es scheint mir sinnvoll, einen solchen Test zu machen. Wenn wir finden, dass eine Position argumentativ oder empirisch gut untermauert ist und die anderen nicht – dann wäre die Frage einfach geklärt. Wir haben aber leider keine Daten, genauer nicht mal ein Modell, um überhaupt zu wissen, welche Daten wir erheben und auswerten könnten. Einfache Empirie geht also nicht. Deshalb müssen wir etwas weiter greifen und fragen, was für oder gegen die jeweilige Position spricht – aber auf der Basis dessen, was wir über die Welt und über Bibliotheken wissen.

***

Also: Zur ersten Position, der, dass sich Bibliotheken schnell ändern müssen. Für diese lässt sich sagen, dass es sehr wohl viele und schnelle Veränderungen gibt, dass sich Bibliotheken heute in einem sehr, sehr anderen gesellschaftlichen, technischen, medialen Umfeld befinden, als vor zehn oder 20 oder 30 Jahren. Ich hab ihnen ein paar zusammengetragen: Ihr Smartphone, das hat sich rabiat schnell entwickelt und ist heute Teil ihres, unseres Lebens, kam aber erst vor knapp zehn Jahren wirklich auf. Der Lehrplan 213 hat innerhalb kurzer Zeit das Reden und Denken darüber, wie Schulen funktionieren, was und wie sie lehren sollen, verändert. Diese Fokussierung auf Kompetenzen, die jetzt in den Schulen umgesetzt werden soll, die Veränderung dessen, was von den Lehrpersonen erwartet wird – beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Eltern – hat sich in der Schweiz in erstaunlich wenigen Jahren schnell verschoben. Und aktuell können wir uns garantiert darauf einigen, egal wie Sie persönlich politisch bei diesem Themen stehen, dass jetzt breit ganz anders über Plastik, Wegwerfgesellschaft, Ökologie, das Fliegen geredet wird, als noch vor zehn Jahren. Oder beim Rauchen, da können Sie die Veränderung auch gut sehen, wie schnell sich diese verschoben hat. Veränderungen finden also statt, dass ist nicht zu bestreiten. Die Position, dass sich Bibliotheken schon deshalb verändern müssen, weil sich soviel anderes verändert, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen.

Und gerade in der Wirtschaft gilt: Wer sich nicht um Innovation bemüht und sich nicht verändert, geht unter. Für andere Bereiche als die Bibliotheken finden wir das wohl auch ohne Probleme verständlich. Vor diesem Vortrag haben wir über Bergün-Filisur Tourismus gehört und wie dieser verband versucht, sich neue Felder des Tourismus zu erschliessen. Und egal, was wir jetzt von den eingeschlagenen Wegen halten: Das es für die Region notwendig ist, sich solche Gedanken zu machen, musste hier wohl niemand erklärt werden. Warum sollte das nicht auf Bibliotheken übertragen werden?

Das ist die Stärke der Position. Eine wichtige Schwäche ist allerdings, dass es nicht einfach ist zu sagen, auf welche Veränderungen genau Bibliotheken (oder andere Einrichtungen wie Tourismusverbände) reagieren sollen. Auf einige schon, aber auf andere eher nicht. Im Nachhinein ist es einfacher zu sagen, auf welche. Aber mittendrin in den Veränderungen? Schwieriger.

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Weiter zur zweiten Position, der, dass es schon zu viel Veränderungen gibt und dass es sinnvoller wäre, einfach mal als Bibliothek arbeiten zu können. Lässt sich diese Position untermauern?

Tatsächlich können wir in der Bibliotheksarbeit viel Konstanz sehen. Insbesondere kann man für Öffentliche Bibliotheken sehen, dass trotz aller Veränderungen, Umbauten, neuen Services und auch entgegen dem, was man wegen der Veränderungen in der Mediennutzung in der Gesellschaft annehmen würde, weiterhin die Nutzung von gedruckten Büchern im Mittelpunkt steht. Auch, wenn viele Menschen in die Bibliothek kommen, um sie als Treffpunkt, Aufenthaltsraum oder so zu benutzen, auch wenn Veranstaltungen in den Bibliotheken oft gut besucht sind, zielt weiter der übergrosse Teil der Bibliotheksbesuche darauf, Bücher auszuleihen. Das ist auch in den letzten Jahren gleich geblieben.

Es ist auch so, dass in vielen Bibliotheken von immer angekündigten Veränderungen so viel nicht mitzubekommen ist: Weiterhin haben Sie ja auch in ihren Bibliotheken viele Familien, welche die Bibliotheken benutzen. Weiterhin vor allem Menschen, die Lesen wollen – ob in der Bibliothek oder anderswo. Das ist immer noch der Mittelpunkt bibliothekarischer Arbeit. Auch die Hoffnungen darauf, was die Veränderungen in Bibliotheken, die durchgeführt werden, erreichen sollen, scheinen sich so schnell nicht zu ändern. Seit Jahrzehnten soll jedes Mal die Bibliothek zum Begegnungsort, zum Treffpunkt der Gemeinde werden; fast immer sollen Jugendliche angesprochen werden. Man kann also schnell den Eindruck bekommen, dass sich so schnell auch nichts verändert und gute Gründe für diese Position finden.

Selbst bei den Veränderungen, die man wahrnimmt, lässt sich Frage stellen, ob das nicht einfach die normale Entwicklung ist – Medienformen, die sich verändern; Mediennutzung, die sich mit verändert; andere Moden, die sich austauschen –, die in der Gesellschaft auch so stattfindet? Schaut man sich die Situation so an, dann lässt sich schon vermuten, dass es einen Kern bibliothekarischer Arbeit gibt, der sich so schnell nicht entwickelt. Insoweit kann auch diese Position gute Argumente für sich vorbringen.

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Und zur dritten Position, die in der Mitte. Auch die lässt sich begründen. Es gibt Hypes und Moden im Bibliothekswesen und gleichzeitig gibt es wirkliche Veränderungen. Ist man nur etwas länger in Bibliotheken beschäftigt, erinnert man sich an Dinge, die versucht und wieder eingestellt wurden; an Vorschläge für neue Angebote und ähnliches, denen dann nichts mehr folgte. Und gleichzeitig kann man doch Veränderungen benennen, meist mit etwas Nachdenken. Einige Veränderungen gibt es nämlich, die aber oft schnell zum Alltag werden und dann erscheinen, als wären sie praktisch schon immer Teil der Bibliothek gewesen. Aber es gab oft einen Zeit davor, beispielsweise vor den Selbstverbuchungsanlagen.

Auch diese Position lässt sich leicht bestätigen. Es gibt Veränderungen und es gibt Trends. Beides. Was soll man daraus machen? Gibt es erkennbare Gründe dafür, dass sich das Eine durchsetzt und das Andere nicht? Setzt sich durch, was sinnvoll ist? Was heisst sinnvoll?

Wir können das noch einmal an den gleich folgenden vier Beispielen durchspielen, welche die Aussagen zu den drei Positionen hoffentlich noch verständlicher machen.

Folie 11

Hier das erste Beispiel: Buchstart.4 Das ist der erste Artikel, mit dem das Projekt damals dem Bibliothekswesen in der Schweiz vorgestellt wurde. Sie sehen: 2007. Das ist so lange auch nicht her. Davor gab es in Öffentlichen Bibliotheken hier in der Schweiz praktisch keine Angebote für Kinder von 0-3 Jahren. Das war keine Zielgruppe, über die nachgedacht wurde, was vielleicht auch mit der massiven Verbreitung der Ludotheken zu tun hat. Aber dann hat sich das rasend schnell etabliert. Heute ist es praktisch für jede Bibliothek normal, spezifische Angebote für diese Zielgruppe zu haben, eigene Veranstaltungen, eigene Bestände. Das wird nirgends mehr kritisiert oder diskutiert, dass ist einfach so. Ich bin 2012 in die Schweiz gekommen und damals schon wurde mir in jeder Öffentlichen Bibliothek, die ich besuchte, Buchstart als Angebot gezeigt. Das war fünf Jahre nach diesem ersten Artikel.

Aber es wird auch kaum noch bedacht, dass es eine lange Zeit gab, in der das nicht so war. Es wurde vorgeschlagen, setzte sich schnell durch. Dabei hat bestimmt geholfen, dass am Anfang Geld dahinter stand und auch, dass es von Bibliotheken schnell als sinnvoll angenommen wurde. Für die Fragestellung dieses Vortrags ist aber vor allem wichtig, wie schnell das passierte und wie schnell es praktisch vergessen ging, dass dies eine recht grosse Veränderung darstellte.

Folie 12

Das zweite Beispiel ist ähnlich. Aber es gab eine Zeit in den frühen 2000er Jahren, in denen die Idee, in Bibliotheken Medienkisten zusammenzustellen und anzubieten, als neue Idee präsentiert wurde. Immer wieder wurden verschiedene Formen dieser Kisten vorgestellt, oft so, als hätte es die anderen Artikel, Vorträge und so weiter zu Medienkisten nicht gegeben. Dabei wurden immer wieder ähnliche Ideen präsentiert – entweder fertige Medienkisten oder solche, die für Schulen und ähnliche Einrichtungen im Auftrag neu zusammengestellt wurden – und manchmal ganz kleinteilige Fragen – wie viele Medien, welche Medienformen, wo kann man Kisten herbekommen und so weiter – behandelt. Und dann, nach einigen Jahren, hörte das wieder auf. Dieser Text hier von 2009 ist eigentlich schon ein sehr später Texte. Schauen Sie heute in die bibliothekarische Literatur, finden Sie solche Texte praktisch nicht mehr.

Aber wenn Sie gleichzeitig in Öffentliche Bibliotheken gehen, finden sie praktisch überall diese Kisten in der einen oder anderen Form, in grösseren Bibliotheken auch in verschiedenen Varianten: Als Kisten für Lehrpersonen und Kindergärten, für Grosseltern, als Überraschungstaschen. Sie sind als normales Angebot von Bibliotheken etabliert, so normalisiert, dass nicht mehr über sie diskutiert wird. (Obwohl es sinnvoll wäre, die Erfahrungen dazu auszutauschen, aber darum soll es hier nicht gehen.)

Wer heute anfängt in einer Bibliothek zu arbeiten, lernt das Pflegen solcher Boxen als normale Arbeit kennen, die halt gemacht wird, ohne zu merken, dass das vor 15-20 Jahren nicht normal war. Das ist ein weiteres gutes Beispiel für Veränderungen, die sich durchsetzen und bei denen dann vergessen geht, dass sich das erst so entwickeln musste, um so zu sein, wie es heute ist.

Aber das ist für die Fragestellung hier relevant: Wenn man bei einigen Angeboten schnell vergisst, dass dies sich erst entwickelt haben, dass die also als Veränderungen erst eingeführt werden mussten, dass lässt sich vielleicht erklären, warum die einen Kolleginnen und Kollegen den Eindruck haben, dass sich praktisch nichts verändert, während andere den Eindruck haben, alles würde sich ständig verändern.

Folie 13

Ein anderes Beispiel, aber eines, das meiner Meinung nach etwas sehr gut erklären kann: Ich habe Ihnen hier einen Text von 2004 mitgebracht, aber der hätte auch aus den 1970ern oder 1990ern oder von heute sein können. Die Vorstellung, Bibliotheken wären „Büchertempel‟ oder würden zumindest als solche wahrgenommen, finden Sie spätestens seit den 1970ern ständig in der bibliothekarischen Literatur. In diesem Jahrzehnt änderte sich viel, auch für die Öffentlichen Bibliotheken. In der Schweiz kam es eigentlich erst dann zur Verbreitung der Bibliotheken in der Fläche, also nicht nur in den grossen Städten, sondern wie wir es heute haben in vielen, vielen Gemeinden. Aber seitdem finden sie diese Vorstellung, teilweise mit gleichbleibenden Formulierungen, immer und immer und immer wieder. Es gibt diese Vorstellung, dass die Bibliothek irgendwie veraltet sei und dass sie deshalb verjüngt werden müsse. Auch die Vorschläge dazu sind seit Jahrzehnten immer wieder ähnlich: Es müssten neue Medienformen in den Bestand, das Image der Bibliotheken müsse geändert werden, die Bibliotheken müssten Treffpunkt werden und „von den Büchern wegkommen‟.

Wie kann das stimmen, wenn sich Bibliotheken – wie wir gesehen haben – ja doch verändern? Ich denke, dass wir hier einen Hinweis darauf haben, dass dieser Eindruck sich aus der Struktur des Bibliothekswesen heraus ergibt. Nicht für alle, aber immer für einen Teil der Kolleginnen und Kollegen ergibt sich der Eindruck einer gewissen Rückständigkeit von Bibliotheken. Das ist gewiss ernst gemeint, aber eigentlich nie so richtig mit Fakten unterlegt. (Wenn es mal Umfragen dazu gibt, wie Bibliotheken wahrgenommen werden, zeigt sich, dass sie von der Bevölkerung eigentlich durchgängig positiv gesehen werden, auch von dem Teil, der keine Bibliotheken nutzt. Nicht super innovativ, aber sehr positiv. Kaum eine andere Einrichtung wird so positiv gesehen. Die Feuerwehr vielleicht noch. Aber trotzdem haben immer wieder Kolleginnen und Kollegen einen gegenteiligen Eindruck.)

Es ist auch bemerkenswert, dass die Begriffe, die in solchen Beiträgen genutzt werden, sich in gewisser Weise vererben. Es sind immer wieder neue Kolleginnen und Kollegen, die solche Beiträge verfassen, aber immer wieder mit ähnlichen Worten und Argumentationen.

Das ist für mich ein starker Hinweis darauf, dass diese Position – und damit wohl auch die anderen beiden Positionen in Bezug auf Veränderungen in Bibliotheken – strukturell zu erklären ist, dass sie also aus der Arbeit in Bibliotheken immer wieder neu entsteht und auch immer wieder entstehen wird, egal was sich ändert. Vielleicht, so meine Interpretation, muss es immer wieder Kolleginnen und Kollegen geben, die diese Position vertreten und andere, welche andere Positionen vertreten. Vielleicht geht es weniger um die konkreten Veränderungen und viel mehr darum, dass Bibliotheken so funktionieren, dass die einen, die Bibliotheken arbeiten, sich zurückgehalten, die anderen sich getrieben fühlen und wieder andere sich dazwischen wiederfinden.

Folie 14

Noch ein Beispiel, dass alles komplizierter macht. Es gab so zwischen 2005 und 2010 ein Thema, welches in der bibliothekarischen Literatur immer wieder auftauchte, die „Wertmessung von Bibliotheken‟. Die Idee war, das Bibliotheken sich gegenüber den Geldgebern profilieren müssten und könnten, indem sie bestimmten, welchen Wert ihre Leistungen haben. Es sollte also nachgewiesen werden, wie viel die Investition in Bibliotheken den Gemeinden, Institutionen, der Bevölkerung einbringen würde. So und so viele Franken Investition bringt so und so viele Franken sozialen Gewinn. (Oder, für wissenschaftliche Bibliotheken, Gewinn an Forschung.) Das wurde mit recht viel Verve vorgetragen und als zukünftige Form von Marketing und Fundraising beschrieben.

Es wurden verschiedene Methoden ausprobiert. Diese ergaben dann auch immer wieder Werte, welche zeigen sollten, dass die Bibliotheken der Gesellschaft, den Gemeinden und Menschen mehr einbrachten, als sie kosteten. Mindestens eine Promotion wurde zum Thema geschrieben, einige Abschlussarbeiten, eine ganze Reihe von Studien und Projekten wurde durchgeführt. Auch an meiner Hochschule, deshalb habe ich Ihnen gerade diesen Text mitgebracht.

Aber wenn sie heute schauen, dann ist davon praktisch nichts mehr übrig. Dieser Ansatz wurde nie widerlegt oder offiziell beendet, aber er kommt auch praktisch nirgends mehr vor: Nicht in der Literatur, nicht in den Handbüchern, nicht in der Praxis. Es wird Gründe dafür geben. Für meinen Vortrag ist aber wichtig, dass es ein gutes Beispiel für einen dieser Hypes abgibt, auf den Kolleginnen und Kollegen immer wieder einmal verweisen, wenn es um Veränderungen in Bibliotheken geht. Es gibt sie wirklich. Sie kommen auf, entwickeln eine kurze Zeit einen gewissen Verve, werden oft mit grösseren Versprechen – das sie die Bibliotheken verändern würden, das sie Bibliotheken retten, ihren Etat, ihren Bestand sichern würden – verbunden und verschwinden dann ohne grosse Nachwirkung. Auch das gibt es.

Aber warum war gerade dieses Thema ein Hype, während andere sich durchsetzten und schnell vergessen, dass sie auch eine Veränderung im Bibliothekswesen waren? Kann man das vorher sagen? Es ist nicht so einfach. Ich habe es mehrfach versucht, bin aber auch immer wieder daran gescheitert. Dinge setzen sich durch oder auch nicht – und nicht immer ist verständlich, wieso. Das wiederholt sich. Ich habe nur ein paar Beispiele ausgesucht, um das zu zeigen, aber es gibt viele mehr. Es scheint wirklich eher eine Struktur zu sein, die hier wirkt.

Folie 15

Also: Lässt sich eine der drei Positionen bestätigen? Können wir sagen, welche Position die Richtige ist?

Ja und Nein. Für alle drei Positionen lassen sich starke Argumente anführen. Beispiele aus der bibliothekarischen Realität verkomplizieren das alles noch. Aber wir können keine der Positionen verwerfen und auch keine als die Wahrscheinlichste bezeichnen. Vielleicht die dritte, aber das kann auch daran liegen, dass solche „Konsenspositionen‟ in der Mitte eigentlich immer irgendwie akzeptabel sind, aber dann auch noch nicht viel erklären.

Wir können also nicht sagen, welche Kolleginnen und Kollegen Recht haben und welche nicht. Eher scheint es so, als können man beides zu allen Positionen sagen, was ein Hinweis darauf sein kann, dass die Frage, wie schnell oder langsam sich Bibliotheken verändern sollen, vielleicht in der Praxis nicht so wichtig für das Funktionieren des Bibliothekswesen selber ist.

Folie 16

Noch zwei wichtige Anmerkungen zu dieser Frage. Zuerst finden wir diese Situation nicht nur in Bibliotheken vor, sondern auch in anderen, ähnlichen Institutionen. Gerade im Schulwesen scheint das offensichtlich zu sein. Auch hier geht es immer wieder um Veränderung oder Konstanz, auch hier gibt es immer wieder die drei Positionen, die ich für Bibliotheken gezeigt habe.

Aktuell gibt es eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die sich darum bemühen – in ihren eigenen Worten –, dass die Schulen im digitalen Zeitalter ankommen. Wenn Sie sich deren Kommunikationsplattformen anschauen – beispielsweise die Social Media Accounts von Beteiligten – finden Sie da immer wieder die Position, dass es schwierig sei, weil sie aufgehalten würden, weil sich andere Lehrpersonen gegen diese Veränderungen stellen und die Mitarbeit verweigern würden, weil Lehrpersonen und Direktionen nicht sehen würden, wie drängend das Thema sei. Und gleichzeitig finden sie auf Social Media Accounts anderer Lehrpersonen (oder in Diskussionen in der schulpraktischen Literatur) die Position, dass die Veränderung auch einmal aufhören müsse, damit man wieder zu normaler schulischer Arbeit übergehen können. Insbesondere lesen Sie da von steigender Arbeitsbelastung durch Veränderungen. Und dann finden sie viele, viele Positionen dazwischen, die keine klare Position zu haben scheinen, sondern die Notwendigkeit von Veränderung bejahen, aber gleichzeitig nicht wissen, wie viel von dieser Veränderung notwendig ist.

Das führt zu Friktionen und wohl auch zu Überlastung. Wir wissen das alle, dass der Lehrberuf von einer extrem hohen Burn-Out-Rate gekennzeichnet ist. Einer der Gründe dafür können die Friktionen sein, die wegen solchen Veränderungen auftreten, auch wenn das nicht der einzige Grund sein wird.

Im Schulwesen scheint sich also ebenso nicht einfach klären zu lassen, welche Position die richtige ist, sondern es lassen wohl für und gegen alle drei gute Argumente finden.

Wenn das aber im Bibliothekswesen und den Schulen (und noch anderen Einrichtungen wie Museen) ähnlich ist, ist das ein Hinweise auf eine Struktur, nicht auf Fehler einzelner Personen oder Missverständnisse, die einfach abgestellt werden könnten.

Folie 17

Ein anderer wichtiger Hinweise auf eine Struktur ist, dass sich diese Situation immer und immer und immer wieder im Bibliothekswesen zu finden scheint. Das ist offenbar keine gerade heute erst entstandene Situation, sondern eine, die immer wieder einmal in der Literatur aufscheint: Klagen, dass die Veränderungen zu langsam oder viel zu schnell, unüberlegt durchgeführt würden, finden sich immer wieder. Sicherlich: Immer etwas versteckt, weil im Allgemeinen bei Artikeln etwas überlegter formuliert wird, als in der mündlichen Rede. Aber doch auffällig durchgängig. Es gibt Zeiten, in denen das offensichtlicher ist – am Anfang des modernen Bibliothekswesens, während des „Richtungsstreits‟ in den 1920er Jahren oder Ende der 1960/Anfang der 1970er, als es ja tatsächlich zu massiven Veränderungen kam. Aber es scheint nicht aufzuhören.

Das heisst, die Kolleginnen und Kollegen ändern sich – weil neue hinzukommen, andere in Rente gehen – und auch die Themen ändern sich immer wieder einmal. Aber die Struktur, die Struktur, die Argumente und Klagen, die ändern sich kaum, sondern wiederholen sich.

Folie 18

Was machen wir daraus? Ich denke, es sollte klar geworden sein, dass ich der Überzeugung bin, dass es sich beim Thema, wie schnell oder langsam Bibliotheken sich verändern sollten, um eine Struktur handelt, nicht um Fehler oder falsche Meinungen einzelner Kolleginnen und Kollegen. Auch wenn das manchmal so scheinen kann, auch wenn einige Kolleginnen und Kollegen von Auseinandersetzung und Entscheidungen um Veränderungen stark beeinflusst werden und sich von anderen gedrängt, gestresst oder in der eigenen Arbeit aufgehalten sehen, auch wenn einige das Gefühl haben, dass etwas ganz schief läuft.

Das es schon lange und auch in anderen Einrichtungen solche Friktionen gibt, das sich die Positionen und auch das Schicksal von Veränderungen – das einige sich durchsetzen, aber schnell ihr Status als Veränderung vergessen geht, andere aber schnell wieder verschwinden – wiederholen, scheint mir darauf hinzudeuten, dass sich dies offenbar aus der Struktur der Einrichtungen ergibt. Offenbar entsteht immer wieder für einige Kolleginnen und Kollegen die Vorstellung, dass es viel zu langsam geht, obwohl die Situation drängend ist, für andere die Vorstellung, dass es viel zu viele Veränderungen in viel zu kurzer Zeit gäbe und für wieder andere, dass es nicht so klar ist. Und offenbar gibt es immer wieder für alle Positionen gute Gründe.

Wenn das so ist, dann hängt es aber auch nicht an einzelnen Personen. Es würde aber erklären, warum eigentlich alle etwas Positives für Bibliotheken wollen, aber bei unterschiedlichen Positionen landen.

Folie 19

Ich finde das einen Erkenntnisfortschritt. Wenn man klären kann, dass eine Situation eine Struktur ist und diese Struktur benennen kann, dann kann man auch gemeinsam daran gehen, diese Struktur zu verändern. Ich habe mich hier nicht daran gemacht, zu klären, wie genau diese Struktur aussieht und warum sie so wirkt, wie sie wirkt. Wichtig scheint mir erst einmal in einem ersten Schritt zu klären, dass sie überhaupt existiert.

Aber wenn man sich daran machen will, sie zu ändern, müsste man fragen, was den das Ergebnis dieser Struktur ist: Wieso wird sie immer wieder reproduziert? Wie hält sie die Institut Bibliothek aufrecht? Wer gewinnt durch sie was? (Selbstverständlich nicht als Verschwörungstheorie, dass sich hier irgendwer etwas aneignen würde, sondern als sozialer Gewinn. Vielleicht können sich durch diese Struktur Kolleginnen und Kollegen eine Professionalität erarbeiten, die sie sonst nicht hätten?)

Folie 20

Wenn wir einmal akzeptieren, dass es sich um eine Struktur handelt, dann können wir schon jetzt aus diesem Fakt einiges für Bibliotheken herausziehen.

Was mir, wie Sie hoffentlich gemerkt haben, immer wichtig ist: Wenn es einen Struktur ist, dann kann man nicht einzelne Personen alleine verantwortlich machen. Dann ist es nicht so, dass einzelne Kolleginnen und Kollegen einfach falsche Vorstellungen haben, die sie verändern müssten. Vielmehr ist es mit diesem Verständnis viel einfacher möglich, allen zuzugestehen, dass etwas Positives für die Bibliotheken – zumindest die eigene – wollen. Die inhaltlichen Unterschiede müssen nicht zu persönlichen Friktionen werden.

Gleichzeitig können wir sagen, dass es in Bibliotheken immer Veränderungen und Konstanz zugleich gibt und das es nicht sinnvoll ist, dies gegeneinander auszuspielen.

Und was wir verändern sollten, habe ich Ihnen auf der rechten Seite dieser Folie zusammengefasst. Wichtig scheint mir, dass wir bei allen vorgeschlagenen oder wahrgenommenen Veränderungen die Rhetorik zurückfahren. Weder treten die grossen Versprechen ein noch die grossen Befürchtungen, mit denen um Veränderungen gestritten wird. Nach Jahrzehnten ständiger Veränderung im Bibliothekswesen können wir sehen, dass das reine Rhetorik ist und niemand wirklich überzeugt. Das macht dann Veränderung auch viel gestaltbarer. Hat man den Eindruck, dass eine Veränderung unbedingt sein muss oder aber das es eine Bedrohung ist, die man abweisen müsse, dann ist es schwieriger angemessen zu reagieren, als wenn man auf der Basis des best-möglichen Wissens über die Veränderung (für das man einige Zeit braucht, um es zu sammeln) und die eigene Reaktion als Bibliothek oder als Bibliothekarin, Bibliothekar entscheidet.

Folie 21

Wir sollten Veränderung als normalen Teil der bibliothekarischen Arbeit ansehen. Das ist weder gefährlich noch besonders aufregend, insbesondere wenn man sich vor Augen führt – wie bei unseren Beispielen – dass sich die erfolgreichen Veränderungen schnell so sehr in den bibliothekarischen Alltag integrieren, das schnell die Zeit „davor‟ vergessen geht.

Folie 22

Ich würde also für ein kontinuierliches, dafür aber auch ruhigeres Vorgehen plädieren. Dystopien oder grosse Versprechungen bringen Bibliotheken dabei nicht viel weiter.

Was ich auch betonen möchte ist, dass es sinnvoll wäre, wenn wir – also das gesamte Bibliothekswesen – uns öfter darüber unterhalten würden, was sich eigentlich wirklich verändert hat und mit welcher Wirkung. Wie gesagt denke ich, dass sich die drei Positionen, die ich am Anfang genannt habe, immer wieder ergeben werden, solange die Struktur, aus der sie sich ergeben, nicht verändern. Irgendwer wird immer das Gefühl haben, Bibliotheken hätten ein veraltetes Image (gegen alle Umfrageergebnisse, die etwas anderes zeigen); irgendwer wird sich immer gedrängt fühlen, Dinge zu verändern, die nicht geändert werden müssten. Aber gleichzeitig denke ich, wenn mehr bedacht würde, wie viele Veränderungen eigentlich stattfinden und was mit ihnen passiert oder nicht passiert ist, wird diesen Eindrücken die Dringlichkeit genommen. So schlecht stehen Bibliotheken in Bezug auf Veränderungen nämlich gar nicht dar.

Folie 23

Auf dieser letzten Folie habe ich Ihnen noch einmal die Take-Aways zusammengefasst, die ich am Wichtigsten finde.

Am Ende hätte ich auf die Frage des Vortrags eine Antwort, die vielleicht etwas enttäuscht, aber dafür hoffentlich verständlicher ist: Wie schnell oder langsam sollen sich Bibliotheken verändern? Das scheint mir nicht so wichtig zu sein. Wir haben gesehen, dass sie sich schon verändern und das offenbar so, dass sie recht erfolgreich bleiben. Immer noch kommen viele Menschen in die Bibliothek, immer noch ist das Lesen wichtig, immer aber auch andere Funktionen. Wenn der Rückblick eines lehrt, dann, dass Bibliotheken eigentlich ganz gut darin sind, Veränderungen so schnell oder langsam aufzunehmen, wie es nötig ist. Das scheint mir wirklich nicht das Problem zu sein. Wenn etwas ein Problem ist, dann die Friktionen, die zwischen Bibliotheken und Kolleginnen, Kollegen wegen Veränderungen aufkommen. Aber die bedrohen offenbar nicht die Bibliotheken selber, sondern gehören offenbar zur Institution selber.

 

Fussnoten

1 Es gab zuvor einen Vortrag über den Tourismus in der Region Bergün-Filisur.

2 Für den Blog zu ergänzen ist, dass sie sich wohl im DACH-Raum nicht so sehr unterscheiden, auch wenn es einige Gebiete gibt, in der „Veränderung‟ in den letzten Jahren oft mit Ressourcen- und Etatstreichung verbunden war, was sich teilweise ändert. In der Schweiz gab es diese Erfahrungen in der breiten Fläche nicht, wenn auch einige Kantone über „Finanznot‟ reden und einige ressourcenarme Gemeinden – unter anderem in Graubünden – besondere Herausforderungen zu meistern haben. Aber grundsätzlich heisst in schweizerischen Bibliotheken Veränderung tatsächlich Veränderung, nicht Mittelstreichung.

3 Anmerkung fürs Blog: Im Lehrplan 21 wurden – gegen politische Widerstände – für 21 deutschsprachige Kantone und das Fürstentum Liechtenstein ein Rahmen für den Unterricht in den Schulen geschaffen, der unter anderem auf Kompetenzorientierung fokussiert. Er wird in den Kantonen und dem Fürstentum aktuell umgesetzt (und bestimmt immer etwas anders interpretiert, aber so funktionieren Lehrpläne und so funktioniert der Förderalismus) und hat Positionen aufgegriffen, die zum Beispiel in Deutschland einige Jahre früher von Kultusministerien und Erziehungswissenschaft vertreten wurde. Veränderungen sind halt immer auch landesspezifisch, aber darum ging es hier im Vortrag nicht.

4 Anmerkung fürs Blog: Es geht hier um das schweizerische Projekt Buchstart, getragen vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. In anderen Ländern gab / gibt es ähnliche Projekte mit diesem Namen, die aber auch auf andere Strukturen reagierten.

Vortrag „Grenzen der Partizipation.‟ [Würzburg, 19.08.2019]

Skript zum Vortrag „Grenzen der Partizipation. Was können Bibliotheken für ihre partizipativen Projekte aus den Erfahrungen mit Partizipation in Ethnologie, Stadtplanung und Kunst lernen? Können sie schon bekannte Herausforderungen solcher Projekte angehen?‟ gehalten beim Workshop „Partizipation: Impulse für Öffentliche Bibliotheken‟ der „hochdrei Stadtbibliotheken verändern‟-Werkstatt der Kulturstiftung des Bundes, 19.08.2019, in Würzburg. (Der Text entspricht nicht genau dem, was Gesagt wurde. In ihn wurde die folgende Diskussion miteinbezogen und bestimmte Dinge wurden, hoffentlich, hier klarer dargestellt als in der freien Rede.)

Chur, 02.09.2019

Allegra,

ich bin eingeladen worden, um eine kritische Position zum Thema „Partizipation und Bibliotheken‟ zu bieten. Was ich hier tun will. Grund der Einladung war, dass ich schon einen ähnlichen Vortrag auf dem Bibliothekstag in Leipzig gehalten habe. Wir hatten das Thema aber auch schon als Seminarthema bei uns im Unterricht an der HTW Chur. Dabei haben die Studierenden und wir uns schon die Zähne ausgebissen am Konzept „Partizipation‟; die Studierenden dann aber auch daran, ihre partizipativen Projekte in Bibliotheken umzusetzen – und zwar nicht so sehr, dass kann ich Ihnen schon einmal sagen, weil die Bibliotheken nicht gewollt hätten oder weil den Studierenden nichts eingefallen wäre, sondern vor allem, weil die Nutzerinnen und Nutzer oft kein Interesse hatten, mitzumachen.

Okay, hier meine Agenda. Ich möchte sehr kurz am Anfang etwas zum Begriff „Partizipation‟ selber sagen. Sie werden da schon merken, dass es gerade nicht einfach ist. Der wichtigere Punkt sind aber die Beispiele aus anderen Felder. Es gibt zwei Sachen, die ich ihnen wirklich vermitteln will – und eine davon ist das, dass es schon viele, viele Erfahrungen in vielen anderen Feldern gibt. Deswegen ist das auch der längste und wichtigste Teil des Vortrags. Den Abschluss bieten dann Take-Aways für Bibliotheken und, vielleicht auch als Diskussionsgrundlage, Lernmöglichkeiten. Aber das ganz am Schluss.

Zum Begriff: Partizipation ist ein Containerbegriff. Das heisst, er umfasst viel und nicht alles ist passend. Solche Begriffe haben Vorteile, weil sie zum Beispiel Kommunikation überhaupt ersteinmal ermöglichen. So können Menschen den gleichen Begriff nennen, damit etwas anderes meinen – aber da sie den gleichen Begriff verwenden, zumeist eine Weile miteinander drüber kommunizieren. So lässt sich auch manchmal weiterdenken, neue Inhalte besser einführen, Strukturen erkennen und benennen und so weiter. Aber gleichzeitig, dass sollte klar sein, sind solche Containerbegriffe auch schwierig: Wenn sie vieles heissen können, worüber redet man dann gerade? Es ist auch oft nötig, die Begriffe genauer zu klären.

Solche Containerbegriffe sind für das Bibliothekswesen auch nicht ungewöhnlich. Vielmehr wird oft mit ihnen hantiert. Vor zehn-fünfzehn Jahren war das „Bildung‟, aktuell gibt es auch andere. Das ist per se nichts für das Thema Partizipation besonderes.

Was kann Partizipation also alles umfassen? Erstens werden alle Aktivitäten, bei denen Entscheidungsprozesse für (potentiell) Beteiligte geöffnet werden, als partizipativ beschrieben. Diese Beteiligung, dass werden wir noch sehen, kann sehr unterschiedlich sein. Aber das ist nur der eine Bereich: Beteiligung. Zweitens wird in vielen Bereichen unter partizipativ heute auch schon verstanden, wenn Menschen miteinander kommunizieren. Man schafft Räume, Orte, Situationen, wo Menschen miteinander reden können sollen. Das sind zwei unterschiedliche Sachen, aber beides wird unter dem gleichen Containerbegriff zusammengefasst.

Sie können selbstverständliche immer eine genauere Definition vornehmen, wenn Sie über Partizipation nachdenken wollen. Aber das führt wenig weit, wenn Sie darüber nachdenken, was im Bibliotheksbereich unter dem Begriff diskutiert wird: Da ist es nämlich alles auf einmal.

Wir haben heute auch eine starke Verbindung von Demokratie und Partizipation. Spätestens seit den späten 1960ern wird vermutet, dass eine stärkere Partizipation zu mehr Demokratie führen würde. Manchmal ist das besser begründet, manchmal wird der Zusammenhang eher behauptet. Aber diese Verbindung ist wohl auch ein Grund dafür, dass Partizipation heute sehr, sehr positiv besetzt ist. Nicht nur im Bibliotheksbereich: Alle – okay fast alle, wir wissen, es gibt aktuell in Deutschland und auch schon länger in der Schweiz oder Österreich politische Strömungen, die dagegen sind, aber hier im Raum zumindest und in unseren Kreise und dem grössten Teil unserer Gesellschaften – sind erstmal für Partizipation. Dafür gibt es Pluspunkte und Fördergelder. Der Workshop hier ist ja nur ein Beispiel dafür. Das es sich um einen sehr weiten Containerbegriff handelt, hilft gewiss dabei.

Ich hatte das schon gesagt, wiederhole es aber nochmal gerne: Bibliotheken (in Deutschland) sind mit ihrem aktuellen Interesse an Partizipation eigentlich sehr spät dran. Ganz auf der ersten Folie haben Sie ein Buch aus den 1980er Jahren, dass sich schon intensiv mit dem Thema befasst, nur halt für Kanada. Es geht da um den spezifischen Fall Toronto und wie Menschen in die Bibliotheksentwicklung eingegriffen haben – erfolgreich, so dass es heute noch 100 Bibliotheken in Toronto gibt, die fast alle eher lokal orientiert sind. Aber das Buch bespricht eigentlich auch alle anderen interessanten Fragen, die sich in diesem Feld stellen. Nehmen Sie das ruhig als Lesetipp.

Eine interessante Frage wäre, warum Bibliotheken in Deutschland gerade jetzt auf dieses Thema kommen. Gibt es gesellschaftliche Entwicklungen, die Bibliotheken dazu drängen? Entwicklungen in Bibliotheken? Aber darum soll es mir hier nicht gehen.

Ich möchte in diesem Vortrag auf etwas anderes heraus: Dadurch, dass Bibliotheken spät zu diesem Thema kommen, gibt es schon viele Erfahrungen und auch theoretischen Arbeiten zu Partizipation, auf die wir zurückgreifen können. Spät heisst nicht, dass es falsch ist; aber es heisst, dass wir wirklich nicht nochmal das Gleiche durchdenken und erleben müssen, was schon in anderen Felder passierte. Wir können auf dieses Wissen aufbauen. Das möchte ich in diesem Vortrag machen.

Ich möchte dazu in drei Felder schauen, die Sie hier sehen: Stadtplanung, Ethnologie und Kunst – wobei Ethnologie eigentlich zwei Themen sind.

Ein Feld, dass ich gerade nicht besprechen möchte, obwohl es sich praktisch immer und immer wieder selber aufdrängt, ist das Design. Das hat einen guten Grund: Sie haben seit Jahrzehnten im Design Versuche, partizipativ oder sozial zu designen – die Veröffentlichungen dazu sind unzählbar. Ich habe Ihnen hier zwei herausgesucht, aber eher zufällig. Das rechte ist dann auch gleich noch zu einer Ausstellung im Museum für Gestaltung, Zürich, erschienen – selbstverständlich sehr schön layoutet, wie man das bei so einem Museum erwarten kann. Aber es wiederholt sich: Immer wieder werden in solchen Ausstellungen und Publikationen zum Beispiel solche Kioske vorgestellt, wie auf dem Cover dieses Buches, wo halt Leute sich treffen sollen. Oder andere Orte, wo sich Leute direkt treffen können. Das gilt dann als social design oder als partizipativ. Was Sie im Design aber gerade nicht haben, ist eine Theoretisierung. Es geht ums Bauen und Gestalten, aber wenig ums Nachdenken über die tatsächliche Wirkung dieser Bauten und Designs, weniger ums Strukturen erkennen und Lernen aus vergangenen Versuchen. Sie haben oft sehr einfache Behauptungen darüber, was partizipativ oder sozial sein – und dann immer wieder ähnliche Vorschläge. Und vor allem haben Sie immer und immer wieder neue Anfänge: Es gibt zwar manchmal Reminiszenzen an ältere Versuche, aber dann wird immer wieder so getan, als wäre das, was gemacht wird, ganz neu und ganz anders und vorher nie gedacht – obwohl es sich immer wieder gleicht. Vielleicht ist das ein notwendige Haltung, wenn man designt oder baut, aber für Bibliotheken kann man daraus meiner Meinung nach wenig Konkretes lernen.

In den drei Feldern, die ich gewählt habe (die auch nicht alle möglichen sind), können wir meiner Meinung nach viel, viel mehr Lernen; auch wenn es nicht immer so schön designt aussieht.

Okay, Stadtplanung. In der Stadtplanung haben Sie seit den späten 1960ern / frühen 1970ern intensive Versuche, die Bevölkerung bei Planungen einzubeziehen, zu einigen Zeiten konkreter als zu anderen. Von diesen Versuchen ging mit der Zeit sehr viel wieder vergessen, aber gerade in den ersten Jahren – die ja in der gesamten Gesellschaft, zumindest in West-Deutschland, Schweiz und Österreich mit massiven Veränderungen verbunden waren – finden Sie unzählige praktische Versuche, Überlegungen, Reflexionen, Auseinandersetzungen. Und zwar durch die ganze Gesellschaft, nicht nur in marxistischen und anarchistischen und ähnlichen Gruppen, sondern bis tief in die etablierten Parteien und die Verwaltungen hinein.

Wenn Sie dieses Buch hier auf der Folien nehmen: Das ist ein Brocken, A4, fast 500 Seiten, kleine Schrift, immer in zwei Spalten gesetzt. Und was in dem Buch gemacht wird, ist, Texte, die sich mit Partizipation in der Stadtplanung auseinandersetzen, darzustellen. Immer kurz verschlagwortet, dann beschrieben, vielleicht 6-8 Texte pro Seite. Eine Fachbibliographie würden wir hier dazu sagen. Das sind selbstverständlich ganz unterschiedliche Texte: Berichte, Planungen, Überlegungen, Broschüren, wissenschaftliche Abhandlungen. Was aber klar wird, ist, dass das Thema damals massiv verbreitet war und Wissen angesammelt wurde, auf das wir zurückgreifen können.

Begründet wurden diese Versuche mit den wahrgenommen gesellschaftlichen Veränderungen: Bislang hätten die Verwaltungen in Deutschland, durch die unterschiedlichen politischen Systeme hindurch, wie in einem Obrigkeitsstaat gehandelt und gedacht. Aber jetzt würden immer mehr Menschen ihre Stimme erheben, dadurch würde die Gesellschaft komplexer. Zudem würde die Verwaltung sich immer mehr als direkt von der Bevölkerung und nicht dem Staat beauftragt sehen. Daraus würde sich zum Beispiel ergeben, dass auch die Personen einbezogen werden müssten, die sich sonst wenig hörbar machen würden. Möglich sei das alles nur durch Beteiligung der Bevölkerung.

Die Begründung für die ganzen Versuche ergab sich also aus den gesellschaftlichen Veränderungen. Das ist nicht erstaunlich, wenn Sie an die damalige Zeit denken. Die interessantere Frage ist vielleicht, wie ich schon gesagt habe, warum sich gerade jetzt Bibliotheken in Deutschland für dieses Thema (wieder) zu interessieren scheinen. Gibt es aktuell gesellschaftliche Veränderungen, die das antreiben? Warum gerade jetzt? Das könnten wir diskutieren.

Für diesen Vortrag wichtig scheinen mir die Erkenntnisse aus diesen Versuchen, weil wir aus diesen viel lernen können.

Der erste Punkt, der sich immer und immer wieder zeigte, war, dass das Interesse von Bevölkerungsgruppen, sich zu beteiligen, sozial sehr unterschiedlich verteilt ist. Auch die tatsächlichen Möglichkeiten, Interessen zu formulieren und durchzusetzen, sind sozial unterschiedlich verteilt. Hier in dem Buch auf der Folie wurde das recht marxistisch analysiert – da ist das ganz logisch: Die ökonomisch bestimmenden Schichten setzen ihre Interessen auch gesamtgesellschaftlich durch, egal wie die Gesellschaft strukturiert ist, solange da nicht explizit gegen agiert wird. Aber zu dem gleichen Ergebnis kamen auch Untersuchen und Versuche aus ganz anderen Denktraditionen. Im selben Buch wird zum Beispiel diskutiert, wie man diese Ungleichheit angehen kann und auf die Praxis in den USA verwiesen, Firmen bei Entscheidungen in der Stadtplanung einzubeziehen, welche in diesen als „Agenten‟ die Interessen sozial benachteiligter Schichten zu vertreten hatten. Im Buch wird das als Lösung eher abgelehnt, aber es hat nicht so schlecht funktioniert, wie man erwarten könnte, weil die Firmen das nicht rein zynisch betrieben haben.

Wichtig finde ich aber vor allem diesen Punkt: Es reicht nicht aus, eine Veranstaltung, ein Projekt und so weiter einfach als „für alle gleich offen‟ zu deklarieren oder sich vorzustellen, dass alle gleichberechtigt miteinander interagieren würden, wenn man nur den Raum dafür schafft. So werden soziale Strukturen nur reproduziert und verstärkt.

Der zweite Punkt ist ebenso relevant: Auch wenn man oft die Vorstellung hatte, dass man Entscheidungsprozesse so partizipativ gestalten könnte, dass in ihnen ein Konsens entstehen könnte – wenn also nur alle wirklich miteinander reden würden, würde man auf ein gemeinsam geteiltes Ergebnis kommen – hat sich das nicht bewahrheitet. Partizipation ist immer konfliktträchtig, die Interessen sind fast immer unterschiedlich verteilt und nicht immer gibt es Lösungen, die alle Interessen tragen. Wieder von Vorteil ist man da mit marxistischem Denken, da geht man eh davon aus, dass es einen unhintergehbaren Antagonismus zwischen den Klassen gibt und – klar, dann zeigt der sich auch bei der Partizipation. Aber die Konflikte zeigen sich auch, wenn man mit anderen Denktraditionen herangeht. Allerdings, so zumindest der Tenor der Zeit: Das ist für Demokratien normal und wünschenswert. Eine Demokratie ist kein Obrigkeitsstaat oder Ständestaat oder so, in welchem alle Menschen ihre gesellschaftliche Position haben, die sich nie verändern dürfe. Vielmehr ist eine Demokratie immer durch unterschiedliche Interessen gekennzeichnet, die ausgehalten, sichtbar gemacht und ausgehandelt werden müssen. Deshalb ist sie auch nie fertig.

Die Hoffnung also, das, wenn nur alle „an einem Strang ziehen‟ oder „auf Augenhöhe miteinander reden würden‟, ist Illusion, sogar gefährlich, wenn Sie Unterschiede einebnet oder wenn man beginnt, Leuten, die weiterhin Konflikte thematisieren, das vorzuwerfen – weil sie sich nicht in das Bild der schönen konsensualen Lösung einfügen.

Und wichtig war ein weiterer Punkt: Mit Partizipation verändern sich auch Verwaltungen. Das lässt sich auf andere Institutionen übertragen: Dadurch, dass in den Entscheidungsprozessen durch Partizipation unterschiedliche Interessen sichtbar und Aushandlungsprozesse nötig werden, müssen auch Institutionen anders denken und handeln. Partizipation ist nicht folgenlos, wenn sie tatsächlich ernstgemeint ermöglicht wird.

In diesen Jahren hat man in der Praxis der Stadtplanung Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach auch ohne theoretische Reflexion für Bibliotheken relevant sind.

Eine bestimmt ärgerliche Erkenntnis ist, dass Methoden Ergebnisse produzieren, die deshalb aber nicht unbedingt richtig sein müssen. Also: Sie können zum Beispiel eine Zukunftswerkstatt durchführen oder eine Umfrage – und wenn nicht irgendetwas gänzlich Gegenteiliges passiert, haben Sie am Ende immer Umfrageergebnisse oder gebaute Modelle oder gezeichnete Pläne für Orte. Nur, wenn jemand ganz die Werkstatt aufhält, weil er oder sie etwas ganz anderes macht, als vorgesehen oder wenn wirklich niemand auf eine Umfrage antwortet, haben Sie kein Ergebnis. Aber das passiert selten. Eher gegen Leute aus der Werkstatt oder kommen erst gar nicht, eher antworten Menschen weniger ehrlich bei Umfrage, als das sie diese stören. Aber die Ergebnisse sind dann nicht unbedingt, wie man sich das erhofft: repräsentativ oder „wahr‟ oder so. Sie sind da, weil die Methoden so strukturiert sind, dass Ergebnisse herauskommen. Und selbstverständlich benötigen Sie Methoden, um neues Wissen hervorzubringen, auf dessen Basis Sie dann Entscheidungen treffen können. Aber, das können Sie aus der Erfahrung der Stadtplanung lernen, Sie müssen immer nochmal fragen, wie sinnvoll diese Ergebnisse sind. (Und das gilt für heute, wo in Bibliotheken immer wieder ähnliche Methoden genutzt werden, besonders.)

Gleichzeitig wurde klar, das bestimmte Methoden immer wieder die gleichen Personen oder Personenkreise ansprechen und integrieren, wohl auch weil sie die Lebenserfahrungen dieser Kreise ansprechen – und die anderer Gruppen nicht. Methoden sind nicht gleich offen. Daraus können wir schon lernen, dass die Frage, welche Methoden bei partizipativen Prozessen genutzt werden und welche nicht, relevant ist.

Auch etwas enttäuschend, zumindest für die, die sich das erhofft hatten, war die Erkenntnis, dass, nur weil etwas partizipativ erarbeitet wird, es nicht heisst, dass diese Entscheidungen mehr akzeptiert würden. Auch solche Projekte, Umbauten und so weiter können wieder von Teilen der Bevölkerung abgelehnt, ignoriert werden; es kann wieder zu Protesten gegen sie kommen. Partizipation führt nicht per se zu besseren Lösungen, sondern vor allem dazu, dass die getroffenen Entscheidungen von einer grösseren Anzahl von Menschen getroffen werden. Falsch können sie trotzdem sein.

Wichtig auch, dass sich in der Bevölkerung Erfahrungen mit Partizipation ansammeln. Menschen machen solche Prozesse mit oder kriegen zumindest von ihnen mit und lernen daraus. Und immer, wenn ein neuer partizipativer Prozess stattfindet, bringen Sie diese Erfahrungen mit – solche über Methoden, über positive oder negative Erfahrungen. Da kommt man nicht heraus, damit muss man umgehen.

Wenn Sie sich mit Stadtplanung und Partizipation beschäftigen, kommen Sie immer und immer und immer und immer wieder auf diesen einen Text, der bis heute zitiert und benutzt wird. Oft falsch. Es geht oft um diese Graphik auf der Folie, die es auch in verschiedenen Formen gibt. Ich habe Ihnen die, meines Wissens, erste deutschsprachige Übersetzung mitgebracht; aus dem Buch, das ich Ihnen vorhin schon gezeigt habe. Hier heisst es „Stufen der Beteiligung‟. Im Original heisst der Texte „Lader of citizien participation‟, da ist die Graphik auch eine Leiter mit acht Stufen. Es gibt Sie auch als Pyramide, oft im Design, wo dann manchmal noch oben eine Stufe draufgesetzt wird – „Co-Design‟ oder so – die es logisch gar nicht geben kann. Solche Texte kann man gleich weglegen, die haben den Originaltext nicht rezipiert.

Aber es überzeugt offenbar auch, sonst würde der Text, oder zumindest die Graphik, nicht so weiterhin zitiert werden. Auch ich finde es immer noch sinnvoll, um darüber nachzudenken, was eigentlich gemeint wird, wenn man von Partizipation redet. Deshalb kurz zu dem Text.

Zeitlich ist der vor allem in die Versuche der Johnson-Regierung einzuordnen, die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung in den USA einigermassen umzusetzen – also vor allem nach der Abschaffung der Jim Crow-Gesetze durch Beteiligung zu einer faireren Gesellschaft zu kommen. Dazu wurde auch in der Stadtplanung oft versucht, partizipativer vorzugehen. Was Sherry R. Arnstein im Text tut, ist, diese Projekte zusammenzufassen und in eine Struktur zu bringen. Es war offensichtlich, dass es sehr unterschiedliche Bedeutungen von Partizipation und Erfahrungen mit diesen Projekten gab. Sie wollte klären, wie die zusammenhängen.

Arnstein strukturierte sie dann danach, welche Macht überhaupt von den Institutionen, Verwaltungen und so weiter an die direkt Beteiligten abgegeben wird und wie ernsthaft die Idee der Beteiligung verfolgt wird. Dafür gab es gute Gründe. In mehreren Fällen wurde „Beteiligung‟ als das genutzt, was sie als Manipulation bezeichnet. Es gab Beispiele, wo durch mehrheitlich „black communities‟ Autobahnen gebaut werden sollten, dann dort die Bevölkerung gefragt wurde, ob sie das wolle – was sie nicht wollte – und dann trotzdem die Autobahn gebaut wurde und die Community mit der Zeit verschwand. Aber gleichzeitig gab es auch ernsthafte Versuche von Beteiligung und viele Projekte, die irgendwo dazwischen angesiedelt werden können.

Wichtig ist, dass es auch bei Arnstein nicht darum geht, zu sagen, dass alle partizipativen Prozesse unbedingt in Stufe 8 passen müssen. Es ist manchmal auch notwendig oder sinnvoll, wenn die Projekte nicht so viel Macht abgegeben. Mit dieser Abstufung kann man aber besser darüber reden, was für eine Form von Partizipation das ist, die durchgeführt wird und was wirklich entschieden werden kann.

Wir an der HTW Chur haben in einem Text zu unserem schon genannten Seminar zu Partizipation und Bibliotheken auch diese Leiter benutzt und die Beispiele aus Bibliotheken, die wir gefunden haben, eingeordnet. Die waren für uns alle bei 4 oder 5 – also nicht manipulativ, aber auch nicht so hoch, wie das Beispiel aus Toronto, wo tatsächlich Teile der Bevölkerung Entscheidungen über die Bibliotheksentwicklung trafen.

Wichtig zumindest: Das ist der Originaltext. Wenn ihnen jemand mit einer solchen Graphik kommt, lesen Sie den nochmal. Der ist hilfreich. Und glauben Sie niemandem, der oder die eine neunte Stufe oben drauf setzen will.

Okay. Soviel zur Städteplanung. Jetzt zur Ethnologie, also der Wissenschaft davon, wie Gemeinschaften entstehen, sich erhalten, wie sie reproduziert werden, sich verändern. Die hat teilweise andere Namen und interne Differenzierung, aber darum geht es mir hier nicht. Sie hat eine Geschichte von Rassismus und Kolonialismus – weisse, gut situierte Männer, die in Gruppen quasi-militärische Expeditionen bei „den Wilden‟ durchführen und so weiter –, aber deswegen auch heute eine Geschichte der intensiveren Auseinandersetzung mit eben dieser eigenen Geschichte.

In der Ethnologie wurde sich damit auseinandergesetzt, was man da eigentlich tut, wenn man Gemeinschaften erforscht, welche Stellung der Forschenden selber haben – in der Gemeinschaft, aber auch der Theoriebildung oder der Auswahl und Wertung von Fakten, Methoden, Ergebnissen – und wie man überhaupt zu sinnvollen Ergebnissen gelangen kann. Zudem gab es auch Wandlungen der Fragestellungen von Forschung: Heute wird nicht mehr vermutet, dass es unterschiedlich wertige und entwickelte Gemeinschaften gäbe, die alle die gleiche Entwicklung durchlaufen würden und wo man in „alten Gemeinschaften‟ einen alten Stand dieser Entwicklung untersuchen könnte; stattdessen gelten alle Communities als eigenständig und sich entwickelnd. Damit verändert sich aber selbstverständlich (und richtigerweise) die Position der Forschenden selber.

Als Ziel wird heute oft angestrebt, dass die Beforschten an den Forschung selber partizipieren können. Das wird erprobt, darüber wird nachgedacht. Die Forschung soll denen, über die geforscht wird, auch direkt etwas bringen. Was genau das ist, können und sollen sie mitbestimmen. Nur so kann man offenbar überhaupt zu sinnvollen Ergebnissen gelangen.

Das dreht die Begründung für Forschungsprojekte um. Vor allem die Forschenden selber müssen sich fragen, was sie da gerade machen, welchen Zielen sie folgen, welchen Vorstellungen, Annahmen, Hoffnungen. Dafür haben sie auch Zeit, weil weiterhin das Ideal gilt, sich möglichst lange „im Feld‟ aufzuhalten; weiterhin mindestens ein Jahr – egal, ob man Fussballfankulturen untersucht oder Communities ganz weit weg. Mindestens ein Jahr an Forschung, Nachdenken, Miterleben, besser mehr, sollten es schon sein, bevor man Ergebnisse publiziert. (In anderen nationalen Forschungstraditionen offenbar auch länger, dafür aber mit mehreren Besuchen, also lieber zehn Jahre immer wieder einmal einige Monate direkte Forschung „im gleichen Feld‟.)

Partizipation, das können wir hier lernen, verändert also Forschungsstrukturen. Das wird auch für andere Felder gelten.

Was wir aus dem Nachdenken der Ethnologie über sich selbst auch lernen können, sind Grenzen der Partizipation. Es kommt immer wieder auf ähnliche Fragen zurück; die Wichtigsten habe ich Ihnen hier mitgebracht. Ich denke, die lassen sich auch gut auf partizipatorische Projekte anderer Art übertragen.

Die wichtigste Frage ist, warum jemand überhaupt an solchen Forschungen oder Projekten teilnehmen soll. Und wenn, mit welcher Motivation. Es ist nicht möglich davon auszugehen, dass Menschen einfach so mitmachen oder das alle das gleiche Interesse hätten, bei allen Projekten etwas beizutragen. Aber wenn nicht, warum machen die es, die doch mitmachen? Erhoffen sie sich etwas davon? Vermuten sie einen Gewinn? Wollen sie einfach nett sein? Haben sie eigene Vorstellungen, die sie einbringen, vielleicht unbewusst? In der Ethnologie gibt es mehrere Beispiele dafür, dass Menschen Forschung zugearbeitet haben, um dann später diese Forschung für eigene Zwecke zu nutzen; beispielsweise die Hoffnung haben, das es durch diese Forschung möglich wird, spezifische Traditionen einer Gemeinschaft wiederzubeleben. Den Forschenden wurde in diesem Zusammenhang eine Aufgabe zugeschrieben, die diese vielleicht gar nicht haben wollten – aber die Reflexion darüber hat dazu geführt, dass im Forschungsprozess immer wieder solche Fragen gestellt werden. Und ich denke, dass sie auch für Bibliotheken sinnvoll sind. Weil halt Menschen auch nicht einfach so bei Projekten von Bibliotheken mitmachen wollen.

Relevant finde ich auch die Frage nach dem Vertrauen. Es ist klar, dass in der ethnologischen Forschung über Dinge geforscht wird, die sehr persönlich oder relevant für Gemeinschaften sein können. Sie können nicht davon ausgehen, dass sie alles erfahren, dass Ihnen als Forschenden sofort – oder jemals – zugetraut wird, mit sensitivem Material oder Wissen umzugehen. Deshalb wird auch diskutiert, ob das überhaupt ausreicht, ein Jahr im Feld zu sein. Ist das überhaupt genug Zeit, um Vertrauen aufzubauen? Ganz abgesehen davon, dass die Forschenden in vielen Forschungen ja auch direkt oder indirekt Institutionen, Mehrheitsgesellschaften, gesellschaftliche Schichten repräsentieren, die gerade für die untersuchten Gemeinschaften negativ konnotiert sein können. Aber wenn schon ein Jahr nicht reicht, wieso könnten dann Bibliotheken erwarten, das ihnen vertraut wird, wenn Sie partizipativ vorgehen? Weil sie nicht so tiefgehende Fragen stellen? Es sollte zumindest bedacht werden.

Wichtig ist auch, dass sich die Forschenden selber reflektieren: Sie kommen nicht als neutrale Personen ohne Hintergedanken in solche Forschungen – sondern immer mit Vorannahmen, Zielen, Vorstellungen, Infrastrukturen im Hintergrund. Es hat sich immer und immer wieder gezeigt, dass es nicht hilfreich ist, das zu ignorieren; sondern das diese „Dinge im Hintergrund‟ tatsächlich prägen, was geforscht wird, wie geforscht wird, wie entschieden wird, was als relevant gilt und was nicht. Das bezieht sich dann auch darauf, dass geklärt werden muss, wer eigentlich bestimmt, was als Ergebnis gilt und was nicht – kurz, was am Ende als „Wahrheit‟ gilt. Deshalb haben sie heute viele Forschungen, in denen Beforschte und Forschende gemeinsam darüber entscheiden, was als Ergebnis gilt – aber auch das ist nicht so einfach. Abgesehen davon, dass nicht alle Erforschten ein Interesse daran haben, mitzuentscheiden, haben auch die, die mitmachen, ihre eigenen Vorstellungen. Wenn zum Beispiel zu einem Forschungsprojekt beigetragen wird, in der Hoffnung, damit Traditionen einer Gemeinschaft wiederzubeleben, haben die, die das tun ihre eigene Agenda – was selbstverständlich ihr gutes Recht ist, aber was ist mit anderen Angehörigen der Gemeinschaft, die daran vielleicht kein oder ein anderes Interesse haben? Das ist für Bibliotheken anders, aber so anders auch nicht.

Ich habe Ihnen auch noch ein Modell mitgebracht, in dem versucht wird, darüber nachzudenken, wie ethnologische Forschung partizipativ gestaltet werden kann. Bei diesem hier geht es um „vulnerable groups‟, vor allem Kinder. Das ist aber nur ein Beispiel. In der Literatur finden Sie unzählige solcher Modelle. Hinter diesen steht oft die Idee, dass Forschung partizipativer ist, je mehr sie zu sozialer Veränderung führt. Ich wollte ihnen das zeigen, um (a) darauf hinzuweisen, dass das Modell von Arnstein wirklich nur das bekannteste, aber nicht das einzige Modell ist, wenn es um Partizipation geht, (b) um nochmal zu betonen, dass auch Wissenschaften, die sich lange und intensiv mit Fragen der Partizipation auseinandersetzen, zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen sind, sondern weiterdiskutieren und (c) daraus zu schliessen, dass auch Bibliotheken nicht so schnell zu einem einheitlichen Verständnis von Partizipation kommen werden, aber vom schon getätigten Denken gerade in der Ethnologie profitieren können.

Neben dem Nachdenken über die eigene Forschungspraxis gibt es in der Ethnologie eine ganze Reihe von Forschungen über partizipative Prozesse selber. Zumeist geht es darum, dass in vielen Bereichen Partizipation schon länger etabliert ist, aber die Wirkungen nicht so sind, wie man das erwarten würde. Die Frage ist dann, wieso das so ist.

Hier nur zwei Bücher dazu. Das erste ist ein Sammelband, bei dem es darum geht, dass in vielen Regionen der Welt versucht wird, unterschiedliche Nutzung von Anbauflächen partizipativ zu organisieren. Denken Sie an Regionen, in denen Landwirtschaft betrieben, aber auch gleichzeitig für den Weltmarkt Kaffee oder Soja angebaut wird. Die Beteiligten haben da sehr unterschiedliche Zielsetzungen, die Idee ist oft, dass man im organisierten Gespräch bessere Lösungen finden könnte, die allen irgendwie gerecht werden. Aber in der Realität zeigt sich immer wieder, dass das nicht funktioniert. Die betroffene Bevölkerung darf zwar oft etwas sagen, gemacht wird dann aber vor allem anderes, eher auf den Weltmarkt orientiertes.

Bei dem anderen Buch geht es um Brasilien und die dortigen First Nations. Noch unter einer anderen Regierung, die jetzige hat bekanntlich kein Interesse, mit First Nations irgendetwas einvernehmlich zu regeln, sondern hätte gerne, dass es keine First Nations gäbe. Aber die Regierung zuvor hatte ein Interesse, die Interessen von First Nations und anderer Bevölkerung beziehungsweise dem Staat selber, auszugleichen. Grundsätzlich ging es darum, dass – ähnlich wie wir das beim Gender Mainstreaming kennen – bei allen Entscheidungen, die sich auf die Gebiete, in denen First Nations leben oder die von ihnen genutzt werden, diese angehört werden müssen. Deren Perspektive musste in die Entscheidungen integriert werden. Auch das hat nicht ganz geklappt, obwohl wirklich Einiges versucht wurde. Die Untersuchung zeigt zum Beispiel, dass eine Schwierigkeit darin besteht, dass politische Entscheidungsstrukturen in der Hauptstadt Brasília konzentriert sind, dass also die Vertreterinnen und Vertreter der First Nations immer zwischen ihren Heimatorten und Brasília hin- und herreisen mussten, während die, die die Entscheidungen trafen, in Brasília verbleiben und dort auch viel kürzere Wege zu anderen Personen haben, die Entscheidungen treffen.

Was diese Forschungen immer und immer wieder zeigen, ist, dass Mitbestimmung alleine nichts an den vorhandenen Machtstrukturen ändert. Wobei Sie bei Macht nicht nur an politische Mach denken müssen, im Sinne von sagen zu können, das und das gilt jetzt oder das und das gilt nicht. Auch nicht gleich an Gewalt. Es geht auch, wie schon gesagt, darum, wer bestimmt, was relevant ist und was nicht; was von dem, was gesagt wurde, in einer Entscheidung einbezogen wird und was „nur als Smalltalk‟ gilt. Oder auch wer festlegen kann, worüber überhaupt geredet oder entschieden wird. Menschen haben unterschiedliche Voraussetzung und Möglichkeiten, auch bei partizipativen Prozessen. Das ist an sich selbstverständlich – unsere marxistischen Freundinnen und Freunde aus der Stadtplanung würde sagen: Wie soll es auch anders sein, wenn die Gesellschaft so aufgebaut ist, wie sie es ist? – aber es wird oft so getan, als ob alle die gleichen Möglichkeiten hätten. Nicht einmal immer, weil jemand versuchen würde, zu manipulieren. Oft auch, weil die, die Macht haben, sich das nicht eingestehen oder nicht sehen (wollen). Aber wie immer: In einer Welt mit sozialen Unterschieden, werden diese nur reproduziert oder gar verstärkt, wenn man so tut, als wären die nicht vorhanden.

Machtstrukturen, dass zeigen die Arbeiten, ändern sich dann, wenn sie benannt und angegangen werden – und auch dann nicht vollständig, wie das Beispiel aus Brasilien zeigt.

Das ist alles noch sehr konkret. Ich würde gerne mit Ihnen noch in die Kunst gehen – und zwar, wie geschrieben, als Zumutung. Wie Kunst halt oft etwas ist, dem man sich aussetzen muss, die dann aber auch eine Wirkung hat, würde ich Ihnen hier gerne drei rabiate Beispiele vorzeigen.

Erstmal: Wenn Sie sich mit Partizipation und Kunst auseinandersetzen, kommen Sie immer wieder auf dieses Buch – und auch zurecht. Claire Bishop postuliert in diesem, dass es seit einigen Jahrzehnten eine Tendenz gäbe, Partizipation in der Kunst anzustreben und das als positiv, demokratisierend, progressiv zu verstehen. Das ist auch etwas, wofür Sie heute Förderung erhalten können – participatory art, Ausstellungen mit Partizipation, social impact. Bishop kritisiert das aus mehreren Richtungen, zum Beispiel zeigt sie, dass auch diese Kunst immer wieder „Miteinander reden‟ und Partizipation gleichsetzt oder auch, dass sie Ziele anstrebt, obwohl die Wirkung von Kunst eigentlich offen ist. Und – das wird Ihnen als Argument bekannt vorkommen –, dass es eigentlich eine lange Geschichte von Partizipation und Kunst gibt, die oft daraufhin deutet, dass die erhofften Wirkungen dieser partizipativen Kunst vor allem das sind: Hoffnungen, die eher nicht eintreten.

Ich finde übrigens schon das Cover ganz grossartig, weil Sie hier auch etwas Einfaches über Partizipation lernen können: Dass ist eine Performance – ich glaube im Tate Modern, London – wo Sie einen Polizisten in die Ausstellung reiten sehen. Das sollte Beteiligung auslösen, Leute sollten miteinander reden, sich verhalten und so weiter. Aber schauen Sie hier rechts vorne die Leute – da gibt es keine Reaktion. Den Grossteil interessiert nicht, was da passiert. Die Aufforderung zur Partizipation wird ignoriert – was sehr, sehr oft passiert.

Ich stelle Ihnen zwei Beispiele aus dem Buch vor, die vielleicht etwas Holzhammer-mässig wirken und die im Anschluss an das Buch auch schon sehr oft besprochen wurden. Aber sie sind, meiner Meinung nach, weiterhin sehr berechtigt.

Das erste Beispiel sind die italienischen Futuristen (praktisch nur Männer) der 1920er Jahre. Der Futurismus als Kunstrichtung war, nach dem ersten Weltkrieg, fasziniert von der Moderne und waren gleichzeitig von der Idee besessen, die als untätig, langsam, sterbend wahrgenommen Kultur radikal zu ändern. Es sollten die Werte umgewertet werden, damit waren sie dem Dadaismus, Expressionismus, Kubismus und so weiter nahe – halt all die Kunstrichtungen, der Zeit, die sich als Avantgarde verstanden. Aber ihnen ging es vor allem um Geschwindigkeit, Härte, Gewalt, Krieg, „Männlichkeit‟. Die Kunst sollte eine neue Gesellschaft hervorbringen, diese Gesellschaft sollte durch ständige Veränderung, Bewegung, Speed gekennzeichnet sein. Es gab zum Beispiel eine Faszination mit Autos. Oder auch einer Architektur, die sie zum Teil noch heute in Italien finden, die so Bewegung symbolisieren, hervorbringen sollte.

Eine Form von künstlerischer Aktivität, auf die Bishop eingeht, waren die „Futuristischen Happenings‟. Das waren praktisch Theatervorstellungen, bei denen die Futuristen von der Bühne herab das Publikum beschimpften. Es ging darum, das Publikum anzuregen, mitzumachen. Es war eingebunden. Ziel war es, Gegenreaktionen auszulösen. Menschen sollten sich aufregen, äussern, schimpfen. Erfolgreich waren Happenings, bei denen das Publikum Tomaten auf die Bühne warf. Es sollte aktiv werden, nicht passiv eine Vorführung geniesen. Das wurde als Vorbereitung für den Kampf, die Veränderung der Gesellschaft verstanden: Menschen sollten in den Happenings lernen, aktiv und rabiat zu sein und dass dann im Alltag auch sein.

Der Holzhammer ist jetzt, dass viele – nicht alle – Futuristen später den italienischen Faschismus unterstützten. Die Verbindung ist auch nicht schwer zu sehen.

Aber das gehört zur Geschichte von Partizipation und Kunst: Heute verstehen wir Partizipation als demokratisch, öffnend, progressiv. Das ist nicht per se gegeben. Das Ziel ist wichtig, Partizipation lässt sich für viele, viele Ziele nutzen. Sie muss auch nicht als Vervielfältigung der Stimmen verstanden werden, sondern kann, wie in diesem Beispiel, als Mittel genutzt werden, Menschen in einer Richtung auszurichten.

Es zweites Beispiel aus dem gleichen Buch. Spätestens seit Bishop darüber geschrieben hat, ist diese Aktion auch immer und immer wieder besprochen worden. Die Bilder der Aktion wurden, wenn ich das richtig erinnere, auf einer Documenta nochmal gezeigt und dutzende Texte dazu geschrieben. Auch, weil nicht klar ist, was genau das Ergebnis aussagt.

Aber: Die Situation. Argentinien 1968. Die Welt an sich in Veränderungen begriffen. Gleichzeitig gibt es in Argentinien selber seit zwei Jahren eine Militär-Junta, die Proteste dagegen wachsen, es gibt auch erste gewalttätige Auseinandersetzungen. In dieser Situation führte die Künstlerin Graciela Carnevale diese Aktion durch, die offenbar – ich bringe gleich meine Interpretation – Beteiligung, Kommunikation, Solidarität hervorbringen soll. Oder zumindest testen.

Sie lud zu einer Ausstellungseröffnung in diesen Raum, den Sie im Bild sehen: Ein Schaufenster, eine Glastür, sonst keine Ausgang, nichts. Dann verschloss sie die Tür und ging. Die Frage war, was jetzt passieren würde, wie sich die Menschen verhalten würden. Das war keine ungefährliche oder komfortable Situation. Die Lösung sehen sie: Erst passierte lange nichts. Dann wurde ein Passant dazu gebracht, das Fenster mit einem Stein einzuwerfen. Auf dem Bild sehen Sie eine junge Dame die Galerie durch dieses Fenster verlassen.

Die Frage, die auch lange ohne eindeutiges Ergebnis diskutiert wurde, ist nun, was dieses Ergebnis heisst. Haben sich Menschen in Solidarität vereinigt? Haben sie eine gemeinsame Lösung gefunden? Oder gerade nicht? Sie sehen ja, rausgekommen sind alle, aber eigentlich nur durch Hilfe von aussen. Benötigt man Hilfe von aussen, um solche Situationen zu verlassen, nicht Solidarität im Inneren? Gibt es irgendetwas, dass die Menschen in der Galerie aus dieser Situation heraus zusammengebracht hat oder hat sich das alles nach dem Ende der Situation aufgelöst? (Und was sagte das über das Leben unter der Militär-Junta aus?)

Es gibt bestimmte keine klare Antwort, aber auch das ist Teil der Geschichte von Partizipation und Kunst. Oder Partizipation allgemein. Partizipation und Ergebnisse partizipativer Prozesse sind nicht eindeutig. Nicht einmal in Extremsituationen wie bei diesem Experiment von Carnevale.

Ein drittes Beispiel aus der Kunst. Graffiti, also das Anmalen von Zügen, Mauern, Bahnhöfen. Es gibt aktuell zwei Bewegungen: Einerseits wird seit sehr langer Zeit in der Kunsttheorie über Graffiti diskutiert. Andererseits gibt es seit einigen Jahren mehr und mehr eine Praxis legaler Street-Art, gerne für grosse Objekte – Murals an Wänden von Mietshäusern und solche Grössen –, für die es auch zunehmend Geld gibt. In Berlin gibt es zum Beispiel seit einiger Zeit das Street-Art Museum Urban Nation, dass Graffiti ausstellt, aber gleichzeitig immer wieder Murals in Auftrag gibt.

Diese beiden Bewegungen sind immer aufeinander bezogen. Beispielsweise gab es Anfang dieses Jahres ein Heft der Zeitschrift „Kunstforum‟ [#260: Graffiti NOW. Ästhetik des Illegalen], in der Sie das gut nachvollziehen konnten: Graffiti wird als partizipative Kunstform par excellence wahrgenommen: Alle können einfach so mitmachen, Dosen kaufen, etwas anmalen. Selbstgewählt und selbstbestimmt, ohne Zugangsbarrieren. (Zumindest in der Theorie, in der Praxis entwickeln sich auch im Graffiti soziale Regeln, die sich mit der Zeit auch ändern. Aber bleiben wir bei der Theorie.) Gleichzeitig wird Graffiti über ihre Illegalität definiert. Das können Sie im genannten Heft genauer nachvollziehen.

Street-Art hingegen, die mehr und mehr beauftragt wird, ist gerade nicht illegal, dafür mehr in den Kunstbetrieb eingebunden. Es ist klar, wer die Künstlerinnen, die Künstler sind. Es gibt abgesteckte Rahmen und Aufträge. Die Feststellung ist nun, dass in diesem Fall Partizipation, also Beteiligung, an Illegalität gebunden wird und zumindest vermutet wird, dass diese gerade dann abnimmt, ja weniger illegal Graffiti oder Street-Art ist; dass die Kunst dafür aber vielleicht auch akzeptierter wird, je weniger illegal sie ist. Und selbstverständlich immer mit Übergängen; Personen, die sich zwischen den „Welten‟ Graffiti und Street-Art bewegen oder die einst Graffiti machten und jetzt im Atelier arbeiten und so weiter.

Ich habe Ihnen diese Zeitschrift hier, „GraffitiArt‟, mitgebracht, weil die das ganz gut abbildet. Es ist eine französische Zeitschrift, die Sie Frankreich wirklich in Buchhandlungen und zumindest in grossen Bahnhöfen kaufen können – obwohl es in ihr auch um das Anmalen von Zügen geht. Aber was Sie in den Ausgaben der letzten Jahre sehen, ist oft diese Zweigleisigkeit: Die Werbung bezieht sich immer wieder direkt auf Graffiti. Das eine Bild ist eine Galerie in Zürich, die wohl in jeder Ausgabe ein neues Bild von einem angemalten Zug benutzt – meist schweizerische Züge, aber der hier ist ein deutscher. Oder die andere Werbung ist ganz blatant direkte Werbung für eine Marke von Farbdosen: „25 years supporting graffiti‟. Da gibt es also einen klaren Bezug zum Illegalen. Aber die Artikel in der Zeitschrift handeln fast alle nur von Murals und grossen, legalen Bildern. Mit ähnlicher Ästhetik, aber immer mit der Künstlerin, dem Künstler im Mittelpunkt. Hier, bei dem Artikel auf der Folie, gab es sogar Beteiligung, wie Sie sehen. Menschen durften mitmalen und wohl auch über die Farben entscheiden. Aber das ist wirklich eine Ausnahme.

Für die Kunst ist das einfacher: Wir sagen vielleicht „das ist doch verboten‟. Aber Kunst kann sich dann immer darauf zurückziehen: „Well… it‛s art.‟ Bibliotheken können das nicht, die bewegen sich immer im Legalen. Aber was wir lernen können, ist, dass uns Partizipation immer auch in Bereiche führt, in die wir vielleicht gar nicht wollen oder uns gar nicht trauen. Und Situationen, in denen weniger Partizipation oder nur bestimmte Formen von Partizipation erst eine Zugänglichkeit ermöglichen. (Was zum Beispiel bei Street-Art zum Teil argumentiert wird: Das durch diese legale Kunst der Zugang für die „normale Bevölkerung‟ grösser ist als durch die illegalen Formen.)

Wieder: Keine klare Antwort, sondern ein Beispiel, mit dem Sie sich, wie bei guter Kunst, selber konfrontieren können.

Zuletzt noch zwei Folien darüber, was Bibliotheken jetzt aus der Geschichte der Partizipation und partizipativer Projekte lernen können. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass ich denke, wir sollten die ganzen Erfahrungen aus anderen Bereichen ernstnehmen und benutzen. Es ist nicht schlecht, dass Bibliotheken (in Deutschland) bei diesem Thema spät sind. (Beziehungsweise es gerade wieder entdecken). Dadurch kann man auf vorhandenes Wissen zurückgreifen. Schlecht wäre, so zu tun, als wäre das etwas Neues.

Also, was kann gelernt werden?

Zuerst, dass Partizipation für sich alleine keine Lösung ist, sondern das es immer auf die Ziele ankommt. Und dies können sehr unterschiedliche Ziele sind. Dabei lässt sich auch nicht „möglichst viel Partizipation‟ mit „bestmögliche Ergebnisse‟ gleichsetzen. Zudem wichtig: Machtstrukturen bleiben in partizipativen Prozessen bestehen. Wie gesagt heisst Macht nicht nur, Anweisungen erteilen zu können, sondern auch bestimmen zu können, was gemacht wird, worüber geredet und nicht geredet werden kann, was oder wer ernst genommen wird und was oder wer nicht. Die müssen beachtet werden. Einfach anzunehmen, dass sie (schon) überwunden seien, reproduziert und verstärkt sie nur. Für Bibliotheken, die oft nicht das Selbstbild haben, viel Macht zu haben, mag das eine ungewöhnliche Situation sein. Aber damit muss man umgehen lernen, dass man in bestimmten Situationen auch Macht hat, obwohl man sie anderswo vielleicht weniger hat.

Zu lernen ist auch, dass Menschen – dadurch, dass es kein neues Thema ist – schon viele Erfahrungen mit partizipativen Prozessen gemacht haben, die sie mitbringen. Nicht nur Erfahrungen, auch Erwartungen, Annahmen, Interpretationen. Und gerade, wenn die schlecht waren, muss erst daran gearbeitet werden, sie zu verändern. Man kann das aber auch als Anforderung nehmen, einfach mal selber an anderen partizipativen Prozessen – beispielsweise da, wo man wohnt – teilzunehmen, als Bürgerin, als Bürger, bevor man selber in der eigenen Bibliothek partizipative Prozesse plant. Um dann aus diesen Erfahrungen heraus besser zu verstehen, wie partizipative Prozesse auf Menschen wirken.

Und wichtig finde ich auch, sich immer und immer wieder klarzumachen, das nicht alle Menschen an Partizipation interessiert sind. Und selbst wenn, dann nicht gleich. Das kann man bei der Planung, bei der Analyse und so weiter, nicht voraussetzen. Daraus ergibt sich auch nochmal, dass Partizipation immer ein langer Prozess ist, kein schnell abzuschliessendes Projekt.

Und hier nochmal, vielleicht auch für die Diskussion, die wichtigsten Take-aways.

Partizipation und Machtstrukturen – dass ist das Zweite, was ich Ihnen unbedingt vermitteln wollte, neben der Geschichte. Auch wichtig, dass es ein Lernprozess ist, der nicht fertig wird, zumindest wenn Partizipation als mit der Demokratie verbunden verstanden wird – was ja, wie wir gesehen haben, nicht immer der Fall sein muss.

Partizipation enthält keine Garantie, weder für mehr Demokratie noch für bessere Ergebnisse. Man kann gerne politisch die Meinung beziehen, dass die Gesellschaft besser wäre, wenn sie partizipativer wäre: Mehr unterschiedliche Stimmen machen eine bessere Gesellschaft möglich und so weiter. Als politische Position ist das okay. Aber von sich alleine produziert Partizipation das nicht. Das muss erst hergestellt werden, langfristig und auch institutionell.

Und, was ich Ihnen unbedingt noch mitgeben möchte, ist diese Erkenntnis, dass Methoden Ergebnisse produzieren, aber damit die Ergebnisse noch nicht sofort gut oder richtig werden. In der Ethnologie sind das Bücher, die am Ende geschrieben werden; in der Stadtplanung Bebauungspläne, die am Ende fertig sind. Für Bibliotheken können Sie selber Beispiele einsetzen.

 

Vielen Dank

Vom Unbehagen mit „den Bibliotheken‟ von Aat Vos

Hier ein Geständnis von mir (vielleicht ist es auch keines): Die neu eröffneten Bibliotheken, welche gerade durch die bibliothekarische Presse gereicht werden und bei denen in den Begleittexten oft in den Vordergrund gestellt wird, dass Aat Vos an ihrer Gestaltung beteiligt war – ich finde sie alle abstossend. Hässlich ist das falsche Wort – aber weder einladend noch gemütlich (wie sie immer wieder genannt werden), sondern auf Effizienz und genaue Aufgaben hin durchgeplant; ausgestattet wie diese Co-Working-Spaces, die auf Firmen ausgerichtet sind und den Vibe ausstrahlen, dass man in ihnen einerseits so tun muss, als wäre man gerade heftig entspannt kreativ und entspannt, bei denen aber andererseits fühlbar ein „travail travail travail‟ über allem geschrieben steht. Wie eine unbelebte Bühne, wo alles zu sauber, neu, ungebraucht dasteht, aber einen cooles Café darstellen soll. Halt wie Räume, die auf Effizienz, Arbeitssamkeit und korrekte Manieren hin geplant wurden. Aber selbstverständlich könnte das ein rein subjektives Empfinden sein. Das Leute Dinge mögen, die ich nicht ausstehen kann – das ist mein Leben.

Doch mir scheint, es ist komplizierter, als das man es einfach auf subjektive Eindrücke reduzieren könnte. Die Bibliotheken, welche in den betreffenden Texten begeistert beschrieben und in den Bildern dargestellt werden, scheinen mir erstaunlich klar einen eindeutigen Habitus auszustrahlen. Während andere („alte‟) Bibliotheken mit ihren offenen Flächen zwar auch bestimmte Dinge zu „fordern‟ scheinen, scheinen sie mir doch immer offener zu sein als die Bibliotheken „von Aat Vos‟. Oder anders: Letztgenannte, „neue‟ Bibliotheken scheinen mir – entgegen ihrem Anspruch – viel einschränkender zu sein, als die heute im Bibliothekswesen offenbar als langweilig wahrgenommenen Bibliotheken des letzten Jahrzehnts. Und gleichzeitig auch entgegen dem eigenen Anspruch eben nicht „alle‟ ansprechend, sondern sehr klar vor allem gutsituierte Personen. Sozial Schwache, so scheint es mir, werden aus diesen „neuen‟ Bibliotheken eher draussen gehalten werden – obwohl selbstverständlich der Anspruch ist, das sie auch die Bibliothek nutzen sollen – wie sie halt praktisch aus den höherpreisigen Coffeeshops und Co-Workingspaces herausgehalten werden, die so aussehen, wie diese Bibliotheken.

Wie diesen Vibe fassen? Wo kommt dieses Feeling, dieses Unbehagen her? Wie es über den subjektiven Eindruck hinausheben, der alleine ja nichts sagt und allgemein auch als nicht zu diskutieren gilt? Das denke ich langsam zu wissen und möchte er gerne hier zeigen. [Und, dass ist mir wichtig: Es geht mir nicht darum die Person Aat Vos zu kritisieren. Das hier ist keine Polemik und kein persönlicher Angriff. Er wird nur immer und immer wieder als Designer erwähnt, deshalb erwähne ich ihn. Wie so oft geht es mir um strukturelle Fragen. Es ist ja zum Beispiel nicht nur Vos, seine Beratung und seine Arbeit anbietet, sondern es sind auch immer Bibliotheken, die diese annehmen.]

Soziologie, Ethnologie

Bourdieu und Lefebvre – beziehungsweise die Arbeiten dieser beiden Soziologen scheint mir eine gute Grundlage, um das Unbehagen besser zu fassen und auch das Nachdenken (und dann das Verändern, wenn das gewünscht ist) dieser Situation zu ermöglichen. [Und ja, es fällt auf, dass dieser Text durchgehend von Männern spricht; offensichtlich gäbe es sowohl bei der Kritik als auch der Gestaltung von Bibliotheken andere Bezugspersonen, die gewiss das Design vielfältiger und die Kritik inhaltlich besser machen würden.]

Zu Bourdieu: Was gemütlich ist, ist schichtspezifisch

Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft‟ (Original: „La distiction. Critique sociale du jugement‟, 1979) ist (bekanntlich?) eine empirische Studie zum Zusammenhang von sozialer Position und ästhetischen Urteilen; also grundsätzlich der Frage, ob das, was als schön, sinnvoll, gemütlich et cetera angesehen wird ein individuelles Charakteristikum ist – oder aber in einem Zusammenhang mit der sozialen Position steht, die eine Person einnimmt. Oder noch anders: Ob Reiche, Arme und die Menschen dazwischen jeweils einen eigenen Stil haben (in der Wohnungseinrichtung, dem Bezug zur Kunst, dem, was sie schön oder hässlich finden…), oder ob das zufällig verteilt ist. Die Daten dazu sind heute alt (erhoben in den 1960er und 1970er Jahren) und aus Frankreich, aber die Ergebnisse wurden grundsätzlich immer wieder auch in anderen Zusammenhängen bestätigt. Die Struktur scheint zu stimmen, nur die Ausprägung ändert sich.

Und die Ergebnisse waren (bekanntlich?), dass: Ja, die ästhetischen Urteile und die soziale Lage eng miteinander verknüpft sind. Was in der einen Sozialschicht als schön, gut et cetera galt, gilt in anderen Sozialschichten nicht auch als gut, schön und so weiter. Teilweise, aber nicht immer, gilt es explizit als hässlich, als Ausdruck eines schlechten Geschmacks, eines falschen Lebens. Diese Geschmacksurteile, die als subjektiv gelten (siehe oben, die Vermutung, dass meine Wahrnehmung der genannten Bibliotheken rein subjektiv sein könnte), sind sehr sehr eng daran gebunden, welcher sozialen Schicht wir entstammen oder welcher wir zugehören. Deshalb lässt sich auch nicht so einfach etwas finden, was „alle‟ schön, gemütlich oder zumindest okay finden (ausser, die sozialen Schichten sind nicht weit voneinander entfernt, aber unsere Gesellschaft strebt ja eher auseinander als aufeinander zu).

Bei Bourdieu geht es dann auch darum, wie sich diese Geschmacksurteile in die Körper einschreiben und dazu führen, dass sich Angehörigen einer Sozialschicht „erkennen‟. Aber schon in der originalen Datenaufnahme – im Buch dargestellt – geht es darum, wie Menschen aus unterschiedlichen Schichten ihre Wohnungen einrichten. Dabei wird sichtbar, dass dies selbstverständlich auch damit zu tun hat, wie viel Geld jemand für die Einrichtung einer Wohnung investieren kann, aber nicht nur. Menschen bezeichnen unterschiedliche Stile als schön, gemütlich und nannten auch ganz andere Kriterien, nach denen sie ihre Wohnungen bewerten würden. Die Wohnungen von Menschen mit wenig Geld sehen nicht aus wie billige Kopien der Wohnungen von Menschen mit viel Geld – sondern wirklich anders. (Im Buch neigen Menschen mit wenig Geld zum Beispiel zu einem „praktischen Stil‟, also dazu, dass als schön angesehen wird, was auch praktisch ist – aber das kann sich geändert haben.) Das heisst nicht, dass die soziale Schicht den Geschmack, den Stil und so weiter vollständig determiniert. Es gibt immer persönliche Unterschiede und Ausnahmen. Aber was Bourdieu et al. zeigten, war, dass der Zusammenhang sehr, sehr eng ist.

Mir scheint, dass lässt sich selbstverständlich auch auf Räume wie Bibliotheken übertragen. Bibliotheken behaupten gerne – und wieder einmal in den Texten, welche die hier thematisierten neu gebauten / eingerichteten Bibliotheken beschreiben – Orte sein zu wollen, die für alle offen sind. Aber wie baut man Räume, die „für alle offen sind‟, wenn sich das, was als schön, gemütlich und so weiter gilt, je nach sozialer Schicht unterscheidet? Vielleicht, indem man sie sehr einfach und funktional macht. Zumindest aber nicht, indem man einfach behauptet, dass es eine spezifisch „gemütlichen‟ Stil gäbe, der die meisten Menschen ansprechen würde. Und schon gar nicht so, wie das in diesen Bibliotheken gemacht wird: mit Möbeln aus dem höherpreisigen Design-Möbelgeschäften, vollgestellten Räume, überall Designelemente und so Pseudo-verspielte-Garten-Farben. Wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass die soziale Schicht auch den Stil mitbestimmt, und dann auf diese Räume blickt, dann fällt schnell auf, dass die vor allem für den Geschmack einer gut-situierten Schicht gebaut scheinen; einer Schicht, die einen Stil (vielleicht) gemütlich findet, der Arbeit und Freizeit nicht wirklich voneinander trennt. Wie halt, wie oben schon gesagt, Co-Working-Spaces, die Gemütlichkeit eher simulieren und eher zum Arbeiten auffordern, zum etwas-machen, zum aktiv sein auffordern. Andere soziale Schichten trennen aber zum Beispiel Arbeit und Freizeit ganz explizit.

Zu Lefebvre: Was der Raum ist, bestimmt nicht das Design allein

Noch etwas irritiert mich bei den ganzen positiven Darstellungen dieser neuen Bibliotheken immer wieder: Es wird über das Design berichtet, auch über die Prozesse, wie über die Umbauten / Neubauten entschieden wurde und es werden Bilder aus den Räumen publiziert. Aber das ist das schon der Raum Bibliothek?

Hier kommen mir immer und immer wieder die Arbeiten von Henri Lefebvre darüber in den Sinn, wie Städte „funktionieren‟. (Vor allem, aber nicht nur „Das Recht auf Stadt‟, Original „Le droit à la ville‟, 1968.) Hauptthese bei ihm – die auch wieder nicht aus der Luft gegriffen, sondern theoretisch und empirisch untermauert und bis heute immer wieder genutzt und bestätigt wird – ist, dass das „Funktionieren‟ von Städten und Räumen sich nur verstehen lässt aus dem Zusammenspiel von Gebautem Raum (Infrastruktur) – Wahrgenommenen Raum (Was soll er? Was sind die „sozialen Regeln‟ des Raumes? Was „gehört‟ sich und was nicht?) – Gelebten Raum (Wie wird sich verhalten? Wie wird der Raum „bewohnt‟). Ein Raum, seine Struktur, seine Ausstattung hat immer einen mehr oder minder klaren Aufforderungscharakter: Was in ihm passieren soll. Dazu hat jeder Raum aber auch seine eigenen Regeln, die sich sozial ergeben. Nicht nur, was erlaubt oder verboten ist, sondern auch was sozial erwünscht ist und was nicht, was als schicklich gilt oder nicht. Und daneben gibt es das, was im Raum wirklich passiert.

Ohne das gleich empirisch zu fassen, lässt sich das ganz gut nachvollziehen, wenn man nur ähnliche Räume in unterschiedlichen Gesellschaften oder auch nur Städten / Gemeinden besucht und dann jeweils eine Zeit lang in ihnen aufhält. Jetzt gerade sitze ich zum Beispiel in einem Café in Basel, dass so leicht alternativ ist, mit intellektuelleren Zeitschriften und eher linken bis mitte-linken Zeitungen in der Auslage, WLAN, kleinen Speisen, gutem Kaffee etc. Es könnte sich so auch gut in Berlin, Wien, Lausanne befinden, mit dem gleichen Aufbau, dem gleichen Fokus und so weiter. Aber es würde sich anders anfühlen. In Berlin oder Lausanne zum Beispiel nicht so arbeitssam, auch nicht so „zur Stadt passend‟. Wieso, wenn die Möbel und die Infrastruktur die gleichen sein könnten? Weil der „wahrgenommene Raum‟ und der „gelebte Raum‟ nicht der gleiche ist. Die sozialen Regeln sind in schweizerischen Grosststädten halt etwas anders als in deutschen oder österreichischen Metropolen und in der Deutschschweiz auch anders als in der Romandie. Sie sind schwieriger (aber bei genau Zeit auch nicht unmöglich) zu fassen, als einfache Auszählungen von Nutzer*innen. Auch das Leben ist leicht anders. Sonst wären die Städte ja alle gleich – was sie bekanntlich nicht sind. [Man kann das aber auch selber an anderen Beispielen überprüfen, wenn man Cafés nicht mag. Ich war in den letzten Wochen zum Beispiel auch in Öffentlichen Bibliotheken mehrerer Städte, die alle mit dem Möbeln des gleichen Bibliotheksausstatters gestaltet wurden und deshalb auch in vielem gleich waren – aber doch gänzlich unterschiedlich laut, benutzt und so weiter. Ich bin der Überzeugung: Hätte ich etwas mehr Zeit in ihnen verbracht und nicht nur einen kurzen Blick in sie geworfen, wären mir mehr Unterschiede aufgefallen. – Das Experiment kann jede und jeder auch selber einmal durchführen, wenn sie oder er mir das nicht glaubt.]

Aber, bezogen darauf, wie die neu gestalteten Bibliotheken dargestellt werden, scheint das überhaupt nicht thematisiert zu werden. Hier scheint eher die Überzeugung vertreten zu werden, dass es praktisch nur auf das Design der Räume ankäme, um sie zu verändern. Das scheint mir leicht absurd: Was ist den mit denen anderen Bereichen? Wie soll man den etwas über die Wirkung der Bibliotheken sagen können, wenn man nur über Design redet und Bilder der Räume (meiste ohne Menschen drin) zeigt? Mir scheint, wenn man einmal mit Lefebvre den Blickwinkel einnimmt, dass Räume nicht einfach nur durch den gebauten und designten Raum funktionieren, stellt sich schnell die Frage, was alles in der Planung und Darstellung fehlt (beziehungsweise zu fehlen scheint): Neben der Frage nach dem sozialen Charakter der Räume, die da gebaut werden (siehe oben), auch die Frage nach den sozialen Regeln, die mit den Räumen aufgerufen werden und denen, die tatsächlich etabliert und dann gelebt werden.

Kurz noch Habermas, Oldenburg

Gleichzeitig wird in den Texten zu diesen Bibliotheken immer wieder behauptet, dass sie gebaut würden, um eine Ort herzustellen, in dem sich alle zusammenfinden sollen und so Gesellschaft entsteht. Es wird auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und darauf, dass „heute‟ Bibliotheken als Ort wichtig würden, an denen Vertrauen geschaffen wird und so weiter. Die immer gleichen Schlagworte und immer wieder genutzten Formulierungen sind wohl bekannt.

Aber nochmal: Am Ende wird in den Texten vor allem von Design und Planungsprozessen geredet; nicht vom sozialen Leben. Mir scheint, dass oft eine sehr einfache Überlegung im Hintergrund steht: Nähe von Personen wird mit Kommunikation über soziale und andere Grenzen hinweg gleichgesetzt. Oder anders: Weil die Räume gemütlich wären, würden sich hier viele unterschiedliche Menschen einfinden und dann beginnen, miteinander zu reden. Der Raum scheint dafür oft als genügend anregend zu gelten. Abgesehen davon, dass der Stil meiner Meinung nach eher zu einer Verengung der sozialen Schichten, welche diese Bibliotheken gerne nutzen, führen wird: So funktioniert Gesellschaft selbstverständlich überhaupt nicht.

Mir scheint hier ein ganz vereinfachtes – so einfach, dass es falsch ist – Verständnis von öffentlichen Raum vorzuliegen. Das wird gerne mit Habermas und seinen Arbeiten zum Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft durch Kommunikation in Verbindung gebracht, aber selbstverständlich ist das nicht das, was bei Habermas drin steht. Bei ihm geht es auch um soziale Unterschiede, um Kommunikationsbarrieren, um Themensetzungen und so weiter.

Bei den Texten zu den neuen Bibliotheken scheint es aber die Vorstellung zu geben, dass man einfach Räume bauen könne, in denen soziale Unterschiede, Unterschiede in Verständnis, Wahrnehmung, Interpretation von sozialen Regeln, Erwartungen und so weiter verschwinden – und dadurch dann schon Leute miteinander reden und deshalb Gesellschaft herstellen. Das müsste man aber nachweisen (und meiner Meinung nach kann man das nicht nachweisen, weil es so nicht passiert). Wenn man Räume baut, in denen Menschen miteinander reden sollen (ganz abgesehen davon, dass nicht klar ist, ob das überhaupt schon Gesellschaft ausmacht), dann muss man über die Funktion dieser Räume nachdenken – und das funktioniert nicht durch Infrastruktur oder Design, sondern durch aktives Tun: Irgendetwas oder irgendwer muss die Kommunikation erst motivieren oft auch am Laufen halten.

Sicherlich kann man Räume bauen, die praktisch Kommunikation verhindern – deshalb ist es ganz gut, wenn man darüber nachdenkt, wie man das gerade nicht tut. Aber einfach gemütliche Räume bauen und dann hoffen, dass das schon ausreicht – – – das funktioniert selbstverständlich nicht. Das führt nur dazu, dass Menschen, die sich schon kennen, miteinander reden und die anderen daneben vor sich hinarbeiten / hinleben. (Auch das kann man in den Cafés, auf die sich implizit ja bei den ganzen „gemütlichen Bibliotheken‟ bezogen wird, beachten. Wenn es keinen Grund gibt, miteinander zu reden, sitzen die Menschen auch da getrennt voneinander. Auch hier: Jetzt sitze ich seit vier Stunden in diesem gemütlichen, kleinen, hellen Café in Basel und habe genau mit den beiden Herren am Tresen gesprochen, sonst niemand. So wie andere auch. Die Idee, dass es in solchen Räumen zu Kommunikation kommen würde, scheinen mir oft Menschen zu haben, die sich praktisch nie in solchen aufhalten. – – – Auch hier mein Hinweis: Wer es nicht glaubt, kann ja mal ein paar Stunden in solchen Cafés verbringen und sich das selber anschauen.)

Dabei: Allgemein wird bei solchen Bibliotheken ja auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und das wiederum könnte auf das Buch von Ray Oldenburg („The Great Good Place‟, 1989) zurückverweisen, in dem er diesen Begriff „Dritter Ort‟ geprägt hat. Ich weiss, das wird gerne ignoriert und der Begriff eher gefühlt als begründet. Aber ist doch auffällig, dass Oldenburg bei der Prägung des Begriffes immer und immer wieder darauf verweist, dass die Orte, die er als „Dritter Ort‟ beschreibt, „plain‟ sein: Einfach, ohne notwendig grossen Schnick-schnack, ohne grosses Design. Sehr offen in der Nutzung. Nur so könnten sie funktionieren (und dazu würden sie noch einige andere Dinge brauchen, beispielsweise „anregende Getränke‟ und „Kommunikation als Hauptzweck‟ und „Stammnutzer*innen‟, welche erst die sozialen Regeln etablieren und leben). Das „gemütlich‟, von dem Oldenburg spricht – und im Buch anhand von Bildern illustriert – ist etwas anderes als das, was in den neuen Bibliotheken gebaut wird und auch etwas anderes als das, was Bibliotheken unter „erhöhter Aufenthaltsqualität‟ zu verstehen scheinen. Oldenburg ist schlecht im Begründen seiner Thesen, aber ich denke, was er andeutet ist, dass „Dritte Orte‟ vor allem so sein müssen, dass sie weniger dem Stil einer sozialen Schicht folgen, sondern offen genug sind, damit sie zumindest nicht den bevorzugten Stilen mehrerer sozialer Schichten widersprechen. (Oder die unterschiedlichen Stile verbinden. Deswegen ist er so begeistert von englischen Pubs, in denen so unterschiedliche Räume nebeneinander untergebracht sind.) Vielleicht gilt das ja viel eher für Bibliotheksräume, die als „langweilig‟ bezeichnet werden, als für die neu gebauten? Zumindest ist es schon erstaunlich, wie weit eigentlich diese „neuen‟ Bibliotheksräume von den Thesen sind, auf die sie sich vorgeblich – durch die Verwendung des Schlagworts „Dritter Ort‟ – beziehen.

Nicht zuletzt bin ich auch deshalb über das Fehlen von allen Aussagen dazu, wie diese Räume „funktionieren‟ (sollen) bei gleichzeitiger Behauptung, sie wäre für die Herstellung von Gesellschaft geschaffen, so irritiert, weil es selbstverständlich eine ganze Wissenschaftsdisziplin gibt, die sich damit beschäftigt, wie Gesellschaft auf der Ebene von Individuen und Gruppen hergestellt wird: Der Ethnologie. In ihr geht es um gelebte soziale Regeln, Erwartungen, Rituale, Verhaltensweisen und so weiter. Wie kann man diese ganze Disziplin ignorieren? (Klar, wie ich schon sagte: Indem man behauptet, die Bereitstellung des richtig gestalteten Raumes sein schon ausreichend. Aber das ist doch erstaunlich, wenn man aus der Ethnologie eigentlich lernen könnte, wie viel Arbeit erst von Menschen dareingesteckt wird, Gesellschaft auf lokaler Ebene herzustellen. Wäre es so einfach, dass man dafür einfach nur den richtigen Raum bereitstellen müsste, dann bräuchte es diese ganze Disziplin überhaupt nicht.)

Wieso ist das so?

Zusammengefasst: Ich habe ein grossen Unbehagen mit den neu gebauten Bibliotheken, die aktuell durch die bibliothekarischen Publikationen als neu und zukunftsweisend gereicht werden. Und mit etwas Theorie scheint mir das Unbehagen mehr als eine rein subjektive Abneigung. Mir scheint sogar, ungewollt aber doch real, hat man hier Räume gebaut, die noch mehr ausgrenzen, als man das schon von „langweiligen Bibliotheksräumen‟ vermutet hat. Stimmt das? Das müsste empirisch überprüft werden. (Aber man kann es erst überprüfen, wenn man den Verdacht äussert und zeigt, wieso es so sein könnte – was ich hier versuche.)

Aber wieso ist das so? Es ist ja nicht so, dass Bibliotheken Räume bauen wollen, die ausgrenzen. Ganz im Gegenteil. Und auch Aat Vos würde ich so was nicht unterstellen. Grundsätzlich kann man bei allen Beteiligten von good wil ausgehen. Nur: good wil alleine führt noch nicht zu guten Ergebnissen – „nur‟ zu gut gemeinten.

Ich denke, es sind zwei Dinge, die hier hineinspielen.

Zuerst, da es in den Texten auch immer um Aat Vos geht, soll es hier auch um Aat Vos gehen: Der ist Designer (und „Kreativ-Coach‟, ich weiss aber nicht, was ein Kreativ-Coach macht; aber was Designer*innen machen weiss ich ein bisschen). Als solcher muss er wohl davon überzeugt sein, dass vor allem Design die Welt retten oder zumindest besser machen wird. Es gibt im Design und der Architektur (bekanntlich?) eine lange, lange Tradition, sich gerade nicht an „the man‟ verkaufen und nur für Reiche irgendetwas Hübsches designen oder bauen zu wollen – sondern etwas, was besser ist für alle Menschen. Mit sozialem Anspruch Designen und Bauen. Wir haben gerade noch „100 Jahre Bauhaus‟, da sollte so eine Aussage nicht irritieren. Aber immer und immer wieder wurden Dinge designt, Gebäude gebaut, Plätze und Städte geplant, damit es allen besser geht und die Gesellschaft besser funktioniert – immer wieder auf der Basis von spezifischen Überzeugungen der Personen, die Designen oder Planen, was gut für die Gesellschaft wäre, wie die Gesellschaft funktioniert und so weiter. (Auch da ist das Bauhaus ein gutes Beispiel für.) Einiges hat zu einem besseren Leben beigetragen, vieles ist eher gescheitert (die „New Towns‟ in GB, die Banlieus in Frankreich, die sozialistischen Kollektivhäuser in der frühen Sowjetunion), noch mehr wurde anders genutzt, als geplant (zum Beispiel die ganzen Bauhaus-Wohnungen, die dann von Bewohner*innen doch nicht spartanisch und funktional durchgeplant belassen, sondern vollgestellt wurden). Diese Tradition ist da – und selbstverständlich ist es sympathischer, wenn mit so einem Anspruch geplant und designt wird. Aber sie wird auch fast „nur‟ mit Mitteln des Designs und der Architektur reflektiert und interpretiert, also eher mit einem Ansatz der Untersuchung von Beispielen mit ästhetisch und anderen Kriterien, aber zum Beispiel wenig soziologischem Verständnis. In einem solchen Denken kann es als ausreichend gelten, die funktionierende Gesellschaft auf lokaler Eben als eine zu verstehen, in der Menschen miteinander reden und dann nach Design-Lösungen zu suchen, die das ermöglichen würden.

Nachvollziehbar. Aber nur, weil Designer*innen davon überzeugt sind, dass Design die Welt besser machen würde, müssen Bibliotheken das nicht gleich glauben. Schon die Geschichte all der gescheiterten Interventionen durch Design sollte zeigen, dass diese eher Scheitern als Funktionieren. Darum scheint mir die Soziologie (und Ethnologie) weit besser zu erklären als das Design. Mich erstaunt deshalb, wie umstandslos Behauptungen aus dem Design in bibliothekarische Texte (und wohl auch bibliothekarisches Denken) übernommen zu werden scheinen.

Das dies so einfach übernommen wird scheint mir – das ist der zweite Punkt – ein Ergebnis der Untertheoretisierung von Bibliotheksbau und Raumplanung (und der tatsächlichen Funktion von Bibliotheken) zu sein. Eigentlich haben wir, wie oben gezeigt, genügend Wissen darüber, worauf und wohin wir zumindest schauen müssten, wenn wir darüber nachdenken, Bibliotheken umzubauen oder neu zu bauen. Aber weil das Bibliothekswesen eher schlecht darin ist, wirklich öffentlich und nachvollziehbar darüber nachzudenken, scheint es manchmal, als könnte einfach jemand etwas über die Wirkung von Räumen behaupten – und wenn das nur selbstbewusst und oft genug gemacht wird, dann wird das übernommen.

Das ist nicht perfekt, weil es nicht per se gute Räume baut (sondern auch zu solchen führen kann, die vielleicht eher ausschliessen). Sicherlich: Ich könnte es zu meiner Mission machen, auch selbstbewusst und oft etwas über Räume und Bibliotheksbau zu behaupten. Aber das kann ja nicht die Lösung sein. Sinnvoller wäre es wohl, Design und Architektur als das zu sehen, was sie sind: Design und Architektur. Und die Aussagen und das Nachdenken über Gesellschaft und Wirkung von Bibliotheksräumen nicht diesen zu überlassen, sondern eher auf die Disziplinen zurückzugreifen, die das Wissen dazu systematisch erwerben. Das ist halt vor allem die Soziologie.

Sinnvoll als Praxis wäre es wohl auch, regelmässig mit einem soziologischen Blick Bibliotheksräume zu interpretieren. Übung macht dabei auch die Anwendung soziologischer Modelle besser. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass diese Theorien nicht „einfach dahergesagt‟ sind, so wie Berater*innen einfach vieles auf der Basis ihrer eigenen Überzeugung dahersagen, sondern auf Empirie, Theoretisierung und wiederholter Anwendung / Testung beruhen. Sie erklären auch etwas – und mehr, als doch eher einfache Annahmen über die Funktion von Räumen und Gesellschaft, welche aktuell das Nachdenken über Bibliotheksräume zu prägen scheint.

Aber irgendetwas muss man ja bauen…

Sicherlich: Bibliotheken werden ständig um- oder neugebaut. Deshalb müssen auch immer wieder Entscheidungen darüber getroffen werden, was gebaut / in den Raum gestellt wird und wie. Das kann nicht einfach unentschieden gelassen werden, bis die best-mögliche Lösung erarbeitet ist. Irgendwas muss halt doch gebaut werden. Und es ist auch richtig, dass dafür bestimmte Methoden verwendet werden müssen. Und grundsätzlich wäre es wohl richtig zu sagen, dass alle Methoden erst mal sinnvoll sein können, wenn sie nur je zum zu lösenden Problem oder den gestellten Fragen passen.

Bei den „neuen Bibliotheken‟ ist es aber auffällig, wie oft diese – am Ende ja doch immer wieder ähnlich aussehenden – Bibliotheken mit vor allem einer Methode, nämlich Design Thinking verbunden werden. Wenn etwas zum eigentlichen Entscheidungsprozess für diese Neu- und Umbauten in den betreffenden Texten mitgeteilt wird, dann, dass es diese Methode war. Und, wie gesagt, die Bibliotheken scheinen mir gerade viel geschlossener und nicht offener zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Methode doch etwas damit zu tun hat, das die Bibliotheken am Ende immer wieder so werden, wie sie werden. Es wäre deshalb sinnvoll, sich diese doch noch einmal genauer anzuschauen, bevor sie weiter einfach immer wieder als vorgeblich zeitgemässe, innovatives Vorgehensweise genutzt wird. Mir scheint, dass zumindest Teile der Methode dafür verantwortlich sind, dass ständig einer offenbar stark verkürzte Vorstellung davon, wie Gesellschaft und Räume funktionieren, gefolgt wird und das immer wieder diese, meiner Meinung nach, ausschliessenden Räume gebaut werden. [Drei Vermutungen: Das „Kritikverbot‟, welches oft am Anfang der Methode eingeführt wird, führt dazu, dass offensichtliche Widersprüche nicht genannt werden. Der Fokus auf „Tun‟ (Making, Rapid-Prototyping etc.) verengt den Blick und das, worüber man nachdenken soll / kann auf Design-Lösungen. Der vorgeblich kreative, spielerische Ansatz zieht Personen aus bestimmten Sozialschichten – die Arbeit und Freizeit beziehungsweise Arbeit und Spiel nicht wirklich voneinander trennen – an und stösst andere eher ab. Aber das nur erste Vermutungen.]

Was sein könnte

Grundsätzlich aber scheint mir, dass gerade diese neuen Bibliotheken eine Aufforderung darstellen, mehr über die tatsächliche Nutzung und Wirkung von Bibliotheksräumen nachzudenken; dabei nicht nur einer Erzählung über „kreative Räume‟ und so weiter zu glauben, sondern auch das einzubeziehen, was als einigermassen gesicherter Wissensbestand über Gesellschaft, Stil, Wahrnehmung bekannt ist. Und es wäre sinnvoll, vielleicht wieder andere Methoden mit zu benutzten – und nicht eine, die so eindeutig aus dem Design kommt, ungefragt zu übernehmen. Was dabei rauskommen wird? Keine Ahnung, das wäre ein (gemeinsamer) Prozess.

Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass am Ende klar wird, dass das, was als „langweiliger Raum‟ beschrieben wird (nicht als schlechter, lauter, billiger; sondern als langweilig und bland) sich als sinnvoller Raum herausstellen kann, wenn man wirklich dem Ziel folgen will, Räume „für alle‟ zu bauen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass man dahin kommt, Planung von neuen Bibliotheken gar nicht erst rein als Design- und Architekturprojekt zu verstehen und zu präsentieren, sondern als umfassender: Mit Raum und Infrastruktur, aber auch Angeboten, Regeln, die man durchsetzen möchte, Dingen, die man ermöglichen möchte (und wie) und so weiter. Und vor allem kann ich mir vorstellen, dass man nicht mehr einzelne BeraterInnen als Wissensquelle benutzt und deren Thesen einfach zu übernehmen scheint.

Was sich aus so einem Nachdenken wie hier meiner Meinung nach auch ergibt, sind zahlreiche Forschungsfragen, die mal angegangen werden könnte – und sei es, um meine Wahrnehmungen zu widerlegen (anstatt einfach zu behaupten, dass sie nicht stimmen). Beispielsweise, wie Menschen aus verschiedenen Sozialschichten diese (und andere) Bibliotheken wahrnehmen und nutzen. Oder wie und ob die erhofften (und in vielen Texten zu den neuen Bibliotheken ja explizit erwähnten) Kommunikationen zwischen Nutzer*innen überhaupt stattfinden. Oder ob andere Methoden, bezogen auf die gleichen Aufgaben, bessere Ergebnisse hervorbringen und es tatsächlich eine Methodenfrage ist. (So funktioniert Theorie, wenn sie angewandt wird: Sie lenkt den Blick darauf, was zu beobachten sein müsste.) Aber das nur als Aufforderung.

Wird die Welt (um Bibliotheken) komplexer?

In den letzten Monaten ist im Bibliothekswesen immer wieder einmal eine Phrase aufgetaucht, in Gesprächen, Positions- und Planungspapieren, auf Podien: Die Gesellschaft, die Welt würde immer komplexer und unübersichtlicher. Sie sei nicht mehr zu überblicken. Der einzige Weg wäre – so wird mal direkt, mal indirekt gesagt – auf die Nutzerinnen und Nutzer zu hören. (Was dann in Design-Thinking-Workshops und ähnlichen „partizipativen Prozessen” umgesetzt wird.) Im aktuellen Positionspapier des ekz-Fachbeirats steht das direkt:

„Die Bibliothek der Zukunft wird nicht für die Bürger*innen, sondern gemeinsam mit ihnen geschaffen! Diversität und Pluralismus gehören heute zusammen mit der permanenten Informationsexplosion zu unseren Alltagsrealitäten. Das Fazit daraus: Niemand überblickt Wissensbereiche komplett, aber die Weisheit der Vielen kann Bibliotheken als Motor der Gesellschaft ganz weit nach vorn bringen!” [ekz-Fachbeirat: „Positionspapier ‹Fünf Aufgaben für die Bibliothek der Zukunft›”, 2019: 1, https://www.ekz.de/fileadmin/ekz-media/downloads/unternehmen/2019_01Positionspapier_Zukunft_der_Bibliotheken_ekz-Beirat.pdf]

Nun, ich habe etwas dazu zu sagen. Mir scheint das eine gefährliche Argumentation, eine, die nicht nur falsch ist, sondern auch die Bibliotheken schlechter macht, wenn ihr gefolgt wird. Das mag überraschen, weil zum Beispiel dieses Zitat so fortschrittlich klingt und Partizipation einen so guten Ruf hat. Es ist aber, wie ich hier argumentieren werde, eine ideologische Position, die sich aus der theoretischen Grundlage des Neoliberalismus ergibt. Und das hat, wenn ihr gefolgt wird, die gleichen Auswirkungen, wie es der Neoliberalismus im Allgemeinen hat: Die Kapitulation des eigenen Denkens und Planens öffentlicher Institutionen vor angeblichen Kräften, die von aussen „steuern”, und damit auch eine Aufgabe des Kerns dessen, was diese zu öffentlichen – Gesellschaft mitproduzierenden – Einrichtungen macht. Und gleichzeitig eine „Steuerung” dieser Einrichtungen hin zu solchen, welche die vorhandenen Strukturen (vor allem die sozialen Spaltungen) der Gesellschaften verstärken.

Dabei geht es nicht darum, hier gegen progressive Themen, die mit dieser Phrase verbunden werden wie zum Beispiel im zitierten Papier, zu argumentieren (das erwartet wohl niemand von mir): Diversität, offene Gesellschaft, Pluralismus. Alles hübsch. Aber in diesem Zusammenhang sind sie nicht Ziel einer Gesellschaftsveränderung, sondern Blendwerk.

Wir haben mit den Öffentlichen Bibliotheken in Grossbritannien seit „New Labour” schon ein Beispiel dafür, was passiert, wenn mit vorgeblich progressiven Zielen den neoliberalen Ideologemen gefolgt wird: Und es ist nicht schön. (Auch ohne „Brexit” ist der Besuch in Bibliotheken in Grossbritannien in den letzten Jahren ja immer peinlicher geworden, so wie die Gebäude zerfallen, die Bestände veralten, die Menschen in den Bibliotheken immer weniger werden und die Bibliotheken, die noch „laufen”, mit peinlichen Gift-Shops ausgestattet werden.) Es wäre gut, noch einmal innezuhalten und nachzudenken, bevor man sich auch auf diesen Weg begibt.

Um dieses Argument zu machen, werde ich ein Buch referieren, das sich überhaupt nicht mit Bibliotheken, sondern mit Architektur befasst. Das als Vorwarnung. Ich hoffe aber, dass am Ende des Textes klar ist, warum. (Bleiben Sie dabei.)

Neoliberale Architektur

Ich werde auf folgendes Buch zurückgreifen: Douglas Spencer (2016). „The Architecture of Neoliberalism. How contemporary architecture became an instrument of control and compliance.” (London; New York: Bloomsburry). Inhaltlich geht es, wie der Titel angibt, darum, wie neoliberale Ideologeme die aktuelle Architektur geprägt haben. Man könnte erwarten, das es vor allem um hochfliegende Analysen aktueller Bauten gehen würde oder aber um eine (nicht unberechtigte) Polemik gegen die ganzen Sichtbeton-Bauten.

Das ist aber nicht, was das Buch macht. Es ist vielmehr eine sehr klare Darstellung der Entwicklung neoliberaler Ideologeme, des Aufgreifens dieser durch einzelne Architekt*innen und der Gebäude, die so entstandensind. Es ist ein sehr gutes Buch, ich würde es immer weiterempfehlen. Was gezeigt wird, ist, dass (unüberraschend) die Vorstellung davon, wie die Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Menschen funktionieren, auch bestimmt, was für Gebäude geplant und gebaut werden – und wie so aktuelle Architektur diese Ideologeme so umsetzt, dass sie faktisch zu weniger Gesellschaft und zu weniger Kontakten zwischen Menschen führen. Es geht also nicht um Ästhetik (obgleich diese ganzen Gebäude wirklich, wirklich, wirklich hässlich sind), es geht um die Gesellschaft und die Verantwortung der Architektur.

Wie gesagt folge ich dem Buch hier, werde dann wieder zu den Bibliotheken kommen.

Hayek: Alles ist zu komplex

Die Geschichte des neoliberalen Denkens ist schon oft erzählt worden: Wie die Grundideen in den späten 1920ern und den 1930ern entwickelt wurden (Popper, Mies, Hayek, Österreichische Schule, Ordoliberalismus), aber erst in den 1970ern im reale Politik umgesetzt wurde, zuerst in Diktaturen (Chile), dann von Konservativen (Reagan, Thatcher), dann von Progressiven (New Labour, SPD unter Schröder). Gerade wegen seiner Verbreitung und weil der Begriff zu einem allumfassenden Schimpfwort geworden ist, ist es aber wichtig, nochmal zu den Anfängen zurückzugehen .

Was sind die Grundideen des Neoliberalismus? Worum ging es? Erstmal ging es um eine „Rettung” des Kapitalismus. Ende der 1920er – Wirtschaftskrise, die Sowjetunion als Vorbild für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft, Faschismus als eine ganz andere Alternative in Italien, plus Wirtschaftskrise – galt es nicht als ausgemacht, dass gerade der Kapitalismus die beste Form der Organisation von Gesellschaft und Wirtschaft darstellen würde.1 Überzeugt davon, dass er es doch sei, suchten die Vertreter des Neoliberalismus nach Gründen für seine „Schwäche” und gleichzeitig nach Wegen, zu erklären, wie er doch besser werden könne.

Friedrich von Hayek – auf den Spencer stark eingeht, der aber selbstverständlich nur einer, wenn auch einer der einflussreichsten Vertreter dieser Denkrichtung war – brachte, in Übereinstimmung mit seinen Mitstreitern, einige radikale Thesen vor:

  • Er unterstellt, dass die Gesellschaft so komplex sei, dass sie nicht zu steuern wäre. Jeder Versuch, mittels Planungen oder staatlichen Interventionen oder gross angelegten Programmen die Gesellschaft zu steuern, zu verbessern, sei zum Scheitern verurteilt. Egal, was die Planungen erreichen wollten – und seien es die hehrsten aller Ziele – würde durch Bürokratie und dadurch, dass nicht alles mitgeplant werden können, zu unerwarteten und letztlich negativen Ergebnissen führen. Vor allem würde immer die Freiheit der Menschen eingeschränkt.
  • Freiheit heisst bei Hayek vor allem die Freiheit, selbst zu entscheiden. (Nicht, wie zum Beispiel bei Keynes, die Freiheit von Gefahren, um so besser das eigene Leben gestalten zu können. Mit Isaiah Berlin gesprochen: Freiheit kann sich Hayek nur als „negative Freiheiten” vorstellen, „positive Freiheiten” seien ein Mythos, die immer mit Planung einhergehen würden und deshalb schlechte Ergebnisse hervorbrächten.)
  • Hayek setzt in dieser Argumentation alle zu seiner Zeit existierenden Alternativen zu der von ihm präferierten Formen von Kapitalismus gleich: Faschismus, Sozialismus / Kommunismus, andere Formen staatlicher Intervention, wie sie dann mit dem New Deal in den USA umgesetzt wurden. Das Problem mit all diesen sei, dass sie davon ausgehen würden, das man Gesellschaften planen könnte. (Und ja, mit dieser Argumentation wird es für Hayek dann egal, ob diese Planung aus rassistischem Denken – wie im Faschismus – geschieht oder aus dem Wunsch, eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen oder um die Effekte des Kapitalismus abzuschwächen. Das ist ihm alles eines, weil es ihm um die angeblichen Unterschied von Planungen versus Markt geht.)
  • Was ist die richtige Alternative für Hayek (und die ganze neoliberale Schule)? Bekanntlich der Markt. Was in der Gesellschaft – nicht nur von Firmen, sondern von allen Einrichtungen, insbesondere staatlichen – gemacht werden solle, sei, nach Marktprinzipien zu funktionieren: Nach Marktsignalen suchen und auf sie reagieren – was normalerweise über den Preis funktioniert (wir erinnern uns: im Liberalismus und Neoliberalismus ist die Idee bestimmend, dass sich der Preis eines Produktes ergeben würde aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage; er würde solange steigen, solange eine Nachfrage besteht und dann nicht mehr erhöht werden können, weil die Marktsignale – es wird weniger zu einem höheren Preis gekauft – anzeigen, dass das Maximum erreicht sei); aber anderswo, wo dieser Marktsignale nicht über den Preis gegeben werden können, nachgebildet werden müsse. Nur diese Marktsignale seien in der Lage, die nötigen Informationen bereitzustellen, damit die Gesellschaft sich selber steure. Alle andere Formen der Steuerung seien fehlerbehaftet.
  • Aufgabe sei nun, alle Barrieren, diese Marktinformationen zu bilden oder wahrzunehmen sowie alle „Verzerrungen” des Preises abzubauen – weil diese dazu führen, dass die Informationen falsch verstanden würden und damit halt nicht ihre Steuerungsfunktionen haben könnte. Zu diesen Verzerrungen gehören halt auch alle staatlichen Interventionen oder grossflächigen Planungen. (Es ist also folgerichtig, für die Marktteilnehmer die grösstmögliche Freiheit – im Sinne von möglichst wenig Interventionen – zu fordern.)

Spencer zeigt nun, dass diese Idee von Hayek und anderen weitergetrieben wurde. Und hier wird es relevant, denn so werden Ideen davon, wie die Gesellschaft funktionieren würde, über den Bereich des Wirtschaftsmarktes hinaus transportiert. Logischerweise, den wie sollen sich diese Ideen auf den Bereich von Firmen beschränken? Diese Idee zielen ganz auf die Gesellschaft.

  • Wenn nur der Markt – mit seinen Hinweisen, die wahrgenommen werden und verstanden werden müssen – als Steuerungsinstanz gelten darf, dann darf es folgerichtig nur möglichst wenig staatliche Interventionen, Planungen, Eingriffe geben; eigentlich nur solche, welche die Produktion von Signalen aus dem Markt und deren Wahrnehmung stärken.2 Das mag man folgerichtig nennen, aber es geht noch weiter: Jede Form von Kritik, von systematischer Analyse, von Planung, die von anderen Grundsätzen – zum Beispiel, dass es den Menschen besser gehen soll oder das ihr Leben weniger von strukturellen Unterschieden bestimmt sein sollte – ausgeht, wird untersagt. Alles das sei unsinnig, weil es zu falschen Ergebnisse führen würde. Auch jeder andere Anspruch, zum Beispiel moralische Ansprüche oder ästhetische, sei falsch, irregeleitet. Marktsignale wahrnehmen, sie hervorrufen, sie interpretieren und darauf reagieren: Das alles sei möglich. Alles andere nicht. Umgesetzt führt das dazu, dass der gesamte gesellschaftliche Diskurs erstirbt. Man darf keine Kritik äussern (weil das die freie Produktion und Interpretation von Marktsignalen beschränken würde), nicht über Systeme oder systematische Strukturen nachdenken, weil es die gar nicht wirklich geben würde, sondern nur die Eigeninteressen von Individuen, die alle die gleichen Möglichkeiten hätten, sich zu entfalten. Dafür gibt es auch keine moralische Verantwortung – wie sollte die sich auch begründen?
  • Vermittelt wird aber auch ein Gesellschaftsbild, in dem es eigentlich keine Konflikte gibt. Alle Auseinandersetzungen seien nur unterschiedliche Interessen von Menschen, die sich am Besten über Marktprozesse ausgleichen lassen (nicht unbedingt zur Zufriedenheit aller, aber so, dass ein Optimum von Ausgleichen, der in der Gesellschaft möglich sei, erreicht würde – so, wie sich halt der Preis auch als „Optimum” bilden würde, der auch nicht alle befriedigen würde). Alle anderen Wahrnehmungen von Konflikten seien falsch. Alle politischen Bewegungen, die versuchen würden, die Konflikte anders, als durch den Markt zu regeln, seien missgeleitet (und nochmal zur Erinnerung: der grosse Feind sei die Planung; dabei traten damals fast alle politischen Bewegungen mit der Idee der Planung auf). Dieses Gesellschaftsbild hat Konsequenzen: Man stellt sich zum Beispiel vor, dass alle Menschen eigentlich gleichberechtigte Interessen hätten. Wenn man nur die ganzen politischen Ideen entfernen und die Leute miteinander kommunizieren lassen würden, würden sich die Interessen ausgleichen – wobei Kommunikation heisst, Marktsignale zu geben, nicht unbedingt miteinander tiefer zu kommunizieren. (Wenn jemand hier an „willingness to pay-Studien” denkt: genau.)
  • Wie alle anderen Ideologie – und es sollte klar geworden sein, dass der Neoliberalismus eine Ideologie ist, auch wenn er behauptet, das gerade nicht zu sein – versteht sich auch der Neoliberalismus als modern und fortschrittlich. (Das haben selbst die Ideologie gemacht, die als „rückwärtsgewandt” bezeichnet werden. Auch die haben die Vorstellung, dass sie in die richtige, moderne, einzig sinnvolle Richtungen gehen, während die Welt bislang irgendwo in der Geschichte „falsch abgebogen” sei. Der Faschismus in den 1930ern sprach nicht umsonst von „nationaler Revolution” [heute ja immer noch].) So trat schon Hayek auf, so wird auch heute aufgetreten: Neoliberale Grundsätze werden als modern, fortschrittlich bezeichnet, alles andere als fehlgeleitet, unmodern, „verkrustet” diffarmiert. Genauso wie für Hayek Faschismus, Sozialismus / Kommunismus und Staatsintervention eigentlich alle das gleiche waren – weil halt Planung –, genauso wurde im Laufe der Zeit alle anderen Kritiken, Alternativen und so weiter als gleich veraltet und verkrustet bezeichnet. (Und das konnte die Idee von demokratischer Kontrolle der Wirtschaft in Pinochets΄ Chile sein wie auch Naturschutz oder indigene Rechte in den USA in den letzten Jahren oder aber Eingriff in die eigenbestimmte Wahl der sexuellen Identität im heutigen Deutschland – was immer in der jeweiligen Gesellschaft jeweils als Ausdruck als modern gelten kann.) Das ist wichtig festzuhalten: Neoliberale Ideologeme lassen sich offenbar mit den verschiedensten gesellschaftspolitischen Grundhalten verbinden (weil sie ihnen gegenüber grundsätzlich agnositisch sind), solange diese Grundhaltungen nicht die gemeinschaftliche Einforderung von Rechten beinhaltet. Und gleichzeitig können sie immer als modern und neu präsentiert werden.

Der neoliberale Bau

In seinem Buch stellt Spencer diese ideologischen Grundlagen noch ausführlicher dar. Er führt dies dann weiter auf das Feld der Architektur. Das ist ein Feld, in dem immer wieder und immer wieder neu darüber nachgedacht wird, ob und wenn ja, welche moralischen, gesellschaftlichen und anderen Aufgaben die Architektur hat. (Im 100-Jahre-Bauhaus-Jahr sollte das nicht überraschen.) Er zeigt anhand einer ganzen Anzahl von Architekturbüros und Gebäuden, wie diese Büros mit den neoliberalen Ideologemen im Gepäck, jede moralische und gesellschaftliche Verantwortung abgelegt haben. Ergebnis sind dann Gebäude, die das eben geschilderte Denken davon, wie Gesellschaften funktionieren (sollen), umgesetzt haben.

  • Eine ganze Anzahl von Büros hat – mit dem Argument, dass der Markt vorgibt, was gebaut wird, weil nur er die richtigen Signale geben kann – sich den Anforderungen der Auftraggeber gebeugt und dabei gleichzeitig keinen Unterschied mehr zwischen den Auftraggebern gemacht. Beispiel sind hochmoderne Bauten in aktuellen Diktaturen, gebaut von Büros aus der Schweiz oder den USA. Gleichzeitig wird sich den Hauptvoraussetzungen gebeugt, die vorgegeben werden und nicht mehr danach gefragt, wie etwas anders, besser, menschlicher, ästhetischer gestaltet werden kann.
  • Die Idee, dass es eigentlich keine gesellschaftlichen Konflikte gibt, sondern einfach mit Transparenz und Individualisierung alle gezwungen werden müssen, sich als Teilnehmer*innen an einem Markt / Pseudo-Markt zu verhalten, hat dann auch zu Gebäude geführt, die genau das fördern sollen: Alles hell, alles glatt (Sichtbeton und am Rechner geplante Flächen, die keine Einbuchtungen, Ecken, Sichtschranken etc. mehr zulassen, keine Verzierungen), alles in ausdruckslosen Farben, alles Vereinzelnd: So, als müssten die Menschen einfach nur gezwungen werden, sich selber zu präsentieren – dann würden sie schon „Marktsignale” geben, die zu interpretieren wären.
  • Aber selbstverständlich ist das gar nicht der Effekt: Dadurch, dass gesellschaftliche Strukturen ignoriert werden (weil es sie in diesem Denken gar nicht gibt) und dass sich nur noch vorgestellt werden kann, dass Gesellschaft möglichst in offenen Räumen stattfinden muss (weil das Transparenz sei), werden mit diesen Gebäuden gesellschaftliche Strukturen verstärkt: Da, wo es Überwachungsstaaten gibt, wird so die Überwachung stärker; da wo es Demokratien gibt, wird die eigentliche demokratische Gesellschaft unmöglicher gemacht, weil Grundfunktionen der Demokratie – das Menschen sich nach ihren Interessen zusammenfinden, diskutieren und zu gemeinsamen Positionen finden, die sie dann mit Argumenten (und nicht als Marktsignale) verteidigen – in solchen Räumen gar nicht mehr durchgeführt werden kann. Dadurch, dass die Gebäude als hypermodern präsentiert werden wird jede Kritik an Ihnen als unmodern, rückständig gezeichnet. (Immer kann zum Beispiel behauptet werden, die Kritik sei eigentlich nur eine Neuauflage des Bauhauses und damit – 100 Jahre alt – irrelevant veraltet. Damit muss dann auch nicht mehr auf die Kritik eingegangen werden.)
  • Auffällig ist auch, dass in solchen Gebäuden versucht wird, die Komplexität, die ja eigentlich alle Gebäude haben – und die zum Beispiel beim Bauhaus noch Ansporn war, diese durch Multifunktionalität und Planung auch auf kleinem Raum zugänglich zu machen – in slicken Landschaften, die eher einfach ineinanderfliessen und einen „geglätteten Raum” präsentieren, zu verbergen. Das ist nicht selbstverständlich, das diese Gebäude heute so aussehen – die Architekturgeschichte ist voll von Gegenbeispielen.

Neoliberale Bibliothek?

Und jetzt endlich zurück zu den Bibliotheken. Warum denke ich, dass die Darlegungen von Spencer relevant für Bibliotheken sind? Ich hoffe, dass ist ersichtlich geworden: Weil das die gleiche Argumentation ist.

Nochmal zur Erinnerung: Am Anfang bei Hayek (und den restlichen frühen Vertretern des Neoliberalismus) steht die Überzeugung, (a) dass die Welt, die Gesellschaft zu komplex sei, um mit Planungen gesteuert zu werden und (b) das die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, wäre, die Gesellschaft sich über Marktprozesse selber steuern zu lassen. Alles andere ergibt sich folgerichtig (und führt zu langweiligen Sichtbetonbauten, wo man sich nur in Cafés setzen kann, die ein*e möglichst transparent von allen Seiten sichtbar werden lassen). Es geht nicht, wie das die Verwendung des Begriffes „Neoliberalismus” als Beleidigung impliziert, darum, dass irgendwer Profit macht. Das ist „nur” ein Nebeneffekt.

Hayeks Vorstellungen im Bibliothekswesen

Mir scheint, das – parallel dazu, wie es sich in der Architektur entwickelt hat – diese Argumentation auf dem Weg ist, sich zum Teil im Bibliothekswesen festzusetzen. Wenn „partizipative Projekte” so begründet werden, dass die Welt zu komplex sei, um sie zu verstehen, und man deshalb – quasi als Produktion von Marktsignalen – nichts anderes tun könnte, als die Nutzer*innen fragen, dann ist das doch die gleiche Argumentation.

Es sind die gleichen Vorstellungen, die auch Hayek antreiben:

  • Die Idee, dass die Welt zu komplex geworden sei.
  • Die Idee, dass die Nutzer*innen – als Marktteilnehmer*innen – die Informationen hätten, wie die Bibliothek zu entwickeln sei. (Und dafür tendenzielle ein Rücknehmen der eigenen Entscheidungsfähigkeiten der Bibliothek – siehe nochmal das Zitat am Anfang dieses Textes.)
  • Der Vorstellung, dass die Gesellschaft eigentlich keine unauflösbaren Interessenskonflikte hat, sondern das man alle Konflikte ausgleichen könnte, indem man die Interessen der Nutzer*innen erfragt (die Marktsignale) und dann austariert: nicht so, dass alle zufrieden sind, aber so, wie es gerade optimal ist. (Und wer hier an die rekursiven Prozesse von Design Thinking-Projekten denkt, dieses Bauen – Testen – Evaluieren – neu Bauen – wieder Testen und so weiter: Genau. Daran denke ich auch.)
  • Dem praktischen Verbot von Kritik (nochmal in den Grundtexten zu Design Thinking nachlesen, da wird Kritik als „Bedenkträgerei” und ähnlich diffamiert und gleichzeitig eingeschränkt, dass man zum Beispiel nicht über Dinge nachdenken darf, die man nicht verändern könne), langfristigen Planungen und Zielen, die ersetzt wurden mit dem Fokus auf angebliche „Bedarfe” und Trends, die man suchen müssen, weil nur sie angeben würden, wohin sich Institutionen (hier die Bibliotheken) entwickeln sollen.
  • Der Anschluss an aktuell vorherrschende Tendenzen in der Gesellschaft, mit dem Gestus, dass jede Kritik, praktisch rückständige Kritik an diesen Tendenzen und damit unmodern sei – als wenn Kritik nicht inhaltlich wäre und auch inhaltlich eingeteilt und verstanden werde müsse. (Das Papier des ekz-Fachbeirats ist da ein sehr gutes Beispiel für: Es wird mit * gegendert, es wird Diversität betont – es wird sich also [viel mehr als man das der ekz vielleicht zutrauen würde] explizit auf die Seite des vernünftigen, progressiven Teils der Gesellschaft gestellt. Aber gleichzeitig kann jetzt jede Kritik an diesem Papier als Kritik an dieser Progressivität interpretiert werden. – Ich hoffe es ist klar, dass ich keine Kritik an dieser Progressivität habe. Dem applaudiere ich. Mein Problem ist, dass damit eine abzulehnende Ideologie kaschiert wird.]

Genauso, wie bei Hayek – dessen Denken ja erschreckende Wirkungen für Millionen von Menschen hatte, ich deute nur nochmal nach Grossbritannien und wie sich die sozialen Spaltungen da verstärken, trotz aller progressiven Terminologien seit New Labour, trotz mehr Sichtbarkeit und Erfolg von Minderheiten, trotz freiem Museumseintritt und so weiter –, ist die Frage ja, ob es überhaupt stimmt, dass (a) die Welt so komplex geworden ist, dass es (b) unmöglich geworden ist, sinnvoll und langfristig zu planen (und damit längerfristige Ziele über das reine „Überleben” der Einrichtungen hinaus zu planen) und (c) ob damit die einzige Möglichkeit nur noch daran besteht, rauszufinden, was die Nutzer*innen wollen und diesen Interessen zu folgen.

Die Antwort ist einfach: Nein, ist sie nicht. Die Welt ist nicht komplexer geworden, schon gar nicht in den letzten Jahren. Und vor allem stimmt es nicht, dass es damit unmöglich geworden sei, sinnvoll zu planen und selber Ziele zu setzen.

Nicht komplexer, sondern anders

Ich hätte eine Reihe von Argumenten dafür, dass die Welt nicht komplexer geworden ist. Das erste stammt nochmal aus einem Buch, das mit dem Bibliothekswesen gar nichts zu tun hat (auch eher zufällig dieses, weil ich es letztes Jahr gelesen habe; es könnte auch ein anderes sein): John Waller (2009). „A Time to Dance A Time to Die. The extraordinary story of the dancing plague of 1518.” (London: Icon Books) Waller berichtet über eine Phänomen aus dem Jahr 1518 in Strasbourg. Eine Frau begann, unkontrolliert und damit ohne aufhören zu können, zu tanzen. Es gab gar keine Musik dazu, sie tanzte einfach auf der Strasse, dann „steckte” sie andere an, die auch begannen, zu tanzen. Das ging über Wochen. Wie viele Menschen diese unkontrollierten Tänze aufführten, ist unklar, aber es geht um mehrere Dutzend, wenn nicht hunderte. Die Stadtverwaltung versuchte, dies unter Kontrolle zu bekommen, spätestens als die Tanzenden begannen, zusammenzubrechen und zum Teil zu sterben (andere brachen zusammen, hörten danach auf zu tanzen). Es gab verschiedene Versuche, vom Zusammensperren der Tanzenden bis hin zum Geleit zu einem Tempel für einen spezifischen Heiligen.

Was Waller in dem Buch darlegt, ist, wie schwierig für uns die damaligen Herangehensweisen, Denkmuster und auch Überlegungen nachzuvollziehen sind. Beispielsweise ist für uns nicht klar ersichtlich, warum gerade dieser Heilige als Wundertäter für dieses Problem ausgewählt wurde – es wurde nirgends dargelegt. Und dennoch gab es eine Logik, wie das Phänomen verstanden wurde und wie versucht wurde, gegen es vorzugehen: es wurde dieser Heilige ausgewählt und allen war so klar, wieso, dass dies nirgends niedergelegt wurde. Die Stadtverwaltung machte Pläne, diskutierte Lösungen, investierte Ressourcen. Was Waller betont und diskutiert – und was in den letzten Jahren immer und immer wieder in der Mediävistik diskutiert wird – ist die Frage, ob und wie wir Menschen aus dem Mittelalter überhaupt verstehen können. Was klar ist, wenn man sich konkret mit dem Mittelalter beschäftigt, ist, dass es nicht einfacher war, das man sich damals nicht weniger Gedanken gemacht hat und so weiter. Das Denken, die Handlungen und die Gesellschaften der damaligen Zeiten waren nicht einfacher. Sie waren anders. Dinge, die für uns heute oft irrelevant sind – welche Heiligen gibt es, was tun sie, wie sind sie auf Probleme zu beziehen, was ist mit unserem Seelenheil – waren damals relevant, relevant und komplex. Dafür sind andere Dinge heute für uns komplex.

Es gibt radikale Positionen in der Mediävistik, die behaupten, wir könnten die Gedankenwelt des Mittelalters gar nicht mehr nachvollziehen (oder, erweitert, irgendeines anderen Zeitalters oder einer anderen Kultur) und weniger radikale, die uns doch die Möglichkeit dazu zusprechen. Aber so oder so: Es ist heute klar, dass die Welt des Mittelalters nicht weniger komplex war. Die Menschen machten sich andere Gedanken und hatten bei anderen Problemen das Gefühl, den Entscheidungen anderer… well: Kräfte ausgeliefert zu sein, als heute. Aber das waren nicht weniger oder mehr Gedanken als heute. Alles andere ist Projektion aus der Jetztzeit in ein angeblich „einfacheres Zeitalter”.

Das gilt, so mein weiteres Argument, auch für die letzten Jahrzehnte. Die Behauptung, dass die Welt, die Gesellschaft JETZT so komplex geworden sei, dass man sie nicht mehr zu steuern sei, setzt voraus, dass sie es vorher nicht wahr. Aber das geht überhaupt nicht logisch damit einher, dass Hayek das Gleiche schon in den 1930ern behauptet hat. Oder das in den 1970ern Bibliotheken vor der „Informationsflut” warnten, die sich nicht mehr bewältigen würden. Oder das Bibliotheken in den 1990ern behaupteten, mit dem Internet sei die Welt zu unübersichtlich geworden, um sie zu ordnen und zu steuern. Und so weiter. Seit Jahrzehnten wird behauptet, jetzt sei die Welt zu komplex, vorher sei sie es nicht gewesen: Aber das wird nie nachgewiesen, es wird einfach im Vorbeigehen auf die jeweils aktuelle Informationstechnologie verwiesen. Meine Gegenthese: Die Welt ist nicht komplexer, sie ist „nur” anders geworden (in einigen Bereichen besser, in anderen schlechter). Wir Menschen sind alle noch mit den gleichen Möglichkeiten in der Welt, wie die Menschen vor 100 Jahren, wir haben Tools dazubekommen, aber die können wir alle bedienen oder nicht bedienen. Das macht keine neue Komplexität aus, schon gar keine, welche die Gesellschaft mehr oder weniger steuerbar macht, als vorher.

Noch ein Argument: Was Komplex erscheint, ist immer auch eine Wahrnehmungsfrage. Nochmal zum Papier des ekz-Fachbeirats: Dort wird postuliert, durch zunehmende Diversität und Pluralität sei die Welt komplexer. Aber stimmt das? Der Eindruck mag sein, dass man zum Beispiel früher nur von Mann und Frau in heterosexuellen Beziehungen ausgegangen wäre, aber jetzt würde man akzeptieren, dass es nicht einfach nur Mann oder Frau sein kann, sondern das Menschen unterschiedliche Interpretationen ihrer Geschlechtsidentität haben und das gleichzeitig alle möglichen Formen von Beziehungen gelebt werden können [und, um dem ekz-Fachbeirat auf Respekt zu geben, wo er verdient ist: dass das etwas Gutes ist]. Nur: Ist das wirklich komplexer? Ein kurzer Blick in Foucaults‘ „Sexualität und Wahrheit” zeigt ja, dass auch „in einfacheren Zeiten” ständig Arbeit daran geleistet werden musste, die beiden Geschlechter „herzustellen”, zu leben und gleichzeitig alle anderen möglichen Lebensformen zu erfassen, zu definieren und „abzugrenzen”. Ist es nicht eher so, dass sich diese diskursive Arbeit einfach verschoben hat? Anstatt ständig sich und anderen versichern zu müssen, wer oder was in das eine oder andere Geschlecht hineingehört oder wer gerade bezogen auf sein / ihr Geschlecht etwas „falsch” macht und Angst zu haben, dass diese Binarität irgendwie aufbricht (zum Beispiel durch nicht-heterosexuelle Beziehungen oder Menschen, die sich nicht in das Geschlechterschema pressen liessen), setzt sich heute [zumindest beim vernünftigen, progressiven Teil der Gesellschaft] die Haltung durch, dass alle diese Identitäten und Beziehungsformen okay sind. Man kann vielleicht heute mehr Erfahrungen machen, aber ist es wirklich komplexer und mehr Arbeit? Ich denke, gerade nicht. Dafür ist ja die ganze andere intellektuelle Energie eingesparrt, mit der man die Binaritäten aufrechterhalten wollte. [Was es komplex macht ist doch nicht, dass die Binarität aufgebrochen wird, sondern das daneben noch einen anderen, anti-progressiven Teil der Gesellschaft gibt.]

Und noch ein Argument, diesmal ein persönliches: Ich lebe ja seit einigen Jahren praktisch in drei Städten gleichzeitig: Chur (Kleinstadt), Berlin (Metropole) und Lausanne (Grossstadt). Ich denke, langsam kann ich das Leben in diesen gut miteinander vergleichen. In der allgemeinen Erzählung müsste das Leben in Berlin am komplexesten sein, weil da mehr Menschen, mehr Diversität, mehr Angebote, mehr alles ist, als in Lausanne; und in Lausanne komplexer als in Chur. Das ist aber überhaupt nicht so. In allen drei Städten gibt es zum Beispiel spezifische soziale Erwartungen, die zu erfüllen sind, um nicht als unanständig aufzufallen und andere soziale Regeln, um an gesellschaftlichen Orten zu kommunizieren. Die sind jeweils den Umständen entsprechend angepasst (beispielsweise in Berlin eher die Erwartung, dass man im Café in Ruhe gelassen wird und andere in Ruhe lässt, weil so viele unterschiedliche Menschen miteinander auskommen müssen; während in Chur eher erwartet wird, das man zumindest in kurze Gespräche verwickelt wird, dabei mitmacht und das man eher – aber gerade auch nicht immer, nicht creepy – in Gespräche an anderen Tischen eingreifen kann, weil weniger Menschen sich eher öfter sehen und deshalb eine Beziehung zueinander aufbauen sollten). Diese Regeln sind anders, aber nicht mehr komplex in Berlin oder weniger komplex in Chur. Komplexität erklärt nicht den Unterschied zwischen ihnen.

Der Markt ist nicht die Lösung

Wenn jetzt aber das Argument gar nicht stimmt, dass die Welt immer komplexer würde und gerade jetzt „zu komplex” sei – dann stimmen auch die Reaktionen darauf nicht. Die Idee, die Interaktionen zwischen Bibliothek und Nutzenden dem Markt nachzugestalten, ist gar keine Lösung für dieses Problem, weil es das Problem gar nicht gibt. Und damit werden auch die Konsequenzen – dass man aufhört, zu planen, zu kritisieren, nachzudenken, Gesellschaft zu ermöglichen – unnötig. Genauer: Man kann daran gehen, zu fragen, ob es nicht sogar – das ist jetzt vielleicht ironisch – ungewollte Effekte gibt, wenn man diese These von der „zu grossen Komplexität” akzeptiert.

Ich würde sagen, dass es diese Effekte gibt und sie sehr schlecht sind.

  • Ersteinmal ist die Verengung des Begriffes „Partizipation” auf „lass die Nutzenden sagen, was sie wollen” gefährlich, weil es die tatsächlichen demokratischen Potentiale von Partizipation einfach wegwischt. Partizipation heisst, Macht über Entscheidungen zu teilen, nicht Macht angeblich abzugeben, aber dann ja doch zu behalten, weil man am Ende doch die Entscheidung trifft. Wirkliche Partizipation heisst auch, zu akzeptieren, dass es unterschiedliche Interessen und das es gesellschaftliche Strukturen gibt – und diese sichtbar zu machen und dann auszuhandeln, nicht in einem allgemeinen „alle dürfen mal was sagen” zu übergehen. Das alles geht nicht, wenn man Partizipation mit „Design Thinking” oder Co-Design-Workshop gleichsetzt: Diese ganzen Verfahren gehen davon aus, dass alle Nutzenden gleich, mit den gleichwertigen Erfahrungen, den gleichwichtigen Zielen und so weiter existieren und auftreten würden – was selbstverständlich in unseren Gesellschaften nicht der Fall ist. Diese ganzen Verfahren, die so tun, als wären die Interessen der Nutzenden auf einem Pseudo-Markt zu verorten (und nicht in einer Gesellschaft) und man müsste nur ein Verfahren, dass ähnlich ausgleichend funktioniert wie die Preisbildung, finden, dann würde man auch deren Interessen austarieren können, entziehen den Bibliotheken diskursiv die Möglichkeit, planen, handeln oder ihr professionelles Wissen einbringen zu können.
  • Zudem gehen diese Verfahren und dieses Denken immer davon aus, dass die Nutzenden besser wüssten, wie die Bibliothek zu entwickeln sei. Aber das stimmt ja nicht, nicht mal theoretisch. Selbst wenn die Welt zu komplex wäre und zu verwirrend, um sie ganz zu erfassen – wären die Nutzenden genauso dieser Welt ausgesetzt wie die Bibliotheken. Nutzende wissen es auch nicht besser. Sie können andere Sichtweisen einbringen, aber sie können den Bibliotheken die Entscheidung nicht abnehmen.
  • Am Gefährlichsten scheint mir aber diese Verbindung von neoliberalen Ideologemen und Progressivität. Genau das schildert Spencer auch in der Architektur: Da werden in China für Weltmeisterschaften Stadien gebaut, in denen die Überwachung (als „Transparenz”) gleich mit eingebaut ist – und das wird dann doch (im Architekturbüro im schweizerischen, demokratischen Basel) als hypermodern und fortschrittlich dargestellt; Kritik daran hingegen als „bedenkträgerisch” und rückständig. Wer sich die Grundlagentexte zum Beispiel zu Design Thinking durchliesst, wird auch auf solche Formulierungen treffen. Auch da wird „erstmal” verboten, Kritik zu äussern, weil das angebliche Kreativität zurückhalten würde (und diese Kritik dann niemals mehr wieder erlaubt). Von solcher angeblichen Modernität sollte man sich nicht aufhalten oder blenden lassen. Selbstverständlich kann und sollte man immer kritisch sein und auch nach Strukturen fragen. Die Grundthese ist falsch, Kritik an ihr ist nicht unmodern. (Und wenn die jeweilige Kritik schon älter ist: (a) Sind die Grundthesen des Neoliberalismus auch schon alt, (b) ist die Kritik deshalb nicht falsch.)

Nein, die Welt ist nicht zu komplex

Und deshalb finde ich es gefährlich, wenn Bibliotheken die Behauptung nachreden, dass die Welt jetzt (gerade jetzt) zu komplex geworden sei. Sie ist nicht zu komplex geworden, sie nur anders geworden. Aber das wird sie immer: Die Welt ist anders als zu der Zeit, als Hayek versuchte, die Kapitalismus zu retten. Sie wurde auch anders, als die „Tanzwut” 1518 in Strasbourg abebbte. Gab es nämlich vorher den ganzen Rhein entlang über einige Jahrhunderte solche Vorfälle, gab es sie nach 1518 nicht mehr – und wenn man Waller folgt, dann vor allem weil sie die Gesellschaft veränderte. Jetzt lockert sich zum Glück endlich dieses enge Zwangskorsett der Geschlechterordnung, das im 19. Jahrhundert so fest gezogen wurde (und vorher, hier nochmal Foucault lesen, auch anders war). Damit wird es anders; besser, weil weniger Menschen leiden und mehr Menschen sinnhafte Beziehungen führen können – aber nicht komplexer. Jetzt gibt es mehr Informationen als vorher, aber auch das macht die Welt nicht komplexer. Das es „zuviele Informationen” gäbe, ist auch eine Jahrzehnte-alte Klage. [Mehr Geschichte würde vielleicht helfen, diese Veränderungen als Veränderungen, nicht als Gefahr wahrzunehmen.]

Die Welt ist für die Bibliotheken nicht komplexer geworden, nur anders. Man kann genauso gut oder schlecht wie vorher Planen, Ziele anstreben, über die Aufgaben der Bibliothek nachdenken. Das sind gute Nachrichten, aber vielleicht für Einige auch schlechtere:

  • Das Argument von der „Komplexität” nimmt den Bibliotheken nicht ihre Verantwortung dafür ab, darüber zu entscheiden, wie sie sich entwickeln sollen oder können. Und auch nicht moralische Verantwortung für diese Entscheidungen. Egal, welche Methoden man einsetzt, um zu den Entscheidungen über die Entwicklung einer Bibliothek zu kommen, es ist immer die Verantwortung der Bibliothek. Es gibt keine unsichtbare Hand des Marktes oder Pseudo-Marktes, die das regelt.
  • Das heisst auch, dass es weiter keinen Grund gibt, sich im ständigen Nachjagen von Trends zu versuchen, dabei zu scheitern und sich dann zu beschweren, dass niemand sagt, wie man die Trends nachverfolgen soll. Folgt man der Argumentation, dass alles, was man machen könnte, wäre, Marktsignalen zu folgen, weil Planungen immer schlechte Ergebnisse haben – dann wäre das vielleicht ein sinnvolles Vorgehen. Die Argumentation stimmt aber nicht, das Bibliotheken das trotzdem tatsächlich die ganze Zeit machen, ist deren Entscheidung. Solch ein Hinterherjagen kann viel Arbeit erzeugen, aber es verhindert offenbar oft, langfristig zu planen und sich darüber klarzuwerden, was man selber will, dass die Bibliothek tut (denn, wie gesagt, die Hoffnung, das auf die Nutzenden abzuschieben, ist nicht mal theoretisch sinnvoll).
  • Ebenso nimmt das den Bibliotheken nicht die Verantwortung dafür, falls sie sich wirklich selber gegenseitig einreden (oder sich einreden lassen), dass die Welt zu komplex würde. Es bleibt ihre Verantwortung nachzuschauen, ob das ein richtiges Argument ist und daraus Konsequenzen zu ziehen (also es zu akzeptieren und denn „Marktkräften” der Interessen der Nutzer*innen zu überlassen oder aber doch tiefer nachzudenken, zu planen und dafür die Verantwortung zu übernehmen).
  • Das heisst übrigens nicht, dass es falsch wäre, darüber nachzudenken, wie man (intern und extern) mehr Partizipation einführen, einüben und umsetzen kann. Aber man sollte einen Grund für diese Partizipation haben (zum Beispiel mehr Blickwinkel einnehmen, Demokratie üben, Verantwortung teilen, Hierarchien abbauen) – und nicht einfach die Generierung von Pseudo-Marktsignalen mit Partizipation verwechseln. Diese Tendenz ist wirklich zurückzuweisen. (Sie fördert, dass man weniger Demokratie übt, weil sie mit kurzen Meinungsäusserungen gleichgesetzt wird und sie entzieht Bibliotheken tatsächliche Potentiale von Beteiligung.)

Es ist bei den Bibliotheken wie in der Architektur: Man kann diesen Weg gehen, sich von „Kräften ausserhalb unseres Verständnisses” treiben lassen und damit eher in die Richtung gehen, gesellschaftliche Entwicklungen zu ignorieren und damit die eh schon vorhandenen Strukturen zu stärken. Oder aber das Argument zurückweisen und schauen, ob man mit Planung und langfristigen Überlegungen die Bibliotheken (und die Welt) doch besser machen kann.

(Das macht dann vielleicht das Planen schwieriger, dafür aber sinnvoller. Ein Beispiel noch: Bei Spencer wird dargestellt, wie diese Überzeugung, dass man eh nicht versteht, wie Gesellschaft funktioniert und das eigentlich nur alle miteinander transparent sein müssen – weil es ja eigentlich keine wirklichen Konflikte gäbe – dazu, dass diese hässlichen, unwirtlichen „Kommunikationsorte” gebaut werden, umgeben von Sichtbeton und in hohen Räumen – wir alle haben das bestimmt schon oft gesehen. Aber Bibliotheken machen das auch, wenn sie glauben, wenn man nur baulich irgendwie die Leute dazu bringt, in „Landschaften” nebeneinander zu sitzen und sich zu sehen, würde damit Kommunikation und Gesellschaft hergestellt – was halt dann doch kaum klappt, weil es soziale Regeln gibt. Diese Reduktion im Denken führt dazu, dass man vielleicht neue Tische und Stühle aufstellt – aber dann doch aufzuhören scheint, darüber nachzudenken, was das bringen soll. Dabei gibt es keinen Grund dafür, aufzuhören nachzudenken. Ausser die ideologischen Grenzen des neoliberalen Denkens. Ohne diese wäre es viel verständlicher, wenn sich Bibliotheken hinsetzen und schauen würden, wie zum Beispiel bei Ihnen um die Ecke im Café Gesellschaft hergestellt oder nicht hergestellt wird – und dann daraus lokale Schlüsse zu ziehen. Aber das ist nicht vorgesehen, wenn man behauptet, alles wäre eh zu komplex, um es zu verstehen.)

 

Die Gesellschaft ist von Menschen gemacht. Jede. Deshalb ist sie auch für Menschen verständlich. Die Behauptung, sie sei zu komplex, mystifiziert das nur. Bibliotheken sollten sich nicht auf diesen Mythos einlassen – das würde sie nur zum Spielball anderer Interessen machen, und im schlimmsten Falle zum eigenen Niedergang beitragen, wie es ja in Grossbritannien passiert ist.

 

Fussnoten

1 Man sollte auch nicht so tun, als wäre die „Chicago School”, in der die meisten dieser Ideen zusammenkamen, die einzige Institution gewesen, die sich mit dieser Frage beschäftigten. Keynes versuchte es zum Beispiel auch, aber mit ganz anderen Grundideen. Neoliberalismus war auch schon am Anfang nicht alternativlos, ist er auch heute nicht.

2 In den 1980ern, als auch Bibliotheken darüber diskutierten, ob sie „Informationsvermittlungsstellen” werden sollten und gleichzeitig mehrere Anbieter versuchten, mit Informationen und Dienstleistungen zu Informationen Geld zu verdienen, wurde von letzteren diese Position vertreten: Der Markt dürfe nicht „verzerrt” werden, indem Bibliotheken kostenfrei Dienstleistungen anbieten – wenn überhaupt (um eine Informationsgerechtigkeit zu erreichen) dürfe die Nachfrageseite gestärkt werden, also Menschen des Geld gegeben werden, um Dienstleistungen einzukaufen. Was man als Versuch verstehen könnte, mehr Profit zumachen; was sich aber auch aus dem neoliberalen Denken ergibt, ohne Profitabsicht: Wenn man davon überzeugt ist, dass nicht Planung, sondern Informationen aus dem Markt die beste Form von Steuerung sind, dann darf das nur auf diese Weise geschehen – Menschen dürfen in den Status von Markteilnehmer*innen gesetzt werden, aber nicht die Wirtschaft anders organisiert werden. Ist das sinnvoll? Nur mit diesem Gedankenhintergrund.

Welche Vorbilder wählt sich das Bibliothekswesen und wieso? Einige Überlegungen

Letztes Wochenende fand in Genf die Fête de la Musique statt. Anders als anderswo ist das in Genf nicht der Tag des Sommeranfangs (21. Juni), sondern das ganze Wochenende nach diesem Tag (Freitag bis Sonntag, diesmal 22-24. Juni). Aber ebenso wie anderswo: Musik, vornehmlich draussen, umsonst, mit verschiedensten Musikrichtungen, sehr lokal geprägt (also Bands und so weiter aus Genf, was bei der doch internationalen Stadt Genf halt auch heisst, sehr international geprägte Musik). Da sich der Grossteil der Bühnen in Genf in der Altstadt und neben der Altstadt im Parc des Bastions befindet, gab es hier auch recht zentral all die Essens- und Getränkestände, symphatischerweise nicht von grossen Caterern, sondern vor allem von Vereinen betrieben, die so Geld für ihre jeweiligen Vereinszwecke sammeln. Auch die Infrastruktur: Sehr nett. Kostenfreie und saubere WCs (im Vergleich), überall Brunnen mit Trinkwasser.

Und mittendrin hat die Öffentliche Bibliothek eine Bühne, genauer: Von den Öffentlichen Bibliotheken der Stadt hat einer der 13 Standorte (Bibliothèque de la Cité) eine Abteilung für Musik (Espace musique) und diese Abteilung wiederum hat einen eigenen Bibliotheksbus (Mobithèque) (neben dem Bibliotheksbus – Bibli-o-bus – für die kleinen Orte im Kanton, aber ausserhalb der Stadt Genf selber, den es auch gibt), welcher die ganzen drei Tage bei der Fête de la Musique auch Programm bietet: Filme, Quiz, Chanson, DJs.

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Der DJ beginnt mit seinem Set und geht dabei gleich symphatisch mit ab. Später wurde getanzt (inklusive vieler Kinder, deshalb hier keine Bilder davon).

Auch das war ganz nett. Aber wie wir so bei der Mobithèque sassen, dem DJ (Abraham Licorne, wenn ich das vergangene Programm richtig lese) zuhörten, wie er so einen sehr aufbauenden Mix von Funk, Swing, Rap und Elektro auflegte und wir den Leuten zuschauten, wie sie am warmen, sommerlichen Abend tanzten und auch sonst alles im Rahmen ganz symphatisch fanden, begann ich mich eines zu fragen: Warum ist eigentlich nicht das – die Bibliothèques Municipales de la Ville Genève und ihre Angebote, die direkt zu den Menschen gehen – ein Vorbild für Bibliotheken im deutsch-sprachigen Raum?

Was ist Vorbild – und was nicht?

Je länger der Abend dauerte, umso mehr stellte sich mir diese Frage: Wie wird eigentlich im Bibliothekswesen ausgewählt, welche Bibliotheken als Vorbild gelten und was von ihnen als vorbildhaft gilt? Damit einher geht selbstverständlich immer die Frage, was gerade nicht ausgewählt wird. Der Diskurs (der mal wieder) über bestimmte Vorbilder ist selbstverständlich eine Verständigung darüber, was als denk- und machbar gilt. Gleichzeitig errichtet er ein „Aussen” von Lösungen (in diesem Fall: Bibliotheken), die als nicht vorbildhaft gelten, als nicht denkbar, nicht umsetzbar, als bestenfalls utopisch. Und das vor allem als Diskurs, als System von Worten, Aussagen und Denkweisen. Denn: Ich sass dort im Park und hörte dem DJ, der in der Mobithèque auflegte, zu. Das gibt es real. In einer sehr internationalen Grossstadt mit allen ihren netten und nicht-netten, verrückten und langweiligen Menschen, mit all ihrer Infrastruktur, ihrer Wirtschaftsorientierung, dem „Weggucken” bei all den Quasi-Diktatoren, die dort wohnen, bei ihrem spezifischen Verständnis von Wohlfahrt. Es ist also gar nicht so utopisch; es ist schon gebaut. Aber es ist nicht als Vorbild im deutschsprachigen Diskurs drin.

So erscheint es im deutschsprachigen bibliothekarischen Diskurs praktisch als unmöglich: Ein Bibliotheksverständnis, das eher auf viele kleine Filialen, die dafür dort sind, wo Menschen wohnen, setzt; auf Programme, mit denen zur Bevölkerung gegangen wird, mit Bücherbussen und persönlichen Angeboten. Mit einer Agenda, die so viele Veranstaltungen beinhaltet (ein Teil in Kooperation mit anderen Einrichtungen, aber der Grossteil von der Bibliothek selber organisiert), dass sie mehrfach im Jahr, zum Teil nur für bestimmte Themen (zum Beispiel Musik) gedruckt werden muss? Warum erscheint so ein Verständnis von Bibliothek nicht als vorbildhaft, warum werden Bibliotheken im deutschsprachigen Raum, die auch eher auf solche Strukturen setzen, eher als unzeitgemäss angesehen? Das zum Beispiel Zürich oder Wien so viele Filialen haben, wie sie haben, erstaunt ja heute schon eher. Thematisiert wird es kaum.

Dabei, so wurde eigentlich klar, während der Abend weiterging, haben die Nutzerinnen und Nutzer da gar nichts dagegen.

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Nur mal zwei der aktuellen Programme der Bibliothèques Municipales de Genève. (Das Motto „une fenétre sur le monde“ heisst übrigens „ein Fenster zur Welt“. Auch das symphatisch.)

Was macht „unsere Vorbilder” aus?

Bislang habe ich schon mehrfach (hier im Blog und anderswo) darauf hingewiesen, dass es eine Tradition in den deutschsprachigen Bibliothekswesen gibt, die eigentlich einer Erklärung bedarf: der ständige Blick in die USA, nach Grossbritannien und „Skandinavien” (ohne Island, selten nach Finnland, dafür manchmal in die Niederlande) und die dortigen Bibliotheken. Die Tradition gibt es seit Langem, auch durch verschiedene politische Systeme hindurch. Sie war nicht immer so stark (man findet in älteren bibliothekarischen Zeitschriften zwar auch diesen Blick, aber doch mehr Artikel, die andere Bibliothekswesen vorstellen; es war also eher „bunter”), sie scheint heute auch viel fokussierter auf Teilaspekte der dortigen Bibliothekswesen als früher. Aber sie erklärt zum Teil, warum das Bibliothekswesen in Genf nicht als Vorbild gilt.1

Aber neben dieser Tradition fiel mir an diesem Abend zusätzlich auf, dass die „Vorbild-Bibliotheken”, welche in den bibliothekarischen Texten vorgestellt, in organisierten Informationsreisen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren besucht und auf Konferenzen als Beispiel angeführt werden, nicht nur in diese Tradition passen, sondern einige andere Gemeinsamkeiten haben.

In meiner „aktiven Zeit” im Bibliothekswesen (etwas mehr als zehn Jahre) hat es drei dieser grossen Vorbilder gegeben:

  1. Die Idea Stores in London
  2. Die Openbare Bibliotheek Amsterdam, Centrale Bibliotheek
  3. Dokk1 in Århus2

Ich gehe mal davon aus, diese bekannt sind. (Und wenn die Idea Stores unbekannt sind und schon lange nichts mehr von ihnen vermeldet wurde, ist das auch nur bezeichnend, siehe weiter unten.)

Es gibt eine Anzahl von Gemeinsamkeit bei diesen drei Vorbildern:

  1. Es ging bei allen drei um einen aktiven Stadtumbau, in welchen die Bibliotheken einbezogen wurden. Die Idea Stores waren Teil der aktiven Aufwertung von Wohnquartieren. Es wurden Bibliotheken geschlossen, die – so die Argumentation – veraltet waren und neue Stores gebaut, die unter anderem durch ihr Design und ihre Architektur Moderne ausstrahlen und dazu beitragen sollten, dass sich die Quartiere erneuerten. Die Centrale Bibliotheek und das Dokk1 sind noch expliziter Institutionen, die zur Aufwertung von ehemals industriell genutzten Häfen beitragen sollen. Beide Male war die Aufgabe, welche sich die Stadtverwaltungen stellten die, Häfen, die lange die Stadt vom jeweiligen Wasser trennten, neu in die Stadt einzubinden. Es trafen sie ja auch die gleichen Entwicklungen (und nicht nur sie) in der Logistik, die in den letzten 10-15 Jahren weltweit „Häfen freimachen”. In diesen beiden Fällen wurden – nicht nur – Bibliotheken als Mittel gewählt, diese Öffnung zur Stadt zu erreichen.
  2. In allen drei Fällen ging es um Architektur. Alle Gebäude wurden explizit als zeitgenössisch, überwältigend und eindrücklich konzipiert. Sie sollen – so würde ich es interpretieren – alle eine gewisse Offenheit, Helle und Moderne repräsentieren. Ob sie das erreichen ist eine andere Frage. (Mir persönlich scheinen vor allem die Idea Stores und das Dokk1 erstaunlich abweisend.) Aber es war und ist auffällig, wie oft die Architektur im Mittelpunkt von Darstellungen dieser Bibliotheken stand und wie oft Texte vor allem mit grossen Architekturbildern dieser Bibliotheken bebildert wurden.
  3. Um was es viel weniger ging, bei den Texten zu diesen drei Beispielen, war die Funktionalität der Gebäude selber. Sicherlich wurden sich bei den Bauprojekten darüber Gedanken gemacht. Aber in den Darstellungen überwog eher, wie die Gebäudeals Gebäude und stadtplanerische Statements wirken sollen (also ein architektonischer und vielleicht auch stadtplanerischer Blick) und weniger, wie sie tatsächlich im Alltag für bibliothekarische und andere Aufgaben wirken (also ein bibliothekarischer Blick). Ein wenig so, als würde sich auch in der bibliothekarischen Literatur eher für die Gestalt als für den Inhalt interessiert.
  4. Bei allen drei Beispielen wurde postuliert, dass eine Lösung vorgeblicher bibliothekarischer Probleme (dass das Bild der Bibliotheken schlecht wäre, dass sie veraltet seien, dass sie immer weniger Nutzerinnen und Nutzer hätten) darin bestehen würde, die Bibliotheken mit anderen Einrichtungen zusammenzulegen und als gemeinsame Einrichtungen zu betreiben. Bei den Idea Stores mit der Erwachsenenweiterbildung, in Amsterdam mit Theater, Radio und anderen Einrichtungen, im Dokk1 gleich als Kulturzentrum. Dies wurde auch in der deutschsprachigen Literatur immer wieder als vorbildhaft herausgestellt. (Es ist eigentlich keine sonderlich neue Idee und auch anderswo schon mehrfach umgesetzt. Dennoch wurde es immer wieder als neu herausgestellt.)
  5. Damit einher ging, dass bei den drei Vorbildern moderne bibliothekarische Arbeit vor allem als Arbeit entworfen wurde, die über einen gewissen „traditionellen Kern” hinausgehen würde. Mehr Veranstaltungen, Makerspaces (Amsterdam, Århus), Bildungsberatung (London) und so weiter. Auch das war eigentlich nichts Neues, aber es wurde immer wieder als vorbildhaft dargestellt. Was weniger diskutiert wurde, war die eigentliche bibliothekarische Aufgabe dieser Einrichtungen. Stattdessen diskutiert wurden (vorgeblich) hinzukommende Aufgaben und Angeboten.
  6. Vielleicht ist es nur mein Eindruck, aber mir scheint, dass die potentiellen Nutzerinnen und Nutzer, die in den „Vorbild-Bibliotheken” angestrebt werden (und die auf den Bildern in den Artikeln zu sehen waren), trotz aller Betonung von Offenheit und Urbanität doch sehr eingeschränkt sind: sehr kleinbürgerlich, selbstmotiviert, bildungs- und aufstiegsorientiert, kreativ in dieser sehr aufgeräumten Weise, „vernünftig” im Sinne von Leuten, denen man weder Ekstase noch durchgetanzte Nächte zutraut [im Gegensatz zu DJs auf der Fête de la Musique, die zumindest an solche „unsinnig” kreativ verbrachten Nächte erinnern] und „vernünftig” im Sinne von auf Harmonie und Ausgleich ausgerichtet [und eben nicht auf die Thematisierung von Widersprüchen und gesellschaftlichen Strukturen]. Halt „ordentliche, vernünftige Leute”. Welcher Herkunft, sexueller Identität, religiöser Haltung et cetera scheint egal, solange sie „vernünftig” sind. Halt doch nur ein Teil der Gesellschaft.
  7. Bei der Darstellung der Vorbilder fällt im Nachhinein auch auf, dass sie praktisch nur als solitäre Einrichtungen dargestellt wurden; nicht als Teil des jeweiligen lokalen Bibliothekswesens. (Das hat sich ja auch in vielen „Bibliotheksreisen” gezeigt, die immer vor allem zu der einen Bibliothek gingen; als würde man aus den anderen Bibliotheken drumherum nicht viel lernen können.) Ob die jeweiligen Einrichtungen überhaupt eine Besonderheit darstellen oder eine Tradition fortsetzen; wie sie sich in das jeweilige Bibliothekssystem einliessen, wurde kaum gefragt. [Gerade beim Beispiel in Amsterdam wurde das am genutzten Namen für die Bibliothek manchmal auffällig: Openbare Bibliotheek Amsterdam heisst einfach Öffentliche Bibliothek Amsterdam – und von denen gibt es mehrere. Die Centrale Bibliotheek (Zentralbibliothek) über die gesprochen wurde, wurde aber oft so besprochen, als wäre es die eine und einzige Öffentliche Bibliothek in Amsterdam, deswegen wurde sie auch oft einfach „Openbare Bibliotheek” genannt.]
  8. Ebenso im Nachhinein (also zumindest für die Idea Stores und die Bibliothek in Amsterdam, aber jetzt eigentlich auch für die in Århus) fällt auf, dass sie nach den Phasen, in denen sie als Vorbild dargestellt und besucht wurden, eigentlich nicht mehr in der deutschsprachig bibliothekarischen Literatur auftauchen. Oder anders: Dargestellt wird der Anfang, aber nachher scheint kaum jemand nachzuschauen, wie sich diese Vorbilder entwickeln. Wie soll man das interpretieren? Geht es vor allem um den Eindruck des Neuen, nicht um das tatsächliche Funktionieren?

Ist das naturgegeben, dass gerade solche Bibliotheken ausgewählt werden, um in ihnen etwas neues oder vorbildhaftes zu finden? Ist es naturgegeben, dass sie so angeschaut und dargestellt werden, wie sie es werden? (Also Fokus auf die Architektur, wenig Fokus auf die Aufgaben, die der jeweiligen Einrichtung zum Beispiel bei der Stadtplanung zugeschrieben werden.) Selbstverständlich nicht. Man könnte andere Bibliotheken wählen, man könnte Bibliothekssysteme (und nicht einzelne Einrichtungen) anschauen, man könnte anderes thematisieren (zum Beispiel die Funktionalität von Gebäuden oder die Verdrängungsprozesse, an denen Bibliotheken (ungewollt) beteiligt sind, wenn sie als Teil der Aufwertung von städtischen Räumen angesehen werden). Man könnte auch Bibliotheken ausserhalb grosser Städte als Vorbild nehmen. Das ist alles möglich und in den letzten 100-125 Jahren ist das auch getan worden. Es ist also eigentlich erklärungsbedürftig, warum es heute so getan wird, wie es getan wird.

Was sagen unsere Vorbilder über uns aus?

Als ich nun in Genf neben der Mobithèque sass und über all dies ein wenig nachdachte, fiel mir ein Satz ein, der diese ganzen Überlegungen ganz gut zusammenfasst:

Es ist politisch, was man als Vorbild nimmt, was man nicht als Vorbild nimmt sowie was man an Vorbildern als vorbildhaft thematisiert und was nicht.

Eigentlich ziemlich einfach. Bei Menschen ist das auch nicht anders. Ob ich es als sinnvoll ansehe, Vorbilder zu haben oder nicht ist eine Entscheidung, die auf meinem Bild über die Welt und die Menschen aufbaut. Wen ich als vorbildhaft ansehe ebenso. Und was ich an diesen Personen als vorbildhaft ansehe auch (Beispielsweise jemand sehr oft gewähltes: Che Guevara. Finde ich die konkrete Politik Ches vorbildhaft oder nur, das er sich für seine Ideen einsetzte? Finde ich das Hasta la victoria siempre gut oder den konkreten militärischen Einsatz in Kuba, Kongo und Bolivien? Und: Wie tiefgehend meine ich das? Geht es mir um ein ungefähres Bild [„Man muss so radikal für die Armen sein, wie Che”] oder um konkrete Einzelheiten [„Man muss das kubanische Tagebuch und die wichtigsten Reden kennen und denen nachleben.”]?) Das scheint am Ende bei Bibliotheken nicht anders. Es ist halt nicht zufällig, was als Vorbild angesehen wird und was nicht. Und deshalb kann man auch versuchen von den Vorbildern, die in den deutschsprachigen Bibliothekswesen gewählt werden, abzuleiten, wie sich Bibliotheken politisch verorten.

Das aber wiederum hat mich ganz schön nachdenklich gemacht. Alles Vermutungen, aber:

  1. Auffällig ist schon, dass die Einbindung der drei Vorbilder in konkrete Gentrifizierungstendenzen gar nicht thematisiert wird. Wird das etwa gut gefunden? Wird das nicht gesehen? Ist es nicht eine gewisse Komplizenschaft, das praktisch bei den Darstellungen auszulassen und einfach so hinzufahren?
  2. Auffällig ist aber auch die relativ unkonkrete Darstellung dieser Vorbilder: Die konkrete Funktion im Alltag, die bibliothekarischen Fragen (zu denen dann offenbar auch solche der Veranstaltungsorganisiation und Kooperation zählen) stehen ja ganz oft im Hintergrund, dafür werden vielmehr Bilder präsentiert. Das bleibt alles immer sehr, sehr schwammig. Und nachher wird auch wenig geschaut, ob es überhaupt wirkt. Worum geht es dann? Eher so um den Vibe des Neuen, um das Gefühl, modern zu sein? [Wie beim Che-Beispiel: Eher um den Vibe der Veränderung als um die konkrete Auseinandersetzung mit der Praxis?]
  3. Auffällig auch, dass vor allem Einzelgebäude angeschaut werden, nicht Bibliothekssysteme. Im neoliberalen Stadtumbau ist das normal: Nachdem die Kommunen fast alle Steuerungselemente aus der Hand gegeben haben, um den Markt möglichst viel regulieren zu lassen, ist das Mittel der Wahl heute, irgendetwas hinzustellen (Gebäude, Projekte), das dann die über den Markt regulierte Gesellschaft oder Stadt in eine Richtung stossen soll. Weniger Infrastruktur, mehr beispielhafte Interventionen. In gewisser Weise scheint sich das bei den bibliothekarischen Vorbildern wiederzufinden: Einzelne Bauten, nicht Systeme werden angeschaut, es scheint eher in Interventionen (Innovationen) gedacht zu werden und weniger an Infrastruktur oder konkreter Arbeit.
  4. Und auffällig ist einfach auch, wie wenig eigentlich die Gesellschaft thematisiert wird. Es gibt so ein grundsätzliches Diversitäts-Versprechen, aber eigentlich scheint es, als würde nicht gefragt, was diese Vorbild-Bibliotheken eigentlich für Menschenbilder vermitteln (bei den Idea-Stores und ihrer Fixierung auf Bildung wären dies sehr einfach zu thematisieren). Es scheint halt schon manchmal, als würde umstandslos die kleinbürgerliche (ist das das richtige Wort?) Orientierung einfach übernommen. Vorsichtig interpretiert scheinen sich Bibliotheken mit den kleinbürgerlichen Werten (die ja heute auch offener sind als früher, halt diverser, solange alle „vernünftig” sind) zu identifizieren. Vielleicht weil das genau das Weltbild ist, dass von vielen in der Bibliothek vertreten und gelebt wird?

Bessere Vorbilder?

Wohin führen solche Überlegungen? Ich bin mir nicht sicher. Es wäre sehr einfach, andere Vorbilder zu fordern und auch einen anderen Blick auf diese Vorbilder. Ich könnte gleich einige nennen: Genf, Wien, Toronto; jeweils die ganzen System der Öffentlichen Bibliotheken, nicht Einzelbauten; und der Blick weg von „alles muss neu sein” hin zu „wie fördern die das Gemeinwohl”. Aber diese Auswahl sagt vielleicht auch einfach mehr über mich und mein Weltbild aus.

Wichtig ist für mich eher der Satz von dem politischen Verhaftet-Sein der Vorbilder im bibliothekarischen Diskurs. Gerade verbunden mit dem Wissen, dass es auch schon anders war (beispielsweise das Mitte der 1960er Jahre nicht auf skandinavische Bibliotheken geschaut wurde, um da die Zukunft der Bibliothek, sondern um Vorbilder für eine rationale Gestaltung der Bibliotheksarbeit zu finden), zeigt er, dass der mögliche Wissensraum viel grösser wäre, als der, der aktuell genutzt wird. Es gäbe viel mehr Fragen, Erfahrungen und mögliche Fokusse. Und zu verstehen, dass es politische Entscheidungen (im Sinne von „wie stelle ich mir vor, dass die Welt funktioniert; was betrachte ich als relevante Themen und was nicht?”) sind, mach auch klar, dass über die impliziten Annahmen, die mit den Vorbildern vermittelt werden, diskutiert und das diese auch verändert werden können.

Dieses Nachdenken hinterlässt einen gewissen schallen Beigeschmack. Was genau ist das, diese gewissen Einschränkungen bei den Bibliotheken, die als Vorbild gelten? Ist das die Neoliberalisierung des bibliothekarischen Denkens (wie halt bei vielen linken Parteien in den letzten Jahrzehnten, wo auch bestimmte Themen und Fragen einfach „verschwunden” sind)? Ist das „Denkfaulheit”, die vielleicht durch zu viel Arbeit oder zu viel Zumutungen im Alltag hervorgerufen wurde? Ist es ein Ausdruck der Überzeugungen über die Gesellschaft, denen im Bibliothekswesen gefolgt wird oder prägen die Vorbilder und ihre Darstellung diese Überzeugungen? Nochmal: Warum sind nicht die so nahe bei den Nutzerinnen und Nutzern verorteten Öffentlichen Bibliotheken in Genf ein Vorbild, dafür aber das Ungetüm in Århus? Ist es vielleicht einfach ein Zeichen von zu wenig Utopie und zu wenig Mut zum Denken über das Bekannte hinaus? Zum Glück war der DJ gut und der Sommerabend warm, aber nicht zu warm; sonst wäre aus dem Nachdenken vielleicht eine sehr rabiate Polemik geworden.

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Vor dem DJ-Set gab es eine Musikquiz.

 

Fussnoten

1 Für die Schweiz kommt die Tradition hinzu, die Teile auf „der anderen Seite der Sprachgrenze” als irgendwie ganz anders zu verstehen, zwar als schweizerisch, aber als doch nicht gleich. Die Bibliotheken in Genf können sehr schnell als „in der Romandie sind sie (?) eher so staats-orientiert, aber in der Deutschschweiz eher so förderalistisch” als mögliches Vorbild abqualifiziert werden.

Zwischendurch wurde auch die Seattle Public Libray, Central Library etwas öfter thematisiert, aber nicht so oft wie die anderen drei Bibliotheken. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass es teurer ist und länger dauert, Seattle zu besuchen, als Århus. Aber auch für Seattle gilt, dass viel mehr über eine spezifische Bibliothek berichtet wurde, als – wie Olaf Eigebrodt einmal erwähnte, ich weiss aber leider nicht mehr wo – über die gesamte Ausrichtung des gesamten Bibliotheksnetzes in Seattle. Die Bibliothek New Library in Birmingham wurde fast nur wegen der Architektur und dann der Absurdität, dass nach dem Bau zu wenig Geld zum kontinuierlichen Betrieb der Bibliotheken der Stadt übrig war, erwähnt.