«Mit den Menschen reden gehen.» Einige Überlegungen zur Popularität von Design Thinking, Partizipation etc. im Bibliotheksbereich

Eine Frage, die mich schon eine ganze Weile umtreibt (auch schon vor der Pandemie), ist die, warum solche Methoden / Methodensätze wie «Design Thinking» eigentlich so populär im Bibliothekswesen sind. Nicht nur Design Thinking, auch vieles was unter dem Label «Partizipation» läuft, obwohl es «nur» um die Entwicklung / Weiterentwicklung von bibliothekarischen Angeboten unter Einbezug von einigen Nutzenden geht oder auch verschiedene «Technology Acceptance Models», die in einer Anzahl von Bibliotheken auch für diese Aufgaben herangezogen werden. Sicherlich: Alles, was präsentiert wird als hippe, neue Methode, die so mal nix Probleme lösen soll, die angeblich früher nicht gelöst worden wären, löst bei mir Vorsicht aus. Das klingt eher nach Marketingbehauptung als nach Tatsachen. So oft gibt es die angeblichen Probleme gar nicht wirklich, so oft löst die Methode auch gar nicht ein, was über sie behauptet wird. Aber mir scheint, es ist nicht nur das.

Was soll eine Methode in der Forschung? Was soll sie in der Praxis?

Grundsätzlich habe ich als Wissenschaftler vielleicht einen anderen Anspruch an Methoden als Bibliotheken. Für mich gilt: Eine Methode muss immer zur Frage passen. Genauer: Die Anwendung der Methode muss es ermöglichen, eine konkrete Frage zu beantworten, ein Problem zu lösen und so weiter. Sicherlich kann bei der Anwendung einer Methode noch einiges schief gehen: Umfragen können nicht beantwortet werden, Fragen können sich als unbeantwortbar herausstellen, Probleme können komplexer sein, als erwartet und so weiter. Aber man sollte bei einer Methode zumindest annehmen dürfen, dass sie zur Lösung der jeweiligen Frage oder des jeweiligen Problems beiträgt. Die Frage «Welche Schwerpunkte sollen wir beim Bestandsaufbau setzen» beantwortet man nicht mit einer Experiment, ein Problem mit der Beleuchtung im Lesesaal geht man nicht sinnvoll mit einer Fokusgruppe an. Und nicht zuletzt sammelt sich in der Forschung mit der Zeit Wissen darüber an, welche Methoden für welche Fragen gut oder weniger gut funktionieren.

Und wenn man diesen Anspruch anlegt, dann schneidet Design Thinking zum Beispiel sehr schlecht ab. Zwar wird gerne behauptet, dass man mit diesem Prozess / Methodenset kreative Lösungen für Probleme finden würde, bei denen mehrere Blickwinkel einbezogen werden. Aber eigentlich kommen immer nur Lösungen heraus, die erstaunlich eng gefasst sind, deren Kreativität man schon bezweifeln kann (sicher: Wie Kreativität bewerten? Aber auffällig ist, wie oft praktisch die gleichen Lösungen herauskommen) und bei denen am Ende notorisch schwierig zu bestimmen ist, ob sie wirklich Lösungen für die behaupteten Probleme sind. Vor allem fällt auch auf, wie oft Design Thinking im Bibliothekswesen genutzt wird, wenn es gar nicht um die Lösung von Problemen geht sondern zum Beispiel darum, eine Situation zu verstehen. Man könnte das noch weiter ausführen (beispielsweise diskutieren, warum gerade die Profession des Design ein positives Vorbild sein soll) und auch die anderen oben genannten Methodensets anschauen, aber das soll hier nicht der Punkt sein. (Zumal es schon genug kritische Literatur gerade zu Design Thinking gibt, auch wenn sie im Bibliothekswesen nicht so recht rezipiert wird.1) Nehmen wir hier einfach einmal als gegeben an, dass die Methoden wirklich kaum zu den Fragen passen und sich auch nicht «beweisen», also das nicht gezeigt werden kann, dass sie besser Antworten oder Ergebnisse liefern, als andere Ansätze. Mir geht dann um etwas anders: Die Frage, warum sie dennoch so beliebt zu sein scheinen oder zumindest, warum sie immer und immer wieder angewendet werden.

Eines fällt nämlich auf: Nicht nur die «üblichen Verdächtigen» – die Berater*innen, welche Design Thinking als Beratungsangebot verbreiten, die Kolleg*innen an Hochschulen und Bibliotheken, welche immer sehr schnell dabei sind, neue Entwicklungen auszuprobieren und anzupreisen – zeigen sich einigermassen begeistert. Sondern auch Kolleg*innen in Bibliotheken, die Projekte mit diesen Methoden durchgeführt haben, äussern sich nachher recht positiv, wenn man sie privat / halb-privat fragt. Gleichzeitig scheinen (das ist jetzt nicht empirisch untermauert – aber alle können das selber nachvollziehen, indem sie im eigenen Umfeld Bibliothekar*innen, die solche Projekte mitgemacht haben, befragen) die Kolleg*innen nicht so richtig sagen zu können, was genau an den Ergebnissen so besonders oder anders wurde durch die jeweils im Projekt genutzten Methoden. Aber grundsätzlich fanden sie es immer gut.

Mich erinnert das an die Ergebnisse einer Studie zu Berater*innen in kanadischen Bibliotheken: Dort wurden Bibliothekar*innen befragt, was die jeweiligen Berater*innen, die an ihren Bibliotheken tätig waren, eigentlich getan hatten und was sich durch sie verändert hätte – im Ergebnis konnten das die Bibliothekar*innen nicht genau sagen, hatten aber dennoch eine positive Meinung von den Berater*innen (nicht unbedingt vom eigenen Management, welche die Berater*innen engagiert hatte).2 Die beiden Autorinnen dieser Studie konnten sich aus diesem Ergebnis keine richtigen Reim machen und so ein wenig fühle ich mich manchmal auch, wenn ich die tatsächlichen Ergebnisse von «Design Thinking»-Projekten in Bibliotheken anschaue auch.

«Etwas verändern» als Ziel

Aber: Ich denke, das hat auch etwas mit der Perspektive zu tun. Wie gesagt ist für mich klar, dass eine Methode zur jeweiligen Fragestellung beziehungsweise zum jeweiligen Problem passen muss. Und das sie deshalb auch danach bewertet werden kann, wie sehr sie am Ende dazu beigetragen hat, die jeweilige Frage zu beantworten oder das jeweilige Problem zu lösen. (Oder, in der Studie aus Kanada: Berater*innen und ihre Arbeit sollten danach bewertet werden können, wie sie helfen, die jeweiligen Probleme zu lösen – aber das ist nicht, wonach sie dann bewertet wurden.)

Aber offenbar muss man den Blickwinkel wechseln und fragen, was Bibliothekar*innen (und Bibliotheken) eigentlich aus den Projekten ziehen. Denn: Das Methoden helfen sollen, Fragen zu beantworten, ist selbstverständlich der Blick aus dem Wissenschaftssystem, in dem es ja immer darum geht, neues Wissen zu produzieren, indem Fragen gestellt und möglichst systematisch beantwortet werden. Das ist in Bibliotheken aber nicht die Aufgabe, dort geht es vor allem darum, bibliothekarische Arbeit zu organisieren und Probleme, die in dieser Arbeit auftreten, so zu lösen, dass sie nicht mehr als Probleme erscheinen (was nicht heissen muss, dass sie wirklich gelöst sind, sondern das man irgendwie mit ihnen arbeiten / leben kann). Und oft geht es – zumindest aus der Sicht vieler Bibliotheksleitungen – darum, Veränderungen so zu organisieren, dass sie vom Personal mitgetragen werden (und nicht zum Beispiel als Angriff «von oben» auf das Bibliothekspersonal verstanden werden).

Das ändert aber alles: Um die Aufgaben zu erfüllen, die Bibliotheken an die Projekte stellen, müssen nicht unbedingt Fragen gut (und systematisch) beantwortet werden oder Probleme gelöst werden. Vielmehr müssen sie dabei helfen, die Arbeit von Bibliotheken so zu organisieren, dass sie anschliessend verändert und besser erscheint. Weder müssen das die bestmöglichen Lösungen sein, noch die effektivsten – das wird selten überprüft. Es müssen einfach am Ende Veränderungen stattgefunden haben, die im Idealfall besser funktionieren als die vorherigen Lösungen. (Sicherlich ist der Anspruch immer, eine möglichst gute Lösung zu finden, aber es fällt auf, dass das selten überprüft und schon gar nicht auf die in Projekten genutzten Methoden zurückgeführt wird.) Die Methoden werden also – beispielsweise von Berater*innen oder Bibliotheksleitungen – gar nicht dafür genutzt, um strukturiert neues Wissen zu erarbeiten, wie das in der Forschung der Fall wäre, sondern um Veränderungsprozesse zu strukturieren. (Und damit unterliegt das am Ende doch entstandene Wissen, dass in neue Angebote, Gebäude und so weiter fliesst, auch nicht den gleichen Bewertungen, wie es Wissen in und aus der Forschung unterliegt – was eigene Probleme mit sich bringt, die aber vielleicht Thema für einen anderen Post sein sollten.)

Fragen wir unter diesem Blickwinkel, was solche Methoden wie Design Thinking, «Partizipation» und so weiter für Bibliotheken mit sich bringen, fällt etwas auf: Wenn sie auch immer wieder mit anderem Gestus präsentiert werden, verbindet diese alle, dass sie – richtig durchgezogen, was auch nicht immer der Fall ist – immer wieder ein ähnliche hintergründige Struktur haben:

  1. Zuerst wird bestimmt, über was man bei den Projekten überhaupt reden und was man verändern möchte. Beim Design Thinking nennt es sich oft «das Problem definieren», anderswo heisst es «das Thema bestimmen» oder ähnlich. Aber grundsätzlich kommt es auf immer wieder das gleiche heraus: Es wird umrissen, um was es im Projekt genau geht und es wird allen Beteiligten – dass sich vor allem die Bibliothekar*innen – vermittelt, dass die jeweilige Veränderung grundsätzlich notwendig ist.3
  2. Anschliessend werden die Bibliothekar*innen mehr oder minder direkt gezwungen, «aus der Bibliothek hinauszugehen», also mit Nutzer*innen und anderen Personen direkt zu kommunizieren. Manchmal heisst das, wirklich explizit anderswohin zu gehen (zum Beispiel auf den Marktplatz, durch die Innenstadt, in den Kiez / das Quartier), manchmal heisst das mit Umfragen, Interviews und so weiter räumlich mehr in der Bibliothek zu bleiben, aber trotzdem mit Nicht-Bibliothekar*innen zu kommunizieren.
  3. Ergebnis dieses «Hinausgehens» ist dann oft, dass die Rückmeldungen gegenüber der Bibliothek grundsätzlich positiv sind. Es scheint, wenn man mit Bibliothekar*innen redet, die solche Projekte mitgemacht haben, dass sie gerade das überrascht. Irgendwie scheinen sie (oft) erwartet zu haben, dass die «Menschen da draussen» sie negativ sehen und das sie Probleme haben werden, wenn sie mit ihnen reden. Aber am Ende geht das immer wieder gut aus und der Grossteil der Menschen hat eine positive Sicht auf Bibliotheken. [Das könnte man auch so wissen – weil es immer wieder das Ergebnis von Umfragen et cetera ist. Aber… offenbar gibt es immer wieder diese Angst.]
  4. Am Ende der Projekte kommt es dann zu einer Art von Umsetzungen von neuen Angeboten, dem Um- oder Neubau von Bibliotheken und so weiter. Zumindest erscheint es am Ende immer so, dass das Projekt «nicht umsonst» war. (Auch hier könnte man empirisch schauen, ob die Lösungen überhaupt zu den «Problemen» aus Schritt eins passen – das scheint nicht immer der Fall zu sein. Aber wieder ist das vielleicht auch die falsche Frage aus der Forschung heraus, die einen solchen Zusammenhang vermuten würde. Aus der eigenen «Beratungspraxis» kenne ich das auch, dass während solcher Projekte die Themen auf einmal wechseln, aber trotzdem alle einigermassen zufrieden scheinen, wenn überhaupt am Ende irgendetwas herauskommt.)

Einerseits sieht man hier den einen… Trick, den man als Berater*in mit solchen Methoden vollführen kann. Die Methoden, gerade Design Thinking, führen immer dazu, dass es am Ende ein Ergebnis gibt und da Veränderung an sich das implizite Ziel solcher Projekte zu sein scheint, liefert man mit einem solchen Methodenset am Ende genau das: Eine Struktur, die eine Veränderung provoziert. You can’t go wrong.

Aber andererseits sticht für mich gerade der zweite Punkt heraus: Der Zwang – erzeugt durch die Struktur, welche die Methode vorgibt – «herauszugehen». Wie gesagt ist das ein Eindruck und keine empirisch untermauerte Erfahrung, aber mit scheint, dass ist es, was Bibliothekar*innen am Ende positiv erinnern: Das sie sich trauen mussten, mit Menschen ausserhalb ihres eigenen Kreises über ihr Bibliothek reden zu müssen und das dies letztlich eine positive Erfahrung war.

Das kann man auch so organisieren

Nur – dafür braucht es kein Design Thinking oder Partizipations-Projekt oder auch nur unbedingt ein Projekt, dass irgendwie in einer Veränderung enden soll. Was die Begeisterung für solche Projekte aktuell auszumachen scheint ist, dass es für Bibliothekar*innen offenbar nicht zur Normalität gehört, solche Gespräche ausserhalb der eigene Komfortzone zu führen. Die Methoden scheinen jeweils eine gewisse Dynamik, vielleicht auch einen Druck, zu produzieren, solche Gespräche doch zu führen. Im Idealfall strukturieren sie diese auch vor (mit Fragebögen, Ziele, warum man die Gespräche führt und so weiter) und geben damit eine gewisse Sicherheit beim Führen der Gespräche. (Nicht zuletzt scheinen sie dazu zu führen, dass solche Gespräche gemeinsam geführt werden. Kaum je werden Bibliothekar*innen alleine losgeschickt, um sie zu führen, sondern eher in Paaren oder kleinen Gruppen.)

All das lässt sich auch so gestalten und mir scheint, es wäre sinnvoll, es von den hippen Methoden und Veränderungsprojekten zu trennen. Es liesse sich in die normale bibliothekarische Arbeit integrieren. Regelmässig organisiert würde es auch dazu führen, dass es für die einzelne*n Bibliothekar*in zur Normalität wird, nicht zu etwas, dass man sich irgendwie trauen muss. Es wäre dann sogar möglich, Erfahrungen aus diesen Gesprächen zu sammeln, reflektieren und so Kompetenzen im Planen und Führen dieser Gespräche aufbauen. Man wäre auch nicht mehr von den grundsätzlich positiven Rückmeldungen erfreut oder erleichtert, sondern könnte konkreter auf die Zwischenstimmen hören.

Was wäre dafür zu tun?

  1. Man müsste regelmässige Anlässe für solche Gespräche schaffen und nicht Bibliothekar*innen einfach so «hinaus schicken». Aber alle ein, zwei Jahre finden sich immer Projekte, bei denen Angebote evaluiert, Wissen drüber, wie bestimmte Angebote in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, gesammelt oder – ja, das auch – Angebote verändert, eingestellt oder neu eingefügt werden sollen und bei denen es sich anbietet, irgendeine Form von Gesprächen «ausserhalb der Bibliothek» zu führen: Interviews, Umfragen, Meinungssammlungen zu bestimmten Vorschlägen der Bibliothek. Das zu organisieren, wäre eine Leitungsaufgabe. (Auch, dass alle Kolleg*innen immer wieder diese Aufgabe übernehmen dürfen / müssen – wie gesagt, scheint es immer wieder bei solchen Projekten auch einen gewissen Mut zu benötigen, der erst durch die Logik des jeweiligen Projektes – «das muss jetzt getan werden» – aufgebracht wird, zumindest bei einigen Kolleg*innen; aber dann nach dem Projekt als positiv erlebt wird. Wenn das so ist, wird das auch im «normalen» Bibliotheksbetrieb so sein.)
  2. Die grundsätzliche Struktur, die oben geschildert wurde, kann ruhig beibehalten werden. (1) Eine konkrete Fragestellungen formulieren, die auch zu einer gewissen Änderung im Bibliotheksalltag führen kann, (2) dann Personen «ausserhalb der Bibliothek» direkt ansprechen, (3) nachher auswerten und, wenn sinnvoll, tatsächlich eine Veränderung durchführen (oder gemeinsam entscheiden, aufgrund der Ergebnisse, sie nicht durchzuführen, aber so, dass die Ergebnisse der Gespräche auch einen sichtbaren Einfluss haben). Wenn man das regelmässig – und für alle transparent – durchführt und nicht nur bei expliziten Veränderungsprojekten, die irgendwie als Besonderheiten herausragen, wird sich eine gewisse Normalität einstellen, auch wenn dann schon neue Methoden und nicht mehr Design Thinking als hip gelten werden. Grundsätzlich sollte es zu einer professionell arbeitenden Bibliothek gehören, solche Gespräche zu führen und deren Ergebnisse in die Entscheidungen über die Bibliotheksarbeit einzubeziehen. Das Erstaunliche ist eher, dass es das offenbar in vielen Bibliotheken nicht ist.

Fussnoten

1 Vgl. Gram, Maggie (2019). On Design Thinking. In: N+1 (2019) 35, https://nplusonemag.com/issue-35/reviews/on-design-thinking/.

2 Vgl. Dymarz, Ania; Harrington, Marni (2019). Consultants in Canadian Academic Libraries: Adding new voices to the story. In: In the Library with the Lead Pipe, 30.10.2019, http://www.inthelibrarywiththeleadpipe.org/2019/consultants/.

3 Was sich oft zeigt, ist ja, dass das Ergebnis dieses Schritts nicht sein kann, «es gibt kein Problem». Ein wenig ist das dann auch ein Trick bei solchen Projekten – irgendwas muss sich immer ändern, weil sie so strukturiert sind, dass sie als Misserfolg gelten, wenn man feststellt, dass alles schon optimal ist.

Wie wird der Raum einer Hochschulbibliothek benutzt? (Plakate)

Letztes Jahr führte ich eine Studie dazu durch, was wir über die Nutzung des Raumes von Hochschulbibliotheken wissen. Dazu hatte ich die dazu publizierten Forschungen der (damals) letzte zehn Jahre systematisch ausgewertet. Die Ergebnisse hatte ich bei einem Vortrag auf dem #vBIB20 (https://doi.org/10.5446/47567) und einem Artikel in der IWP (https://doi.org/10.1515/iwp-2020-2112) vorgestellt. (Sie sind auch nicht so überraschend: Die Studierenden wollen vor allem in Ruhe arbeiten.)

Jetzt habe ich sie noch einmal anders dargestellt, als Plakate. Es ist so eine andere Form von Übersicht, die man gut nutzen kann, wenn man sich in einer Bibliothek in einer Arbeitsgruppe trifft um zu diskutieren, wie man den Raum umgestalten (oder gar neu bauen) soll. Die Ergebnisse sind die gleichen, wie im Vortrag und im Artikel. Aber schon weil der Ruf danach, dass die Forschung ihre Ergebnisse «doch auch mal anders darstellen» soll, nicht verstummt (und auch, weil ich ein wenig mit den Formaten spielen will) hier die beiden Poster. (Auch bei e-LIS http://hdl.handle.net/10760/40556)

Wie schnell oder langsam sollen sich Bibliotheken verändern? [Vortragsskript]

Skript zu einem Vortrag auf der Herbsttagung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare Graubündens (organisiert von Lesen.GR – KJM Graubünden) am 18.09.2019, Bergün.


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Werte Damen und Herren,

gerne ich möchte heute zu Ihnen über ein Thema sprechen, von dem ich denke, dass es für die Bibliothekspraxis relevant ist, auch wenn es nicht sofort praktisch klingt: Ich möchte gerne diskutieren, wie schnell sich Bibliotheken verändern können und sollen. Dabei geht es mir nicht darum, wie Sie merken werden, Anweisungen zu geben über Veränderungen – das können andere viel besser, selbstbewusster. Stattdessen möchte ich mir mit Ihnen die Realität anschauen, die wir wirklich in Bibliotheken vorfinden und daraus Schlüsse ziehen.

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Das ist meine Agenda. Zuerst möchte ich die jetzige Situation skizzieren, auf die man trifft, wenn man über Veränderungen in Bibliotheken, vor allem Öffentlichen Bibliotheken redet. Das geht sonst oft unbeachtet im Alltag einfach unter, aber ich denke, das Problem, über das ich mit Ihnen nachdenken möchte und die Grundfrage hinter dem Thema wird schnell sichtbar, wenn wir uns einmal diese Skizze anschauen. Wir werden unterschiedliche Positionen vorfinden. Ich möchte dann schauen, ob eine dieser Positionen argumentativ so untermauert werden kann, dass sie als Richtig gelten muss, oder aber – das ist dann eher meine These, wie Sie schon in der Agenda sehen – ob wir es mit einer Struktur zu tun haben, die dem Bibliothekswesen eigen ist. Wir werden uns dabei in einer gewissen Abstraktionsebene bewegen, deshalb werde ich das Ganze anschliessend nochmal an einigen ausgewählten Beispielen besprechen. Ich denke, mit diesen wird die abstrakte Diskussion verständlicher werden. Und zuletzt möchte ich ganz kurz zusammenfassen, was Bibliotheken aus all dem mit in den Alltag nehmen können.

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Schauen wir uns die Situation an. Was passiert, wenn man in Bibliotheken versucht, über Veränderungen zu sprechen?

Sie finden dann immer Kolleginnen und Kollegen, welche mehr oder minder rabiat die Meinung vertreten, dass Bibliotheken sich praktisch gar nicht verändern würden, es aber unbedingt sehr schnell müssten. Bibliothek würden schon lange den Entwicklungen in der Gesellschaft, der Technik, der Pädagogik und so weiter hinterherhinken – und das sei ein Problem. Zudem äussern diese Kolleginnen und Kollegen oft den Eindruck, dass Veränderungen in Bibliotheken oft blockiert und hinterfragt würden, dass sie sich oft sehr alleine bei ihrem Drang nach vorne fühlen und das sie oft den Eindruck haben, dass andere Kolleginnen und Kollegen lieber alles so bleiben lassen würden, wie es ist.

Gleichzeitig – schon, weil dies auch in anderen Bereichen wie der Wirtschaft, oder hier in Bergün, wie wir gerade wieder gehört haben, dem Tourismus,1 gilt – sei es notwendig, dass sich Bibliotheken verändern, sonst würden sie nicht mehr lange bestehen. Das wird mal mit mehr, mal mit weniger Verve vorgetragen.

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Andere Kolleginnen und Kollegen hingegen haben ein anderes Gefühl: Bibliotheken, so ihre Ansicht, würden sich schon ständig verändern, viel zu schnell, viel zu unstet. Sie haben oft eher den Eindruck, dass sie gar keine Ruhe für „normale‟ Arbeit mehr hätten und stattdessen immer aufgefordert würden, noch Mehr, noch Neueres, noch Innovativeres zu tun. Es ist ihnen oft unverständlich, wieso, da vieles von dem, was Bibliotheken tun, zu funktionieren scheint. Wenn die vorher besprochenen Kolleginnen und Kollegen oft das Gefühl zu haben scheinen, dass sie in ihrer Arbeit aufgehalten werden, haben Kolleginnen und Kollegen mit dieser Position oft das Gefühl, dass ihre eigentlich Arbeit nicht wertgeschätzt wird.

Dabei können Sie sich darauf berufen, dass Bibliotheken überhaupt nicht so schnell untergehen, wie das manchmal als Szenario gezeichnet wird. Auch bisherige Veränderungen hätten Bibliotheken gut überstanden.

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Und wieder andere Kolleginnen und Kollegen befinden sich in einer Position zwischen diesen beiden, sagen wir einmal, Extremen. Einerseits verstehen sie, dass Bibliotheken sich verändern müssen, andererseits haben sie auch den Eindruck, dass das passiert. Oft scheinen Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, nicht immer fassbar. Wenn sie darüber nachdenken, können sie Dinge benennen, die sich verändert haben – nicht nur kleine in ihrer eigenen Bibliothek, die auch mal renoviert wurde oder wo der Bestand umgestellt wurde, sondern auch grundsätzliche Dinge. Aber gleichzeitig erinnern sie sich schnell an Hypes, die es auch gab, wo behauptet wurde, dass diese sich bald durchsetzen würden – aber… es dann doch nicht taten. Diese Kolleginnen und Kollegen sind oft etwas unsicher in Bezug auf Veränderungen: Ja, aber wie? Und welche? Welche nicht?

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Das sind, etwas überzeichnet und zusammengefasst, die Positionen, die Sie vorfinden, wenn Sie in Öffentlichen Bibliotheken, zumindest hier in der Schweiz, über Veränderungen reden.2 Ich möchte versuchen zu klären, wer Recht hat. Das ist die erste Aufgabe in diesem Vortrag. Den, wenn wir das sagen können, dann hat das Auswirkungen auf die Bibliotheken.

Dabei, dass möchte ich kurz vorher klären, schaue ich auf die Bibliotheken als Bibliothekswissenschaftler, nicht als Bibliothekar. Das ist – für diese Frage – eine privilegierte Position. Ich muss zum Beispiel nicht im Alltag Entscheidungen treffen darüber, ob eine bestimmte Veränderung umgesetzt wird oder nicht. Ich muss mich auch nicht mit dem Gemeinderat oder so über den Etat auseinandersetzen. Dafür bin ich immer etwas ausserhalb: Ich sehe Veränderungen, Trends, Entwicklungen, Kontinuität in vielen Bibliotheken auf einmal, nicht unbedingt den praktischen Alltag, den Umgang mit den Nutzerinnen und Nutzern. (Und muss dafür andere Entscheidungen treffen, zum Beispiel Noten geben. Aus dem Entscheidtreffen kommt man wohl nicht raus.)

Gleichzeitig habe ich immer, einen etwas historischen Blick auf Bibliotheken. Das werden sie an den Beispielen vielleicht merken. Nicht so sehr auf die alten Bibliotheken im Barock oder so; aber auf die modernen Bibliotheken so ab 1880, 1890, der Industrialisierung, der Moderne. Mich interessieren die Diskussionen und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Ich kann schon vorwegnehmen, dass sich unsere Frage wohl nicht mit einem einfach Ja oder Nein beantworten lässt. Aber das ist auch zu erwarten: Die meisten Fragen, wenn man etwas über sie nachdenkt, sind das nicht. Doch auf dem Weg zu unserer komplexeren Antwort werden wir hoffentlich genügend Neues lernen.

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Wie ist die Situation also jetzt? Sie sieht schon stark nach einer Struktur aus, also nach etwas, was nicht die Verantwortung, Schuld etc. einzelner Personen ist, die sich richtig oder falsch verhalten, sondern nach einer Anordnung von Positionen, die sich zu einem System ergänzen.

Zuerst: Die drei Positionen, die ich Ihnen am Anfang genannt habe, laufen im Bibliothekswesen im Alltag gut nebeneinander her, ohne sich gegenseitig aufzuheben, obwohl sie das ja eigentlich inhaltlich tun. Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Positionen können Bibliotheken, zum Teil die gleiche Bibliothek miteinander, betreiben, ohne dass damit die Arbeit dysfunktional wird. Erst dann, wenn es wirklich um Veränderungen geht – und selbst dann nicht immer – kommt es zu Friktionen. Es scheint aber, dass das Bibliothekswesen als Ganzes gut mit diesen unterschiedlichen Positionen leben kann.

Dann ist die Situation aber natürlich unbefriedigend. Kolleginnen und Kollegen sind in dieser Frage oft unsicher: Veränderung, welche Veränderung? Und teilweise, wie wir gesehen haben, fühlen sie sich auch nicht ernst genommen, ausgebremst, zumindest schlecht behandelt. Dabei, dass kann ich Ihnen versichern, wollen eigentlich alle, dass die Bibliothek gut funktioniert. Wenn sie sich nicht darum Gedanken machen würden, was gut ist für die Bibliothek, wären sie nicht so involviert, dass man immer und immer wieder so emotionale Aussagen hören würde. Dann wäre es ihnen wohl viel eher egal. Aber alle wollen etwas Positives für die Bibliothek, alle finden die Situation, wie sie sie jetzt sehen, nicht gut. Das ist unbefriedigend. Aber es ist erinnert auch an viele, viele andere Situationen in unserer heutigen Gesellschaft: Alle verlieren irgendwie ein bisschen, dann funktioniert es.

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Doch gehen wir einmal die drei genannten Positionen durch und schauen wir, ob sich eine davon bestätigen lässt. Das ist jetzt vielleicht, weil ich als Wissenschaftler arbeite und man in der Wissenschaft so vorgeht. Aber es scheint mir sinnvoll, einen solchen Test zu machen. Wenn wir finden, dass eine Position argumentativ oder empirisch gut untermauert ist und die anderen nicht – dann wäre die Frage einfach geklärt. Wir haben aber leider keine Daten, genauer nicht mal ein Modell, um überhaupt zu wissen, welche Daten wir erheben und auswerten könnten. Einfache Empirie geht also nicht. Deshalb müssen wir etwas weiter greifen und fragen, was für oder gegen die jeweilige Position spricht – aber auf der Basis dessen, was wir über die Welt und über Bibliotheken wissen.

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Also: Zur ersten Position, der, dass sich Bibliotheken schnell ändern müssen. Für diese lässt sich sagen, dass es sehr wohl viele und schnelle Veränderungen gibt, dass sich Bibliotheken heute in einem sehr, sehr anderen gesellschaftlichen, technischen, medialen Umfeld befinden, als vor zehn oder 20 oder 30 Jahren. Ich hab ihnen ein paar zusammengetragen: Ihr Smartphone, das hat sich rabiat schnell entwickelt und ist heute Teil ihres, unseres Lebens, kam aber erst vor knapp zehn Jahren wirklich auf. Der Lehrplan 213 hat innerhalb kurzer Zeit das Reden und Denken darüber, wie Schulen funktionieren, was und wie sie lehren sollen, verändert. Diese Fokussierung auf Kompetenzen, die jetzt in den Schulen umgesetzt werden soll, die Veränderung dessen, was von den Lehrpersonen erwartet wird – beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Eltern – hat sich in der Schweiz in erstaunlich wenigen Jahren schnell verschoben. Und aktuell können wir uns garantiert darauf einigen, egal wie Sie persönlich politisch bei diesem Themen stehen, dass jetzt breit ganz anders über Plastik, Wegwerfgesellschaft, Ökologie, das Fliegen geredet wird, als noch vor zehn Jahren. Oder beim Rauchen, da können Sie die Veränderung auch gut sehen, wie schnell sich diese verschoben hat. Veränderungen finden also statt, dass ist nicht zu bestreiten. Die Position, dass sich Bibliotheken schon deshalb verändern müssen, weil sich soviel anderes verändert, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen.

Und gerade in der Wirtschaft gilt: Wer sich nicht um Innovation bemüht und sich nicht verändert, geht unter. Für andere Bereiche als die Bibliotheken finden wir das wohl auch ohne Probleme verständlich. Vor diesem Vortrag haben wir über Bergün-Filisur Tourismus gehört und wie dieser verband versucht, sich neue Felder des Tourismus zu erschliessen. Und egal, was wir jetzt von den eingeschlagenen Wegen halten: Das es für die Region notwendig ist, sich solche Gedanken zu machen, musste hier wohl niemand erklärt werden. Warum sollte das nicht auf Bibliotheken übertragen werden?

Das ist die Stärke der Position. Eine wichtige Schwäche ist allerdings, dass es nicht einfach ist zu sagen, auf welche Veränderungen genau Bibliotheken (oder andere Einrichtungen wie Tourismusverbände) reagieren sollen. Auf einige schon, aber auf andere eher nicht. Im Nachhinein ist es einfacher zu sagen, auf welche. Aber mittendrin in den Veränderungen? Schwieriger.

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Weiter zur zweiten Position, der, dass es schon zu viel Veränderungen gibt und dass es sinnvoller wäre, einfach mal als Bibliothek arbeiten zu können. Lässt sich diese Position untermauern?

Tatsächlich können wir in der Bibliotheksarbeit viel Konstanz sehen. Insbesondere kann man für Öffentliche Bibliotheken sehen, dass trotz aller Veränderungen, Umbauten, neuen Services und auch entgegen dem, was man wegen der Veränderungen in der Mediennutzung in der Gesellschaft annehmen würde, weiterhin die Nutzung von gedruckten Büchern im Mittelpunkt steht. Auch, wenn viele Menschen in die Bibliothek kommen, um sie als Treffpunkt, Aufenthaltsraum oder so zu benutzen, auch wenn Veranstaltungen in den Bibliotheken oft gut besucht sind, zielt weiter der übergrosse Teil der Bibliotheksbesuche darauf, Bücher auszuleihen. Das ist auch in den letzten Jahren gleich geblieben.

Es ist auch so, dass in vielen Bibliotheken von immer angekündigten Veränderungen so viel nicht mitzubekommen ist: Weiterhin haben Sie ja auch in ihren Bibliotheken viele Familien, welche die Bibliotheken benutzen. Weiterhin vor allem Menschen, die Lesen wollen – ob in der Bibliothek oder anderswo. Das ist immer noch der Mittelpunkt bibliothekarischer Arbeit. Auch die Hoffnungen darauf, was die Veränderungen in Bibliotheken, die durchgeführt werden, erreichen sollen, scheinen sich so schnell nicht zu ändern. Seit Jahrzehnten soll jedes Mal die Bibliothek zum Begegnungsort, zum Treffpunkt der Gemeinde werden; fast immer sollen Jugendliche angesprochen werden. Man kann also schnell den Eindruck bekommen, dass sich so schnell auch nichts verändert und gute Gründe für diese Position finden.

Selbst bei den Veränderungen, die man wahrnimmt, lässt sich Frage stellen, ob das nicht einfach die normale Entwicklung ist – Medienformen, die sich verändern; Mediennutzung, die sich mit verändert; andere Moden, die sich austauschen –, die in der Gesellschaft auch so stattfindet? Schaut man sich die Situation so an, dann lässt sich schon vermuten, dass es einen Kern bibliothekarischer Arbeit gibt, der sich so schnell nicht entwickelt. Insoweit kann auch diese Position gute Argumente für sich vorbringen.

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Und zur dritten Position, die in der Mitte. Auch die lässt sich begründen. Es gibt Hypes und Moden im Bibliothekswesen und gleichzeitig gibt es wirkliche Veränderungen. Ist man nur etwas länger in Bibliotheken beschäftigt, erinnert man sich an Dinge, die versucht und wieder eingestellt wurden; an Vorschläge für neue Angebote und ähnliches, denen dann nichts mehr folgte. Und gleichzeitig kann man doch Veränderungen benennen, meist mit etwas Nachdenken. Einige Veränderungen gibt es nämlich, die aber oft schnell zum Alltag werden und dann erscheinen, als wären sie praktisch schon immer Teil der Bibliothek gewesen. Aber es gab oft einen Zeit davor, beispielsweise vor den Selbstverbuchungsanlagen.

Auch diese Position lässt sich leicht bestätigen. Es gibt Veränderungen und es gibt Trends. Beides. Was soll man daraus machen? Gibt es erkennbare Gründe dafür, dass sich das Eine durchsetzt und das Andere nicht? Setzt sich durch, was sinnvoll ist? Was heisst sinnvoll?

Wir können das noch einmal an den gleich folgenden vier Beispielen durchspielen, welche die Aussagen zu den drei Positionen hoffentlich noch verständlicher machen.

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Hier das erste Beispiel: Buchstart.4 Das ist der erste Artikel, mit dem das Projekt damals dem Bibliothekswesen in der Schweiz vorgestellt wurde. Sie sehen: 2007. Das ist so lange auch nicht her. Davor gab es in Öffentlichen Bibliotheken hier in der Schweiz praktisch keine Angebote für Kinder von 0-3 Jahren. Das war keine Zielgruppe, über die nachgedacht wurde, was vielleicht auch mit der massiven Verbreitung der Ludotheken zu tun hat. Aber dann hat sich das rasend schnell etabliert. Heute ist es praktisch für jede Bibliothek normal, spezifische Angebote für diese Zielgruppe zu haben, eigene Veranstaltungen, eigene Bestände. Das wird nirgends mehr kritisiert oder diskutiert, dass ist einfach so. Ich bin 2012 in die Schweiz gekommen und damals schon wurde mir in jeder Öffentlichen Bibliothek, die ich besuchte, Buchstart als Angebot gezeigt. Das war fünf Jahre nach diesem ersten Artikel.

Aber es wird auch kaum noch bedacht, dass es eine lange Zeit gab, in der das nicht so war. Es wurde vorgeschlagen, setzte sich schnell durch. Dabei hat bestimmt geholfen, dass am Anfang Geld dahinter stand und auch, dass es von Bibliotheken schnell als sinnvoll angenommen wurde. Für die Fragestellung dieses Vortrags ist aber vor allem wichtig, wie schnell das passierte und wie schnell es praktisch vergessen ging, dass dies eine recht grosse Veränderung darstellte.

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Das zweite Beispiel ist ähnlich. Aber es gab eine Zeit in den frühen 2000er Jahren, in denen die Idee, in Bibliotheken Medienkisten zusammenzustellen und anzubieten, als neue Idee präsentiert wurde. Immer wieder wurden verschiedene Formen dieser Kisten vorgestellt, oft so, als hätte es die anderen Artikel, Vorträge und so weiter zu Medienkisten nicht gegeben. Dabei wurden immer wieder ähnliche Ideen präsentiert – entweder fertige Medienkisten oder solche, die für Schulen und ähnliche Einrichtungen im Auftrag neu zusammengestellt wurden – und manchmal ganz kleinteilige Fragen – wie viele Medien, welche Medienformen, wo kann man Kisten herbekommen und so weiter – behandelt. Und dann, nach einigen Jahren, hörte das wieder auf. Dieser Text hier von 2009 ist eigentlich schon ein sehr später Texte. Schauen Sie heute in die bibliothekarische Literatur, finden Sie solche Texte praktisch nicht mehr.

Aber wenn Sie gleichzeitig in Öffentliche Bibliotheken gehen, finden sie praktisch überall diese Kisten in der einen oder anderen Form, in grösseren Bibliotheken auch in verschiedenen Varianten: Als Kisten für Lehrpersonen und Kindergärten, für Grosseltern, als Überraschungstaschen. Sie sind als normales Angebot von Bibliotheken etabliert, so normalisiert, dass nicht mehr über sie diskutiert wird. (Obwohl es sinnvoll wäre, die Erfahrungen dazu auszutauschen, aber darum soll es hier nicht gehen.)

Wer heute anfängt in einer Bibliothek zu arbeiten, lernt das Pflegen solcher Boxen als normale Arbeit kennen, die halt gemacht wird, ohne zu merken, dass das vor 15-20 Jahren nicht normal war. Das ist ein weiteres gutes Beispiel für Veränderungen, die sich durchsetzen und bei denen dann vergessen geht, dass sich das erst so entwickeln musste, um so zu sein, wie es heute ist.

Aber das ist für die Fragestellung hier relevant: Wenn man bei einigen Angeboten schnell vergisst, dass dies sich erst entwickelt haben, dass die also als Veränderungen erst eingeführt werden mussten, dass lässt sich vielleicht erklären, warum die einen Kolleginnen und Kollegen den Eindruck haben, dass sich praktisch nichts verändert, während andere den Eindruck haben, alles würde sich ständig verändern.

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Ein anderes Beispiel, aber eines, das meiner Meinung nach etwas sehr gut erklären kann: Ich habe Ihnen hier einen Text von 2004 mitgebracht, aber der hätte auch aus den 1970ern oder 1990ern oder von heute sein können. Die Vorstellung, Bibliotheken wären „Büchertempel‟ oder würden zumindest als solche wahrgenommen, finden Sie spätestens seit den 1970ern ständig in der bibliothekarischen Literatur. In diesem Jahrzehnt änderte sich viel, auch für die Öffentlichen Bibliotheken. In der Schweiz kam es eigentlich erst dann zur Verbreitung der Bibliotheken in der Fläche, also nicht nur in den grossen Städten, sondern wie wir es heute haben in vielen, vielen Gemeinden. Aber seitdem finden sie diese Vorstellung, teilweise mit gleichbleibenden Formulierungen, immer und immer und immer wieder. Es gibt diese Vorstellung, dass die Bibliothek irgendwie veraltet sei und dass sie deshalb verjüngt werden müsse. Auch die Vorschläge dazu sind seit Jahrzehnten immer wieder ähnlich: Es müssten neue Medienformen in den Bestand, das Image der Bibliotheken müsse geändert werden, die Bibliotheken müssten Treffpunkt werden und „von den Büchern wegkommen‟.

Wie kann das stimmen, wenn sich Bibliotheken – wie wir gesehen haben – ja doch verändern? Ich denke, dass wir hier einen Hinweis darauf haben, dass dieser Eindruck sich aus der Struktur des Bibliothekswesen heraus ergibt. Nicht für alle, aber immer für einen Teil der Kolleginnen und Kollegen ergibt sich der Eindruck einer gewissen Rückständigkeit von Bibliotheken. Das ist gewiss ernst gemeint, aber eigentlich nie so richtig mit Fakten unterlegt. (Wenn es mal Umfragen dazu gibt, wie Bibliotheken wahrgenommen werden, zeigt sich, dass sie von der Bevölkerung eigentlich durchgängig positiv gesehen werden, auch von dem Teil, der keine Bibliotheken nutzt. Nicht super innovativ, aber sehr positiv. Kaum eine andere Einrichtung wird so positiv gesehen. Die Feuerwehr vielleicht noch. Aber trotzdem haben immer wieder Kolleginnen und Kollegen einen gegenteiligen Eindruck.)

Es ist auch bemerkenswert, dass die Begriffe, die in solchen Beiträgen genutzt werden, sich in gewisser Weise vererben. Es sind immer wieder neue Kolleginnen und Kollegen, die solche Beiträge verfassen, aber immer wieder mit ähnlichen Worten und Argumentationen.

Das ist für mich ein starker Hinweis darauf, dass diese Position – und damit wohl auch die anderen beiden Positionen in Bezug auf Veränderungen in Bibliotheken – strukturell zu erklären ist, dass sie also aus der Arbeit in Bibliotheken immer wieder neu entsteht und auch immer wieder entstehen wird, egal was sich ändert. Vielleicht, so meine Interpretation, muss es immer wieder Kolleginnen und Kollegen geben, die diese Position vertreten und andere, welche andere Positionen vertreten. Vielleicht geht es weniger um die konkreten Veränderungen und viel mehr darum, dass Bibliotheken so funktionieren, dass die einen, die Bibliotheken arbeiten, sich zurückgehalten, die anderen sich getrieben fühlen und wieder andere sich dazwischen wiederfinden.

Folie 14

Noch ein Beispiel, dass alles komplizierter macht. Es gab so zwischen 2005 und 2010 ein Thema, welches in der bibliothekarischen Literatur immer wieder auftauchte, die „Wertmessung von Bibliotheken‟. Die Idee war, das Bibliotheken sich gegenüber den Geldgebern profilieren müssten und könnten, indem sie bestimmten, welchen Wert ihre Leistungen haben. Es sollte also nachgewiesen werden, wie viel die Investition in Bibliotheken den Gemeinden, Institutionen, der Bevölkerung einbringen würde. So und so viele Franken Investition bringt so und so viele Franken sozialen Gewinn. (Oder, für wissenschaftliche Bibliotheken, Gewinn an Forschung.) Das wurde mit recht viel Verve vorgetragen und als zukünftige Form von Marketing und Fundraising beschrieben.

Es wurden verschiedene Methoden ausprobiert. Diese ergaben dann auch immer wieder Werte, welche zeigen sollten, dass die Bibliotheken der Gesellschaft, den Gemeinden und Menschen mehr einbrachten, als sie kosteten. Mindestens eine Promotion wurde zum Thema geschrieben, einige Abschlussarbeiten, eine ganze Reihe von Studien und Projekten wurde durchgeführt. Auch an meiner Hochschule, deshalb habe ich Ihnen gerade diesen Text mitgebracht.

Aber wenn sie heute schauen, dann ist davon praktisch nichts mehr übrig. Dieser Ansatz wurde nie widerlegt oder offiziell beendet, aber er kommt auch praktisch nirgends mehr vor: Nicht in der Literatur, nicht in den Handbüchern, nicht in der Praxis. Es wird Gründe dafür geben. Für meinen Vortrag ist aber wichtig, dass es ein gutes Beispiel für einen dieser Hypes abgibt, auf den Kolleginnen und Kollegen immer wieder einmal verweisen, wenn es um Veränderungen in Bibliotheken geht. Es gibt sie wirklich. Sie kommen auf, entwickeln eine kurze Zeit einen gewissen Verve, werden oft mit grösseren Versprechen – das sie die Bibliotheken verändern würden, das sie Bibliotheken retten, ihren Etat, ihren Bestand sichern würden – verbunden und verschwinden dann ohne grosse Nachwirkung. Auch das gibt es.

Aber warum war gerade dieses Thema ein Hype, während andere sich durchsetzten und schnell vergessen, dass sie auch eine Veränderung im Bibliothekswesen waren? Kann man das vorher sagen? Es ist nicht so einfach. Ich habe es mehrfach versucht, bin aber auch immer wieder daran gescheitert. Dinge setzen sich durch oder auch nicht – und nicht immer ist verständlich, wieso. Das wiederholt sich. Ich habe nur ein paar Beispiele ausgesucht, um das zu zeigen, aber es gibt viele mehr. Es scheint wirklich eher eine Struktur zu sein, die hier wirkt.

Folie 15

Also: Lässt sich eine der drei Positionen bestätigen? Können wir sagen, welche Position die Richtige ist?

Ja und Nein. Für alle drei Positionen lassen sich starke Argumente anführen. Beispiele aus der bibliothekarischen Realität verkomplizieren das alles noch. Aber wir können keine der Positionen verwerfen und auch keine als die Wahrscheinlichste bezeichnen. Vielleicht die dritte, aber das kann auch daran liegen, dass solche „Konsenspositionen‟ in der Mitte eigentlich immer irgendwie akzeptabel sind, aber dann auch noch nicht viel erklären.

Wir können also nicht sagen, welche Kolleginnen und Kollegen Recht haben und welche nicht. Eher scheint es so, als können man beides zu allen Positionen sagen, was ein Hinweis darauf sein kann, dass die Frage, wie schnell oder langsam sich Bibliotheken verändern sollen, vielleicht in der Praxis nicht so wichtig für das Funktionieren des Bibliothekswesen selber ist.

Folie 16

Noch zwei wichtige Anmerkungen zu dieser Frage. Zuerst finden wir diese Situation nicht nur in Bibliotheken vor, sondern auch in anderen, ähnlichen Institutionen. Gerade im Schulwesen scheint das offensichtlich zu sein. Auch hier geht es immer wieder um Veränderung oder Konstanz, auch hier gibt es immer wieder die drei Positionen, die ich für Bibliotheken gezeigt habe.

Aktuell gibt es eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die sich darum bemühen – in ihren eigenen Worten –, dass die Schulen im digitalen Zeitalter ankommen. Wenn Sie sich deren Kommunikationsplattformen anschauen – beispielsweise die Social Media Accounts von Beteiligten – finden Sie da immer wieder die Position, dass es schwierig sei, weil sie aufgehalten würden, weil sich andere Lehrpersonen gegen diese Veränderungen stellen und die Mitarbeit verweigern würden, weil Lehrpersonen und Direktionen nicht sehen würden, wie drängend das Thema sei. Und gleichzeitig finden sie auf Social Media Accounts anderer Lehrpersonen (oder in Diskussionen in der schulpraktischen Literatur) die Position, dass die Veränderung auch einmal aufhören müsse, damit man wieder zu normaler schulischer Arbeit übergehen können. Insbesondere lesen Sie da von steigender Arbeitsbelastung durch Veränderungen. Und dann finden sie viele, viele Positionen dazwischen, die keine klare Position zu haben scheinen, sondern die Notwendigkeit von Veränderung bejahen, aber gleichzeitig nicht wissen, wie viel von dieser Veränderung notwendig ist.

Das führt zu Friktionen und wohl auch zu Überlastung. Wir wissen das alle, dass der Lehrberuf von einer extrem hohen Burn-Out-Rate gekennzeichnet ist. Einer der Gründe dafür können die Friktionen sein, die wegen solchen Veränderungen auftreten, auch wenn das nicht der einzige Grund sein wird.

Im Schulwesen scheint sich also ebenso nicht einfach klären zu lassen, welche Position die richtige ist, sondern es lassen wohl für und gegen alle drei gute Argumente finden.

Wenn das aber im Bibliothekswesen und den Schulen (und noch anderen Einrichtungen wie Museen) ähnlich ist, ist das ein Hinweise auf eine Struktur, nicht auf Fehler einzelner Personen oder Missverständnisse, die einfach abgestellt werden könnten.

Folie 17

Ein anderer wichtiger Hinweise auf eine Struktur ist, dass sich diese Situation immer und immer und immer wieder im Bibliothekswesen zu finden scheint. Das ist offenbar keine gerade heute erst entstandene Situation, sondern eine, die immer wieder einmal in der Literatur aufscheint: Klagen, dass die Veränderungen zu langsam oder viel zu schnell, unüberlegt durchgeführt würden, finden sich immer wieder. Sicherlich: Immer etwas versteckt, weil im Allgemeinen bei Artikeln etwas überlegter formuliert wird, als in der mündlichen Rede. Aber doch auffällig durchgängig. Es gibt Zeiten, in denen das offensichtlicher ist – am Anfang des modernen Bibliothekswesens, während des „Richtungsstreits‟ in den 1920er Jahren oder Ende der 1960/Anfang der 1970er, als es ja tatsächlich zu massiven Veränderungen kam. Aber es scheint nicht aufzuhören.

Das heisst, die Kolleginnen und Kollegen ändern sich – weil neue hinzukommen, andere in Rente gehen – und auch die Themen ändern sich immer wieder einmal. Aber die Struktur, die Struktur, die Argumente und Klagen, die ändern sich kaum, sondern wiederholen sich.

Folie 18

Was machen wir daraus? Ich denke, es sollte klar geworden sein, dass ich der Überzeugung bin, dass es sich beim Thema, wie schnell oder langsam Bibliotheken sich verändern sollten, um eine Struktur handelt, nicht um Fehler oder falsche Meinungen einzelner Kolleginnen und Kollegen. Auch wenn das manchmal so scheinen kann, auch wenn einige Kolleginnen und Kollegen von Auseinandersetzung und Entscheidungen um Veränderungen stark beeinflusst werden und sich von anderen gedrängt, gestresst oder in der eigenen Arbeit aufgehalten sehen, auch wenn einige das Gefühl haben, dass etwas ganz schief läuft.

Das es schon lange und auch in anderen Einrichtungen solche Friktionen gibt, das sich die Positionen und auch das Schicksal von Veränderungen – das einige sich durchsetzen, aber schnell ihr Status als Veränderung vergessen geht, andere aber schnell wieder verschwinden – wiederholen, scheint mir darauf hinzudeuten, dass sich dies offenbar aus der Struktur der Einrichtungen ergibt. Offenbar entsteht immer wieder für einige Kolleginnen und Kollegen die Vorstellung, dass es viel zu langsam geht, obwohl die Situation drängend ist, für andere die Vorstellung, dass es viel zu viele Veränderungen in viel zu kurzer Zeit gäbe und für wieder andere, dass es nicht so klar ist. Und offenbar gibt es immer wieder für alle Positionen gute Gründe.

Wenn das so ist, dann hängt es aber auch nicht an einzelnen Personen. Es würde aber erklären, warum eigentlich alle etwas Positives für Bibliotheken wollen, aber bei unterschiedlichen Positionen landen.

Folie 19

Ich finde das einen Erkenntnisfortschritt. Wenn man klären kann, dass eine Situation eine Struktur ist und diese Struktur benennen kann, dann kann man auch gemeinsam daran gehen, diese Struktur zu verändern. Ich habe mich hier nicht daran gemacht, zu klären, wie genau diese Struktur aussieht und warum sie so wirkt, wie sie wirkt. Wichtig scheint mir erst einmal in einem ersten Schritt zu klären, dass sie überhaupt existiert.

Aber wenn man sich daran machen will, sie zu ändern, müsste man fragen, was den das Ergebnis dieser Struktur ist: Wieso wird sie immer wieder reproduziert? Wie hält sie die Institut Bibliothek aufrecht? Wer gewinnt durch sie was? (Selbstverständlich nicht als Verschwörungstheorie, dass sich hier irgendwer etwas aneignen würde, sondern als sozialer Gewinn. Vielleicht können sich durch diese Struktur Kolleginnen und Kollegen eine Professionalität erarbeiten, die sie sonst nicht hätten?)

Folie 20

Wenn wir einmal akzeptieren, dass es sich um eine Struktur handelt, dann können wir schon jetzt aus diesem Fakt einiges für Bibliotheken herausziehen.

Was mir, wie Sie hoffentlich gemerkt haben, immer wichtig ist: Wenn es einen Struktur ist, dann kann man nicht einzelne Personen alleine verantwortlich machen. Dann ist es nicht so, dass einzelne Kolleginnen und Kollegen einfach falsche Vorstellungen haben, die sie verändern müssten. Vielmehr ist es mit diesem Verständnis viel einfacher möglich, allen zuzugestehen, dass etwas Positives für die Bibliotheken – zumindest die eigene – wollen. Die inhaltlichen Unterschiede müssen nicht zu persönlichen Friktionen werden.

Gleichzeitig können wir sagen, dass es in Bibliotheken immer Veränderungen und Konstanz zugleich gibt und das es nicht sinnvoll ist, dies gegeneinander auszuspielen.

Und was wir verändern sollten, habe ich Ihnen auf der rechten Seite dieser Folie zusammengefasst. Wichtig scheint mir, dass wir bei allen vorgeschlagenen oder wahrgenommenen Veränderungen die Rhetorik zurückfahren. Weder treten die grossen Versprechen ein noch die grossen Befürchtungen, mit denen um Veränderungen gestritten wird. Nach Jahrzehnten ständiger Veränderung im Bibliothekswesen können wir sehen, dass das reine Rhetorik ist und niemand wirklich überzeugt. Das macht dann Veränderung auch viel gestaltbarer. Hat man den Eindruck, dass eine Veränderung unbedingt sein muss oder aber das es eine Bedrohung ist, die man abweisen müsse, dann ist es schwieriger angemessen zu reagieren, als wenn man auf der Basis des best-möglichen Wissens über die Veränderung (für das man einige Zeit braucht, um es zu sammeln) und die eigene Reaktion als Bibliothek oder als Bibliothekarin, Bibliothekar entscheidet.

Folie 21

Wir sollten Veränderung als normalen Teil der bibliothekarischen Arbeit ansehen. Das ist weder gefährlich noch besonders aufregend, insbesondere wenn man sich vor Augen führt – wie bei unseren Beispielen – dass sich die erfolgreichen Veränderungen schnell so sehr in den bibliothekarischen Alltag integrieren, das schnell die Zeit „davor‟ vergessen geht.

Folie 22

Ich würde also für ein kontinuierliches, dafür aber auch ruhigeres Vorgehen plädieren. Dystopien oder grosse Versprechungen bringen Bibliotheken dabei nicht viel weiter.

Was ich auch betonen möchte ist, dass es sinnvoll wäre, wenn wir – also das gesamte Bibliothekswesen – uns öfter darüber unterhalten würden, was sich eigentlich wirklich verändert hat und mit welcher Wirkung. Wie gesagt denke ich, dass sich die drei Positionen, die ich am Anfang genannt habe, immer wieder ergeben werden, solange die Struktur, aus der sie sich ergeben, nicht verändern. Irgendwer wird immer das Gefühl haben, Bibliotheken hätten ein veraltetes Image (gegen alle Umfrageergebnisse, die etwas anderes zeigen); irgendwer wird sich immer gedrängt fühlen, Dinge zu verändern, die nicht geändert werden müssten. Aber gleichzeitig denke ich, wenn mehr bedacht würde, wie viele Veränderungen eigentlich stattfinden und was mit ihnen passiert oder nicht passiert ist, wird diesen Eindrücken die Dringlichkeit genommen. So schlecht stehen Bibliotheken in Bezug auf Veränderungen nämlich gar nicht dar.

Folie 23

Auf dieser letzten Folie habe ich Ihnen noch einmal die Take-Aways zusammengefasst, die ich am Wichtigsten finde.

Am Ende hätte ich auf die Frage des Vortrags eine Antwort, die vielleicht etwas enttäuscht, aber dafür hoffentlich verständlicher ist: Wie schnell oder langsam sollen sich Bibliotheken verändern? Das scheint mir nicht so wichtig zu sein. Wir haben gesehen, dass sie sich schon verändern und das offenbar so, dass sie recht erfolgreich bleiben. Immer noch kommen viele Menschen in die Bibliothek, immer noch ist das Lesen wichtig, immer aber auch andere Funktionen. Wenn der Rückblick eines lehrt, dann, dass Bibliotheken eigentlich ganz gut darin sind, Veränderungen so schnell oder langsam aufzunehmen, wie es nötig ist. Das scheint mir wirklich nicht das Problem zu sein. Wenn etwas ein Problem ist, dann die Friktionen, die zwischen Bibliotheken und Kolleginnen, Kollegen wegen Veränderungen aufkommen. Aber die bedrohen offenbar nicht die Bibliotheken selber, sondern gehören offenbar zur Institution selber.

 

Fussnoten

1 Es gab zuvor einen Vortrag über den Tourismus in der Region Bergün-Filisur.

2 Für den Blog zu ergänzen ist, dass sie sich wohl im DACH-Raum nicht so sehr unterscheiden, auch wenn es einige Gebiete gibt, in der „Veränderung‟ in den letzten Jahren oft mit Ressourcen- und Etatstreichung verbunden war, was sich teilweise ändert. In der Schweiz gab es diese Erfahrungen in der breiten Fläche nicht, wenn auch einige Kantone über „Finanznot‟ reden und einige ressourcenarme Gemeinden – unter anderem in Graubünden – besondere Herausforderungen zu meistern haben. Aber grundsätzlich heisst in schweizerischen Bibliotheken Veränderung tatsächlich Veränderung, nicht Mittelstreichung.

3 Anmerkung fürs Blog: Im Lehrplan 21 wurden – gegen politische Widerstände – für 21 deutschsprachige Kantone und das Fürstentum Liechtenstein ein Rahmen für den Unterricht in den Schulen geschaffen, der unter anderem auf Kompetenzorientierung fokussiert. Er wird in den Kantonen und dem Fürstentum aktuell umgesetzt (und bestimmt immer etwas anders interpretiert, aber so funktionieren Lehrpläne und so funktioniert der Förderalismus) und hat Positionen aufgegriffen, die zum Beispiel in Deutschland einige Jahre früher von Kultusministerien und Erziehungswissenschaft vertreten wurde. Veränderungen sind halt immer auch landesspezifisch, aber darum ging es hier im Vortrag nicht.

4 Anmerkung fürs Blog: Es geht hier um das schweizerische Projekt Buchstart, getragen vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. In anderen Ländern gab / gibt es ähnliche Projekte mit diesem Namen, die aber auch auf andere Strukturen reagierten.

Wie könnte ein besserer Zukunftsreport für Bibliotheken aussehen?

Der Horizon Report ist nicht mehr

Einige Jahre lang (2015-2017) gab es bekanntlich einen Horizon Report Library Edition; jetzt nicht mehr. Der Horizon Report war, im Anschluss an den “originalen” Horizon Report, der jährlich über die Trends der Technologie für Bildung / Hochschulbildung berichtete, der Versuch, einen Trendreport für Bibliotheken auf internationaler Ebene zu etablieren. Es gab auch offenbar ein Interesse an einem solchen. Zumindest fanden sich (in der Schweiz und Deutschland) Einrichtungen, die den Report finanzierten, inklusive einer deutschen Übersetzung im ersten Jahr. Zudem waren die Downloadzahlen massiv. Rudolf Mumenthaler, der – jetzt kann man es ja sagen – vor allem dafür verantwortlich war, dass der Report überhaupt begonnen wurde, berichtete im Unterricht mehrfach davon, dass schon in der ersten Woche mehr als eine Millionen Downloads zustande gekommen waren. Ob alle, die den Report lasen, wirklich diese Art von Report haben wollten, würde ich bezweifeln. Zur schon recht rapiden Methodik, wie der Text erstellt wurde (Diskussion von Expertinnen und Experten in einem Wiki in sehr kurzer Zeit, Abstimmungen mit Punktevergabe, thematischen Fokus, Auswahl der Expertinnen und Experten) hat Rudolf Mumenthaler in der LIBREAS publiziert. Die Methodik hat dazu geführt, dass ein Text entstand; aber ob sie wirklich dazu führte, dass belastbar Trends benannt wurden, welche in den nächsten Jahren Bibliotheken beeinflussen werden, ist nicht so klar.

Sie war halt, meiner Meinung nach, an der Methodik anderer Trendreports orientiert, die ein Geschäftsfeld darstellen. Überall da, wo Geld in grossen Mengen fliesst, gibt es Institutionen, die (entscheidungsschwachen?) Managern und Managerinnen für viel Geld Trendreports verkaufen, damit diese ihre Entscheidungen (Vor allem: Wo investieren? wo nicht investieren?) daran orientieren können. Dazu braucht man klar strukturierte Aussagen, überzeugend vorgetragen, gerne mit gewichteten Listen. Aber das ist ja eigentlich nicht, was Bibliotheken brauchen (und das Team, welches der Horizon Report für Bibliotheken anstoss, versuchte auch, diese Methodik und die Thematik des Reports zu beeinflussen).

Trotzalledem: Der Report wird nicht wiederkommen. Die Organisation hinter den Horizon Reports – die Not-for-Profit Einrichtung (also quasi die Stiftung) New Media Consortium – verkündete Ende 2017, dass sie pleite sei und sich auflösen würde. Das scheint unumkehrbar.

Einen neuen Report / einen bess’ren Report / den könnten wir uns dichten

Nach den beiden Ausgaben 2015 und 2017 wird es also keine weiteren dieser Reports mehr geben. Man kann das bedauern, aber man könnte es auch als Ausgangspunkt dafür nehmen, darüber nachzudenken, ob das Bibliothekswesen (egal ob weltweit oder nur im DACH-Raum) eigentlich einen solchen Trend-Report braucht, wie er vielleicht (das ist die Chance) besser gemacht werden könnte (und dabei, was besser eigentlich heisst, auch, was er überhaupt bringen soll und wem) – und dann vielleicht organisieren, dass er auch erstellt wird.

Dafür müsste eine Anzahl von Kolleginnen und Kollegen – egal, ob aus Bibliotheken, Bibliotheksverbänden oder bibliothekarischen Ausbildungseinrichtungen – zusammenkommen und einen solchen Report aufgleisen. (Beim Horizon Report konnte man auf eine schon fertige Methodik und Infrastruktur setzen.) Ich persönlich bin keine dieser Personen, weil ich, ehrlich gesagt, den Sinn hinter solchen Reports immer noch nicht sehe. Aber ich sehe auch, dass es ein Interesse an den Horizon-Reports gab. Insoweit muss es Personen geben, die von ihnen überzeugt sind. Und ich denke, dass gerade jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, darüber zu diskutieren, ob es einen Nachfolger des Horizon-Reports geben sollte. Jetzt ist der noch im Hinterkopf, später muss man alles wieder neu aufbauen.

Ich werfe diesen Beitrag mal in die Runde, in der Hoffnung, dass er als Anstoss wirkt für Kolleginnen und Kollegen, die sich für einen solchen, neuen Report engagieren wollen. (Per Twitter hatten sich Ende 2017 Rudolf Mumenthaler und Ursula Georgy daran interessiert gezeigt. Es müssten selbstverständlich mehr werden. Und die müssten sich organisieren.)

Eine kurze Bewertung des Horizon-Reports

Um zu entscheiden, wie eine besserer Report – und nicht einfach nur eine Fortsetzung, wenn man schon die Chance auf einen Neuanfang hat – aussehen könnte, ist es sinnvoll, sich den alten nochmal anzuschauen. Was waren negative und positive Punkte?

Erst einmal die kritischen:

  • Der Horizon-Report war, bei allen Versuchen, dass zu ändern, Techniklastig. Es ging immer um die Frage, welche Techniken wann eine Relevanz für die Bibliotheken haben werden. Das ist verständlich, wenn man sich das Ziel des (herausgebenden) New Media Consortiums anschaut. Dem ging es bei der Gründung darum, die Integration von Technik in Schulen und anderen Lehreinrichtungen zu befördern. (Deshalb erinnerte wohl auch die ganze Methodik hinter dem Report stark an IT-Projekte.) Bibliotheken und Museen kamen dann in den letzten Jahren hinzu. Aber Technik ist nicht alles; ein neuer Report muss wohl unbedingt auch andere Foki enthalten. (Als Beispiel: Die ganzen Beschäftigungen mit der Frage, was der “Raum Bibliothek” ist, werden soll und sein wird, konnten im Horizon Report so gar nicht wirklich bearbeitet werden, obwohl sie für Bibliotheken ein unheimlich wichtiges Thema darstellt.)
  • Diese Techniklastigkeit führt meiner Meinung nach auch zu einem falschen Bild von Entwicklung. Es kann sehr schnell so aussehen, als würde die Technik sich einfach so, von alleine oder zumindest auf Bahnen, die wir Normalsterblichen nicht verstehen können, entwickeln, und alles was wir – in diesem Fall die Bibliotheken – tun könnten, wäre zu verstehen, was die Technik kann, wie sie genutzt werden wird und dann rauszufinden, wie wir uns verändern müssen, um uns der Technik anzupassen. (Polemisch dargestellt. Man könnte selbstverständlich auch sagen: Wie wir uns verändern müssen, um die Potentiale der Technik auszuschöpfen.) Aber so ist das ja nicht: Wie Technik sich entwickelt, in welche Richtungen, mit welchen Schwerpunkten etc. und in welche Richtungen etc. nicht, ist immer eine Entscheidung, die auch von jemand getroffen wird. Und wie Technik genutzt, integriert etc. wird, ist auch immer eine Entscheidung, die sich nicht alleine aus der Technik ergibt, sondern aus Entscheidungen von Menschen, aus Infrastrukturen (die auch nicht einfach so entstehen), auch aus Anforderungen, die dadurch entstehen, dass etwas als modern / neu / besser etc. verstanden wird oder nicht. Es ist also nicht so, dass die Technik alleine die Richtung vorgibt. Oder anders: Die Bibliotheken haben eine grosse Agency darin, zu entscheiden, welche Technik wie “ankommen” wird oder nicht. (Es ist ja keine Überraschung, dass quasi keine Technik, auch nicht die in den Horizon Reports besprochene, jemals die Versprechen, mit der sie eingeführt wurde, einhält.)
  • Kritisch scheint an diesem Bild aber vor allem die spezifische Vorstellung davon, wie Entwicklung funktioniert, die im Horizon Report implizit vermittelt wurde. So, wie er aufgebaut und beschrieben war, wurde der Eindruck vermittelt, als gäbe es einen unaufhaltsames Vorwärtsschreiten von Entwicklung, die immer in die Richtung gehen würde, die im Report beschrieben wurde, und wir, die wir diesem Fortschritt ausgeliefert sind, können ihm eigentlich nur noch folgen – oder untergehen. Das wäre die eine, kleine Form von Agency, die man hätte: Entscheiden könnte man eigentlich nur, wann man sich auf das Eintreffen des jeweiligen Fortschritts vorbereiten würde. Aber (ganz abgesehen von den offensichtlichen geschichtsphilosophischen Hintergründen dieses Fortschrittsglaubens): so ist die Realität ja nicht. Schon die Horizon-Reports selber, liest man sie heute, zeigen ja, dass viele der Voraussagen gar nicht eingetroffen sind. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein, es könnten sich zum Beispiel die falschen Expertinnen und Experten geäussert haben. Aber ich würde argumentieren, dass das Problem in diesem impliziten Denken liegt. Entwicklung, egal ob gesamtgesellschaftlich, auf ein Feld oder einen Institution bezogen oder auch individuell, funktioniert nicht so gradlinig und vorhersehbar. Wäre es so, würden wir in einer viel besseren Welt leben. Eine Darstellung wie im Horizon Report vermittelt ein falsches Bild, weil sie z.B. über all die Entscheidungen, die von irgendwem getroffen werden, über die Widersprüche bei der Umsetzung von Veränderungen, über die gewachsenen Strukturen und Überzeugungen, die immer einen Einfluss darauf haben, was wie umgesetzt wird und auch über die unterschiedlichen Interessen von Institutionen und Menschen einfach hinweg geht.
  • Grundsätzlich, das sollte klar geworden sein, scheint der Horizon-Report viel zu wenig von der Gesellschaft wissen zu wollen. Es gibt in ihm einige einfache Überzeugungen (wie dass die Menschen immer individueller würden und gleichzeitig immer mehr in Gruppen lernen würden). Aber viel weiter geht das Nachdenken über Menschen und die Gesellschaft nicht. Und das ist eigentlich nicht ausreichend, wenn man über irgendetwas nachdenkt, was mit Menschen zu tun hat. Auffällig ist aber auch, dass die Reports praktisch ohne ein Bewusstsein von Geschichte, auch der Geschichte der Technologien und Trends, die sie selber erwähnen, auskam. Gerade so, als wären Technik und Trends vom Himmel gefallen. Aber wenn man Trends in oder für irgendwelche Einrichtungen beschreiben will, muss man selbstverständlich verstehen, wo diese herkommen, wie sie sich entwickelt haben und warum sie jetzt so sind, wie sie sind. Schon, weil auch Institutionen ein “Gedächtnis” haben und weitere Trends immer auf der Basis schon gesammelter Erfahrungen bewerten. Die Horizon-Reports hatten aber noch nicht einmal eine Methodik, um aus den eigenen Voraussagen (also ob sie eingetroffen waren oder nicht oder, was wohl öfter vorkommt, anders als gedacht eingetroffen waren) in die nächsten Reports einzubinden. Die Expertinnen und Experten hätten das jeweils untereinander diskutieren können, hatten dafür aber wenig Zeit. Ansonsten ging es immer nur vorwärts.
  • Der Horizon Report war gleich für die ganze Welt gedacht, mindestens für den ganzen globalen Norden. Das an sich ist nicht kritisch. Man muss nicht jede Frage immer nur auf ein Land oder so beziehen. Gleichzeitig schien der Report aber nicht zu beachten, dass er für verschiedene Länder – und damit auch Bibliothekskulturen – geschrieben war. Ein Beispiel war das ständig auftretende Thema Learning Analytics, dass in praktisch allen Horizon Reports (nicht nur der Library Edition) als wichtiges Thema beschrieben wird; immer wieder als eines, dass praktisch vor der Tür stände. Das ist nicht nur nicht eingetroffen, es schien auch immer wieder absurd. Im DACH-Raum lässt die Idee, dass Lehrpersonen möglichst viele Daten von Lernenden sammeln und dann auswerten sowie mit den Daten anderer Lernender vergleichen, sofort (berechtigte) Überlegungen zum Datenschutz aufkommen. Selbst wenn es technisch möglich wäre, scheint es gesellschaftlich überhaupt kein diskutierbares Thema zu sein. In solchen Fällen vermittelte der Report den Eindruck, als wäre er am Ende doch nur für die USA geschrieben. So, als würde man den eigenen Anspruch (für den ganzen globalen Norden zu schreiben) gar nicht einlösen wollen.

Aber, sonst wäre der Report ja nicht so erfolgreich gewesen, es gab selbstverständliche Positionen:

  • Der Horizon Report versuchte, die nahe Zukunft greifbar zu machen – was offenbar für viele im Bibliothekswesen von Interesse ist. Es scheint an sich, als wollten Bibliothekarinnen und Bibliothekare gerne einmal hören, was sich demnächst verändern wird und wie sie reagieren sollten. Zumindest ist das mein Eindruck, wenn ich mir z.B. die bibliothekarischen Tagungen und Konferenzen ansehe. Wie gesagt bin ich kritisch, ob das überhaupt möglich ist; für mich sind solche Aussagen oft eher umformulierte Wünsche Einzelner, die wohl besser diskutiert werden müssten, aber stattdessen als “so wird es sein”-Aussagen präsentiert werden und dann aber auch Auswirkungen oft die strategischen Entscheidungen von Bibliotheken haben. So oder so: Es scheint, dass es ein Interesse daran gibt, dass geklärt wird, wie sich z.B. die Technologie entwickeln wird, die Einfluss auf Bibliotheken haben wird. Der Horizon Report schien auf dieses Interesse einzugehen und vielleicht damit Bibliotheken zu ermöglichen, Entscheidungen über die eigene Entwicklung zu treffen oder aber zumindest als Thema vorzuschlagen. Und das regelmässig. (Ob es wirklich wichtig ist, dass Trendberichte regelmässig erscheinen, ist nicht so klar. Es ist aber schon so, dass auch andere Trendberichte im bibliothekarischen Feld, regelmässig erscheinen, beispielsweise die “top trends in academic libraries” der Association of College and Research Libraries, die alle zwei Jahre erscheinen oder das IFLA Trend Report Update, welches jährlich erscheint.)
  • Man musste etwas genauer hinschauen, aber es war nicht unmöglich, herauszubekommen, wie der Horizon Report erstellt wurde, wer an ihm beteiligt war und wie man selber an ihm arbeiten konnte. Es wurde versucht, eine grössere Anzahl von Expertinnen und Experten einzubeziehen und diese Gruppe möglichst divers zu gestalten. Natürlich hatte das immer Grenzen (Grenze eins: Alles wurde in Englisch kommuniziert. Auch im Wiki, in welchem die beteiligten Expertinnen und Experten diskutierten, wurde vor allem auf englischsprachige Quellen verwiesen, was natürlich dem Ziel, international Trends zu benennen, zuwiderläuft.) Das steht aber positiv im Gegensatz zu anderen Trendreports. Bei diesen ist manchmal nicht klar, wer an diesen beteiligt war oder – was wichtiger erscheint – wie an diesen mitgewirkt werden kann. Manchmal werden Commitees genannt, welche einen Report erstellt haben, aber nicht, wie diese gearbeitet haben. Die Methodik ist auch selten sichtbar. Das alles galt so für den Horizon Report nicht. Es stand zumindest der Versuch dahinter, möglichst viele Personen und Positionen einzubinden.

Was bräuchte eine besserer Zukunftsreport?

Also, wenn der Horizon Report ein Anfang, aber nicht der bestmögliche Report war: Was müsste der nächste besser machen?

Mir scheint, egal mit welcher Methodik man in einem anderen Report versucht, die Zukunft irgendwie zu bestimmen, eines wichtig: Es muss viel mehr kontextualisiert werden. Diese fast religiöse Überzeugung, dass der Fortschritt in der Technik liegt und man ihm nur folgen kann und dass die Zukunft mit klaren Aussagen zu bestimmen ist, die muss weg. Neben aller Kritik, die schon weiter oben geleistet wurde, führt diese Darstellungsweise nur dazu, dass man den Aussagen entweder glauben oder nicht glauben kann. Ein Dazwischen, wo Diskussion stattfinden, gibt es dann gar nicht. Ein seriöser Trendreport könnte das auch anders. Ihm ihm sollte dargestellt werden:

  • Wie das Team hinter dem Report auf die Trends gekommen ist. Und zwar nicht mit die Realität überschreibenden Worten (“an in-depth, contextualised analysis of the most outstanding studies of this field”), sondern tatsächlich so, wie es passiert ist; damit Bibliotheken, welche den Report lesen, einordnen können, wie untermauert oder nicht untermauert die Aussagen in ihm sind.
  • Klare Aussagen dazu, ob eine Trend wirklich kommen wird (dann mit Begründungen, warum, z.B. weil bestimmte Gesetze oder Änderungen in Kraft treten oder weil bestimmte Technik eingestellt wird), welche Trends wahrscheinlich kommen werden (dann auch, wieso das Team dieser Meinung ist) und welche vielleicht kommen.
  • Da Trends nicht einfach so auftauchen, wäre es auch sinnvoll, wenn ein solcher Report zeigt, was Bibliothekswesen oder einzelne Bibliotheken jetzt aus diesem Trend machen sollen. Insbesondere, wenn nocht nicht klar ist, ob er wirklich kommt, sollte auch klargemacht werden, ob und wie man diesen befördern oder verhindern könnte, also welche Agency die Bibliotheken haben.
  • Die Quellen sollten klarer sein, als sie es bislang bei Trends Reports sind. Teilweise erscheinen sie so – besonders, wenn man sie öfter liest – als wären einzelne Trend Reports die Hauptquelle für andere Reports, was natürlich den ganzen Sinn solcher Reports aufhebt.

Der Horizon Report vermittelt auch, durch seine Methodik, den Eindruck, als sei Zukunft irgendwie durch die richtige Methode vorherzusagen (oder aus den Expertinnen und Experten herauszuholen). Man kann das versuchen, wenn man die Methodik darstellt. Aber es muss gar nicht so sein. Wenn ein Report wirklich daraus entsteht, dass einige Kolleginnen und Kollegen zusammenkommen und sich eine Zukunft ausmalen / wünschen / befürchten, kann das auch eine Methode sein.

Was mich an all diesen Reports viel mehr erstaunt, ist, wie sehr der Eindruck von Konsens vermittelt wird. Immer scheint es, als wären die Beteiligten (egal, ob man sie kennt oder nicht) zu einer gemeinsamen Meinung gekommen. Das erscheint doch absurd, wenn man über die Zukunft spricht. Ist es nicht eher, so hatte ich die Vermutung beim Horizon Report, das dies das Ergebnis der Methodik selber war, die gar nicht vorsah, dass es unterschiedliche Meinungen geben könnte? Sinnvoller – auch für die Glaubhaftigkeit der Reports selber – schiene mir, wenn abweichende Meinungen unter den Expertinnen und Experten sichtbar gemacht werden können, wenn also z.B. die, die von einem Trend überzeugt sind, dass auch zeigen können, auch wenn sie die Minderheit sind, oder aber wenn klar wird, dass einen Trend gibt, den alle gleich einschätzen (was ja auch eine Aussage ist).

An sich sollte ein solches Dokument gar nicht erst so tun, als wäre es möglich, die zukünftigen Trends vorauszubennen. Vielmehr wäre wohl ein Dokument besser, das benennt, welche Themen eventuell in Zukunft relevant werden können. Nicht weniger und nicht mehr. Das würde die Interessen von Bibliotheken (Entscheidungen treffen können, Themen benannt bekommen) wohl auch erfüllen, aber ohne den ganzen missionarischen Gestus. Ein solches Dokument würde ich auch viel eher als eine Einladung verstehen (und konzipieren) mögliche Zukunftsbilder zu gestalten, auf die man zustreben kann.

Kriterien für einen neuen Trend Report

Zusammenfassend lassen sich einige Kriterien benennen, die ein neuer Trend Report, der an den Horizon Report anschliessen würde, erfüllen müsste, zumindest meiner Meinung nach:

  • Es muss klar sein, wie er zustande kam und was das Ziel des Reports ist. Bibliotheken auf eine Zukunftsentwicklung einschwören? Mögliche Entwicklungen aufzeigen? Diskussionen über die zukünftige Entwicklung zusammenfassen?
  • Es muss klar sein, ob (und wenn ja, wie) am Report mitgearbeitet werden kann.
  • Es muss ein Bewusstsein für die Entwicklung von Bibliotheken (also ihre Agency und ihre Strukturen) vorhanden sein. Man kann nicht einfach mehr sagen: “Das kommt, bereitet euch darauf vor, sonst geht ihr unter.” Das hat noch nie gestimmt. Ebenso muss ein Bewusstsein dafür da sein, welche Voraussagen alle schon gemacht wurden in diesem und anderen Trend Reports und was aus diesen Vorhersagen geworden ist.
  • Sinnvoll wäre, darüber nachzudenken, ob es unbedingt ein internationaler Trend Report sein muss. Per se ist ein weiter Blick immer gut. Die Verengung der Sicht auf die Welt, die anderswo gerade stattfindet, muss man nicht mitmachen. Aber es schien immer ein Schwachpunkt des Horizon Reports zu sein, auf lokale Gegebenheiten gar nicht eingehen zu können. Eventuell wäre ein Bericht für den DACH-Raum, bei dem zwar international (und nicht nur im englischsprachigen Raum) nach Trends geschaut wird, dann aber gefragt wird, ob und wie das für Bibliotheken in Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein wirken kann, ausreichend.
  • Sinnvoll am Horizon Report war der Versuch, möglichst unterschiedliche Personen (und damit Positionen) einzubinden. Das sollte ein neuer Report auch tun.
  • Offenbar wird versucht, Trend Reports irgendwie regelmässig erscheinen zu lassen. Eventuell lässt sich nur so die Arbeit bewältigen (sonst würden die Beiträge nur hinausgeschoben werden) oder die Finanzierung sicherstellen (weil lieber für regelmässige Dinge bezahlt / gesponsort wird)? Vielleicht sind Trend Reports auch nur so überzeugend? Aber ich denke, es wäre sinnvoll darüber nachzudenken, ob das wirklich notwendig wäre. Vielleicht wären regelmässig zusammenkommende Gruppen, die aber nur dann etwas publizieren, wenn es zu einem Trend etwas zu sagen gibt, viel besser – weil dann nämlich nur etwas gesagt wird, wenn es notwendig ist. Eventuell könnte man dies auch anders organisieren, beispielsweise als öffentliche Treffen.
  • Und zuletzt muss einfach geklärt werden, was Bibliotheken eigentlich von so einem Trend Report haben oder zumindest haben sollen. Das scheint mir auch noch nicht geklärt.

Wie kommt Neues in die (konkrete) Bibliothek? Ein Modell

Eine Frage, die mich immer wieder interessiert – und die, wenn beantwortet, meiner Meinung nach einen Einfluss auf die Entwicklung z.B. von Fortbildungsangeboten und Ausbildungen im Bibliotheksbereich, aber auch auf den Zusammenhang von Bibliothekswissenschaft und Bibliothekswesen haben müsste – ist die, wie eigentlich neue Diskussionen, Vorstellungen, Angebote in die konkreten Bibliotheken kommen. Oder anders: Wie sich die Angebote von Bibliotheken entwickeln und zwar so, dass sie immer wieder in den unterschiedlichen Bibliothek doch sehr ähnlich sind.

Es gibt wohl eine sehr einfache Vorstellung dazu, die hinter vielen Texten im Bibliothekswesen – insbesondere den Werken, die heute „Handbücher“ genannt werden, aber auch vielen Richtlinien, Toolkits und solchen Texten sowie Forschungen an Fachhochschulen, die sich als „praxisorientiert“ verstehen – zu stehen scheint. Es gibt in dieser Vorstellung ein paar Quellen, aus denen sich Bibliotheken informieren. Die konkreten Bibliotheken nehmen dieser Dokumente, schauen, was in ihnen lokal angepasst werden muss und wenden sie dann an, z.B. indem sie Richtlinien umsetzen oder auf das Basis eines Beispiels aus einer anderen Bibliothek ein ähnliches Angebot einrichten. Im Idealfall publizieren sie über ihre Erfahrungen, so dass andere Bibliotheken es wieder als Basis für eigene Angebote nutzen können. (Die Frage wäre dann, wie Neues in dieses System kommt, aber nehmen wir einfach mal an, einzelne Bibliotheken experimentieren und finden was Neues oder aber Personen in den Fachhochschulen denken sich das Neue aus.)

Dieses Modell 1 lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

Modell 1: Einfaches, direktes Verarbeiten, vorrangig von Texten aus autoritativer Quelle.

Pro Modell 1

Wenn dieses Modell stimmt, dass würde es erklären, warum im Bibliothekswesen ständig Toolkits, Beiträge mit To Do-Listen oder Sammlungen von Beispielen publiziert werden. Es würde bei der immer wieder einmal vorgebrachten Klage, dass die Forschung an Fachhochschulen den Bibliotheken nichts bringen würde, die Schuld eindeutig bei den Forschenden verorten, die offenbar keine ordentlichen Ideen haben oder sie nicht richtig kommunizieren. Sonst aber ist sie sehr hoffnungsvoll was die mögliche Wirkung bibliothekarischer Literatur auf konkrete Bibliotheken angeht.

Kontra Modell 1

Ich denken aber, dass mehr gegen dieses Modell spricht und je länger ich an einer Fachhochschule (als Bibliothekswissenschaftler) tätig bin, um so mehr Argumente scheinen sich zu sammeln. Es sind am Ende eher subjektive Beobachtungen, die ich kurz schildere, um danach zu versuchen, sie in einem besseren Modell (Modell 2) zu erklären. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nur ich sie mache.

  • Handreichungen etc., die unter anderem an Fachhochschulen ständig produziert werden (aber nicht nur, die kantonal Fachstelle für Bibliothek Zürich und die Bildungsdirektion Kanton Zürich haben vor einigen Jahren das seitdem immer wieder einmal verlinkte bischu – Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule publiziert), scheinen in den Bibliotheken so gut wie nicht wahrgenommen oder gar genutzt zu werden. Zumindest sind solche konkreten Benutzungen, wie man sie sich wohl beim Erstellen (und oft auch dem beispielhaften Testen) dieser Handreichungen macht, eigentlich nie zu finden. (Mein persönliches Beispiel ist eine Handreichung zur „Wissenschaftskommunikation in Öffentlichen Bibliotheken“, die wir an der HTW Chur vor drei Jahren publiziert haben, damals mit Artikel in der schweizerischen Zeitschrift für Öffentliche Bibliotheken und auf der Homepage der betreffenden Vereinigung; die Handreichung in einfachen To Do-Listen verfasst und mit Bibliotheken abgestimmt – und bis heute habe ich nicht eine Bibliothek gefunden, die sie genutzt hätte. Aber die Erfahrung spiegelt sich auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen an Fachhochschulen nieder: Nur weil sie Handreichungen machen, die sie mit Bibliotheken testen und möglichst so verfassen, dass sie quasi direkt umgesetzt werden können, heisst das noch lange nicht, dass Bibliotheken das anschliessend auch tun.)

  • Ein anderes Beispiel aus meiner Arbeit an der HTW Chur: Wir haben letztes Jahr ein Projekt gehabt, bei dem wir Testen wollten, ob es möglich wäre, den ganzen Makerspace-Hype so einzufangen und klein zu machen, dass er auch für kleinere und kleinste Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz nutzbar wäre. Das ist ein gutes Beispiel, weil es so viel und so viele unterschiedliche Literatur (Erfahrungsberichte, Pläne, Versprechen, Untersuchungen über die Realität von Makerspaces in Bibliotheken und Schulen) gibt, die einfach wahrgenommen werden könnte – aber kaum wird. Im Rahmen des Projektes testen wir das mit zwei mobilen Makerspace-Boxen, fassten unsere Ergebnisse – neben einem Projektbericht – in einer Handreichung zusammen, in der wir beschrieben wie z.B. kantonale Fachstellen solche Boxen selber einrichten und betreuen können (inklusive Kriterien zur Auswahl neuer Technologie). (Und nebenbei beantworteten wir die Frage, ob wirklich jede Neuheit in Bibliotheken mit einer Person kommen muss, die erklärt, wie sie funktioniert – oder ob das Bibliotheken auch selber können. Letzteres.) Noch nicht einmal sind wir nach dieser Handreichung gefragt worden. Stattdessen haben wir mehrere Anfragen dazu bekommen, ob wir die Boxen schicken oder besser selber zeigen können. Wozu? Warum? Es steht alles in der Handreichung und die Technologie kann man sich selber in jedem Elektronikfachmarkt und mehr und mehr grossen Buchläden anschauen. Es gibt offenbar – und nicht nur bei diesem Beispiel – im Bibliothekswesen den erstaunlichen Drang danach, Dinge anzufassen, anzuschauen, sich zeigen zu lassen – selbst dann, wenn man es einfach nachlesen (oder in diesem Fall auch in jeweils Dutzenden Videos anschauen) könnte.

  • Dazu passt auch, dass von all den Weiterbildungen, die für Bibliotheken angeboten werden, Reisen und Exkursionen in anderen Bibliotheken oft die sind, die sehr gut funktionieren. Auch die Vorträge, bei denen konkrete Beispiele gezeigt werden, scheinen sehr beliebt zu sein. Sich „Anregungen holen“ scheint dafür sehr oft eine Motivation zu sein. Was weniger interessiert, sind genaue Beschreibungen, Konzeptionen etc. Es scheint oft, als sei das den Kolleginnen und Kollegen zu speziell.

  • Passt man bei Konferenzen oder Besuchen in Bibliotheken genauer auf, hört man immer wieder den Wunsch nach „interessanten Beispielen“ oder „spannenden Anregungen“; aber vor allem eine erstaunlich häufige Verwendung von solchen Worten wie „interessant“ und „spannend“, wenn eigentlich auch genau beschrieben werden könnte, was gemeint ist, was genau „interessant“, „anregend“ etc. ist oder nicht ist. Vielleicht bin ich da zu sehr von meinem Studium der Gender Studies geschädigt: In diesem Studium war es normal, sich am Anfang eines Kurses darüber zu unterhalten – also die Dozierenden und die Studierenden zusammen – was sich vom jeweiligen Kurs erwartet wurde, so dass dieser eher an den vorhandenen Interessen anschliessen konnte. Eigentlich eine gute Idee, aber nur wenige Studierende wussten am Anfang, was sie von einem Kurs erwarteten. Deshalb fielen viele darauf zurück, genau solche Worte zu benutzen: „Spannend“, „Interessant“, das war engaged genug, aber auch ungenau genug, um zu überspielen, wenn man nichts zu sagen hatte. (Später wurden Leute ehrlicher und sagten auch, wenn sie Kurse besuchten, weil sie in dem und dem Thema einen besuchen mussten, um das Studium fertig zu machen. Der Lerneffekt, dass das auch geht, brauchte aber einige Semester. — Good Times.) Mir scheint aber, dass die häufige Verwendung solcher Begriffe im Bibliothekswesen genauso verdecken, dass bestimmte Dinge nicht thematisiert werden können oder sollen oder das man sich halt nicht direkt vorstellen kann, wie bestimmte Vorschläge (die z.B. auf Konferenzen oder in Handreichungen gegeben werden), in einer konkreten Bibliothek umgesetzt werden können.

  • Es ist ein bisschen zurückgegangen, aber noch vor wenigen Jahren schien es im Bibliothekswesen zudem ein sehr grosses Interesse an „Best Practice“-Sammlungen – also, wenn man ehrlich ist, Beispiel-Sammlungen zu irgendeinem Thema; warum gerade die Best Practice sein sollten, wurde eigentlich nie klar – zu geben. Das hat mich immer wieder irritiert, weil die Beispiele in diesem Sammlungen oft sehr oberflächlich dargestellt wurden, eher wie in längeren Presseerklärungen, in denen man sich selber feiert und weniger in Darstellungen, die zeigten, was wieso gemacht wurde, wie Konzepte genau aussehen, welche konkreten Erfahrungen es mit den vorgestellten Angeboten / Projekten etc. gab. Was soll – so oft meine Frage, wenn ich diese Sammlung durchschaute – eine Bibliothek damit konkret anfangen? Die könnte das doch gar nicht direkt umsetzen, sondern doch nur raten, was genau gemacht wurde. Aber: Die Sammlungen wurden immer wieder neu erstellt.

  • Was mir bei Besuchen in Bibliotheken, gerade Öffentlichen Bibliotheken, in den letzten Jahren (Besuch als Bibliothekswissenschaftler und Dozent, der also oft rumgeführt wurde; nicht als „normaler“ Nutzer) immer wieder auffiel, waren Formulierungen wie „Das haben wir dann erarbeitet“, „Wir haben dann die Veranstaltungen [z.B. für Leseförderung] so und so gestaltet“, „Das wurde dann von Kollegin XYZ ausgearbeitet“. Diese Formulierungen wurden oft für Angebote genutzt, die sich grundsätzlich nicht gross voneinander unterschieden. Die Kolleginnen hatten dann z.B. Arbeitsblätter und Ablaufpläne erarbeitet, die sie in Leseförder-Veranstaltungen mit Kindern nutzten, was immer sinnvoll ist. Nur, dass andere Bibliotheken ähnliche Ablaufpläne und Arbeitsblätter hatten. (In Wissenschaftlichen Bibliotheken war das mit Angeboten für „Informationskompetenz“ ähnlich. Die waren auch oft ähnlich, aber vor Ort erstellt.) Irritierend daran war nicht, dass es solche Angebote gibt, sondern, dass sie nicht einfach nachgenutzt wurden. Es schien in den Bibliotheken logisch, sie neu zu erstellen. Ein wenig so, als würde es die Handreichungen und To Do-Listen (die ja auch solche Arbeitsblätter und Ablaufpläne enthalten) gar nicht geben.

  • Nicht zuletzt gibt es das Phänomen, dass bei Besuchen in Bibliotheken immer klar wird, dass diese viel mehr machen, als nach aussen sichtbar ist. Bibliotheken sammeln Erfahrungen, zu unterschiedlichen Themen, aber sie publizieren kaum dazu. Auch nicht, wenn sie darum gebeten werden (dies eine Erfahrung als Redakteur). Das ist schon komisch: auf der einen Seite der Wunsch, dass jemand Vorschläge macht, was in der Bibliothek gemacht werden könnte; auf der anderen Seite eine gewisse Verweigerung, die eigenen Erfahrungen sichtbar zu machen.

  • Evidence Based Librarianship wird, wie bekannt sein dürfte, in anderen Staaten als Versuch betrieben, die Nutzung von wissenschaftlichem Wissen in der Praxis und in gewisser Weise auch die Zusammenarbeit von Bibliothekswissenschaft und -praxis zu motivieren. Gillespie et al. (2017) untersuchten, wie die in australischen Bibliotheken tatsächlich umgesetzt wird, auch Koufogiannakis & Brettle (2016) führten in ihrem neuen Handbuch zum Thema ähnliche Untersuchungen an. Sichtbar wurde dabei, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare in der englischsprachigen Welt dazu tendieren, bei Aufgaben, die in Bibliotheken auftauchen, Arbeitsgruppen zu bilden, die versuchen, die jeweilige Aufgabe – und das kann gut die Einführung eines neuen Angebots sein – anzugehen. Dabei werden nicht etwa – wie oben im Modell 1 – einfach die sinnvoll passenden Texte, Handbücher, Studien etc. herangezogen, angepasst und angewendet, sondern vielmehr viele Quellen als Evidence genutzt (bei Gillespie et al. (2017) Beobachtungen im Bibliotheksalltag, Feedback z.B. von Nutzerinnen und Nutzern, Hinweise von Kolleginnen und Kollegen, wissenschaftliche Literatur, Statistiken und Intuition; bei Koufogiannakis & Brettle (2016) wird vor allem lokales Wissen besprochen). Dabei werden nicht nur unterschiedliche Quellen genutzt, sondern auch als gleichwertig nebeneinander genutzt: die wissenschaftliche Studie also als ähnlich wichtig wie die Rückmeldungen von Kolleginnen oder wie die eigene Intuition.

All das spricht dagegen, dass das – so schön einfache – Modell 1 tatsächlich in der Realität funktionieren würde.

Modell 2

Ein komplexeres Modell, dass die genannten Beobachtungen eingliedern würde, ist in der folgenden Graphik dargestellt:

Modell 2: Verarbeitung unterschiedlicher Quelle als Anregung zur Erarbeitung eigener Angebote.

Zum einen scheint es sinnvoll, von weit mehr Quellen – die auch schwieriger zu erfassen sind als die Texten, die man selber recherchieren kann – auszugehen, welche ans Anstoss für „Neues“ in einer Bibliothek genutzt werden. Vielleicht sind wissenschaftliche Texte oder Handreichungen dabei gar nicht so wichtig, sondern viel eher Beispiele, die etwas anstossen – nicht direkt etwas vorgeben, sondern die Möglichkeit von Diskussionen eröffnen und die Phantasie anregen – und Anregungen, beispielsweise Narrative, die auf Konferenzen, in Weiterbildungen und der Fachliteratur verbreitet werden – nicht so sehr der konkrete Vortrag, der konkrete Texte, sondern die irgendwie überzeugende Erzählung davon, was kommen wird, was neu ist oder bald neu sein wird.

Zum anderen muss sich die Umsetzung in der Bibliothek offenbar anders vorgestellt werden: Es ist wohl sinnvoll, nicht davon auszugehen, dass einfach gute Handreichungen gesucht, lokal angepasst und dann umgesetzt werden, sondern eher, dass – egal ob in Arbeitsgruppen oder in Projekten – die Quellen in der Bibliothek genutzt werden, um Diskussionen anzuregen, Vorstellungen neu zu erarbeiten, auszuwählen – d.h. auch, bestimmte Quellen nicht wahrzunehmen, vielleicht sogar die, die es schwieriger machen könnten, ein Angebot zu erarbeiten, weil es ja darum geht, dass am Ende „was rauskommt“ – und dann erst neu ein Angebot zu erarbeiten. Da die Quellen (auch die Erfahrungen, die man im Bibliotheksalltag machen kann) nicht so unterschiedlich sind, kommen am Ende wohl auch oft immer wieder ähnliche Angebote heraus. Aber der Arbeitsprozess sollte nicht verachtet werden: Dadurch, dass erst Arbeit hineingesteckt wird, scheint das Ergebnis besonders zu sein.

Am Ende steht dann vielleicht oft die Überzeugung, dass es gerade deshalb wenig nach aussen zu Berichten gäbe. Wie kann etwas so spezielles, dass „nur“ für die eigene Bibliothek erarbeitet wurde, andere interessieren? Ist es nicht speziell? Und selbst wenn: Müsste dann nicht sehr viel – angesichts der Arbeit, die hineingesteckt wurde – geschildert werden? Es wäre zumindest ein Ansatz, um zu verstehen, warum – im Gegensatz dazu, was tatsächlich alles gemacht wird – so wenig publiziert wird.

Erklärungen aus Modell 2

Wenn man annimmt, dass das „Entstehen von Neuem“ in Bibliotheken eher mit dem Modell 2 (das man bestimmt noch weiter ausdifferenzieren oder für Forschungen – z.B. solchen ähnlich zu denen von Gillespie et al. (2017) – benutzen könnte) zu erklären ist, könnte man damit einige der Beobachtungen besser erklären.

  • Der Wunsch, lieber etwas gezeigt als beschrieben zu bekommen (oder gar selber zu lesen?), könnte damit zusammenhängen, dass man eh alles nochmal verarbeitet und interpretiert. Was nützen da genaue Beschreibungen? Sind dann nicht ungenauere Beschreibungen und offene Narrative, die das Denken anregen, besser?

  • Es würde auch erklären, warum es eine gewisse Geringschätzung wissenschaftlicher Texte und Reflexionen, eine gewisse Abneigung gegenüber der Forschungen aus Fachhochschulen oder Versuche, kritische Diskussionen in Gang zu bringen, gibt. Die sind nicht wirklich in das Erarbeiten von Angeboten einzubauen, sondern würden vielleicht sogar von der Agency, die man als Bibliothekarin / Bibliothekar selber hat, wenn man Projekte lokal neu entwirft, einiges fort.

  • Es würde auch erklären, warum es so wenig richtige Community im Bibliothekswesen gibt, warum z.B. so wenig inhaltlich diskutiert oder sich über die eigene Bibliothek hinaus engagiert wird. (Z.B. in Verbänden, Redaktionen.) Wenn man vor allem alles selbst tut, ist es nicht so wichtig, was „wir alle tun“ und auch nicht so wichtig, das mitzubestimmen. Es wird ja eh nochmal uminterpretiert.

  • Wenn es in den Bibliotheken wirklich darum geht, bestimmte Begriffe, Texte, Anregungen neu zu interpretieren und umzusetzen, würde das auch das Entstehen und die Verbreitung schwammiger Begriffe und Konzepte erklären, die keine richtig Definition haben, auch in den konkreten Bibliotheken immer wieder etwas leicht anderes bedeuten können, aber trotzdem für einige Zeit als „Fachbegriffe“ durch die Fachliteratur geistern. Wenn sie eh vor allem als Anregungen verwendet werden, ist es vielleicht ganz gut, wenn man nicht genau nachfragt, sondern eher den Eindruck bestehen lässt, als wenn „alle“ schon verstehen würde, was sie heissen. Aktuell sind „Dritter Ort“ und „Makerspace“ solche Begriffe, die eigentlich, wenn man genau schaut, nichts Konkretes mehr bedeuten und oft mit den originären Herkunftskontexten nichts mehr zu tun haben, aber trotzdem ohne grosse Erklärungen im Bibliothekswesen – und z.T. praktisch nur im Bibliothekswesen – verwendet werden. Wären sie genauer, würde sie nicht diese Wirkung haben können; wäre man sich im Klaren, dass sie wenig bedeuten, würde man sie vielleicht nicht so verwenden können.

  • Genauso wäre gut zu erklären, warum Beispiele mehr Interesse hervorrufen, als To Do-Listen, Konzepte oder genaue Beschreibungen. Es geht vielleicht eher darum, Material zu finden, dass intern weiter verarbeitet werden könnte und nicht um einfach umzusetzende Anleitungen.

  • Dieses „Verarbeiten“ wäre dann auch ein Grund dafür, dass das Entwickeln von Angeboten in Bibliotheken teilweise erstaunlich lange, jahrelang dauern kann. Würde Modell 1 gelten, wäre das nicht immer nachvollziehbar. Aber Modell 2 macht klarer, welche Arbeit eigentlich geleistet werden muss, bevor ein Angebot neu entwickelt ist. Es kann offenbar nicht einfach übernommen werden.

  • Ebenso besser zu erklären wäre die oft in konkreten Bibliotheken anzutreffenden Vorstellungen, dass das, was es an Angeboten in der Bibliothek gibt, sehr speziell wäre und nur im Kontext zu verstehen sei.

Mögliche Konsequenzen aus Modell 2

Falls Modell 2 gilt, müsste man fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, weiter Handreichungen, gute Beschreibungen, Konzepte zu erarbeiten (z.B. in Fachhochschulen). Wenn die Bibliotheken eh alles uminterpretieren – und nicht einfach nur anpassen – wäre das vielleicht ganz vertane Mühe. (Man könnte sich also auf andere Fragen konzentrieren.)

Gleichzeitig könnte man – wieder einmal – überlegen, was in bibliothekarischen Ausbildungen eigentlich vermittelt werden sollte. Wenn in den Bibliotheken – warum auch immer – dazu tendiert wird, in der Bibliothek Angebote auf der Basis der Interpretation verschiedener Quellen neu entwerfen — sollte man dann nicht auch das (selber Angebote lokal konzeptionell entwerfen, umsetzen; Methoden zum Erstellen von Evidenzen üben; verschiedene Quellen identifizieren und interpretieren) vermitteln?

Man könnte auch über die Klagen, die es z.B. aus Verbänden und Redaktionen gibt – kaum jemand will schreiben, kaum jemand sich engagieren – anders nachdenken, wenn man davon ausgeht, dass Bibliotheksarbeit offenbar vor allem heisst, auf die lokale Einrichtung (und den lokalen Kontext) bezogen zu arbeiten und zu denken.

Literatur

Gillespie, Ann ; Miller, Faye ; Partridge, Helen ; Bruce, Christine ; Howlett, Alisa (2017). What Do Australian Library and Information Professionals Experience as Evidence?. In: Evidence Based Library and Information Practice 12 (2017) 1, https://journals.library.ualberta.ca/eblip/index.php/EBLIP/article/view/28126

Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being Evidence Based in Library and Information Practice. London: facet publishing, 2016

Interpretieren Bibliotheken gesellschaftliche Konzepte erst um, bevor sie diese integrieren?

These: Bibliotheken passen / interpretieren alle nicht-bibliothekarischen Konzepte bei der Übernahme in den bibliothekarischen Diskurs erst an die Institution Bibliothek an, bevor sie diese in die bibliothekarische Arbeit einbinden.

 

Ich würde gerne einmal die oben genannte These testen beziehungsweise zumindest etwas näher begründen. Je länger ich mich mit Bibliotheken befasse (und vor allem Öffentlichen Bibliotheken), um sehr scheint mir diese These zu stimmen und auch vieles zu erklären. Ich denke das, wenn sie stimmt, darauf reagiert werden könnte.

Wie gesagt, ich würde das gerne kurz ausführen. Zuerst, wie ich zu dieser These komme, dann, was sie erklären könnte und zuletzt, was daraus für die Bibliothekswissenschaft und die Bibliothekspraxis zu folgern wäre. Und wie eine These so ist: das ist ein Vorschlag zur Diskussion. Ich finde, sie stimmt; aber das muss ja nicht bei allen zu sein.Vielleicht gibt es Argumente dagegen, die ich nur nicht sehe.

Konzept ≠ bibliothekarisches Konzept

Neben wirklich spezifisch bibliothekarischen Fragen wie dem Bestandsmanagement oder der bibliothekarischen Katalogisierung wird in den bibliothekarischen Medien und Veranstaltungen auch über zahlreiche andere Konzepte diskutiert. Ich hatte schon einmal geschrieben, dass mir nicht ganz klar ist, wie diese Konzepte „ausgesucht“ werden, also warum bestimmte prominent werden und andere, die auch passen würden, nicht.1 Aber grundsätzlich kann man festhalten, dass sich eine ganze Reihe von Konzepten in den bibliothekarischen Diskussionen finden und auch immer wieder einmal neue vorgeschlagen werden. Einige dieser Vorschläge – beispielsweise „Gaming“ – kommen an, andere – beispielsweise „Pivoting“ – nicht.

Es geht mir hier nicht darum, zu untersuchen, welche „stimmen“ und welche „nicht stimmen“, sondern um ein weiteres Phänomen: Mir scheint im ersten Schritt als Gemeinsamkeit der Konzepte, die übernommen werden, dass sie, wenn man sie genauer betrachtet, nicht das bedeuten, was sie ausserhalb des Bibliothekswesens bedeuten. Zumeist ist es nicht einfach, festzustellen, was Bibliotheken beziehungsweise die Akteurinnen und Akteure im bibliothekarischen Diskurs unter diesen Konzepten genau verstehen; trotzdem teilweise Definitionen gegeben werden, werden diese selten durchgehalten. Gleichzeitig scheint es für diese Konzepte oft, als gäbe es jeweils einen gewissen gemeinsamen Kern, der den Beteiligten mehr oder minder bekannt ist, wenn sie über diese Konzepte im bibliothekarischen Zusammenhang reden. In einem weiteren Schritt ist es aber auch so, dass diese Konzepte offenbar eine Funktion haben und es niemals darum gehen kann, die „Rückkehr“ zum „eigentlichen Begriff“ (also dem ausserhalb des Bibliothekswesens genutzten) oder eine definitorischen „Reinheit“ zu fordern. Das ist kein sinnvolles Ziel. Aber es ist doch zu fragen, was denn die Funktion dieser Begriffe sein kann und eine Vermutung ist, dass diese Gründe eher im Bibliothekswesen zu suchen sind, als ausserhalb.

Ein paar Beispiele.

(1) Das erste Mal bin ich mit dem Unterschied zwischen dem „Konzept ausserhalb des Bibliothekswesens“ und dem „Konzept innerhalb des Bibliothekswesens“ bei meiner Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken konfrontiert gewesen. Ein wenig auch schon vorher, als ich zum Stand der Schulbibliotheken in Berlin geforscht habe. Es war auffällig, dass sich das Bibliothekspersonal immer wieder miteinander (d.h in bibliothekarischen Zeitschriften oder auf Konferenzen) über Themen, die sie der Bildung zuschreiben, unterhalten; während die Bezüge zu anderen Diskursen, die sich mit Bildung befassen, im besten Falle prekär sind. Im Bibliotheksbereich wurde damals (2006-2009) zum Beispiel der Begriff „Kompetenz“ wild durch die Gegend geworfen, ohne das so richtig klar wurde, was er bedeuten soll. In diesen (und den darauf folgenden) Jahren gab es zwar immer wieder Versuche, den Begriff „Informationskompetenz“ in Modellen genauer zu fassen, aber (a) scheint es nicht so, als ob diese Modelle von anderen aufgegriffen wurden und (b) war auffällig, dass diese Modelle ausgehende von der Bibliothek und der Benutzung von Informationsquellen, wie die Bibliothek sie definiert (z.B. Genauigkeit und Qualität, nicht Sinnhaftigkeit oder Pragmatik), formuliert wurden. Die Diskussionen in den pädagogischen Wissenschaften wurden in diesem Diskurs gar nicht aufgegriffen. (Dabei gab es z.B. in der Berufspädagogik zeitgleich Diskussionen darum, was dieses Konzept „Kompetenz“ eigentlich sein soll.)

Eine ähnliche Ungenauigkeit war die Verwendung der PISA-Studien im bibliothekarischen Diskurs. Offensichtlich war, dass in den Jahren zuvor (so ungefähr 2001-2005) die PISA-Studien im bibliothekarischen Diskurs gerade daraufhin gelesen wurden, ob sie die bibliothekarische Arbeit argumentativ unterstützen könnten, nicht daraufhin, was in ihnen tatsächlich steht. So wurde eigentlich nie tiefer auf die Ergebnisse eingegangen (die im den 400+ Seiten der Berichte wirklich differenzierter dargestellt sind, als in den paar Tabellen, die immer wieder angeführt wurden – das muss man zugegeben, egal, was man von den Studien selber hält) und auch nicht darauf, was die Studien eigentlich wirklich, wie untersucht hatten.

Einerseits verwunderte mich das damals, vielleicht ärgerte es mich auch ein paar Mal, aber ich hätte das, wenn man mich gefragt hätte, wohl der fehlenden Zeit der Kolleginnen und Kollegen in der alltäglichen Bibliotheksarbeit, um sich (auch noch) mit den pädagogischen Debatten, den PISA-Studien, den anderen Leistungsvergleichsstudien etc. zu befassen, zugeschrieben; vielleicht auch einem Missverständnis, nämlich das erziehungswissenschaftliche Texte schwierig seien und nur von ausgebildeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wirklich „verstanden“ werden könnten. Letzteres stimmt wirklich nicht, die PISA-Studien machen es z.B. immer sehr einfach, zu verstehen, was passiert. Man muss sie nur lesen. (Deshalb wären sie eigentlich auch gut aus bibliothekarischer Sicht zu kritisieren gewesen. Aber das ist eine andere Frage.)

Andererseits ist es einfach, darauf zu verweisen, dass beim Thema Bildung dieser nicht so genaue Bezug nicht erstaunlich ist. Das machen „alle“, beziehungsweise ist es einfach, zu merken, das auch in anderen Bereichen nicht wirklich auf die Erziehungswissenschaft und deren Expertise eingegangen, sondern einigermassen wild ruminterpretiert wird (so zumindest der erste Eindruck), um das Konzept Bildung (und seine „Unterkonzepte“) in andere Debatten einzuspeissen. Insbesondere die Bildungspolitik nach den ersten PISA-Studien (und das waren die Texte, die ich damals las) hat das zur Genüge getan und für alle möglichen, auch widersprüchlichen bildungspolitischen Entscheidungen die PISA-Studien angeführt. Es ist war also einfach, dass als typisch für den Umgang mit dem Thema Bildung zu verstehen, nicht als Besonderheit des Umgangs von Bibliotheken mit dem Thema.

 

(2) Das Konzept „Dritter Ort“. Auch dazu habe ich – zusammen mit anderen – publiziert, gesprochen und unsere Studierenden in Chur forschen lassen.2 Es ist ziemlich einfach zu sehen, dass das, was die Bibliotheken als „Dritter Ort“ bezeichnen wenig mit dem Originalwerk, auf das kontinuierlich verwiesen wird, zu tun hat. Bei Ray Oldenburg (dem Autor des Originalwerks – mehr dazu im verlinkten Text in der Fussnote) geht es um die angeblich auseinanderfallende US-amerikanische Gesellschaft, die Orte bräuchte, an denen sie quasi klassenlos und ohne von anderen Identitätsprofilen abgehalten zu werden, lernen kann, sozial zu sein und die Kohärenz der Gesellschaft – also den civic discourse – wiederherzustellen. Und das würde halt in sozialen Orten, in denen alle (auch ökonomisch) eingebunden werden und erstmal interessenslos Rumhängen können, passieren. Das Konzept hat Geschichte, es ist eigentlich die Wiederbelebung eines in der US-amerikanischen Soziologie immer wieder auftauchenden Themas. Aber das ist für Bibliotheken irrelevant, sie haben sich ein anderes Konzept vom „Dritten Ort“ zurechtgelegt, ein Konzept, dass zwar behauptet, modern zu sein, aber irgendwie theoretisch und empirisch an nix gebunden ist (das war ein Ergebnis von den Untersuchungen, die die Studierenden durchgeführt haben: Die Nutzenden sind jetzt nicht vollkommen daran interessiert, „Dritte Orte“ zu bekommen, aber auch nicht dagegen.)

Es ist aber nicht so einfach, rauszukriegen, was genau gemeint ist, wenn Bibliotheken „Dritter Ort“ sagen. Es scheint einen Kern zu geben, den irgendwie alle kennen oder zumindest zu kennen glauben.3 Wir (der Kollege Mumenthaler und ich) haben gerade einen Bachelorarbeit zu dieser Frage schreiben lassen: „Was meinen Bibliotheken, wenn sie vom Dritter Ort reden?“4 Der Studierende – aber der ist auch selber Bibliothekar – war am Ende, nachdem er mehrere Bibliotheken in der Schweiz untersucht hat, der Meinung, Bibliotheken würde schon ungefähr das gleiche meinen (Gemütlich, Offen, orientiert an den Nutzerinnen und Nutzern) und das wäre auch ungefähr das, was Oldenburg meinte. Ich bin gerade vom letzten nicht überzeugt, aber nach einigem Nachdenken scheint folgende Interpretation für mich nachvollziehbar: Die Bibliotheken (und der Studierende) haben sich aus Oldenburg eine Liste „gezogen“, die da eher versteckt im gesamten Buch ausgebreitet (und im Buch auch viel länger) ist und zudem in einem Kontext steht. Mit dieser Liste gehen Bibliotheken nicht auf die Argumente von Oldenburg ein und setzem sich z.B. auch gar nicht mehr mit Fragen der Sozialen Kohärenz auseinander, sondern die Punkte sind so gewählt, das sie in Bibliotheken umsetzbar scheinen. Unbewusst scheint all das, was eine grössere Veränderung im bibliothekarischen Denken bedeuten könnte – also z.B. dass Bibliotheken über die Frage nachdenken würden, wie die Gesellschaft „zusammenhält“ – ausgegliedert worden zu sein und dafür das, was relativ einfach umsetzbar ist, ohne die Bibliotheken gross zu verändern, beibehalten. Weil, selber wenn man Bibliothekscafés und flexible, gemütliche Ecken in der Bibliothek als total neu begreift (was sie ja eigentlich auch nicht sind), sind das doch Dinge, die man noch relativ gut mit der vorherigen bibliothekarischen Praxis verbinden kann.

Wenn aber so eine Liste (oder Listen, aber ich denke, bei den „Dritten Orten“ kann man zumindest im deutschsprachigen Bibliothekswesen auf die eine, gerne wiederholte und leicht umgestellte Liste von Robert Barth verweisen) schon im Vorfeld auf Bibliotheken „zugerichtet“ wird, indem nur das hineinkommt, was auch umsetzbar oder anschlussfähig ist, ist es kein Wunder, wenn (a) die Bibliotheken sie annehmen können und (b) die Originalquelle „vergessen“ wird. (Eine Frage ist dann, warum die Originalquelle überhaupt noch zitiert wird, weil eine kurzer Blick in die zeigt, dass die oft gar nicht gelesen wurde… ich sag nur: Informationskompetenz.)

 

(3) Eine andere Bachelorarbeit, ebenso gerade abgenommen, ebenso mit dem Kollegen Mumenthaler: Das Thema war Integration und ob Bibliotheken zur Integration beitragen.5 Die Arbeit war, für eine Bachelorarbeit, erstaunlich umfangreich, untersuchte sowohl Interkulturelle Bibliotheken, Berufsschulmediotheken als auch Öffentliche Bibliotheken, alle im Kanton Bern und verblieb auch nicht bei der Beschreibung deren Arbeit, sondern versuchte zu untersuchen, ob sie den auch einen Effekt haben. Wie gesagt, eine umfangreiche und gute Arbeit.

Eine These im Abschlussgespräch war, dass die Interkulturellen Bibliotheken (die in der Schweiz zumeist von Vereinen ausserhalb des Öffentlichen Bibliothekswesens geführt werden6) aktuell ihre Funktion verlieren würden, weil sie als Einrichtungen ausserhalb des Bibliothekswesens gegründet und mit spezifischen Strukturen und Arbeitsweisen (z.B. Zettelkatalogen) geführt würden, während ihre Aufgabe jetzt mehr und mehr von Öffentlichen Bibliotheken übernommen wird. Unsere Diskussion zeigte, dass sich Öffentliche Bibliotheken (im Kanton Bern) tatsächlich mehr und mehr interkulturelle Arbeit als Teil ihres Profils ansehen, gleichzeitig aber darunter leicht anderes verstehen, als die Interkulturellen Bibliotheken. Die Interkulturellen nehmen (tendenziell) ihren Medienbestand als Ausgangspunkt ihrer Arbeit, die z.B. zahllose Veranstaltungen, welche direkt aus und mit den „Communities“ gestaltetet werden (und nicht nur Lesungen sind), die Unterstützung von Communities bei, well, Community-Aufgaben und dem „Ankommen“ in der schweizerischen Gesellschaft (was immer das genau heisst) etc. besteht. Die Öffentlichen Bibliotheken „schneiden“ einen Teil dieser Bedeutung ab und interpretieren interkulturelle Arbeit vor allem als (a) Bestand in unterschiedlichen Sprachen und z.T. zweisprachig, auf verschiedenen Niveaus und (b) vor allem Vorleseveranstaltungen für Familien. Und das, gerade die Bestandsarbeit, können sie wohl tatsächlich professioneller organisieren, als hauptsächlich ehrenamtlich geführte Interkulturelle Bibliotheken.

Aber es ist auch sichtbar, dass dies zwei unterschiedliche Konzepte sind, die zwar viele Gemeinsamkeiten haben, aber doch nicht gleich sind. (Ich habe auch an die Unterschiede zwischen den Asylotheken und den Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland gedacht; wo in ersteren mehr Fokus auf Beratung und Unterstützung gelegt zu werden scheint, während die Öffentlichen Bibliotheken eher auf dem eigenen Bestand aufbauen – aber auch da gibt es fliessende Übergänge und unterschiedliche Lösungen, um nur auf den bekannten Sprachraum in Köln zu verweisen.)

Für mich hat sich bei dieser Entwicklung, die zumindest im Kanton Bern sichtbar ist (hier wurden schon Interkulturelle Bibliotheken geschlossen, anderswo aber wurden neue gegründet), die Frage gestellt, was da passiert ist. Meine Interpretation: „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ wurde in gewisser Weise erst so umgedeutet, dass sie besser auf Öffentliche Bibliotheken passt (Bestand als Hauptthema), dabei wurden andere Punkte nicht beachtet (ohne das das bösartig gemeint ist; ich denke, das hat mit der Institution Bibliothek zu tun, nicht damit, dass Bibliotheken Teile der Arbeit der Interkulturellen Bibliotheken negieren wollten) – und diese Version „interkultureller Bibliotheksarbeit“ hat es dann in der aktuellen Phase der Bibliotheksstrategien in die Bibliotheken geschafft. (Was auch seine gute Seite hat, unbestritten. Das so viele Bibliotheken in der Schweiz sich Interkulturelle Bibliotheksarbeit als ein Thema setzen, scheint mir ein Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in den Ergebnissen bei Wahlen und Abstimmungsergebnissen manifestiert – Bibliotheken als Stronghold humaner und rationaler Werte ist auch mal ein gutes Bild.)

 

(4) Noch ein Thema, die Makerspaces. Im Rahmen eines Projektes habe ich den letzten Monaten zahllose Texte zu Makerspaces gelesen.7 Dabei gibt es eigentlich zwei Varianten: Texte, die grosse Versprechungen machen und Texte, die aus der Praxis berichten. Was es kaum gibt, sind Texte, die die Realität genauer untersuchen und z.B. die ganzen Versprechen einmal überprüfen.

Und, wenn man einmal aus den Bibliotheken hinausgeht, wird es schnell erstaunlich, was Makerspaces alles tun soll: den Kapitalismus retten (indem sie ermöglichen, das die kreativen Erfinderinnen und Erfinder ihre Erfindungen gleich selber bauen und an den Markt bringen können, ohne sie an grosse Firmen verkaufen zu müssen, die erst Marktzugang haben – und damit mehr und mehr direkt Erfindungen in den Markt einspeissen können, ohne grosse Geldsummen zu investieren und weil gleichzeitig „Scheitern“ nicht gleich im Bankrott enden muss8), die gesellschaftliche Kreativität erhöhen, die Bildung ganz umbauen, die Bildung zum Teil umbauen (Ein Widerspruch? Jup. Aber beides kommt vor.), soziale ungleich verteilte Chancen ausgleichen (weil: Die Bildung umgebaut ist, d.h. davon abhängen soll, wie sehr sich Menschen „reinknien“ und „Begeisterung zeigen“, anstatt nach Bildungsgängen zu fragen), das technische Wissen der Gesellschaft erhöhen (weil wir lernen, Dinge zu hacken) und so weiter. Spass soll es auch noch machen. Hui-ui-ui. Selbstverständlich wird das nicht eintreten. Egal was es ist, wenn sich die Vorhersagen sich so stappeln, ist klar, dass es weniger um das Objekt / Ding / Idee / Institution selber geht, sondern eher um Wünsche, Utopien und Ängste.

Aber trotzdem: Bibliotheken haben sich entschieden, zumindest aktuell, dass Makerspaces gut sind und eingerichtet werden sollten. Enter another Bachelorarbeit dieses Jahr, wieder mit den gleichen Referenten.9 Teil dieser Arbeit war es, zu klären, welche pädagogischen Effekte Makerspaces in Bibliotheken haben sollen. Das ist nicht weit hergeholt: Die Literatur, gerade auch die bibliothekarische zu Makerspaces, ist voll von Verweisen darauf, dass diese Räume „eines neues Lernen ermöglichen werden“ (oder so ähnlich – wobei, das, was dann als neu bezeichnet wird eigentlich nur die Wiederholung von pädagogischen Ideen ist, die seit 150 Jahren immer wieder mal auftauchen, but anyway). Das Ergebnis der Arbeit ist aber, dass die meisten Bibliotheken, die Makerspaces einrichten, keine pädagogischen Ziele angeben können. Die meisten haben so ungefähre „wir schauen mal, was passiert“-Strategien. Das würde man nicht erwarten, wenn man die Texte dazu in den bibliothekarischen Medien liesst, da scheint es immer weit mehr strategische Entscheidungen für Makerspaces zu geben.

Was ist passiert? Auch hier drängt sich für mich der Eindruck auf, dass das – ehedem sehr fluide – Konzept „Makerspace“ erst so uminterpretiert wurde, dass es „bibliotheksfähig“ wurde (also zum Beispiel ohne den ganzen „mehr Erfindungen direkt für den Markt“ und mit noch offeneren und unkonkreteren Aussagen zur Bildung als in den Schulmakerspaces etc. selber) und dann auch in den Bibliotheksbetrieb integriert werden konnte. Das würde auch erklären, warum das Konzept trotz allen immer wieder mal auftauchenden Rückfragen („Was soll das bringen?“, „Ist das Aufgabe der Bibliothek?“, „Ist das nicht nur ein weitere Hype, um bloss nix mehr mit Büchern machen zu müssen?“) so beliebt ist – bei Bibliotheken.

 

Dies einfach ein paar Beispiele, die mir in letzter Zeit untergekommen sind. Mir scheint, dass diese alle darauf hindeuten, dass die Übernahme von Konzepten, die ausserhalb der Bibliotheken formuliert werden, in die Bibliotheken, immer wieder auf ähnliche Weise erfolgt:

  1. Ein Konzept wird quasi so gefasst, dass es an den bibliothekarischen Alltag und die bibliothekarische Diskussion angeschlossen werden kann. Dabei kommt es notwendig zu Veränderungen des Konzeptes und zum Fortlassen des Kontextes, des oft kritischen Potentials (im Sinne von Fragen / Fakten, die die Bibliotheken radikal verändern könnten), einer ganzen Reihe von Teilaspekten.
  2. Diese Sichtweise etabliert sich im Bibliothekswesen als „das Konzept“, obgleich es eine zugeschnittene Interpretation ist. Ein Merkmal dieser Konzepte ist, dass sie, selbst wenn sie Definitionen liefern, recht offen gehalten sind und das sie am Ende genau auf das Abzielen, was Bibliotheken an sich bieten, z.B. auf einen spezifischen Medienbestand oder auf Veranstaltungen, die in die Bibliothek „passen“.
  3. Bibliotheken nutzen diese „Überarbeitungen“, um sie strategisch umzusetzen. Dabei interpretieren sie diese zwar auch nochmal lokal um, aber am Ende passen sie oft erstaunlich gut in die schon gegebene Bibliothek und deren Möglichkeiten hinein. Von aussen sieht das immer wieder mal so aus, als würde die Bibliothek sich gar nicht richtig ändern, sondern „nur noch das und das auch noch machen“ oder „am Rande mitmachen“ oder gar „einfach Angebote umbenennen“; für die Bibliothek ist die Änderung aber manchmal sehr tiefgreifend – allerdings nie so tiefgreifend, als das sie die Identität als Bibliothek oder Bibliothekspersonal erschüttern würde.
  4. Für die jeweiligen Bibliotheken ist am Ende des Prozesses klar, dass sie sich verändert und neue Konzepte umgesetzt haben. Zumindest aus ihrer Sicht. Aus der Sicht der Felder, aus denen bestimmte Konzepte stammen kann man dies aber nicht immer sagen. Mehrere Konzepte sind am Ende so weit von ihrem „Original“ (das, wenn wir schon über Diskurs reden, natürlich, wie wir im postmodernen Denken gelernt haben, kein „Original“ ist, sondern ebenso in ständiger Entwicklung und eine „Kopie ohne Original“) entfernt, dass sie nicht wirklich mehr als „das Gleiche“ erkennbar sind.

Bibliotheken sind Institutionen

Es ist jetzt doch schon eine Weile, dass ich über Bibliotheken nachdenke. Ich werde ja auch älter. Hätte man mich kurz nach meiner Promotion gefragt, wieso es so einen Unterschied zwischen dem bibliothekarischen Verständnis von Bildung und dem Verständnis in den Erziehungswissenschaften gibt, ich hätte darauf verwiesen, dass den Bibliotheken offenbar nicht klar ist, das sie anders reden und etwas anderes meinen, als „das Bildungsfeld“. Und ich hätte vermutet, dass dem mit mehr Information an die Bibliotheken abgeholfen werden kann (und dann z.B. Bibliotheken und Schulen viel sinnvoller zusammenarbeiten könnten). Heute bin ich mir da nicht so sicher.

Mehr und mehr neige ich dazu, das Bibliothekswesen als ein System zu begreifen, wie es bei Niklas Luhmann beschrieben sind.10 Oder auch so, wie Schulen in der Bildungsforschung (School governance) als Institutionen beschrieben werden.11 So oder so: Als Felder mit einer Eigenlogik, die nicht einfach „aufgebrochen“ werden kann, sondern die notwendig ist, um Bibliotheken als Institutionen zu erhalten. Solche Felder haben immer ihre eigene Logik, ihre eigenen Zielsetzungen, Interpretationen der Welt (also der Gesellschaft), ihre eigenen Bewertungsmassstäbe etc. Sie können gar nicht einfach Konzepte aus einem anderen Feld übernehmen, sondern müssen es erst immer so uminterpretieren, dass sie es „verstehen“ können.

Dabei haben sich Felder (oder Institutionen) im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenziert und entwickeln sich auch immer mit dieser Entwicklung weiter – aber nach einer eigenen Logik, die dafür sorgt, dass sie bei allen Veränderungen „erhalten“ bleiben. Wer „im System“ drin ist, „versteht“ es auch ohne grössere Erklärung, weil er/sie inkorporiert ist, z.B. die Eigenlogiken des Systems mit übernimmt. [Und ja, ich will hier keine luhmannsche Systemanalyse durchführen, drücke mich also z.B. sehr explizit darum, zu klären, was der „Code“ des Bibliothekssystems sein soll. Mir geht es eher um diese Eigenlogiken. Ich umgehe also, für das Argument, einiges.]

Aus dieser Affinität zu Luhmann scheint mir aber die oben genannte These mehr und mehr richtig: Bibliotheken setzen keine Konzepte direkt um, sondern interpretieren sie „bibliotheksfertig“ und setzen sie dann um. Konzept X ist dann also erst X1. (Wobei Konzept X sich auch fortentwickelt, also eigentlich gar nicht X ist, sondern selber X2 und eventuell auch X3 bis Xn; und das „reine X“ ein vorgestellter, nie zu erreichender Ursprung ist. Egal, das geht jetzt in einer andere Richtung.) Das heisst aber auch, dass es sinnlos ist, die „Rückkehr“ zu Konzept X mit all seinen Facetten zu fordern. Vielmehr wäre es nötig, zu verstehen, was Bibliotheken zu Konzepten addieren, was sie streichen und was sie (wie) uminterpretieren, bevor sie in die bibliothekarische Diskussion aufgenommen werden. Erschwert wird dies dadurch, dass der bibliothekarische Diskurs selbstverständlich nicht einfach direkt ist, sondern untergründig (d.h. teilweise ausserhalb der Literatur und vor allem recht indirekt) stattfindet. (Ausser vielleicht gerade der um den „Dritten Ort“, der scheint mir sehr direkt über Robert Barth zu laufen, zumindest in der Schweiz.)

Stimmt die These, wäre dies keine Spezifika für Bibliotheken. Im Schulbereich gibt es ähnliches. In einer Untersuchung dazu, wie ein Makerspace in einer australischen Primary School tatsächlich wirkt und wie er Veränderungen in Lehre und Pädagogik herruft,12 verweisen Selena Nemorin und Neil Selwyn auf ein Schlagwort, dass in der Forschung zu Technik im Schulunterricht in den letzten Jahrzehnten aufgekommen ist: „Computer enters classroom – classroom wins“. Sie selber wenden das auf den untersuchten Makerspace an („3D-Printer enters classroom – classroom wins“). Die Aussage ist die, dass bei allen Versprechen, die unterschiedliche pädagogische Techniken (und Makerspaces sind ja nur der aktuell letzte Ausläufer dieser Techniken) machen, am Ende die Technik selber für die pädagogische Wirkung in der Schule fast egal ist. Was relevant ist, ist die Struktur der Institution Schule, die vorgibt, wie und was überhaupt gelernt werden kann und wird (z.B. die Vorgabe, das am Ende etwas benotet werden muss; dass entgegen aller Versprechen, dass in Makerspaces aus Fehlern mehr gelernt wird, als aus perfekten Projekten, in der Schule eine Kultur der Fehlervermeidung vorherrscht und die Schülerinnen und Schüler auch lieber keine Fehler machen wollen; das jedes Projekt in einen Stundenplan gehört etc.). Wieder und wieder hat sich dies bestätigt. (Und wer jetzt denkt: Dann muss man die Institution verändern – sollte nachdenken, ob die Institution wirklich einfach und vor allem radikal schnell geändert werden kann und sollte.)

Diskurse, und damit auch die „bibliothekarisierten Konzepte“ grenzen selbstverständlich ein, was eigentlich gesagt, gedacht und gemacht werden kann, z.B. wenn interkulturelle Bibliotheksarbeit immer auf den Bestand bezogen wird und ohne diesen nicht gedacht werden kann. Gleichzeitig – jetzt eine foucault’sche Standardaussage – sind Diskurse immer auch produktiv: Durch ihre „Eingrenzung“ bringen sie erst etwas hervor, über das in einem gemeinsamen Diskurs geredet, verhandelt und gestritten werden kann, z.B. das „Konzept interkulturelle Bibliotheksarbeit“ als Gegenstand von Auseinandersetzungen, als Thema von Planungen und Interpretationen der Bibliotheksarbeit. Eventuell wären also Diskussionen innerhalb des Bibliothekswesens nicht möglich, wenn Konzepte nicht zuvor „bibliothekarisiert“ würden.

Einige Schlussfolgerungen

Nehmen wir einmal an, die oben genannte These stimmt. Was ergäbe sich daraus?

  • Der Verweise auf Konzepte ausserhalb des Bibliothekswesens wäre immer prekär. Wenn Konzepte im Bibliothekswesen umgesetzt werden, sind sie dann schon „uminterpretiert“, d.h. stimmen nicht mehr oder nur zum Teil mit dem überein, was ausserhalb der Bibliotheken (im, wenn Luhmann Recht hat, weiteren Sozialen Systemen) unter diesem Konzept verstanden wird. Dies wäre aber normal. Akzeptiert man dies, wäre es einfacher z.B. mit anderen Einrichtungen, die „interkulturelle Arbeit“ machen, zu diskutieren und zusammenzuarbeiten, wenn man davon ausgeht, dass am Anfang geklärt werden muss, was alle beteiligten Institutionen darunter verstehen. Dabei würde es (zumindest erstmal) nicht darum gehen, dass eine Interpretation als richtig anerkannt und die andere(n) verworfen wird/werden. Vielmehr sind die Differenzen zu akzeptieren. (Gerade bei diesem Thema wird man z.B. auf Einrichtungen stossen, dies es weit politischer definieren und angehen; etwas, wovor Bibliotheken Angst zu haben scheinen.) Hier kann man wieder auf Luhmann verweisen, für den sich auch die Frage stellte, wie Systeme überhaupt untereinander „kommunizieren“. Für ihn war – theorie-immanent – klar, dass dies nur durch „Übersetzungen“ an den Ränder der Systeme geschehen kann, wobei die Stellen, wo Kommunikation stattfindet, immer Übersetzungen aus dem System heraus und in das System hinein übernehmen, d.h. Interpretationsleistungen übernehmen, die dazu führen, dass diese Übersetzungen weder mit dem Diskurs in einem anderen System noch gänzlich mit dem im „eigenen“ Feld übereinstimmen.
  • Es kann, wie gesagt, nicht darum gehen, definitorische „Reinheit“ des Konzeptes herzustellen, d.h. die Bibliotheken zu „zwingen“, den gesamten Inhalt von Konzepten „anzuerkennen“. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass jedes Konzept interpretiert wird. Davon ausgehend kann man aber immer fragen (a) was das jeweilige Konzept für Bibliotheken bedeutet (nicht unbedingt, was es bedeuten sollte, wenn man „vom Original“ ausgeht) und (b) wie viel vom „originalen Konzept“ noch im „bibliothekarisierten“ steckt. Gerade bei Konzepten, die man persönlich nicht mag und die eine oft schrecklich Stossrichtung haben („Kunde/Kundin“, „Stakeholder“, „Strategie“, „Innovation“, „Dritter Ort“) sollte man sich nicht einfach dazu hinreissen lassen, den Bibliotheken zu unterstellen, dass sie ungesehen alles übernommen haben, was dieser Begriff in anderen Zusammenhängen bedeutet. Oft steckt viel von dem, was abzulehnen wäre, noch in den Konzepten, aber man muss anhand dessen, wie die Bibliotheken agieren und reden, klären, was genau.
  • Die Bibliothekswissenschaft könnte die These akzeptieren und dann eine Aufgabe darin sehen, zu verstehen, was Bibliotheken unter bestimmten Konzepten verstehen und wo die Differenzen zu „den gleichen Konzepten“ in anderen Feldern liegt. Die Differenzen aufzuzeigen kann schon helfen, kritische Potentiale von Konzepten herauszuarbeiten. Was mit dieser These nicht mehr tragbar wäre, wäre davon auszugehen, dass man einfach Konzepte aus anderen Feld übertragen könnte. Es wäre auch nicht möglich, eine Terminologie aus der Geschichte eines Konzeptes aus einem anderen Feld aufzuzählen und dann dieses einfach für Bibliotheken vorzuschlagen („Philosophin Y hat 1923 den Begriff das erste mal gebraucht, Informatikerin Z 1965 dann übersetzt und ich verwende den jetzt so auf Bibliotheken“, „Im Silcon Valley wird das Konzept ABC so und so gebraucht, genau das übertrage ich jetzt auf Bibliotheken“ etc.). Diese Argumentationen schienen immer schon recht einfach und unterkomplex; akzeptiert man aber, dass Bibliotheken jedes Konzept uminterpretieren, muss man dies aber auch als unvollständig kritisieren. Dies zwänge dann auch dazu, erst einmal das Konzept darzustellen (also nicht z.B. nur aufzuzählen, wer es mal entworfen hat, sondern tatsächlich zu erklären, was es im Original beinhaltet), um dann seine Transformation beschreiben zu können.
  • Bei Fragen nach der Wirkung irgendeines Konzeptes ist zu unterteilen in „Wirkung nach ausserhalb der Gesellschaft“ und „Wirkung in die/für die Bibliotheken“. Dies sollte nicht einfach in eins fallen, aber es ist klar: Wenn ein Konzept erst „übersetzt“ wird, bevor es in Bibliotheken „ankommt“, hat seine Umsetzung auch immer eine Bedeutung für die Bibliotheken als Institutionen. Beispielsweise – jetzt einfach so entworfen, ohne empirische Prüfung – könnte ein Makerspace keine sichtbare Wirkung nach aussen haben, d.h. das Lernen überhaupt nicht verändern, aber nach innen, d.h. für die Bibliotheken, die einen Makerspace haben, als Ausweis der Zukunftsgewandtheit und als Einrichtung, welche die Arbeit in Bibliotheken interessanter macht, wirken.
  • Daran anschliessend wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft jeweils zu klären, welche Funktion die unterschiedlichen Konzepte für Bibliotheken haben. Dabei darf man sich nicht zu sehr von den Diskursen der Bibliotheken selber blenden lassen. Nur, weil die behaupten, dass sie mit irgendwas auf bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen reagieren, muss das nicht stimmen. Wenn, dann werden sie auf die „bibliothekarisierte“ Interpretation einer gesellschaftlichen Herausforderung reagieren, nicht direkt auf die Herausforderung. Aber es ist nie so einfach zu klären, warum gerade diese Herausforderung (Warum z.B. auf den angeblichen Trend zu gemütlichen sozialen Orten reagieren, aber nicht auf den Trend zum lokalen und gesunden Essen?) gewählt werden und wie diese Voraussetzungen die Identität der Bibliotheken beeinflussen. Denn, dass ist auch klar: Bibliotheken interpretieren Konzepte nicht um, um praktisch nur neue Begründungen für die gleichen Angebote zu finden (auch wenn dies manchmal den Eindruck hinterlassen kann), sondern sie verändern sich tatsächlich. Nie so radikal, wie angekündigt, aber doch schon langsam. Es wäre eine weitere Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese tatsächliche Veränderung zu untersuchen.

2 Corinna Haas, Rudolf Mumenthaler, Karsten Schuldt: Ist die Bibliothek ein Dritter Ort? Ein Seminarbericht. Informationspraxis 1 (2015) 2, https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/ip/article/view/23763

3 Was ja für einen Diskurs immer auch gut ist: Unklare Begriffe nutzen, unter denen viele sich unterschiedliches vorstellen, ohne aber die Differenzen klären zu müssen. Das erhöht… die soziale Kohärenz von Kommunikation.

4 Johannes Reitze: Was meinen Bibliotheken, wenn sie vom Dritten Ort reden? (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

5 Sandro Lorenzo: Bibliotheken und Integration (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

9 Marcel Hanselmann: LittleBits im Makerspace (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

10 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 666). 14. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2010

11 Herbert Altrichter; Katharina Maag Merki (Hrsg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (Educational Governance, 7). 2. Auflage. Wiesbaden: Springer, 2016

12 Selena Nemorin: The frustrations of digital fabrication: an auto/ethnographic exploration of ‚3D Making‘ in school». In: International Journal of Technology and Design Education, 2016. ; Selena Nemorin und Neil Selwyn: Making the best of it? Exploring the realities of 3D printing in school. In: Research Papers in Education, 2016.

Neo-70er. Oder: Bibliotheken werden nicht getrieben, sie erfinden nur ständig die 1970er neu. [Vortragsskript, 13. InetBib-Tagung, Stuttgart, 12.02.2016]

Vorbemerkung: Im Folgenden ein Skript meines Vortrags auf der diesjährigen, 13. InetBib-Tagung in Stuttgart. Der Vortrag war auf die Tagung und deren Motto – „Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?“ – zugeschnitten, also auf ein Treffen, auf der Bibliotheken vor allem darüber sprechen, wie sie an auf die Zukunft gerichteten Projekten arbeiten, verbunden mit einem Motto, dass in gewisser Weise eine unterschwellige Angst ausdrückt, von Entwicklungen ausserhalb der Bibliotheken „überholt“ zu werden. Er präsentierte eine These, mit der ich mich schon länger rumschlage und die zu dieser Tagung gewollt etwas quer stand. Diese These ist ein Diskussionsangebot, allerdings sind Tagung nicht der perfekte Ort für Diskussionen (ein grosser Saal, vorne die Vortragenden, alle anderen im Hörsaal schauen nach unten). Trotzdem rief der Vortrag einige Reaktionen hervor, die ich so von anderen Vorträgen nicht kenne. Ein ganzer Teil der Kolleginnen und Kollegen, vor allem auf den hinteren Reihen ganz oben (die man aber von der Position des oder der Vortragenden halt am Besten sieht) schienen nicht einverstanden zu sein, sondern sehr vor sich hinzugrummeln. Warum genau weiss ich selbstverständlich nicht. Aber es schien mir schon mehr Widerspruch als sonst. Gleichzeitig kamen nach dem Vortrag aber auch viel mehr Anwesende, als sonst, die etwas zu meinen Thesen zu sagen hatten. Auch das eher kurz, weil selbstverständlich auf einer Tagung auch die Kaffeepausen eher kurz sind. Aber offenbar haben meine Ausführungen ein paar Punkte getroffen, die zumindest Reaktionen auslösten.

Da nicht alle Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart anwesend waren und weil ich tatsächlich die These als Diskussionsangebot unterbreite möchte, bei der ich selber noch nicht sicher bin, was genau sie bedeuten (könnte), aber gleichzeitig überzeugt bin, dass die Beobachtungen, die ich im Vortrag darlegte, für die bibliothekarischen Debatten relevant sind, liefere ich hier einen über die Folien (hier) hinausgehenden Beitrag nach. Er ist als Skript geschrieben, das heisst, er folgt den Folien, die ich verwendete. Gleichzeitig ist es erst nach der Tagung geschrieben worden, insoweit stimmt es nicht mit dem gesprochenen Wort – dass sich auch auf die Tagung und die heftigen Diskussionen um einen kurz vorher publizierten Artikels eines gar nicht Anwesenden bezog – überein, aber mit dem, was ich sagen wollte.

 

Folie 1

Erinnerung

Die Frage der Konferenz ist: Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?

Gegenthese:

  • Bibliotheken haben das Gefühl getrieben zu werden, wissen aber nicht, dass sie sich das selber immer wieder neu erzählen.
  • Die meisten Debatten gab es schon mal.
  • Bibliotheken wissen nicht, was ’sie‘ schon gemacht und durchgestanden haben.

 

Guten Morgen. Ich möchte Ihnen heute einige Thesen vorlegen, die sich aus dem Motto der Tagung und meiner Forschungstätigkeit ergeben haben. Dabei müssen Sie beachten, dass ich als Bibliothekswissenschaftler viele Nachteile gegenüber Ihnen in den Bibliotheken habe, aber einen Vorteil: Ich muss nicht, wie die meisten der hier Anwesenden, Entscheidungen darüber treffen, was in einer konkreten Bibliothek passiert, was dort demnächst gemacht werden oder wofür Geld ausgegeben werden soll. Stattdessen kann ich am Rande meiner Arbeit über Bibliotheken und deren Entwicklungen in einer längeren Perspektive nachdenken. Eine Sache, die ich dabei noch recht oft mache, ist, die Bibliotheksliteratur aus der Vergangenheit anzuschauen. Nicht so sehr die von vor einigen hundert Jahren, sondern eher die der vergangenen Jahrzehnte. Dabei ist mir etwas aufgefallen, dass sich dann mit dem Motto dieser Tagung zu diesem Vortrag entwickelt hat.

Dabei muss Sie bitten, dass alles als provisorisch anzusehen, als Vorschlag zur Diskussion. Vielleicht übertreibe ich Entwicklungen, vielleicht beachte ich wichtige Dinge nicht. Aber ich denke, es ist besser, Ihnen das zur Diskussion vorzulegen, als es zurückzuhalten.

Sie erinnern sich, dass das Motto der Tagung lautet: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Es geht also darum, ob die Bibliotheken nicht ganz up to date sind, sondern Entwicklungen hinterher rennen oder ob sie selber bestimmen, was up to date ist. Ich möchte dem eine These gegenüberstellen. Mir scheint, dass Bibliotheken sehr gut darin sind, sich gegenseitig überzeugend zu erzählen, dass sie getrieben würden – was auch seine guten Seiten hat, weil es Bibliotheken offenbar zu ständigen Veränderungen antreibt. Dabei scheinen sie sich aber nicht im Klaren zu sein, dass die meisten der Debatten darüber, wie und warum Bibliotheken sich entwickeln sollen oder müssen, schon mindestens einmal geführt wurden und das die Bibliotheken diese Debatten auch durchgestanden haben.

Das, was wir heute im Bibliothekswesen als Entwicklungen diskutieren – und das auf verschiedenen Ebenen und Themengebieten –, scheint mir in vielen Fällen so ähnlich schon einmal in den 1970er Jahren diskutiert worden zu sein. Oft mit den gleichen Argumenten für die (vorgeblichen) Entwicklungen, manchmal bis hin zu den einzelnen Formulierungen, oft mit ähnlichen Lösungen; nur halt oft auf der Basis der damaligen technischen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Was ich Ihnen in diesem Vortrag aus Zeitgründen nicht zeigen werde, sondern als grosse These darbiete, ist die Behauptung, dass sich in den 1970er Jahren, innerhalb weniger Jahre, in den deutschsprachigen Bibliothekswesens – zumeist mit Ausnahme der DDR, die ein Thema für sich ist – das Denken der Bibliotheken über sich selber und über die Herausforderungen der Bibliothek radikal änderte. Sicherlich ging dies nicht sofort mit dem dem Jahreswechsel von 1969 zu 1970 einher, aber doch scheint es mir so, als ob die bibliothekarische Literatur der 1960er und 1950er Jahre noch sehr wie die der 1920er oder 1910er Jahre klingt, sowohl in Gestus als auch der Zielsetzung der bibliothekarischen Arbeit, der Wahrnehmung der Bibliothek – und sich dann in kurzer Zeit vom Ende der 1960er und bis vielleicht 1975, die bibliothekarischen Literatur rabiat änderte und sich Diskursformen etablierten, welche sich seitdem in der bibliothekarischen Literatur immer wieder finden. Mir scheint, die 1970er waren die Zeit dieses Bruches, nicht etwa die 1990er, auch nicht die späten 1940er (was man ja aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Jahren eher hätte erwarten können).

Falls Sie eine ähnlichen Bruch suchen, allerdings einen mit einer hohen Fallhöhe, wie ich Ihnen noch mehr in diesem Vortrag als Interpretation vorschlagen werde: Mich erinnert dieser Bruch in den Diskursen, auch wenn er viel kleiner ist, immer wieder an das Aufkommen der Strafgesellschaft, wie sie Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschreibt (Foucault 2001), wo innerhalb kurzer Zeit Ende des 18. Jahrhunderts sich auf einmal Formen des Denkens über die Steuerung, Kontrolle und Bestrafung von Menschengruppen durchsetzen, die dann dazu führten, dass auf einmal ganz viele unterschiedliche öffentliche Bauten ähnlich konzipiert wurden: das Gefängnis, die Schule, die Kaserne, die Fabrik, das Hospital. Selbstverständlich: Bibliotheken sind ein viel erfreulicheres Thema als die Gefängnisse, aber der Bruch scheint mir ähnlich erstaunlich zu sein und ähnlich plötzlich aufzutreten. (Was ich auch nicht tun werde, aber was eine interessante Forschungsfrage wäre, wäre zu schauen, ob ähnliche Brüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise dem Bildungswesen, der Krankenversorgung oder auch den Gefängnissen, zur gleichen Zeit stattfanden.)

 

Folie 2

Vorbemerkung I:

  • Vortrag soll diese These testen
  • Persönliche Note: Gesellschaftliche Veränderung nach dem Ende der DDR meine „Lebenserfahrung“ –> Eindruck, dass sich einige Veränderungen & Versprechen wiederholen –> vielleicht überbetont
  • Texte aus den 70er zum Bibliothekswesen vermitteln aber ähnliches Gefühl („gab es doch schon…“)

 

Zwei kurze Vorbemerkungen, die mir notwendig erscheinen: Zu meiner Biographie gehört, dass ich meine Jugend in den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt habe und zuvor auch den Zusammenbruch der DDR. Neben all dem Stress mit Nazis und Ostalgischen Menschen, neben all der Freiheit, die wir dann auf einmal hatten und den frei nutzbaren Platz, den wir in Ost-Berlin damals noch vorfanden, gibt es eine Erfahrung, die vielleicht Menschen, die damals nicht in Ostdeutschland lebten, so nicht bewusst ist, obwohl sie doch sehr prägend war: Die 1990er waren eine Zeit, wo sehr oft der Eindruck entstand – was auch mit den Personen zu tun haben wird, die damals „in den Osten gingen“, um zu erzählen, wie Demokratie und Kapitalismus und Politik so richtig geht –, dass sehr viele Versprechen und Ansätze sich wiederholten, die es mit einer (zumeist) anderen Terminologie schon in der DDR gegeben hatte. Sicherlich veränderten sich Dinge, aber viele blieben auch einfach gleich, zumindest in der Grundstruktur. Mir scheint, dass diese Erfahrung unter anderem meinen Blick auf Entwicklungen im Bibliothekswesen geprägt hat und vielleicht zu sehr geprägt hat. Das wäre vielleicht ein Ansatz, meine These wieder aufzuheben. Vielleicht ist das, was ich Ihnen präsentieren möchte, einfach überinterpretiert.

Und trotzdem scheint mir immer wieder, dass sich dieses Gefühl, auf die gleichen Diskurse und Thesen, wie sie auch heute besprochen werden, gestossen zu sein, immer wieder sich einstellt, wenn man die bibliothekarischen Texte aus den 1970er Jahren – die immer noch in den Magazinen der Bibliotheken stehen und leicht zugänglich sind – liest.

 

Folie 3

Vorbemerkung II:

Die 1970er Jahre waren eine Zeit voller gesellschaftlicher Umbrüche und Zukunftsvisionen (gleichzeitig: gesellschaftlicher Kontinuität)

  • politische Bewegungen wurden „erwachsen“ und wirkmächtig
  • die Gesellschaft wurde als „in radikaler Veränderung“ begriffen, inklusive vieler neuer Möglichkeiten
  • generelle Liberalisierung
  • neue Technik, neue Methoden (u.a. in Schulen, Betrieben)
  • viele „Irrwege“ wurden enthusiastisch begangen –> Überzeugung vieler, zu wissen, was die Zukunft bringt

 

Eine zweite Vorbemerkung für alle die, die – so wie ich – vielleicht die 1970er gar nicht selber erlebt haben: Die 1970er Jahre, gerade die frühen, waren in den deutschsprachigen Gesellschaften (wieder, mit partieller Ausnahme der DDR) Zeiten grosser gesellschaftlicher Umbrüche, deren man sich heute nicht mehr ganz gewahr ist. Damals wurde in weiten Teilen der Gesellschaft davon ausgegangen, dass sich grundlegend alles ändern würde. Es gab politische Bewegungen, innerhalb und ausserhalb der Parlamente, die eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft oder auch eine ganz andere Gesellschaft anstrebten und die in den 1970er Jahren sehr wirkmächtig wurden. Ich habe vor kurzem in einem Projekt in St. Gallen, einen eher konservativen, aber auch nicht dem konservativsten, Kanton, politische Dokumente aus dieser Zeit gelesen, wo sich die politischen Parteien zu geplanten Gesetzen äusserten. In diesen Schriften finden sie auch bei den damaligen konservativen Parteien – die SVP gab es damals in der heutigen Form noch nicht – Sätze der Art: „In einer Zeit wie heute, wo alles in Frage gestellt wird…“ und die Vorstellung, dass es gerade aktuell eine notwendige Hinterfragung von gesellschaftlichen Strukturen und Zielen gab – und das das gut wäre. Generell gab es in den deutschsprachigen Gesellschaften (ausser der DDR) einen unheimlichen Liberalisierungsschub. Alles wurde „modern“, aber immer auch mit der Überzeugung, dass es dadurch besser und freier würde oder zumindest werden sollte.

Dies gilt nicht nur für das Denken, sondern auch für Technik und Methodiken. Beispielsweise wurden im Schulbereich unheimlich viele Experimente mit damals neuen Lernmethoden und Lerngeräten angestellt, die zumeist später wieder eingestellt wurden. Aber es war zum Beispiel auch eine Zeit, wo ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob man „Lernmaschinen“ bauen sollte, die auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler reagieren und den Unterricht individueller machen würden. In den Fabriken wurden in diesen Jahren Computer, Rechenzentren und erste Roboter in grosser Masse eingeführt.

Wenn Sie Literatur der damaligen Zeit lesen, nicht nur im Bibliotheksbereich, sondern zum Beispiele gerade im Bildungsbereich oder auch politischen Programme, finden Sie unter anderem einen Diskurs von Behauptungen darüber, wie die Zukunft sein wird. Oft sind diese Texte sehr polemisch gegenüber dem, was angeblich bislang gewesen wäre; also ein Diskurs von „was bisher war, ist alt und unmodern“ und das, was in Zukunft kommen oder gelten wird, ist dagegen modern und es wird genau so und so sein. Es gab ein unheimliches Vertrauen darin, die Zukunft vorhersagen und auch planen zu können. (Diese Überzeugung gab es dann auch in der DDR, aber mit einem anderen Hintergrund.) Vieles davon hat sich als falsch herausgestellt, aber in den 1970ern wurde es noch mit sehr viel Überzeugung vertreten.

Das als Hintergrund.

 

Folie 4

Ein paar Beispiele für Dinge, die in den 1970ern im Bibliothekswesen diskutiert wurden – und heute sehr modern klingen

 

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Beispiele für Diskurse und Vorschläge zeigen, die Sie in der deutschsprachigen Bibliotheksliteratur der 1970er Jahre finden und die sich nicht so sehr von dem unterscheiden, was heute im bibliothekarischen Rahmen diskutiert wird. Sicherlich sieht die Technik heute anders aus, aber Sie werden hoffentlich sehen, dass die grundlegenden Vorstellungen und Ängste sehr ähnlich waren, zum Teil bis hin zur Terminologie.

Dabei sind das die Beispiele, die mir aufgefallen sind. Nicht alle, da wir nicht unendlich Zeit haben. Aber ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie systematischer Vorgehen, noch mehr Beispiele finden werden. Und das scheint mir wichtig: Ich habe diese Beispiele nicht aktiv gesucht, Sie sind mir eher zufällig aufgefallen, aber immer wieder neue und immer mehr, so dass ich irgendwann zur Grundthese meines Vortrags kam. Wie gesagt, ich präsentiere Ihnen die hier als Diskussionsvorschlag. Falls die Diskussion in Gang kommt, wäre es eine Aufgabe, nachzuschauen, ob ich einfach schon alles gefunden habe und überinterpretiere oder ob ich auf eine interessante Struktur gestossen bin.

 

Folie 5

VORWORT

Kürzlich wurde mir in den USA die Bibliotheken eines elitären College mit besonderem Stolz vorgezeigt: sie hat kaum mehr Bücher; wirkt wie ein Rechenzentrum; alles ist mikrofein und telegen gespeichert; die Lesegeräte und Leseterminals machen die Räume zu technologischen Gehirnzellen und Kommunikationsganglien, in denen Informationen sekundenschnell zirkulieren, clever abgerufen, und (…) inkorporiert werden. Statt Bibliothekarinnen müssten eigentlich Stewardessen das geistige Air-conditioning durchstrahlen. (…)

 

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einer Broschüre – Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion – beginnen. Genauer mit einem Zitat direkt aus dem Vorwort (Glaser 1976). Sie sehen den ersten Teil hier. Die Broschüre wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung, also der SPD-nahen Parteienstiftung, herausgegeben und behandelte die Frage, wie die Öffentliche Bibliothek in den zukünftigen Städten der damaligen BRD aussehen sollte. Das ist also keine Vorstellung irgendwo von einem gesellschaftlichen Rand, ganz utopisch von links oder so; sondern kommt direkt aus der politischen Mitte. Es ist eine „normale“ Schrift und keine Novität.

Was sehen wir in diesem Zitat? Lassen Sie mich auf ein paar Punkte hinweisen. Sie sehen die Vorstellung von einer zukünftigen Bibliothek, die von Technik bestimmt sein wird. Offenbar gegenüber der bisherigen Bibliothek: Die Bücher verschwinden, die Computer kommen und das Wissen wird über die Computer organisiert. Das ist eine Vorstellung, die Sie technisch aktualisiert heute auch im bibliothekarischen Diskurs finden. Die Angst oder Vorstellung, dass die Bücher und Medien verschwinden und die Bibliothek von der Technik geprägt werden wird. Sie wissen das selber. Aber was Sie hier auch sehen, ist, dass diese Vorstellung nicht mit dem Internet oder so begonnen hat. Sie ist schon älter. (Und vor den 1970er Jahren scheint sie so aber nicht in breitem Rahmen geäussert worden zu sein.)

Was Sie auch sehen ist die damit zusammenhängende Vorstellung, dass die Aufgabe der Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sich radikal ändern würde, so sehr, dass sich die Frage stellen würde, ob es dann überhaupt noch Bibliothekarinnen und Bibliothekare wären. Auch das ist eine Vorstellung, die Sie heute immer wieder finden, wenn über die Zukunft der Bibliotheken diskutiert wird: Was wird das Personal machen? Wie werden sich seine Aufgaben verändern? Auch dies scheint mir als Diskurs nicht erst vor Kurzem, sondern in den 1970er Jahren gestartet zu sein. Nur, wenn Sie darüber nachdenken, ist das irgendwann absurd. Wenn sich die Bibliothek und die Aufgaben des Personals in Zukunft so radikal verändern sollen, wie es teilweise behauptet wird, sollte das irgendwann auch einmal passiert sein. Scheint es aber nicht, sonst würde sich der Diskurs nicht wiederholen.

Was Sie an dem Zitat auch sehen, ist die Ausrichtung auf die USA. Das ist etwas, was Sie in den bibliothekarischen Texten in den 1970er und danach immer wieder finden: Beispiele von Bibliotheken aus den USA, die in dem Impetus vorgetragen werden, dass sie die Zukunft aller Bibliotheken, gerade in der BRD, Schweiz und Österreich beschreiben würden. Was auch interessant ist, weil sich dies nicht wirklich geändert hat. Sie kennen auch das aus den bibliothekarischen Diskussionen: Fast alle Beispiele, besonders wenn es darum geht, das die Technik die Medien ersetzen würde, kommen aus den USA (seltener aus Grossbritannien), obwohl sie auch aus vielen anderen Staaten kommen könnten (beispielsweise Australien, Kanada oder den europäischen Nachbarländern wie Frankreich.)

 

Folie 6

Lebt die Bibliothek bald? So, wie Walser sie sich als ‚wirkliche Bibliothek‘ wünscht: mit Abenduniversität, Diskussionsforum, Swimm-in, kritischer Buchberatung, Russischstunde, Tennismatch, Kulturkneipe? So wie Robert Jungk hofft: als Ort der Inspiration, die weniger perfekte Maschinen als phantasievolle Anreger – und Benutzer, die sich anregen lassen – braucht? Die Bibliothek als Treffpunkt für all diejenigen, die sich schreibend, zeichnend, photographierend, musizierend, und natürlich lesend ausdrücken wollen. Das Stockholmer ‚Kulturhaus‘ strebt ja derartiges an und ist in manchem sehr gelungen; viel frequentiert; ein Kommunikationsort par excellence.“

(Hermann Glaser, 1976: 6)

 

Schauen wir auf den zweiten Teil des Zitates. Was Sie hier sehen, ist die andere Region, aus der heute gerne Beispiele für die „Bibliothek der Zukunft“ zitiert werden, nämlich Skandinavien. (Genauer, eine Art „gefühltes Skandinavien“, das die Niederlande umfasst, aber nicht Island oder die Färorer-Inseln.) Auch das ist etwas, was in den bibliothekarischen Texten in den 1970er Jahren immer wieder finden. Es werden Beispiele von Bibliotheken angeführt, immer wieder bestimmte, die dann oft für eine bestimmte Zeit in mehreren Texten auftauchen. Auch diese Beispiele werden immer wieder mit dem Impetus vorgetragen, dass sie Bibliotheken die Zukunft darstellen würden. Jetzt – also wenn das Beispiel in einem Text gebracht wird – wäre das so, wie in Skandinavien Bibliothek gemacht würden – obwohl es eigentlich immer wieder bestimmte Beispiele sind, kaum einmal das ganzen Bibliothekswesens Dänemarks oder Schwedens, das dargestellt wird, insoweit ist nie klar, ob die Beispiele repräsentativ sind oder nicht –, bald wird das auch in Bonn, Zürich oder Wien so sein. So ungefähr die implizite Argumentation.

Und diese skandinavischen Bibliotheken, die Sie seit den 1970ern immer wieder in der bibliothekarischen Literatur als Vorbild finden, stellen immer wieder etwas ähnliches dar: Sie sind Bibliotheken, die über das Anbieten von Medien hinausgehen. Sie werden beschrieben als Einrichtungen, die soziale Funktionen erfüllen, gesellschaftliche. Einrichtungen, die Kommunikation für alle möglichen Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen. Einrichtungen, die flexibel sind, mit Räumen, die flexibel sind und in denen die Medien in den Hintergrund gerückt werden oder zumindest nicht die Hauptrolle spielen. (Aber oft gibt es Orte für damals neue Medien und Mediennutzungsweisen.) Oft sind diese Bibliotheken Teil von grösseren Einrichtungen – wie hier im Kulturhaus – oder umfassen selber andere Einrichtungen, beispielsweise Kinosäle, Discos oder Plattenabhörstationen. Und Sie finden in den deutschsprachigen, bibliothekarischen Texten auch immer wieder ein Erstaunen darüber, dass dies in einer Bibliothek möglich ist. Verbunden mit der Vorstellung, dass auch „unsere Bibliotheken“ so werden müssten, um modern zu sein.

Wenn Sie jetzt an das Dokk 1 in Aarhus (oder, ein paar Monate zurück, an die Centrale Openbare Bibliotheek Amsterdam) denken, und daran, wie diese in der bibliothekarischen Literatur dargestellt und besprochen wurde, finden Sie bestimmt zumindest einige Parallelen. Auch an dieser Einrichtung wurde hervorgehoben, das sie offen, flexibel und ein Kommunikationsort sei, das die Medien in den Hintergrund gerückt seien und so weiter. Und mir scheint, dass es auch nicht zufällig ist, dass diese Bibliothek eine dänische (oder niederländische) ist. Obwohl dies immer wieder als neu dargestellt und wahrgenommen wird, scheint sich der Diskurs um skandinavische (Öffentliche) Bibliotheken in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur kaum geändert zu haben. Auch das ist erstaunlich: Entweder stimmt der Diskurs nicht oder die Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern verändern sich nicht. Eine Vermutung wäre, dass es eher ein kultureller Unterschied ist, dass also Bibliotheken in Skandinavien einfach so konzipiert werden und in den deutschsprachigen Ländern eher nicht oder zumindest nicht so; aber sie erscheinen in der deutschsprachigen Literatur immer wieder neu als Zukunft.

 

Folie 7

Beispiel Schulbibliotheken

  • Projekt 1970-1973 (Uni FF/M; Bertelsmann-Stiftung) zur „modernen Schulbibliothek“

–> „Bestandsaufnahme“: „alte Schulbibliotheken“ wurden verworfen, weil… alt und nicht modern, also nicht zeitgemäss (so die Behauptung, ohne Nachweis)

–> Entwurf „moderner Schulbibliotheken“ (a) alle Medien, alle modernen Medienformen, (b) zugänglich und immer offen, (c) Zentrum der Schule und in Kontakt mit den LehrerInnen, (d) Aufgreifen „moderner Pädagogik“ (Individualisierung des Lernens, Projekte / Arbeitsgruppen, Demokratisierung / Kritikfähigkeit)

 

-> Später übergegangen in das deutsche Bibliotheksinstitut, Zeitschrift „die schulbibliothek“ (1974-2000) -> heute „dbv-Kommission Bibliothek und Schule“

 

Ein weiteres Beispiel, das mit einem meiner Forschungsschwerpunkte zu tun hat, den Schulbibliotheken. Wenn Sie sich die Geschichte der bibliothekarischen Diskussion über Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum anschauen, kommen Sie nicht daran vorbei, das am Ende alles auf ein Projekt (und ein Buch) zurückverweist, welches am Anfang der 1970er stattfand. Das Projekt, gar nicht im bibliothekarischen Rahmen angesiedelt, sondern von einem Literaturwissenschaftler, Klaus Doderer, an der Goethe-Universität Frankfurt am Main geleitet, hatte das Ziel, eine Infrastruktur für moderne Schulbibliotheken aufzubauen.

Wenn Sie das Buch aus dem Projekt (Die moderne Schulbibliothek, Doderer et al. 1970) lesen, sehen Sie sehr schnell, wie dabei vorgegangen wurde. Das Projektteam stellte sehr hohe Anforderungen dafür auf, was eine moderne Schulbibliothek zu sein hätte. Diese Anforderungen sind nicht wirklich begründet, sondern im besten Falle hergeleitet: Moderne Schulen hätten moderne Schülerinnen und Schüler mit modernen Methoden zu unterrichten, daraus ergäbe sich auch eine bestimmte Form von Schulbibliotheken. Das ist ganz offensichtlich, wenn Sie das Buch lesen: Es gibt kaum Aussagen oder Studien oder Herleitungen, auf denen sich die Vorstellungen davon, was moderne Schulbibliotheken sein müssten, aufbaut. Es wird einfach behauptet und darauf verwiesen, dass es in anderen Ländern (vor allem den USA, aber es finden sich auch Bilder aus der Sowjetunion und anderen Staaten) so sei.

Die Behauptung ist halt, dass dies modern sei. Dabei gab es solche Behauptungen vorher nicht. Die Schulbibliotheken, welche zuvor in der bibliothekarischen Literatur besprochen wurden, wurden zumeist ganz anders dargestellt, zumeist als Lesebibliotheken, die von Lehrpersonen betreut wurden. Das Buch und das Projekt machen da einfach einen Bruch. (Und zumindest für die Schweiz ist es sehr einfach zu zeigen, dass dann im Nachhinein den Vorstellungen in diesem Buch im bibliothekarischen Diskurs gefolgt wurde. 1973 erschien eine Broschüre des Schweizer Bibliotheksdienstes (1973), die mit einem schweiz-spezifischen Twists diese Vorstellungen aufgreift, obwohl die Schriften zu Schulbibliotheken in der Schweiz zuvor nicht von solchen „modernen Schulbibliotheken“ sprachen.)

Danach besuchte das Projektteam eine ganze Reihe von Schulen und bewertete die Schulbibliotheken dort immer aus dem von ihm selbst aufgestellten Blickwinkel. Alle fielen durch und das wird im Buch so dargestellt, das all diese Schulbibliotheken als „noch nicht modern“, als „zurückgeblieben“, als „unmodern“ besprochen werden; also immer mit der Vorstellung, dass es möglich ist, zu sagen, was einen gute Schulbibliothek sei und das jede Schulbibliothek über kurz oder lang modern werden wird, also das man den „jetzigen Zustand“ quasi auf einer Zeitachse abtragen kann. Auch das ist eine Wahl: Man hätte ebenso fragen können, warum die Schulbibliotheken so sind, wie sie vorgefunden wurden, ob sie vielleicht so ihren Zweck erfüllen, ob es vielleicht so von den Schulen gewünscht wurde, ob vielleicht die Vorstellung von „modernen Schulbibliotheken“ nicht ganz richtig sei. Aber die einzige Begründung, die Sie im Buch finden, ist: Die Schulbibliotheken sind nicht so, wie sie sein sollen, also sind sie unmodern, veraltet. Und dieses Denken setzt sich meiner Meinung nach bis heute in den Texten über Schulbibliotheken fort, wenn auch die Terminologie etwas anders ist. Das ist für Deutschland nicht ganz so überraschend. Aus dem Projekt selber ging über mehrere Transformationen die heutige Expertengruppen im dbv hervor. Aber es gilt auch für die Schweiz (mit ihren Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) und zumindest zum Teil Österreich.

Und erstaunlich ist das, wenn Sie sich anschauen, was eigentlich in dem Buch von 1970 von einer „modernen Schulbibliothek“ erwartet wird: Sie soll ein Zentrum der Schule sein, alle Medienformen enthalten und wie eine Öffentliche Bibliothek funktionieren (mit Katalog als Nachweisinstrument, mit bibliothekarisch ausgebildetem Personal und allem), sie soll immer offen sein und vor allem „moderne Formen“ der Lernen und Unterrichtens unterstützen. Gerade diese „modernen Formen“ sind oft nur kurz beschrieben: Unterricht in der Bibliothek, Projekte und Arbeitsgruppen sowie Individualisierung. Und das ist genau das, was Sie auch heute in der bibliothekarischen Literatur über Schulbibliotheken finden. Wenn Schulbibliotheken zum Beispiel in Abschlussarbeiten beschrieben werden, merken Sie oft, das genau dieses Denken dahinter steht: Es gibt diesen „modernen Standard“, der angelegt wird. Wenn er nicht eingehalten wird, werden die Schulbibliotheken als defizitär beschrieben und oft Programme aufgestellt, wie sie zu „richtigen“ Schulbibliotheken werden können. Dabei, nochmal, könnte man auch Anderes fragen, zum Beispiel ob bestimmte Schulen nicht andere Schulbibliotheken haben wollen, ob die bibliothekarischen Vorstellungen wirklich stimmen und so weiter. Aber das wird nicht getan und gerade bei diesem Beispiel haben Sie mit diesem Buch auch eine Quelle, die ich Ihnen ans Herz legen würde. Hier scheint mir sehr klar sichtbar, wie ein Diskurs quasi „aus dem Nichts“ auftaucht und dann immer wieder als „richtig“ reproduziert wird. Erstaunlich ist dabei, dass er auch heute zumindest im bibliothekarischen Rahmen als modern gilt, obwohl er sich seit einigen Jahrzehnten kaum verändert zu haben scheint. Wie kann es den sonst sein, dass eine „moderne Schulbibliothek“ 1970 fast genauso beschrieben wird, wie heute? Das ist doch schon einige Generationen von Schülerinnen und Schülern her.

(Erwähnt werden muss allerdings, dass Klaus Doderer, der Projektleiter, offenbar ein solches polemisches Vorgehen, bei dem alles, was bislang war, über einen Kamm geschoren und als „unmodern“ und veraltet bezeichnet, dagegen ein „neues Denken“ als richtig und modern beschrieben wird, auch bei der Diskussion über Jugendliteratur an den Tag gelegt hat. Zumindest behauptet das Sonja Müller (Müller 2014) in ihrer Arbeit über die Theoriedebatten zum Jugendbuch in den 1950ern und 1960ern. Diese hätten sich von den Vorstellungen der Jahrzehnte vorher – Stichwort „Schmutz und Schund“ – entfernt, wären aber dann in den 1970ern ohne grosse Differenzierung mit den Diskussionen aus den 1910er zusammengebracht und als veraltet abqualifiziert worden, unter anderem von Doderer.)

 

Folie 8

Schule und berufliche Ausbildung werden künftig für immer mehr Menschen nur die erste Phase im Bildungsgang sein. Denn schon heute zeigt sich, dass die in dieser ersten Bildungsphase erworbene Bildung den später an den einzelnen herantretenden Anforderungen selbst dann nicht genügen kann, wenn diese Bildung auf Tiefe, Breite und die Erfüllung erwarteter Bedürfnisse angelegt ist. (…) Immer mehr Menschen müssen durch organisiertes Weiterlernen neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben können, um den wachsenden und wechselnden beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Der Begriff der ständigen Weiterbildung schliesst ein, dass das organisierte Lernen auf spätere Phasen ausgedehnt wird und dass sich die Bildungsmentalität weitgehend ändert.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 51)

 

Noch ein Text, den ich Ihnen gerne zeigen möchte. Das ist kein direkter bibliothekarischer Text, sondern ein bildungspolitischer. Aber es ist einer, auf den sich Bibliotheken in den 1970ern ungefähr so bezogen, wie sie sich vor ein paar Jahren noch auf die PISA-Studien bezogen. Der Text, Strukturplan für das Bildungswesen, ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Der Deutsche Bildungsrat wurde Ende der 1960er von Bund und Ländern eingerichtet, mit Vertreterinnen und Vertretern aus allem damals im deutschen Bundestag vertretenden Parteien, um das zukünftige Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu planen, auf Jahrzehnte hin. Ich sagte vorher, dass diese Zeit eine war, in der die Gesellschaft als in radikaler Modernisierung begriffen wurde, und im und um den Bildungsrat herum hat sich das damals sehr zugespitzt. In seiner Hochzeit fokussierten sich um den Bildungsrat – und die Bildungsreformen in einigen Bundesländern wie Hessen – die Debatten darum, was das Bildungssystem in einer modernen deutschen Gesellschaft tun sollte. Und das hatte Auswirkungen. Das heute in den Schulgesetzen steht, dass die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen, demokratisch orientierten und selbstbewussten Personen werden sollen, wäre zum Beispiel ohne den Bildungsrat wohl nicht durchgesetzt worden. Durch den Bildungsrat wurden die Gesamtschulen erst möglich (auch wenn am Ende nicht, wie sich damals von vielen erhofft wurde, damit die Gymnasien abgeschafft wurden). Der Bildungsrat und seine damalige Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der Strukturplan war quasi das Meisterstück der Rates und unter anderem Bibliotheken nutzten diesen, um sich in den 1970er Jahren zu orientieren.

Ich habe Ihnen das Zitat hier mitgebracht, weil es zeigt, wie sehr sich nicht nur die Aussagen, sondern auch die Argumente und teilweise Formulierungen der damaligen Zeit und der heutigen Debatten gleichen. Wenn Sie dieses Zitat lesen, ohne auf die Jahreszahl zu achten, werden Sie merken: Dass ist die gleiche Argumentation, wie sie in den letzten Jahren für das „Lebenslange Lernen“ vorgebracht wurde. Dieses sei notwendig, weil die Menschen in der Schule und Erstausbildung nur noch eine Grundbildung erhalten würden, die nicht ausreichen würde, sich in einer ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Bislang sei das nötig gewesen, jetzt sei es anders. Sie merken schon, ganz kann das Argument nicht stimmen. Wenn es schon in den 1970ern nicht ausreichend war, in Schule und Ausbildung zu lernen, kann es in den 2000er Jahren nicht neu sein.

Wichtig ist mir hier, dass der Bildungsrat ungefähr die gleichen Schlüsse zieht, wie sie vor einigen Jahren die Bibliotheken sehr oft in den bibliothekarischen Texten vertreten haben: Wenn jetzt (halt immer von der Zeit aus gesehen, in der das postuliert wird) sich die Situation mit dem Lernen ändert, muss die Weiterbildung nach der Erstausbildung organisiert und die Mentalität der Gesellschaft geändert werden. Oder anders: Die Menschen müssten jetzt auch gerne über die Erstausbildung hinaus lernen. Ansonsten würden sie und damit auch die Gesellschaft untergehen. Wie gesagt: Ganz kann das nicht stimmen, denn sonst wäre die Gesellschaft entweder schon untergegangen (was sie ganz offensichtlich nicht ist), weil sich die Menschen in den 1970ern oder 1990ern nicht ausreichend genügend sich weitergebildet haben oder aber es ist nicht so, dass es in den 2000er Jahren neu ist und dann stellt sich die Frage, warum es in den 2000ern so überzeugend klang.

Trotzdem finden Sie sowohl in bibliothekarischen Texten der 1970er (aber nicht wirklich vorher) als auch der letzten Jahre, Bibliotheken, die sich gerade auf dieses Argument beziehen und davon ausgehen, jetzt Einrichtungen werden zu müssen, welche die individuelle Weiterbildung der Menschen ermöglichen. Daraufhin wurden Räume umgestaltet, Bestände aufgebaut, Beratungsangebote eingerichtet und so weiter. Mein Argument ist auch gar nicht, dass es falsch wäre, in Bibliotheken individuelle Weiterbildung zu ermöglichen. Mein Argument ist, dass sich die Begründung für diese bibliothekarischen Strategien wiederholen und das wir im Bibliothekswesen bislang nicht darüber nachdenken, wieso. Mir scheint, dass das Argument im Zitat vielleicht doch nicht so stark ist, wie es scheint (was ein Grund dafür sein könnte, dass die Angebote nicht von so vielen Menschen angenommen werden oder anders benutzt werden, als sich das Bibliotheken erhoffen).

 

Folie 9

Mit dem Beispiel ‚Informationsverarbeitung‘ ist das bisher ungelöste Problem der ’neuen Fächer‘ aufgeworfen. Es ist offensichtlich, dass die Schule nicht automatisch entsprechend jeder neuen wissenschaftlichen und technischen Disziplin neue Schulfächer einrichten kann. Ebenso wenig kann sie neue Fächer entsprechend allen Anforderungen einrichten, die sich aus dem Alltag ergeben, so unbestreitbar es ist, dass dem Kind durch die Schule geholfen werden muss, sich im Alltag zurecht zu finden.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 69)

 

Aus dem gleichen Strukturplan, den Sie in seiner Wirkung und Verbreitung wirklich nicht unterschätzen sollten, wie ich schon sagte, habe ich Ihnen noch ein Zitat mitgebracht, dass leider nicht ganz so gut passt. Es kommt aber aus einer Argumentation, die Ihnen vielleicht erstaunlich aktuell vorkommt. Ich fasse die einmal zusammen: Die Vorstellung im Strukturplan ist, dass es jetzt, also in den 1970ern, zu einem Wachstum von elektronischen Geräten, elektronischer Datenverarbeitung und Lernmaschinen kommt. In der Zukunft würden immer mehr Informationen vorliegen und durch die elektronische Datenverarbeitung zugänglich gemacht. Es wäre jetzt, also in den 1970ern, ein Punkt erreicht, wo ein einzelner Mensch nicht mehr alle diese Informationen bewältigen könnte. Es gäbe einfach zu viele und ständig würden mehr produziert werden. Daraus ergibt sich, dass die Menschen – in diesem Zitat geht es vor allem um die Kinder und Jugendlichen in den Schulen – die Fähigkeiten erlernen müssten, sich in dieser Übermasse von Informationen zurechtzufinden. Das war alles auch mit dem Anspruch verbunden, dass die Fähigkeiten zur kritischen Reflexion über die Informationen – insbesondere über die Produktionsbedingungen der Informationen – damit einhergehen müssten. Im Strukturplan wird diskutiert, ob dafür ein extra Schulfach eingerichtet werden sollte, was abgelehnt wird. Vielmehr sei es eine Querschnittaufgabe. Wenn die Menschen aber diese Fähigkeiten nicht lernen würden, würden sie von den Informationen überwältigt und die Gesellschaft sei nicht mehr in der Lage, sich selber zu steuern.

Ich weiss nicht, wie Sie das sehen; aber für mich klingt diese Argumentation fast genauso, wie die für die ganzen Debatten und Projekte um „Informationskompetenz“, die in den letzten Jahren in Bibliotheken geführt wurden und zu unzähligen Angeboten, Strukturen und Personalstellen geführt haben. Man könnte diskutieren, wie wichtig heute noch die Frage der kritischen Reflexion genommen wird oder ob die Debatte nicht heute einen anderen Fokus hat. Aber ansonsten scheint mit das doch erstaunlich. Wenn Bibliotheken heute über „Informationskompetenz“ sprechen, ist die implizite Vorstellung, dass es die Verbreitung des Internets wäre, die es notwendig machen würde, diese Fähigkeiten zu lehren und das es das Internet wäre, das zu zu vielen Informationen geführt hätte, während es zuvor eher zu wenig Informationen gegeben hätte. Aber dann finden Sie die gleiche Argumentation schon in den 1970ern. Für mich stellt sich die Frage, wie das sein kann. Ist es vielleicht so, dass die Gefahr in den 1970ern gesehen wurde, die Menschen dann aber doch mit den ganzen Informationen klar kamen? Was würde das für die heutige Situation bedeuten?

Was stimmt ist, dass heute Bibliotheken eher aus diesen Vorstellungen heraus Angebote entwickelt haben. Ich muss Ihnen die ja gar nicht aufzählen, Sie alle kennen garantiert mindestens drei Standards für Informationskompetenz und so weiter. In den 1970ern finden Sie diese Ideen aber auch schon in bibliothekarischen Texten, nur halt mehr in pädagogischen.

Wieder geht es mir hier nicht darum, zu diskutieren, ob die Vorstellung falsch wäre. Mein Argument ist wieder, dass sich die Vorstellung wiederholt, ohne das dies bislang diskutiert oder wahrgenommen wird.

 

Folie 10

Beispiel Benutzer/innen/forschung

  • Projekt Federführung Uni HH (BMBF) und Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (neu gegründet) (1970-1976)

–> Frage: Wer nutzt die Bibliothek wie? Kann man ein Instrument erstellen, um das kontinuierlich in den Bibliotheken zu erfassen?

–> Methoden: Umfragen und Beobachtungen („moderne Forschungsmethoden“)

–> Ziel: Verstehen, wer in die Bibliothek kommt; Angebote der Bibliotheken danach ausrichten

 

–> Instrument (Fragebögen und Auswertung) waren „zu kompliziert“

–> Daten liegen vor aus einigen Stadt- und Universitätsbibliotheken

 

Noch ein letztes Beispiel, die Forschung zu Nutzerinnen und Nutzern. Das ist etwas, was wir an der HTW Chur in den letzten Jahren versucht haben, anzustossen. Es erschien uns logisch; das, was bisher gemacht wird, sind oft Befragungen und Umfragen, dabei könnte man viel mehr Methoden anwenden. Wir haben das vor allem über Bachelorarbeiten und in Projektkursen machen lassen, aber mit der Überzeugung, etwas Neues zur Bibliotheksforschung beizutragen. Und dann sind mir diese drei Bücher untergekommen (Heidtmann 1971, Fischer 1973, Fischer 1978) – mit quasi genau der gleichen Idee, vielleicht sogar etwas weiter. Anfang der 1970er gab es offenbar die Vorstellung, dass es in den Bibliotheken nicht genügend Wissen über die tatsächliche Nutzung gab und das dies mit damals modernen Forschungsmethoden angegangen werden könnte. Dabei sind vor allem die beiden Bücher von Fischer (1973, 1978) interessant, weil die ein Projekt beschreiben, dass damals vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, und gleich mit dem Anspruch antrat, ein Instrument entwickeln zu können, dass von den Bibliotheken selber angewandt werden sollte. Die Idee war, dass die Bibliotheken Umfragebögen erhalten sollten, die sie dann regelmässig selber einsetzen uns auswerten könnten und dabei auch vergleichbare Werte erhalten würden. Im ersten Buch (Fischer 1973) wird das noch sehr ausführlich dargestellt: Die Bibliotheken erheben die gleichen Werte, dann vergleichen sie sich untereinander und können daraus lernen.

Auch das ist nicht ungehört in den letzten Jahren im Bibliothekswesen. Der jetzt eingestellte BIX hatte am Ende die gleiche Vorstellung, nur kam er aus einer anderen Richtung (halt der BWL, im Gegensatz zur Sozialwissenschaft wie bei Fischer). Aber auch seit den 1970ern scheint diese Idee zu bestehen, dass der regelmässige Vergleich von Daten, die in Bibliotheken erhoben werden, einen Lerneffekt darstellen könnte und für die Steuerung der Bibliotheken wichtig wäre. Deshalb finde ich es auch interessant, dass weder dieses Projekt noch der BIX lange über die Projektförderung hinaus bestanden haben. Das Projekt in den 1970er wurde, so heisst es im späteren Buch (Fischer 1978) eingestellt, weil sich herausgestellt hätte, dass das Umfrageinstrument zu komplex für die Bibliotheken sei. Was das genau heisst oder was wirklich passiert ist, steht da nicht. Mir scheint die Parallele aber beachtlich.

Das dritte Buch (Heidtmann 1971) ist dann für mich persönlich eine Erkenntnis gewesen. Das ist eine Studie zur Nutzung der Bibliothek der Technischen Universität in Berlin, ebenso durchgeführt mit damals modernen Umfragemethoden. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass wir grundsätzlich etwas Ähnliches in den letzten Jahren in Chur versucht haben. Das Projekt in Berlin wurde von Frank Heidtmann geleitet, der vielleicht den meisten von Ihnen nichts sagt. Aber: Das war mein Doktorvater, er hat schon meine Magisterarbeit betreut gehabt und ich habe auch bei ihm studiert. In all den Jahren aber ist diese Studie und die ganze Richtung Nutzungsforschung nicht aufgekommen. Wir haben damals in den 2000ern bei ihm stattdessen Buchillustrationsgeschichte gelernt. Erst jetzt, einige Jahre nach meiner Promotion, bin ich überhaupt auf das Buch gestossen. Was mir das gezeigt hat: Offenbar gibt es Themen und Vorschläge, die sich in der bibliothekarischen Literatur wiederholen, ohne dass die, die sich einmal mit einem Thema beschäftigt haben, es unbedingt als notwendig erachten, darauf hinzuweisen. Sicherlich, dass ist alles ein sehr grosser Zufall, dass ich jetzt ähnliches versucht habe, wie mein Doktorvater, ohne das mit zu bekommen. Aber es hat mich schon irritiert. Gerade als Forschender denkt man ja gerne, man wäre am Puls der Zeit, weit vorne. Aber offenbar stecke ich erstmal in den gleichen Denkstrukturen fest. Offenbar ist solches „Vergessen“ im Bibliothekswesen normal und nicht reiner Zufall. Aus solchen „Normalitäten“ kann man am Besten heraustreten, wenn man sie sich bewusst macht.

 

Folie 11

Andere Themen (aus Zeitgründen ausgelassen):

  • Bibliotheksarchitektur (flexibel, offen, kommunikativ)
  • Grosse Infrastrukturprogramme, die auf „die technischen und ökonomischen Veränderungen reagieren“ sollen (Fachinformationszentren)
  • Offen Wissenschaft (Wissenschaftsläden)

 

  • Frage, ob „die neuen Medien“ die Bibliothek obsolet machen
  • Vorstellung, dass die Bibliothek potentiell dem Ende zugeht

 

Es gäbe noch eine ganze Reihe von anderen Beispielen, die ich aus Zeitgründen auslasse. Dabei hätte ich gerade zur Bibliotheksarchitektur einiges zu sagen, weil mich das sehr fasziniert, dass die Anforderungen an Bibliotheksräume in den 1970ern fast gleich klingen wie die Anforderungen, die heute in der Bibliotheksliteratur genannt werden – weil das wieder die Frage aufwirft, wie das sein kann. Hat sich die Vorstellung, was „flexibel“ und „offen“ heisst, so sehr verändert? Wurden die Bibliotheken in den 1970ern dann doch nicht so gebaut, wie gefordert? Oder wurde sie in der Zwischenzeit wieder „unflexibler“ gemacht – und wenn ja, wieso?

Wichtig ist mir nur noch mal zu sagen, dass das alles Beispiele sind, die mir persönlich im Rahmen anderen Projekte oder allgemeiner Lektüre untergekommen sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass es noch einige mehr gibt, die man mit einer systematischen Lektüre finden würde.

 

Folie 12

Warum gibt es diese „Wiederholungen“? (Noch ein paar Thesen)

 

Ich möchte in diesem Teil des Vortrags ein paar Thesen dazu vorstellen, warum es diese Wiederholungen gibt. Wenn Sie von den Beispielen nicht davon überzeugt sind, dass sich dies zumindest zu untersuchen lohnt, wird Sie dieser Teil nicht interessieren. Ich denke aber, gerade wenn es um Bibliothekswissenschaft geht, ist es auch eine Aufgabe, zu schauen, ob diese auffälligen Gemeinsamkeiten irgendwie erklärt werden können und nicht nur Zufälle sind. Mir scheint schon klar zu sein, dass es hier nicht um irgendwelche Versäumnisse oder Verheimlichungen geht, also das irgendwer bestimmte Sachen verstecken wollen würde. Wir gesagt: Die Beispiele finden sich alle in der bibliothekarischen Literatur, die heute noch in Bibliotheken steht. Ich habe vor allem Bestände aus Zürich und Berlin benutzt, aber ich bin mir sicher, dass sich auch in Bibliotheken anderer Städte noch genügend dieser Literatur finden lässt. Wenn Sie daran Spass haben, können Sie ja mal schauen, was bei Ihnen noch im Magazin steht.

Zu diesen Thesen ist allerdings zu sagen, dass sie noch lange nicht fertig durchdacht oder ausformuliert sind. Es ist eher so, dass ich je nach Tag, Stimmung und Thema mal zu der einen oder anderen These neige. Sie werden auch merken, dass die Thesen sehr grob sind. Ich präsentiere sie Ihnen, um sie für die Diskussion vorzulegen, auch um Sie gemeinsam zu testen, wie sich das ja für einen wissenschaftlichen Diskurs gehört. Aber schon, dass sich die Thesen je nach Tagesstimmung ändern, zeigt, dass noch keine theoretisch gesättigt ist.

 

Folie 13

Die Nietzsche-These:

  • Die ewige Wiederkehr des Gleichen (d.h. das ist normal und wird immer wieder passieren)
  • Aber was ist mit den Unterschieden (z.B. dem Ziel Demokratisierung?)

 

Die erste These (und die muss ich wohl haben, wenn ich in Graubünden arbeite) lehnt sich an der Vermutung an, die Sie bei Nietzsche finden. Selbstverständlich, bei Nietzsche geht es im Zarathustra um Fragen der menschlichen Geschichte und die Konstitution des Menschen (Nietzsche 1994), mir geht es darum zu verstehen, warum sich Behauptungen, Vorstellungen und Ansätze in der bibliothekarischen Diskussion seit den 1970ern wiederholen. Das sind sehr unterschiedliche Fallhöhen. Trotzdem finden Sie, sehr wirkmächtig, bei ihm die These, dass sich die Geschichte in Zirkeln wiederholt, dass es also normal ist, wenn sich Situationen und Behauptungen, die es schon mal gab, immer wieder neu finden. Wenn das stimmt, sind diese Wiederholungen nicht viel mehr, als eine normale Entwicklung und könnten auch als solche verstanden werden. Wir müssten dann auch sehr einfach vorhersagen können, welche Themen und Argumentationen als nächstes in der bibliothekarischen Diskussion auftauchen werden.

Zum Beispiel könnte man vermuten, dass einfach jede neuere Technik, die sich verbreitet, dazu führt, dass eine Anzahl von Beiträgen erscheinen, die postulieren, dass die Menschen jetzt die Fähigkeiten lernen sollten, diese Technik zu beherrschen, ansonsten würden sie von der Technik beherrscht. Dann wären die Debatten um „Informationskompetenz“ nur eine weitere Variante dieses Spiels. (Und wenn Sie sich erinnern, hat ironischerweise gerade Nietzsche im Bezug auf Schreibmaschinen ähnliches angedacht.)

Manchmal könnte man dies vermuten, aber es überzeugt auch nicht ganz. Warum passiert das bei bestimmten Techniken (Informationsverarbeitung, Internet, vielleicht auch Schreibmaschinen), aber anderen nicht. Oder habe ich einfach Debatten um die Auswirkungen der Videogeräte übersehen? Fanden die einfach nur ausserhalb des Bibliothekswesens statt? Und selbst dann, warum finden sich bestimmte Themen in diesen „Wiederholungen“ nicht mehr. Wo ist zum Beispiel die breite Debatte um die Demokratisierung und Erhöhung der Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen geblieben, die in den 1970ern die Debatten um die Nutzung der Informationsverarbeitungstechnologien mit prägte? Das gibt es bei den Debatten um die Informationskompetenz ja quasi nicht mehr oder nur sehr am Rande, als Kritik, das es fehlt, unter dem Stichwort „critical information literacy“, was aber in der deutschsprachigen Literatur so gut wie nicht beachtet wird.

Ich zumindest, und ich weiss nicht, wie es Ihnen da geht, bin nicht wirklich überzeugt. Zumal mir scheint, dass die Wiederholungen mit den 1970ern beginnen und nicht „schon immer“ zu finden sind.

 

Folie 14

Die Hegel/Marx-These:

Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Marx: 18 Brumaire…)

  • Sind die heutigen „Wiederholungen“ Farce, weil nicht (mehr) historisch gedacht wird? Kann man das verhindern? Sollte man es verhindern?

 

Eine andere wirkungsmächtige These über Wiederholungen in der Geschichte ist die, die auf die auf dieses Zitat aus der „18 Brumaire Napoleons“ von Marx zurückgehen. (Marx 1965) Auch hier ist die Fallhöhe wieder sehr unterschiedlich. Marx wollte, auf der Basis der Hegelschen Philosophiegeschichte, den, nun sagen wir mal: Verrat Napoleons an der Französischen Revolution untersuchen, Hegel ging es um antike griechische Philosophie. Mir geht es um Wiederholungen im bibliothekarischen Diskurs. Da steht nicht so viel auf dem Spiel. Und Sie wissen auch, dass sowohl Hegels als auch Marx’ens Thesen heute nicht unbestritten sind. Aber darum geht es mir hier nicht, sondern darum, dass durch diese Bemerkung von Marx eine Vermutung über die geschichtlichen Entwicklungen in die Welt gesetzt wurde, die immer wieder einmal als erklärungsmächtig wahrgenommen wird. Egal, was Sie dann persönlich von Napoleon und seiner Politik denken.

Diese Vermutung ist, dass Geschichte nicht in Zirkeln verläuft, sondern linear – das haben Sie so ja bei Hegel eine Grundthese – und es gleichzeitig möglich ist, aus der Geschichte zu lernen (und sie damit auch zu gestalten, wobei bei Marx nicht ganz klar ist, wie viel gestaltet werden kann; aber auch das ist hier nicht Thema). Insoweit lassen sich „Wiederholungen“ auch als Möglichkeiten verstehen, Dinge besser zu machen. Ansonsten, so die Vermutung, werden sie zur Farce. Oder: Wenn sie das erste Mal scheitern, war es ein ehrenhafter Versuch, die Geschichte zu gestalten, weil niemand wusste, wie es ausgehen würde. Wenn es wieder versucht wird, ohne das aus der vorliegenden Geschichte gelernt wurde, dann ist es eine Farce. Es wäre die Aufgabe der Menschen, indem sie über die Geschichte nachdenken – und eben nicht nur über das vorliegende „Problem“, auf das reagiert werden muss –, es nicht zur Farce kommen zu lassen.

Vor allem, wenn ich über Schulbibliotheken nachdenken – und das Thema lässt mich nicht los, auch wenn ich es immer wieder versuche, davon weg zu kommen –, scheint es mir manchmal, dass Marx und Hegel zumindest mit dieser Vermutung Recht haben könnten. Wenn in den 1970ern Bibliotheken (und Teile der Literaturwissenschaft) antreten, um – sicherlich mit dem besten Zielsetzungen und Wünschen – moderne Schulbibliotheken zu entwerfen und den Schulen als notwendig zu erklären, obwohl es in den Schulen so nur ganz selten ankommt und obwohl die Interessen der Schulen zurückstehen, kann man das etwas pathetisch als Tragödie verstehen. So viele Menschen wollten so viel gutes für die Schülerinnen und Schüler, für die Schulen und die Bibliotheken – und agierten offenbar aneinander vorbei. Wenn aber später, heute noch, quasi die gleichen Argumente und Ziele angestrebt werden, ohne das aus dem – trotz Ausnahmen – weitflächigen Scheitern, solche Schulbibliotheken umzusetzen, gelernt wird, dann lässt sich das manchmal als Farce verstehen. Weil es nicht nötig wäre. Nach all den Jahrzehnten wäre es möglich zu wissen, dass all dies Argumente – die Sie bei uns in der Schweiz ja auch noch handlich zusammengefasst in den „Richtlinien für Schulbibliotheken“ (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) finden, die aber ausserhalb des Bibliothekswesens kaum beachtet werden – nicht zu „modernen Schulbibliotheken“ in allen Schulen führen, egal wie oft man die – wieder mit den besten Zielsetzungen und Wünschen – vorbringt. Zumindest in diesem Fall scheint es oft, als könnte man sehr einfach aus der Geschichte lernen, wenn man sie als geschichtliche Entwicklung wahrnimmt und sich eben nicht nur auf das vorliegende „Problem“, dass die Schulen oft andere Entscheidungen im Bezug auf Schulbibliotheken treffen, als das Bibliothekswesen gerne hätten, fokussiert.

An manchen Tagen und für manche Themen klingt diese These recht überzeugend, aber an anderen Tagen und für andere Themen nicht.

 

Folie 15

Die „Neoliberalismus“-These:

Der Neoliberalismus basiert auch darauf, ständig zu behaupten, „neu“ zu sein und auf der Seite des Fortschritts zu stehen –> alles andere sei „alt“ und abzulehnen

Diese Rhetorik ist zum Teil (nicht unbedingt mit dem gleichen Zielen) im Bibliothekswesen zu finden

–> Eine solche Rhetorik ist überzeugender, wenn nicht überprüft wird, ob es wirklich „neu“ (und besser) ist

–> wer keine Geschichte kennt, kann einfacher innovativ sein und / oder Angst vor der Zukunft haben / verbreiten

 

Eine andere These, die mir gerade an Tagen, wenn ich sehr polemisch gestimmt bin, als sinnvoll erscheint, nennen ich, wie Sie sehen, die Neoliberalismus-These. Auf der nächsten Folie gibt es diese in einer weniger polemischen Form. Auch hier geht es mir nicht darum, zu diskutieren, was ist Neoliberalismus, wie wirkt er und so weiter. Mir geht es um einen Teilaspekt.

Wenn Sie die Literatur lesen, die sich als kritisch zum Neoliberalismus versteht, beispielsweise sehr ausformuliert bei Naomi Klein (Klein 2007), dann finden Sie immer wieder die Kritik, dass der Neoliberalismus als Diskursformation und Begründungszusammenhang intellektuell eigentlich sehr dürftig ist, das er aber wirkmächtig wird, weil seine Vertreterinnen und Vertreter Krisensituationen ausnutzen. Im Grossen und Ganzen: Wenn heftige Krisenmomente auftreten, tauchen Vertreterinnen und Vertreter auf, die argumentieren, dass alles, was bislang gewesen wäre, falsch, unmodern und ineffektiv gewesen sei und deshalb abzulehnen wäre und dass das, was sie anbieten, radikal anders, neu und zielführend sei. Diese Interventionen würden Sie immer wieder finden: nach dem Zusammenbruch der DDR, nach wirtschaftlichen Zusammenbrüchen wie in den Argentinien Ende der 90er oder auch gerade jetzt in der Ukraine. Die Beraterinnen und Berater würden die Reformen, die sie vorschlagen, vor allem argumentativ durch diese Diskreditierung der Vergangenheit absichern. Weil es eine Krise gibt, sei alles, was davor war falsch. Punkt. Gerade wenn es wirklich eine Krise gibt, kann das sehr überzeugend klingen. Gleichzeitig stimmt das meistens nicht: Die Situation ist oft komplexer, nicht alles, was war, ist wirklich falsch; nicht alles, was als neu vorgeschlagen wird, ist neu oder zielführend. Damit beschäftigt sich dann die Literatur zum Neoliberalismus.

Was Sie aber sehen ist, dass es einfacher ist, solche Behauptungen aufzustellen, wenn man ein sehr einfaches Bild von der Vergangenheit malt, zum Beispiel die Bürokratie ohne Unterschied als ineffektiv und korrupt darstellt oder die Lohnkosten und die soziale Absicherung an sich als Problem. Was ja so nie stimmt. Es gibt ja immer auch Gründe für die Bürokratie, für die Lohnkosten, für soziale Sicherungssystem. Aber es ist einfacher, sich als neu und gut darzustellen und die eigene Vorschläge als modern und zukunftsweisend, wenn man die Geschichte vereinfacht oder ganz ignoriert. Wenn niemand weiss, dass bestimmte Debatten schon einmal geführt wurden oder das bestimmte Dinge schon ausprobiert wurden, ist es einfacher, diese als neu und innovativ zu verstehen. Ebenso: Wenn man nicht mehr weiss, dass bestimmte Krisen oder Ängste schon einmal durchgestanden wurden, ist es leichter, vor ihnen Angst zu haben. (Oder umgekehrt: Es ist einfacher, vor ihnen keine Angst zu haben, wenn klar ist, dass sie auch schon zuvor durchgestanden wurden, dass zum Beispiel die Mikroelektronik oder die Kinos die Bibliotheken nicht obsolet gemacht haben und das es deshalb „das Internet“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht machen wird.)

Und wir haben im Bibliothekswesen eine Reihe von Personen, die sich zum Teil sehr laut äussern, welche eine ähnliche Rhetorik verwenden, die also oft von der Zukunft als grosse Veränderung reden, die Vergangenheit der Bibliotheken als sehr einfach darstellen und dann Dinge als neue Herausforderungen oder mögliche Enden der Bibliotheken oder so darstellen. Mir geht es bei meinem Argument hier um diese Rhetorik und die Darstellung von „Neuheit“. Ich will niemandem eine politische Agenda unterstellen. Darum geht es hier gerade nicht. Es geht mir auch gar nicht um einzelne Personen, sondern um diese Argumentationsform: (1) Die Vergangenheit wird als unmodern, falsch und krisenhaft bezeichnet – und das auch schon seit den 1970ern, auch da finden Sie Texte, wo behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen, aber jetzt, 1970, müsste das anders werden, sonst würde die Bibliothek untergehen, was solche Argumente nur noch komischer macht, wenn Jahrzehnte später wieder behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen und würde untergehen, wenn sie sich nicht verändert. Weil: Entweder stimmt das Argument nicht und die Bibliothek ist oder war nie dieser „Bücherspeicher“ oder sie ist schon längst untergegangen. Aber dieser Widerspruch fällt erst dann auf, wenn man die bibliothekarische Diskussion über einen längeren Zeitraum betrachtet. (2) Es wird dann aus der angeblichen oder tatsächlichen Krise geschlossen, die Bibliothek müsste sich in eine Richtung entwickeln, sonst würde sie untergehen. Und oft scheint das Argument da zu enden. Die vorgegebene Richtung wird als richtig und modern verstanden, weil sie anders sei, als die „unmoderne“ Bibliothek zuvor, die ja in der Krise steckt. Mir scheint, dass diese Argumente daraus an Überzeugungskraft gewinnen, weil sie nicht mit den schon mal geführten Debatten gegengeprüft werden. Und wie gesagt, gerade an „polemischen Tagen“ scheint mir, dass diese These viele Debatten und Wiederholungen im Bibliothekssystem erklären kann.

 

Folie 16

Die „Vorwärts immer“-These:

Der Blick von Bibliotheken, gerade bei strategischen Entscheidungen, scheint in die Zukunft gerichtet zu sein

–> wirkliche Veränderung und Konstanz ist so nicht mehr feststellbar

–> Es entsteht die Annahme, dass sich ständig etwas verändern würde und / oder man selber etwas ändern müsste, sonst würde man untergehen

–> Diese Angst ist Antriebskraft (Aber ist das gut? Übersieht man dann nicht wirkliche Veränderungen?)

 

Es gibt eine andere Form dieser These, eine für weniger polemische Tage. Schauen wir einmal in die zeitgenössische bibliothekarische Diskussion, realistisch, fällt schnell auf, dass sich heute Bibliotheken immer wieder nach vorne, in die Zukunft hin, orientieren. Das haben wir ja hier auf dieser Tagung direkt vor Augen gehabt. Immer wieder ging es darum, was Bibliotheken in Zukunft machen werden, wie sie sich entwickeln werden, wie sie auf Herausforderungen reagieren werden. Fast immer verbunden mit der Überzeugung, dass Bibliotheken das schaffen werden. Und das spricht für Bibliotheken. Egal, wie sehr sie selber manchmal Angst davor zu haben scheinen, von Entwicklungen überrollt zu werden, sind sie heute sehr agil und veränderungsbereit.

Aber: Das hat offenbar seinen Preis. Der ständige Blick nach vorne scheint mir ein Grund zu sein, dass es zu Wiederholungen von Vorhersagen, Annahmen und Projekten kommt. Wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, nach vorne zu schauen und sich zu fragen, wie man sich verändern muss und kann, ist man vielleicht nicht mehr in der Lage, die Konstanz in der eigenen Arbeit und dem bibliothekarischen Diskurs festzustellen. Man fragt nicht danach, was schon war und überwunden ist, man schaut nicht wirklich, ob Dinge funktionieren und warum, sondern man hantiert mit der These, dass man immer nicht gut genug ist und sich jetzt, sofort, auf der Stelle weiterentwickeln muss. Wenn die Vergangenheit überhaupt angeschaut wird, dann entweder als überwunden oder als Basis zur Weiterentwicklung – und vor allem, immer sehr einge Begriffe und Punkte reduziert.

Mein Argument hier ist nicht, dass es per se falsch wäre, sich zu verändern. Mein Argument ist, dass mit einem solchen, unhinterfragten Blick, sich eine Art Tunnelblick einstellt, der gar nicht mehr wirklich in der Lage ist, die eigene Vergangenheit zu befragen oder auch nur die Gegenwart danach, warum sie so ist, wie sie ist. Dieser Blick ist vielleicht notwendig, um sich zu entwickeln. Das weiss ich nicht. Aber er stellt eine radikale Verengung der Fragemöglichkeiten und damit auch Lerngelegenheiten dar. Ein Beispiel dafür scheinen mir die Vorstellungen rund um die Notwendigkeit von „Informationskompetenz“ darzustellen. Der Blick nach vorne scheint die Bibliotheken dahin geführt zu haben, in diesem Feld aktiv zu werden – und wir wissen alle, mit welchem Elan dies geschehen ist –, aber offenbar ohne sich zu fragen, ob das so eingängige Argument, das Internet würde bedingen, dass neue Kompetenzen gelernt werden müssten, wirklich ein Neues ist oder ob es nicht eine Wiederholung darstellt. Das hätte, um konkret zu werden, zum Beispiel dazu führen können, dass man viel früher hätte merken können, dass selbstverständlich die Schulen sich für solche „Kompetenzvermittlungen“ zuständig fühlen würden – wie sie es auch in den 1970ern getan haben. Stattdessen hat man neben den Schulen Angebote entworfen, die manchmal positive Ergebnisse hatten und manchmal auch nicht.

 

Folie 17

Die „Postmoderne“-These:

Eventuell sind wir einfach in einer Zeit angekommen, „in der alles geht“ und es ist egal

  • Aber warum dann immer die gleichen / ähnlichen Ideen?
  • Warum keine Referenz auf die eigene Geschichte, sondern auf Behauptungen über Entwicklungen (die Postmoderne wäre mehr „Hipster“ und würde Geschichte ironisch nutzen)

 

Zwei weitere Thesen noch. Die eine drängt sich oft auf, wenn all die Beispiele von Wiederholungen und die immer wieder vorgebrachten Argumente im bibliothekarischen Diskurs zu viel werden. Es gibt diese Behauptung, dass wir in der Postmoderne leben und in der Postmoderne alles irgendwie geht und deshalb irgendwie auch egal wäre. Das sind zwei Behauptungen, gerade die letzte stimmt eigentlich nicht, denn die Postmoderne – für die gerade der oder die „Hipster“ mit ihrer ironisch-kritisch-affirmativen Haltung prototypisch ist –, ist nicht beliebig, sondern zitiert sehr aktiv und auf der Basis eines Wissens um Geschichte (wenn auch manchmal der Geschichte komischer Themen wie popkultureller Phänomene) und eines recht von sich selbst bewussten Weltbildes, um daraus eine Identität zu prägen. Auch wenn sich an manchen Tagen die These aufdrängt, die Wiederholungen in den bibliothekarischen Diskursen seine einfach „postmodern“, scheint mir das die eine These zu sein, die man einfach zurückweisen kann. Eine „es ist doch heute egal, weil alles geht“ kann nicht erklären, warum diese Wiederholungen scheinbar in den 1970er Jahren einen Bruchpunkt haben und auch nicht, warum die heutigen Wiederholungen praktisch ohne einen Rückgriff auf die Geschichte der Bibliotheken daherkommen.

 

Folie 18

Die These von den ungelösten Problemen:

Eventuell haben sich Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten „nur“ mit anderen Fragen (z.B. Computerisierung) auseinandergesetzt und alte Fragen „beiseitegeschoben“. Nachdem Fragen der Computerisierung u.a. einigermassen geklärt sind, tauchen die alten Fragen und Thesen wieder auf, weil sie ungeklärt sind.

 

Eine letzte These und ehrlich gesagt die unspannendste. Aber vielleicht ist sie ja gerade deshalb richtig, weil sie so unspannend und irgendwie einfach ist. Auch diese These hat mit dem Projekt in St. Gallen zu tun, dass ich vorhin kurz erwähnte. Im Rahmen dieses Projektes haben ich Weiterbildungen, die in den letzten Jahrzehnten für Bibliotheken im Kanton angeboten wurden, durchgeschaut. Die Unterlagen der Kommissionen, welche diese Weiterbildungen organisierten und nachher die der Kantonsbibliothek, wo die eine Kommission angesiedelt wurde, sind recht vollständig erhalten. Was mir dabei auffiel war, dass sich die Weiterbildungen in den 1970er und frühen 1980er Jahren recht modern lesen. Der Fokus lag auf der Leseförderung, der Zusammenarbeit von Schule und Bibliothek, der Einführung von neuen Medien und so weiter. Zumindest eine Zeit lang scheinen diese Weiterbildungen gut funktioniert zu haben. Zumindest wurden sie immer wieder neu aufgelegt. Und dann, nicht sofort, aber doch stetig im Laufe der 1980er Jahre, ändert sich das. Die einst ausgebuchten Weiterbildungen hören auf, dafür gibt es neue Kurse zu neuen Themen, namentlich die Einführung von EDV in den Bibliotheken. Das ist dann auf einmal über Jahre hinweg das grosse Thema. So als ob sich in den 1980er Jahren in sanktgallischen Bibliotheken niemand mehr für das Lesen, aber alle für die Computer interessieren würde. In den 1990ern scheint noch die strategische Planung hinzuzutreten. Aber jetzt, nach 2000, tauchen Themen aus den 1970er Jahren wieder auf.

Ein Grund dafür könnte sein, dass einfach die Probleme mit der Einführung der EDV gelöst sind. In jeder Bibliothek stehen Computer, das Internet ist etabliert. Das ist kein Problem mehr. Das haben Sie ja auch auf dieser Tagung gesehen. Es wurde die Performance von Bibliothekssystemen verglichen und über die Präsentation von Lernplattformen in Öffentlichen Bibliotheken berichtet, aber niemand hat mehr darüber diskutiert, was die Einführung von Computern in Bibliotheken so verändern wird. Sie müssen auch heute eigentlich keiner Bibliothek mehr sagen, dass sie sich entwickeln soll und das sie das besser strategisch tut. Auch das ist gesetzt.

Vielleicht waren diese Probleme einfach wichtiger oder schwieriger und jetzt, nachdem sie gelöst sind, tauchen Fragen wieder auf, die gar nicht gelöst, sondern von anderen Fragen zur Seite gedrängt wurden. Beispiel Schulbibliotheken: Vielleicht hat man in den 1970ern gar nicht geklärt, was eine gute oder moderne Schulbibliothek ist, sondern hat das Thema praktisch zur Seite gelegt, weil erst einmal andere Fragen geklärt werden mussten. Und jetzt taucht es wieder auf, wo sich zeigt, dass die bibliothekarischen Vorstellungen die Schulen kaum überzeugen.

Falls diese These von den „ungelösten Problemen“ stimmt, wäre es sinnvoll zu schauen, was in den 1970ern alles diskutiert wurde. Hierfür ein Beispiel: In den 1970ern und frühen 1980ern wurde über „Soziale Bibliotheksarbeit“ diskutiert, ein Thema waren Bringdienste Öffentlicher Bibliotheken für hausgebundene Menschen. Die Diskussion hörte dann Anfang der 1980er Jahre auf. Eine Redaktionskollegin aus der LIBREAS hat in den frühen 2000ern zur Sozialen Bibliotheksarbeit ihre Abschlussarbeit geschrieben (Schulz 2009), zwei weitere haben ein Buch zu Sozialer Bibliotheksarbeit herausgegeben (Kaden / Kindling 2007), in welchen das Thema mit erwähnt wird. Aber mir scheint, das war es dann auch schon mit der bibliothekarischen Literatur in den letzten Jahren. Es scheint einfach so, als wären die Bringedienste „tot“. Dabei ist diese Frage nie vollständig geklärt worden: Sollten die Bibliotheken solche Angebote machen und wenn ja, wie sollten die aussehen? Jetzt habe ich eine Bachelorarbeit betreuen dürfen, die sich angeschaut hat, ob es überhaupt solche Bringdienste in Deutschland gibt und diese Arbeit konnte mit einer Internetrecherche – also noch nicht mal mit tiefgehenden Nachfragen nach nicht so einfach sichtbaren Angeboten, sondern „nur“ nach solchen, die öffentlich sichtbar sind –, über 100 solcher Dienste nachweisen, die aktuell betrieben werden. Davon wurde eine Anzahl seit den 1970er oder 1980er Jahren kontinuierlich weitergeführt, aber viele wurden auch erst in den letzten Jahren begründet. Offenbar ist das Thema gar nicht gelöst und fertig, sondern taucht wieder in der bibliothekarischen Praxis auf, obwohl es in der bibliothekarischen Literatur aktuell nicht vorkommt. Ich denke, dass ist zumindest ein Hinweis darauf, dass die These von den „ungelösten“ oder „aufgeschobenen“ Problemen stimmen könnte.

 

Folie 19

FAZIT (I)

  • Neue These: Niemand drängt Bibliotheken wirklich, sie drängen auch wenig. Vielmehr deuten sie bestimmte Entwicklungen als „Antreiben“ oder Gefahr, aber das ist ihre Interpretation.
  • Bibliotheken interpretieren immer wieder die gleichen / ähnlichen Gefahren / Innovationsgründe / gesellschaftlichen Entwicklungen und finden darauf immer wieder ähnliche Antworten (zumeist, ohne „die alten Antworten“ zu kennen)
  • Der Eindruck, gedrängt zu werden, kommt auch daher, dass man nicht fragt, was sich eigentlich wirklich verändert und wie die Bibliotheken wirklich sind –> eher eine Rhetorik von „wir müssen uns verändern, sonst gehen wir unter“, die offenbar überzeugt, aber nicht unbedingt den Fakten entspricht

 

Lassen Sie mich noch ein Fazit ziehen, ein vorläufiges. Ich habe mehrfach gesagt und betone das gerne nochmal, dass dies hier ein Diskussionsangebot ist; dass ich Ihnen zeigen wollte, was mir aufgefallen ist, und gerade nicht sagen, wie die Welt funktioniert. Ich würde mich freuen, wenn das klar geworden ist. Gerne würde ich wissen, ob es dieses Phänomen der ständigen Wiederholungen in der bibliothekarischen Debatte, vor allem mit dem Bruch in den 1970ern, wirklich gibt oder ob das überinterpretiere (oder vielleicht einen viel wichtigeren Bruch übersehen habe). Mir scheint das alles überzeugend, aber vielleicht bin ich der Einzige. Falls nicht, würde ich auch gerne darüber diskutieren, warum das so ist. Wie gesagt, einige grosse Vorschläge fallen mir sehr schnell ein, wenn ich über Geschichte und deren Strukturen nachdenke, aber passen die und wenn ja, wie? Vor allem, was heisst es dann für die bibliothekarischen Debatten? (Und habe ich vielleicht eine bessere Erklärung übersehen?) Wie Sie gewiss auch gemerkt haben, sind die anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die es in den 1970er Jahren gab, in meinem Vortrag nicht vorgekommen. Ich habe kurz auf sie verwiesen, als Kontext, aber die Frage, ob vielleicht dieses Phänomen gar kein rein bibliothekarisches ist, sondern für andere Diskurse auch festgestellt werden kann, habe ich gar nicht gestellt, weil die Zeit begrenzt ist. Selbstverständlich sollte sie aber gestellt werden. Sie sehen, ich sehe grosses Diskussionspotential.

Aber zum Fazit. Der erste Teil des Fazits bezieht sich auf das Motto der Tagung: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Ich hoffen, es ist ersichtlich geworden, warum ich zu der These neige, dass die Bibliotheken weder getrieben werden noch selber treiben, sondern dass sie sich vielmehr immer wieder neu vorstellen, angetrieben zu werden. Bestimmte Entwicklungen werden als „Antreiben“ oder als Gefahr interpretiert, aber das ist eine Interpretation – eine, die Bibliotheken dazu bringt, sich Gedanken über Veränderungen zu machen, aber doch eine Interpretation, die von Bibliotheken vorgenommen wird. Bibliotheken antworten auch immer wieder auf ähnliche Weisen auf diese wahrgenommen „Gefahren“, ohne zu reflektieren, dass diese Antworten schon mal gegeben wurden und dass ähnliche „Gefahren“ schon durchgestanden wurden.

Es überzeugt, aber stimmt nicht immer. Ich denke, Bibliotheken könnten als Gesamtsystem ruhiger und vor allem weniger kurzfristig reagieren, wenn sie das wahrnehmen würden. Dazu bedarf es selbstverständlich, nicht nur nach vorne zu schauen oder nur auf die vorliegenden „Probleme“, sondern sich Zeit zu lassen, schon um ganz banal auch mal ältere Texte zu lesen. Hat dafür jemand Zeit? Weiss ich nicht. Sollten wir uns dafür Zeit nehmen? Das denke ich schon. Wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese Aufklärung der Bibliotheken über sich selber und ihren eigenen Diskurs zu betreiben? Gewiss, aber das müsste als Aufgabe gefasst und organisiert – heute auch finanziert – werden.

 

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FAZIT (II)

  • Um das Bibliothekswesen zu entwickeln, benötigt es Kenntnisse über die Geschichte der Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten (nicht einfach Annahmen darüber, wie die Bibliothek „früher war“)
  • Die hier vorgetragenen Thesen benötigen weiterer Überprüfungen.
  • Insgesamt braucht es für eine Entwicklung von Bibliotheken mehr Ruhe. „Untergangsszenarien“ und „das ist modern, alles andere ist alt“-Behauptungen weniger ernstnehmen, dafür einen etwas weiteren Blick entwickeln, kann gut helfen.
  • Irgendwas ändert sich immer. Das alleine ist noch kein Grund für irgendwas; es bedürfte immer einer weitergehenden Begründung, warum es wirklich etwas verändert.

 

Zweiter Teil des Fazits. Etwas, was sehr einfach gemacht werden könnte, wäre im bibliothekarischen Diskurs zu akzeptieren, dass es eines Wissens darüber bedarf, wie sich die Bibliotheken in den letzten Jahren wirklich entwickelt, was sie wirklich diskutiert und ausprobiert haben. Wenn wir das nicht wissen, sollten wir nicht versuchen, das mit Bildern von „alten“ oder „unmodernen“ Bibliotheken, die es früher einmal angeblich gegeben hätte, auszufüllen. Diese Bilder stimmen meist nicht. Die Behauptung, eine Bibliothek sei früher schlecht gewesen und würde jetzt erst richtig entwickelt – was, wie gesagt, auch schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder neu behauptet wird –, ist meistens für das Ziel, dass man erreichen will oder für das Argument nicht nötig. Will man zum Beispiel begründen, warum die Bibliothek einen Makerspace haben soll, kann man das auch, ohne zu behaupten, die Bibliothek hätte zuvor nichts in Richtung Aufbau von Communities oder so gemacht. Man kann auch einfach sagen, man hätte gerne einen Makerspace. Oder man kann auch gut und gerne sagen, man würde lieber elektronische Medien anbieten, ohne zu unterstellen, die Bibliotheken hätten sich bislang nie Gedanken dazu gemacht, welche Medienformen sie anbieten sollten.

Grundsätzlich wäre es bestimmt gut, in den bibliothekarischen Debatten mehr Ruhe zu bewahren. Die Bibliotheken werden nicht untergehen, das wurde schon so oft behauptet, ohne das ein eintrat. Die Bibliotheken werden nicht „unmodern“ werden, auch das sind einfach eine sehr alte, beständig wiederholte Behauptungen. Vor allem sollte man sich aber mehr Zeit nehmen, die Vorstellungen über die notwendigen Entwicklungen besser zu begründen und zu verstehen, vielleicht auch zu revidieren, bevor man anfängt, aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Mir scheint aber, dass wir in einer Zeit leben, in der es manchmal schon ausreicht zu behaupten, irgendetwas verändert sich, zum Beispiel in der Medienwelt, deswegen müssten die Bibliotheken das und das tun. Möglichst sofort. Aber das ist, dass sollte klar geworden sein, oft nicht wahr. (Und auch hier ist das Argument nicht, dass man nicht auf Veränderungen schauen und Dinge ausprobieren sollte. Das Argument ist, dass die Behauptung oder Feststellung, etwas sei neu oder hätte Potential, irgendetwas anders zu machen, als bislang, noch keine Begründung dafür ist, warum es Bibliotheken und deren Umfeld verändern wird, vor allem so, dass Bibliotheken darauf reagieren müssen. Der Begründungszusammenhang sollte viel genauer und komplexer sein, dass ist es auch viel besser möglich, über ihn zu diskutieren und tatsächliche Veränderungen von fehlgeleiteten Vorstellungen, übergrossen Versprechen oder einfach auch Hypes und Missverständnissen zu trennen.)

Irgendwas verändert sich immer, aber am Ende nie so, dass es nicht ein paar Jahrzehnte wieder neu auftauchen könnte. Man muss schon verstehen, was sich wirklich ändert und ob es überhaupt einen Einfluss auf Bibliotheken haben wird. Mir scheint, gerade bei Aussagen über die Zukunft von Bibliotheken sollte das Denken komplexer werden.

Ich danke Ihnen.

 

Folie 21

Literatur, Primär

  • Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen (Empfehlungen der Bildungskommission). Stuttgart, 1970
  • Doderer, Klaus et al. (1970): Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell (Schriften zur Buchmarkt-Forschung, 19). Hamburg, 1970
  • Fischer, Bodo (1973): Profil der Benutzer öffentlicher Bibliotheken : eine Analyse von Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und sozialen Determinanten der Bibliotheksbenutzer : quantitative Vorstudie (AfB-Materialien, 3). Berlin, 1973
  • Fischer, Bodo (1978): Die Benutzer öffentlicher Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland : Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung (AfB-Materialien, 21). Berlin, 1978
  • Glaser, Hermann (1976): Vorwort. In: Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion. Bonn, 1976, 6-7
  • Heidtmann, Frank (1971): Materialien zur Benutzerforschung : aus einer Pilotstudie ausgewählter Benutzer der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin (Bibliothekspraxis, 3). München-Pullach, 1971

 

Literatur, Sekundär

  • Foucault, Michel (2001). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 184). Frankfurt am Main, 2001 [1975]
  • Kaden, Ben ; Kindling, Maxi (Hrsg.) (2007). Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. Berlin, 20007
  • Klein, Naomi (2007). The shock doctrine: the rise of disaster capitalism. New York, 2007
  • Marx, Karl (1965). Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Sammlung Insel, 9). Leipzig, 1965 [1852]
  • Müller, Sonja (2014): Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, 88). Frankfurt am Main, 2014
  • Nietzsche, Friedrich (1994). Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. Stuttgart, 1994 [1886]
  • Schulz, Manuela (2009). Soziale Bibliotheksarbeit: „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit in öffentlichen Bibliotheken. Berlin, 2009
  • Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken (Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst, 3). Bern, 1973
  • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Neues Buch: Bibliotheken erforschen ihren Alltag.

BibliothekenerforschenihrenAlltag_Cover
Wie zu erkennen: Das Cover.

Ein bisschen Eigenwerbung: Dieser Tage erschien – wieder einmal im Simon Verlag – mein neues Buch Bibliotheken erforschen ihren Alltag. Ein Plädoyer.

Was ich mit diesem Buch tun wollte, war sehr einfach: Die Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den deutschspachigen Ländern dazu anzuregen, selber dort zu forschen, wo sie arbeiten; vor allem in den Öffentlichen Bibliotheken. Ich bin der Überzeugung, dass das möglich ist. Forschen ist eine sinnvolle Tätigkeit, die uns mehr über das Funktionieren der Gesellschaft informieren kann. Forschen ist auch eine Tätigkeit, die intellektuell anregt und den Blick schärft. Und vor allem ist Forschung nichts, was nur Menschen an Hochschulen überlassen werden muss.

Zudem gibt es eine gute Anzahl von Beispielen, in denen ausserhalb der etablierten Forschungsinstitutionen geforscht wird und das mit Erfolg, Elan und relevanten Erkenntnisfortschritten, unter anderem in Schulen im deutschsprachigen Raum oder in Bibliotheken des Auslandes, vor allem Kanadas. Alles was ich mit dem Buch tun wollte, war, dass zu zeigen und gleichzeitig denen, die in Bibliotheken arbeiten und sich über bestimmte Dinge wundern (z.B. Warum nutzen gerade diese Menschen unser Bibliothekscafe? Wie funktioniert die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Jugendgruppen bei uns? Welchen Einfluss hat das Wetter wirklich auf die Nutzung unserer Bibliothek?), zu sagen: Untersuch es doch mal. An einem etwas abwegigen Beispiel wird das im Buch mit unterschiedlichen Methoden und Fragestellungen durchgespielt, aber das ist nicht das Wichtige. Wichtig ist, dass ich einmal sagen wollte, dass niemand einen Dr. oder MA vor dem Namen (oder M.A. hinter dem Namen braucht), um sich in die methodische Beantwortung von Fragen im Bezug auf die eigene Bibliotheken zu stürzen. Wozu das führen kann? Zu mehr Wissen über das Funktionieren von Bibliotheken, zu mehr und abgesicherteren Diskussionen im Bibliothekswesen, zu mehr Spass beim Arbeiten in Bibliotheken. So zumindest meine Hoffnung (aber manchmal bin ich auch etwas naiv, ich weiss).

Ich bin dem Verlag tatsächlich dankbar, dass ich dies auch einmal in Buchform tun konnte.

Der „gläserne Aufzug“; ein feministisches Analyseinstrument, herausgearbeitet (unter anderen) am Beispiel Bibliotheken

„[…], theoretische Begriffe, die im reinen Philosophieren verbleiben und dabei die materiellen Grundlagen unseres Denkens ignorieren, verlieren ihre analytische Brisanz und ihr kritisches Potential für gesellschaftliche Transformation. Daher ist es notwendig, zwischen rhetorischer Kosmetik und gesellschaftskritischen Interventionen zu unterscheiden. Kritik, so Theodor W. Adorno, beginnt dort, wo Zweifel an der authentischen Repräsentation von Realität aufkommt. Dort, wo das Gegebene seine ideologischen Züge aufscheinen lässt, beziehungsweise dort, wo Repräsentation auf ihren ideologischen Wert hin befragt wird. Gesellschaftskritik ist daher nicht an einer identitären Wiedergabe von Gesellschaft interessiert. Vielmehr zeigt es die Grenzen einer identitären Widerspiegelung von Gesellschaft auf.“ (Rodríguez, Encarnación Gutiérrez / Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen. In: Hess, Sabine ; Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth (Hrsg.) / Intersektionalität revisited : Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld : Transcript Verlag, 2011, 77-100, hier: S. 99f.)

Die Gläserne Decke, kurz

Die „Gläserne Decke“ (glass ceiling) ist als Begriff einigermassen bekannt. Das Konzept beschreibt das Phänomen, dass Frauen (oder andere Personengruppen, aber meist geht es um Frauen) in Institutionen und Firmen beruflich nur bis zu einem bestimmten Level aufsteigen und dieses Level dann nicht oder nur viel seltener als Männer (oder die jeweils anderen Gruppen) überwinden können. Das Ergebniss ist bekannt: Chefetagen aus lauter Männern, Verwaltungsgremien aus lauter Männern, Gruppen, die politische und andere Entscheidungen treffen, bestehend aus lauter Männern. Die Frauen in diesen Gruppen sind so sehr Ausnahmen, dass sie mächtig auffallen, gerne in der Öffentlichkeit nach vorne gestellt werden (und dennoch in den Gremien oft gerade mit „weichen“ Themen betraut werden, also eher PR und Personalentwicklung verantworten und nicht Etat und Firmenstrategie.) Nicht ganz so sichtbar ist als Ergebnis die Flucht der qualifizierten Frauen in andere Tätigkeiten, das Verkümmern von individuellen Möglichkeiten, auch die Reproduktion von defizitären Selbstbildern.

Die „Gläserne Decke“ dürfte eigentlich nicht existieren, die Gesellschaft ist heute darauf ausgerichtet, sich als meriokratisch – also an den Leistungen, Fähigkeiten und Zielsetzungen der Individuen orientiert – zu verstehen. Nicht das Geschlecht (oder bei anderen Gruppen zum Beispiel die soziale Herkunft, der Geburtsort und so weiter) soll bestimmen, welche soziale Position eine Person einnimmt, sondern nur die Wünsche der Personen, der Leistungen und deren Drang, bestimmte Positionen zu erreichen. Dies ist sowohl unter sozialen und demokratietheoretischen Gesichtspunkten gefährlich als auch – interessanterweise – unter ökonomischen Gesichtspunktne (egal ob auf eine einzelne Firma oder auf die gesamte Gesellschaft bezogen) unproduktiv. Es ist halt ungerecht (sozial), gleichzeitig eine Verschwendung von ökonomischen Potentialen; wenn Frauen nur deshalb nicht über bestimmte Level aufsteigen und sich einbringen können, weil sie Frauen sind.

Sicherlich gibt es immer wieder Menschen, die behaupten, es gäbe die „Gläserne Decke“ gar nicht. Vielleicht ist das ein Verkennen der Realität, vielleicht wird der gesellschaftlich verbreitete Anspruch auf gleiche Chancen zu sehr als tatsächlich vorhandene Situation missverstanden, vielleicht gehört es auch ins eigene Selbstbild. Akzeptiert man nämlich dieses Konzept der „Gläsernen Decke“, so kann man jedem männlichen Chef vorwerfen, auf diesem Posten nur zu sein, weil Frauen es unendlich schwerer haben, auf Chefposten zu kommen, und zwar weil sie Frauen sind, nicht weil sie weniger kompetent sind. (Genauer: Wenn sie Chefin werden, sind sie meist viel besser, weil sie weit mehr Barrieren überwinden mussten.) Deshalb hätte der Chef es leichter gehabt und sei gar nicht besser gewesen, als bestimmte Frauen. Das Fiese: Egal wie gut der Chef in Realität vielleicht ist (es gibt ja auch Chefs, die wirklich gut sind), so recht wird er diese Vermutung nie abweisen können. (Zumal, wie gesagt, die gläserne Decke auch für andere Gruppen existiert. Ist der Chef vielleicht auch deshalb Chef, weil er Weiss ist? Oder Deutscher / Schweizer? Oder aus der Grosststadt kommt, nicht vom Dorf? Wie soll er das Gegenteil beweisen?) Einfacher ist es, die Gesellschaft als meriokratisch organisiert zu verstehen und zu behaupten, alle Menschen wären durch ihre Kompetenzen in der beruflichen und gesellschaftlichen Position (oder würden in bestimmter Zeit dort ankommen), die sie innehaben. (Allerdings erklärt man dann auch im Umkehrschluss, dass zum Beispiel diejenigen Menschen, die über Jahrzehnte in einem Dead-End-Job arbeiten, dass auch wollten beziehungsweise keine Kompetenzen hätten, etwas anderes zu tun.)

Gleichzeitig ist die „Gläserne Decke“ so oft empirisch nachgewiesen worden – inklusive ihrer Veränderung durch politische Massnahmen, die auch möglich sind, wenn man nur einmal ihre Existenz anerkennt – das sie bis weit in konservative Kreise als existent begriffen wird. Es gibt die „Gläserne Decke“, sie muss weg. Die Frage ist „nur“, wie genau sie zustande kommt, wie genau sie aussieht und für wen sie gilt.

Der Gläserne Lift

Ein Konzept, dass eng mit der „Gläsernen Decke“ zusammenhängt, aber weit weniger bekannt ist, ist der „Gläserne Fahrstuhl“ (glass escalator). Dabei wurde er unter anderem anhand des Bibliothekswesens geprägt.

Er stammt aus einer 1995 erschienen und immer noch lesenswerten Studie von Christine L. Williams [Williams, Christine L. / Still a Man’s World: Men Who Do “Women’s Work” (Men and Masculinity). Berkeley ; Los Angeles ; London : University of California Press, 1995]. Williams untersuchte in dieser anhand von vier „typischen Frauenberufen“, wie sich Männer in feminisierten Berufsfeldern verhalten. Diese vier Berufsfelder sind Pflege (also Krankenschwestern und Pfleger), Schulunterricht, Bibliothekswesen und Soziale Arbeit.

In einem frühen Teil der Studie stellt Williams dar, wie diese Berufszweige zu „weiblichen Berufen“ wurden – was sie alle vier zu Beginn nicht von Beginn an waren, vielmehr sind sie alle, zumindest im US-amerischen Kontext, von „männlichen“ zu „weiblichen“ Berufen geworden – und weist gleichzeitig auf ein Missverständnis hin, welches in allen vier Berufszweigen zu finden. Der soziologische Nachweis, dass die Berufe als „weibliche“ Berufe als weniger professionell angesehen und auch bezahlt werden, wurde von den Beurfsverbänden dahingehend verstanden, dass sie professioneller würden, wenn mehr Männer in ihnen arbeiten würden. Deshalb gab es immer wieder den Versuch, Männer für die Berufe zu gewinnen, obgleich der Zusammenhang, wenn überhaupt, andersherum gilt: Männer arbeiten eher in als professioneller angesehenen Berufen; Berufe sind nicht professioneller, weil dort mehr Männer arbeiten würden. (Das würde ja auch im Umkehrschluss bedeuten, dass Männer irgendwie professioneller Handeln würden als Frauen, was garantiert so nicht stimmt.)

Weiterhin führt Williams den vor ihr schon mehrfach nachgewiesenen Fakt an, dass ein Grossteil der Männer, die einen der vier untersuchten Berufszweige wählen, davon ausgehen können, innert kurzer Zeit eine Führungsposition oder aber eine spezifische, als professioneller angesehene – und deshalb oft auch besser entlohnte und mit anderen Vorteilen verbundene – Spezialposition (zum Beispiel die technische Abteilung in einer Bibliothek) innerhalb ihrer Institutionen zu besetzen.

“[M]any men entering these [feminized, KS] professions today anticipate working in these masculine enclaves [high specialized positions, KS]. But others find themselves pressured into these specialties despite their inclinations otherwise. That is, some men who prefer to work in the more ‘feminine’ specialties ‒ such as pediatric nursing or children’s librarianship ‒ encounter inexorable pressure to ‘move up,’ a phenomenon I refer to as the ‘glass escalator effect.’ Like being on an invisible ‘up’ escalator, men must struggle to remain in the lower (i.e., ‘feminine’) levels of their professions.” (Williams 1995, p. 12)

Williams interessiert sich, wie im Zitat sichtbar, aber weniger für die Männer, die mit Erwartungen auf höher bezahlte Positionen in diese Berufe eintreten,1 sondern für die, welche tatsächlich die Arbeit machen wollen, für welche die Berufsfelder bekannt sind. Also zum Beispiel Menschen pflegen, Unterrichten (und zwar alle Schulklassen), als Bibliothekar an der Ausleihe und in der Katalogisierung arbeiten. Sie interviewt eine ganze Anzahl dieser Männer und kommt zu dem Ergebnis, dass es für sie einen Aufwärtsdrang gibt, dass sie sich also dazu gedrängt fühlen, sich zu spezialisieren, wichtige Positionen innerhalb der Institution einzunehmen, im Allgemeinen: Aufzusteigen. Und dies in einem erstaunlichen Masse, nämlich so sehr, dass sie sich teilweise dazu gedrängt fühlen, ihren Nicht-Aufstieg zu erkämpfen, also sich zum Beispiel dafür einsetzen zu müssen, in der Primarschule zu unterrichten und nicht zum Lehrer in einer High-School oder zum Direktor der Primarschule aufzusteigen.

Hingegen gibt es nur eine sehr, sehr kleine Zahl von Bereichen, in denen sich die Befragten wirklich benachteiligt fühlen. Diese sind mit „Angst vor der männlichen Sexualität“ zu überschreiben; vor allem Männer, die als Lehrer oder als Kinderbibliothekar viel mit Kindern arbeiten, fühlen sich immer wieder einmal einer devianten Sexualität verdächtigt. Ansonsten aber profitieren die Befragten von der geschlechtlichen Strukturierung der Beurfszweige, auch dann, wenn sie dies gar nicht anstreben.

Williams beschreibt diesen Effekt – der ja auch gegen die meriokratische Überzeugung spricht, dass die Personen selber dafür verantwortlich sind, welche soziale Position sie einnehmen – als „Gläsernen Fahrstuhl“. Dieses Konzept erklärt zum Teil die Überrepräsentation von Männern in spezialisierten Bereichen „weiblicher Berufe“ und in den verantwortlichen Posten innerhalb der Institutionen (aber zum Beispiel auch in Berufsverbänden et cetera). Dabei muss beachtet werden, dass dieses Konzept – genauso wie die gläserne Decke – eine gesellschaftliche Struktur erklärt, die nicht durch moralisch falsches Verhalten – beispielsweise einer explizit sexistischen Beförderungspraxis, die man ja einfach abstellen könnte – zustande kommt; sondern vielmehr durch das mehr oder minder unreflektierte Nachvollziehen gesellschaftlicher Strukturen.

Ein bekanntes Beispiel ist, wenn eine Auswahlkomission für einen Chefposten bedauert, dass sich kaum qualifizierte Frauen für den Posten gefunden hätten und am Ende einen Mann als Chef empfehlen. Ist das dann ein falscher Blick auf Qualifikationen und Befähigungen von Menschen? Ist das ein Effekt von negativen Selbstbildern bei Frauen, die zu oft an die gläserne Decke gestossen sind? Ist es ein Effekt von Zuschreibungen an Frauen und Männer? Ist es ein Effekt, der in dieser Situation realistisch ist, aber nicht bedenkt, dass dieses „Fehlen“ von qualifizierten und / oder für den Posten gewillten Frauen Ergebnis gesellschaftlicher Bilder ist? Oder das „Vorhandensein“ von qualifizierten und / oder für den Posten gewillten Männern Ergebnis der gleichen gesellschaftlichen Bilder?

Während das Konzept der „Gläsernen Decke“ einen Teil dieses Phänomens zu erklären hilft, hilft das Konzept des „Gläsernen Fahrstuhls“ einen damit zusammenhängenden Teil des Phänomens aufklären. Dass es gerade am Bibliothekswesen und ähnlichen Berufszweigen erarbeitet wurde, ist deshalb beachtlich, weil es selbstverständlich Frauen in den Führungspositionen und in den Spezialabteilungen der Bibliotheken gibt; aber weit überdurchschnittlich – im Vergleich zum Männeranteil im Berufsfeld – Männer. Dabei fühlen sich die Angestellten, welche Willams befragt, zumeist fair behandelt; ebenso finden sich – wie schon erwähnt – in der Profession auch immer wieder Stimmen, die postulieren, dass es bei der Frage, wer in den Bibliotheken wo arbeite, einzig um die Befähigungen der Personen, nicht um das Geschlecht ginge.2

„Both men and women who work in nontraditional occupations encounter discrimination, but the forms and the consequences of this discrimination are very different for the two groups. Unlike ‘nontraditional’ women workers, most of the discrimination and prejudice facing men in the ‘female’ professions comes from clients. For the most part, the men and women I interviewed believed that men are given fair ‒ if not preferential ‒ treatment in hiring and promotion decisions, are accepted by their supervisors and colleagues, and are well-intergrated into the workplace subculture. Indeed, there seem to be subtle mechanisms in place that enhance men’s positions in these professions ‒ a phenomenon I refer to as a ‘glass escalator effect’.“ (Williams 1995, p. 107f.)

Komplexere Verhältnisse

In einem bislang nur als „OnlineFirst“ erschienen – und hinter einer Paywall versteckten – Artikel, äussert sich Williams selber nach nicht ganz zwanzig Jahren zu ihrem Konzept. [Williams, Christine L. / The Glass Escalator, Revisited : Gender Inequality in Neoliberal Times. In: Gender & Society, Online First (June 11, 2013), doi: 10.1177/0891243213490232] Grundsätzlich kann sie darauf verweisen, dass sich das Konzept empirisch bestätigt hat, auch wenn es ergänzt wurde. So ist es, um den Effekt des „Gläsernen Aufzugs“ zu bestimmen, immer wieder notwendig, in den Berufen zu bestimmen, was überhaupt als höherwertige Spezialisierung gilt.3

Gleichzeitig übt Sie selber Kritik an Ihrem Konzept. Zuerst sei es unter der Voraussetzung relativ stabiler Jobchancen in den untersuchten vier Berufen gebildet worden, was heute nicht mehr gegeben sei, da auch diese Spardiktaten und Flexibilisierungen unterworfen seien. Das macht es schwieriger, zu bestimmen, was die Vorteile bestimmter Berufspositionen sind.

„[…] I will argue, that the concept is limited because it is based on traditional assumptions about work organizations, such as the expectation of stable employment, bureaucratic hierarchies, and widespread support for public institutions.“ (Williams 2013, p. 2)

Zudem, und dies ist die wichtigere Kritik Williams, war Ihre Analyse zu sehr auf die Kategorien Mann / Frau gerichtet und beachtete andere Ungleichheitsverhältnisse praktisch nicht.

„When I originally formulated the concept of the glass escalator, I realized that it did not apply to all men. Gay men and racial/ethnic minority men, in particular, seemed to be excluded from the benefits of the glass escalator. But I didn’t theorize that exclusion – I merely mentioned that the experiences of gay men and nonwhite men were ‚different‘ and left is at that.“ (Williams 2013, P. 5)

Williams greift dabei auf die Debatte um Intersektionalität zurück, die zur Zeit in den feministischen Wissenschaften starke Relevanz erhalten hat. Intersektionalität verweist darauf, dass die Gesellschaft nicht anhand eines Ungleichheitsverhältnisses zu bestimmen ist, sondern dass sich die gesellschaftlichen Strukturen aus unterschiedlichen Ungleichheitsverhältnissen kumulieren. Wer nur über die Kategorie Frau/Mann nachdenkt, kann zum Beispiel den Effekt, welchen die Kategorie Weiss/Nicht-Weiss zeitigt, nicht beachten. Gleichzeitig sind die Ungleichheitsverhältnisse nicht additiv strukturiert, also nicht einfach in dem zu beschreiben als: die Kategorie Frau wirkt ABC, die Kategorie Nicht-Weiss wirkt XYZ, also ist eine Person, die Frau und Nicht-Weiss ist, sowohl ABC als auch XYZ unterworfen. Vielmehr ist sie in einer bestimmten Form als Nicht-Weisse Frau wirksam.

„Unter dem Begriff ‚Intersektionalität‘ hat sich in der internationalen Geschlechterforschung […] eine Perspektive formiert, die insbesondere die Einsicht der Interdependenz der Kategorie Geschlecht zum Programm macht und kritisch erörtert: Ein Gegenstand ist stets auf die Schnittpunkte, auf das je spezifische Verhältnis beziehungsweise die Wechselwirkungen von – insbesondere – Geschlecht, Klasse und Ethnizität hin zu untersuchen.“ (Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth / Editorial: Tagung Macht Thema. In: Hess, Sabine ; Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth (Hrsg.) / Intersektionalität revisited : Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld : Transcript Verlag, 2011, 9-13, hier: S. 9)

Williams greift diese Perspektive auf und zeigt an Beispielen, die andere Forschende in Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Gläsernen Aufzugs“ geleistet haben, wie viel komplexer die Realität ist.

So findet sich der 1995 bei Pflegern beschriebene Effekt nicht bei black nurses. Vielmehr: Während die von Williams einst interviewten Pfleger schilderten, dass sie immer wieder einmal als Ärzte wahrgenommen und angesprochen wurden – weil sie Männer im Krankenhaus waren –, schildern black nurses in anderen Studien, dass ihnen von Zeit zu Zeit jede Kompetenz abgesprochen wird. (Williams 2013, p. 7f.)

Gleichzeitig gilt der „Gläserne Aufzug“ nicht im gleichen Masse für Schwule. Hier wird es noch komplexer. Schaffen es Schwule, ein „passing“ zu performen, also gerade als wenig oder nicht-schwul „durchzugehen“, können sie vom „Aufzug“ profitieren. Allerdings: Gibt es gesonderte gesetzliche Regelungen, die auch durchgesetzt werden – Williams führte eine Studie von Catherine Connell an, die dies in Californien, also einem explizit progressiven Bundesstaat der USA, untersuchte –, kann es sein, dass Schwule und Lesben nur akzeptiert werden und von dieser gesetzlich bestimmten Förderung profitieren können, wenn sie gerade den Stereotypen von Homosexuellen entsprechen. (Williams 2013, 8f.)

Weiterhin ist die Klasse (oder soziale Schicht) eine wichtige Voraussetzung für das „Nutzenkönnen“ des „Gläsernen Aufzugs“. Nur in Berufsfeldern, die überhaupt einen Aufstieg oder eine Spezialisierung erlauben, ist er nutzbar. Je mehr aber ein Berufsfeld als „proletarisch“ gilt und von Personen aus proletarischen Familien als gewünschtes Berufsfeld angestrebt wird – was ja auch ein bekannter Effekt der gesellschaftlichen Strukturierung ist –, um so weniger gibt es solche Aufstiegschancen überhaupt. Dead end jobs wie Verkäufer oder Coiffeur führen eher dazu, dass Menschen egal welchen Geschlechts, zeitlebens wenig berufliche und damit auf finanzielle Änderungen erfahren. (Williams 2013, p. 9f.)

Hinzu kommt die Veränderung des Arbeitsmarktes, die dazu führen, dass Menschen in bestimmten Berufszweigen immer mehr und immer schneller die Arbeitsplätze wechseln. Dies führt zum Teil zu einem noch schwieriger festzustellenden Verteilen von Berufschancen, da sich diese nicht mehr nur dadurch auszeichnen, wer wann in welche Position aufsteigt, sondern zum Beispiel auch darin, wer wann bestimmte Jobs in Richtung welcher anderen Jobs oder Tätigkeiten verlässt. Williams führt den Fall von women geoscientists an, die an sich zu ungefähr gleichen Zahlen wie Männer ihr Studium abschliessen und ebenso in ungefähr gleicher Zahl von den grossen Firmen in der Öl- und Gasindustrie angeworben werden, aber zehn Jahre später fast vollständig aus diesen – gut bezahlten und herausfordernden – Jobs „verschwunden“ sind. (Williams 2013, p. 14)

Williams schliesst daraus, dass zur Beschreibung dieser Effekte neue Begrifflichkeiten notwendig werden und „Gläserner Aufzug“ (ebenso wie „Gläserne Decke“) nur ungenügend genau beschreibt, was in den Berufsfeldern passiert.

„Gender inequality characterizes both the traditional and the neoliberal models of work organizations. […] But I believe we need new metaphors to capture the workings of gender inequality in the neoliberal context. The glass ceiling and the glass escalator seem far too static to capture what is going on in our current era of flexible, project-based, horizontal, and contingent employment.“ (Williams 2013, p. 13)

„I now believe that any discussion of the gass escalator must be attuned to how racism, homophobia, and class inequality advantage some groups of men, and exclude and discriminate against others.“ (Williams 2013, 16)

Des Weiteren fordert Williams, dass eine Kritik der Geschlechterverhältnisse, die – im Sinne der Intersektionalität – mit einer Analyse weiterer Ungleichheitsverhältnisse verbunden sein muss, grundiert sein sollte in einer Kritik des Kapitalismus. (Williams 2013, p.16-18) Für Williams scheint es offensichtlich, dass ein Ignorieren der Realität der Arbeitsverhältnisse bei einer Analyse der Geschlechterverhältnisse diese Situationen nur verschlimmert. Die Realität der Arbeitsverhältnisse sei in den letzten rund 20 Jahren zu schlecht geworden, um nicht zur Kenntniss genommen zu werden.

„Do women janitors deserve to be treated the same as men janitors? Yes, of course they do. But they also deserve more than $8.35 an hour, which will not happen unless their employers are forced to pay them more. That is why a critique of capitalism must accompany our critique of gender inequality.“ (Williams 2013, p. 17)

Der „Gläserne Aufzug“, so schliesst Williams, würde nur die Situation von weissen, heterosexuellen Männern in traditionell strukturierten Arbeitsfeldern beschreiben.

Bibliothek

Auch wenn man Williams Selbstkritik vollständig teilt,4 bleibt die Frage offen, ob die Bibliothek als Berufsfeld immer noch die Effekte von „Gläserner Decke“ und „Gläsernen Aufzug“ zeitigen. (Weitergehend könnte man fragen, ob dies nur in den USA – wo Williams forscht – gilt. Aber ich sehe keinen Grund, warum dem so sein sollte. In dem Punkt sind die deutdschsprachigen Bibliothekswesen gewiss nicht anders als das US-amerikanische.) Dabei würde es gar nicht nur darum gehen, dies nachzuweisen oder zu widerlegen; es würde sich vor allem die Frage stellen, was es für die Praxis in Bibliotheken bedeutet. (Gerne wird ja vergessen, dass die Wissenschaft auch die Aufgabe hat, die Realität so darzustellen, dass sie veränderbar wird, zumindest aber ein Reflexionvorgang angeregt werden kann.) Würde es zu verändern sein? Sollte es verändert werden? Eine Forschungsfrage wäre, was den Bibliotheken tatsächlich durch einen „Gläsernen Aufzug“ entgeht. Sicherlich: Er ist unfair, demokratietheoretisch untragbar und vor allem führt er wohl auch dazu, dass Fehlurteile getroffen werden, die Individuen betreffen. Aber wie gross sind die negativen Effekte eigentlich? Wie könnte die Bibliothek heute aussehen, wenn sie zumindest diese Ungerechtigkeit ausmerzen würde. Hätte sie bessere Chefinnen und Chefs (halt die wirklich besten)? Motivierte Mitarbeitende (weil nicht in Ihrer Karriere auf Positionen geschoben, die sie nicht wollen oder davon abgehalten, die Positionen zu erreichen, die sie erreichen könnten)? Hätte die Bibliothek ein anderes Selbstbild? Weniger Personal, dass in andere Berufszweige wechselt oder sich in anderen Lebensbereichen mehr engagiert?

Williams Konzept, dass wie gesagt unter anderem am Berufsfeld Bibliothek gebildet wurde, als auch ihre Selbstkritik, ist – wie gute Wissenschaft – eine ständige Provokation. Die Personalzusammensetzung von Bibliotheken, bibliothekarischen Verbänden, Redaktionen bibliothekarischer Zeitschriften, der Bibliothekswissenschaft, der Beratungsdienstleistungsfirmen für Bibliotheken sowie der Aus- und Weiterbildung im bibliothekarischen Feld sind nicht zufällig so besetzt, wie sie es sind. Sie sind offen für theoretischen und politische Interventionen.

Literatur

Accart, Jean-Philippe (2013) / L’information documentaire: une affaire de „genre“ ou de compétences et d’aptitudes particulères?. In: arbido (2013) 2, 41-42

Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth (2011) / Editorial: Tagung Macht Thema. In: Hess, Sabine ; Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth (Hrsg.) / Intersektionalität revisited : Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld : Transcript Verlag, 2011, 9-13

Rodríguez, Encarnación Gutiérrez (2011) / Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen. In: Hess, Sabine ; Langreiter, Nikola ; Timm, Elisabeth (Hrsg.) / Intersektionalität revisited : Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld : Transcript Verlag, 2011, 77-100

Snyder, Karrie Ann ; Green, Adam Isaiah (2008) / Revisiting the Glass Escalator: The Case of Gender Segregation in a Female Dominated Occupation. In: Social Problems 55 (2008) 2, 271-299, doi: 10.1525/sp.2008.55.2.271

Williams, Christine L. (2013) / The Glass Escalator, Revisited : Gender Inequality in Neoliberal Times. In: Gender & Society, Online First (June 11, 2013), doi: 10.1177/0891243213490232

Williams, Christine L. (1995) / Still a Man’s World: Men Who Do “Women’s Work” (Men and Masculinity). Berkeley ; Los Angeles ; London : University of California Press, 1995

Fussnoten

1 Wobei dies berechtigte Interessen sind, um einen Beruf zu wählen. Die Frage ist nur, warum diese Erwartungen der Männer statistisch so berechtigt sind.

2 Zuletzt wohl: Accart, Jean-Philippe / L’information documentaire: une affaire de „genre“ ou de compétences et d’aptitudes particulères?. In: arbido (2013) 2, 41-42.

3 Vgl. u.a. Snyder, Karrie Ann ; Green, Adam Isaiah / Revisiting the Glass Escalator: The Case of Gender Segregation in a Female Dominated Occupation. In: Social Problems 55 (2008) 2, 271-299, doi: 10.1525/sp.2008.55.2.271.

4 Darauf soll explizit verwiesen werden: Willimas zeigt in ihrem Text beispielhaft, wie eine offene Forschung aussehen sollte. Sie akzeptiert die Grenzen Ihres eigenen Konzeptes, hat kein Problem damit, Fehleinschätzungen einzugestehen und akzeptiert (und nutzt) die Arbeiten anderer Forschender vor allem als Beitrag zu einem gemeinsamen Forschungsprojekt und nicht als Angriff auf ihre Position oder gar sie selber als Person. Zudem verteilt sie expliztit Dank an diejenigen Forschenden, die ihr Denken vorangebracht haben.

Ein Beispiel der NutzerInnenforschung aus der DDR (1975)

Es gibt die Vorstellung, dass die Hinwendung zu den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer in Bibliotheken ‒ die sich beispielsweise durch die zahllosen unterschiedlichen Umfragen unter ihnen oder auch des Heranziehens ihres (tatsächlichen oder vorgeblichen) Willens bei der Planung von bibliothekarischen Dienstleistungen zeigt ‒ etwas relativ Neues wäre. Bislang hätten die Bibliotheken eher aus sich heraus gelebt, in den letzten Jahren hätten sie sich den Nutzerinnen und Nutzern zugewandt. Zuvor hätte man kaum gewusst, was diese Nutzerinnen und Nutzer eigentlich tun. Deshalb auch gelten Umfragen als modernes Managementinstrument und das Einbeziehen von Jugendlichen bei dem Umgestaltung von Bibliotheken als Innovativ. Nur: Das stimmt so nicht.

Vielleicht kann man heute ‒ aber auch das sollte zuvorderst untersucht werden ‒ von einer neuen Qualität dieser Hinwendung zu den Nutzerinnen und Nutzern gesprochen werden; eventuell ist auch der Diskurs um Transparenz und Partizipation in Bibliotheken relevanter geworden, als er es zuvor war. Aber die Idee, man müsse, um eine Bibliothek sinnvoll zu steuern, wissen, wer die Nutzerinnen und Nutzer sind beziehungsweise was diese wollen, ist schon einige Jahrzehnte immer wieder gedacht und geäussert, zum Teil auch in konkreten Projekten umgesetzt worden.

Die Untersuchung 1970

Ein erstaunliches, weil doch schon älteres und quasi vergessenes Beispiel dafür liefert die Publikation Benutzungsanforderungen an Staatliche Allgemeinbibliotheken.1 Erstaunlich ist diese Untersuchung, weil sie in einem anderen gesellschaftlichen System durchgeführt wurde und dabei selbstverständlich eine andere Terminologie nutzte, auch Rekurs auf einige heute nicht mehr vertretende Ideologeme nimmt, aber so anders als heutige Untersuchungen dann doch nicht ist. Vielmehr: Die Untersuchung wäre, würde sie heute durchführt, immer noch eine erstaunlich umfassende.
Das die Untersuchung durchführende Zentralinstitut für Bibliothekswesen hatte die Aufgabe, in der DDR die Planung des Bibliothekswesens zu ermöglichen, Forschungen im Bereich Bibliotheken durchzuführen und in gewisser Weise das, was heute wohl als Marketing- und Beratungsdienstleistung beschrieben wird, durchzuführen.2 Die in der hier besprochenen Publikation dargestellte Untersuchung war eine dieser Forschungsleistungen.
Aufgabe war, die Anforderungen an die Staatlichen Allgemeinbibliotheken ‒ welche die Aufgaben von Öffentlichen Bibliotheken im Rahmen des staatlich geplanten Bibliothekswesens übernahmen3 ‒ durch die Nutzerinnen und Nutzer zu erfassen und daraus Schritte zur Gestaltung der Bibliotheksarbeit abzuleiten. Diese Schritte waren, ebenso wie die Bibliotheken, immer eingelassen in die Aufgaben, welche den Bibliotheken zugeschrieben wurde. Gleichzeitig ‒ aber dies ist nicht DDR-spezifisch ‒ wurden die Bibliotheken eine grössere Fähigkeit und Aufgabe bei der Lenkung der Leseinteressen von Nutzerinnen und Nutzern als heute zugeschrieben.4 Nicht zuletzt agierten Bibliotheken in der DDR innerhalb einer Zensur- und Verknappungspraxis im Bezug auf Literatur.5 Von einem freien Zugang zu allen Medien konnte gar nicht erst ausgegangen werden.

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Titel

Trotzdem: Grundsätzlich wurde davon ausgegangen, dass die Anforderungen der Nutzenden und die der Gesellschaft sich überschneiden:

“Die gesellschaftlichen Anforderungen drücken sich als Benutzungsanforderungen, als Bedarf an Bibliotheksbenutzung aus, der von konkreten Personen an die Bibliotheken herangetragen wird.

Die Benutzungsanforderungen an StAB [Staatliche Allgemeinbibliotheken, KS] stellen also eine Konkretisierung und in der Mehrzahl der Fälle auch eine Individualisierung der objektiven gesellschaftlichen Anforderungen dar.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Die Definition der “Benutzungsanforderungen” ist relativ umfassend.

”In diesen Ausführungen wird von ‘Benutzungsanforderungen’ gesprochen. Wir verstehen darunter von Benutzern geäußerte Anforderungen, die sich auf die Literatur und ihre Inhalte (Bestand und dessen Zugriffsmöglichkeiten) richten, desgleichen auf Breite und Vielfalt des Angebotes an Dienstleistungen (einschl. der Beschaffung von Literatur aus anderen Bibliothekseinrichtungen); auf gute Erreichbarkeit (ausgebautes Netz und ausreichende Öffnungszeiten); auf Aufenthaltsmöglichkeiten (gut ausgestattete Räume einschl. der Möglichkeiten von Gruppenarbeit und Teilnahme an Veranstaltungen).

Benutzung muß daher in doppeltem Sinne verstanden werden:

– als Aktivität der Bibliotheken, die Benutzung ermöglichen und anbieten;

– als Aktivität der Benutzer, die die Bibliotheken und deren Leistungen benötigen. Die Benutzung von Bibliotheken setzt auf der Grundlage der dargelegten objektiven Anforderungen jeweils die freie Entscheidung der Persönlichkeit voraus.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Eine Grundidee der Arbeit war, dass es “objektive” Gründe für die Nutzung von Literatur beziehungsweise das Interesse an ihr gebe. Diese objektiven Gründe ergaben sich aus der gesellschaftlichen Stellung der jeweiligen Personen. Sicherlich ist der Begriff “objektiv” heute schwierig, wurde damals aber in Übereinstimmung mit dem historischen Materialismus gebildet, der ja von einer direkten Verbindung von gesellschaftlicher Stellung und (notwendiger) Ideologie ausging.

“Ausdrücklich muß betont werden, daß die Untersuchung n i c h t einen Leistungsnachweis anstrebte. Das Angebot der Bibliotheken und die Anforderungen seitens der Bevölkerung werden sich in Wechselwirkung miteinander verändern, und somit werden sich auch einige Proportionen in den Benutzungsergebnissen verändern. Mit wachsendem Angebot werden die Leistungen steigen.

Es geht in dieser Untersuchung um die Beziehungen zwischen Literatur/Benutzung und Literatur/Benutzer sowie Bibliothek/Benutzer. Es handelt sich um eine komplizierte Frage, die nicht durch eine einzige empirische Untersuchung beantwortet werden kann. Er kommt darauf an, jedes Literaturwerk im Lichte seiner spezifischen Benutzung zu sehen und darauf auch effektivere Vermittlungs- und Erschließungsmethoden zu gründen. Mit dieser Forschungsrichtung befinden wir uns in Übereinstimmung mit sowjetischen Fachkollegen, die an einer sozial-psychologisch bestimmten Klassifizierung der Leser arbeiten.” (Waligora & Proll 1975, 7)

Im Rahmen der Untersuchung wurden nun angestrebt, alle ‒ wirklich alle ‒ Benutzungsfälle in einer Anzahl von Staatlichen Allgemeinbibliotheken zu erfassen. Dies war kein kleines Forschungsprogramm, dass letztlich 1970 ‒ nach einem Testdurchgang in Rathenow 1969 ‒ innerhalb einer April-Woche in Altenburg, Bautzen, Güstrow, Köthen, Malchin, Mühlhausen, Staßfurt, Zittau und Zossen durchgeführt wurde:

“Um Art und gesellschaftliche Herkunft der Anforderungen an Literatur zu ermitteln, wurde bei jedem Entleihungsfall nach dem ‘Benutzungszweck’ gefragt. […]

Der Ordnung der entliehenen Literatur wurde die in den StAB verbindliche Gliederung der Literatur, die Gruppenbildung der ‘Systematik für allgemeinbildende Bibliotheken’ (SAB) zugrundegelegt. Auch für die Erfassung a l l e r Tätigkeiten, die die Benutzer bei ihrem Besuch in der Bibliothek ausübten, wurden entspechende Vorgaben erarbeitet. […]

Um die Verhaltensweise der Benutzergruppen besser kennenzulernen, fragten wir nach einigen Benutzungsgewohnheiten und -bedingungen. (Entfernung von der Bibliothek, Häufigkeit des Bibliotheksbesuches; Benutzung weiterer Bibliotheken; Benutzung des Fernleihverkehrs).” (Waligora & Proll 1975, 11)

Titelseite.
Titelseite.

Ergebnisse der Untersuchung

Die empirische Darstellung der Ergebnisse der einen Untersuchungswoche erfolgt ohne Vergleich (die Bibliotheken wurden zusammengezählt, eine Differenzierung fand nicht statt; ebenso wurde nicht mit der Gesmtbevölkerung der DDR verglichen). Insoweit ist gerade heute deren Aussagekraft gering.6 Tendenziell nutzten auch in der DDR Schülerinnen und Schüler die Bibliotheken mehr als andere Gruppen. So gibt eine Übersicht an, dass von den Nutzerinnen und Nutzern 32,1% “Beruftätige” waren (“Arbeiter und Angestellte” 25,6%, “Genossenschaftsbauern” 0,4%, “Angehörige der Intelligenz” 4,3%, “Handwerker oder Gewerbetreibende” 0,5%, “Sonstige” 1,3%), “In Ausbildung Stehende: 49,3%” (“Studenten” 9,5%, “Lehrlinge” 7,9%, “Schüler 31,9%) und “Nicht Berufstätige: 18,6% (“Hausfrauen” 2,6%, “Rentner, 16,0% (Waligora & Proll 1975, 20f.) Ebenso ist ein “Leseknick” (also ein rabiater Einbruch der Nutzungszahlen in einem bestimmten Alter) festzustellen, allerdings erst nach 25 Jahren (15-18 Jahre: 25,3%, 18-25 Jahre: 20,5%, 25-35 Jahre: 12,0%)
Grundsätzlich spricht die Untersuchung den Bibliotheken eine hohe Leistungsfähigkeit zu:

“- Die StAB erfüllen ihre Aufgabe, sich an alle Bevölkerungsschichten zu wenden. Wenn die jugendlichen Jahrgänge (s. Altersstruktur) zahlenmäßig einen so großen Raum einnehmen, so wird damit eine wichtige Aufgabe unterstrichen. Es handelt sich um die Arbeiterklasse von morgen. Gegenwärtig wird die Arbeit der Bibliotheken durch diese Benutzer sehr geprägt. Neueste repräsentative Zählungen bestätigen die in dieser Untersuchung in Erscheinung getretenen Ergebnisse.

– Die Altersstruktur der Benutzerschaft zeigt bei dem 25. Lebensjahr noch immer die bekannte Zäsur, hier tritt das Absinken auf. Erst bei zunehmendem Alter beginnen die Anteile wieder zu steigen. […]

– Die Zahlenergebnisse nach den Gesichtspunkten der Schulbildung, Fachausbildung und der nebenberuflichen Qualifizierung zeigen, daß die StAB es mit steigenden Ansprüchen zu tun haben, die an alle Mitarbeiter im Bibliothekswesen höhere Ansprüche stellt.” (Waligora & Proll 1975, 26)

Auch die weiteren Zahlen bestätigen grundlegend bekanntes Wissen, beispielsweise, dass mit der Entfernung zur Bibliothek die Nutzung der gleichen sinkt (Höchststand bei 5-15 Minuten Entfernung) oder das die Mehrzahl der Nutzerinnen und Nutzer die Bibliothek normalerweise einmal im Monat nutzt. Interessant ist vielleicht noch, dass nach der Sachgruppe “Philosophie, Religion” (mit 1,9% der Ausleihen) die Sachgruppe “Marxismus-Leninsmus” mit 2,0% der Ausleihe die am zweitseltesten ausgeliehene Nutzungsgruppe bei der Sachliteratur bildete (gefolgt von “Mathematik, Kybernetik” und “Hauswirtschaft” mit jeweils 2,1%). Dies wird berichtet, aber – obgleich dies vielleicht zu erwarten gewesen wäre – nicht weiter kommentiert. “Gewonnen” hatten “Naturwissenschaften” mit 10,4%, “Erd-, Länder- und Völkerkunde, Reisebeschreibungen” mit 12,4% und “Technik” mit 20,5%. Auch in der DDR wurde hauptsächlich Belletristik entliehen (mit 61,8%).
Hervor sticht in der Untersuchung, dass zur Auswertung der Daten eine Methode eingesetzt wurde, die denen der heute gerne empfohlenen “Personas” ähnelt (auch wenn den Personen keine Namen gegebenen wurden). Es wurden insgesamt dreizehn Nutzungsprofile erstellt, denen unterschiedliche Literaturinteressen zugeschrieben und deren Profile dann in der Gesamtnutzerinnenschaft der Bibliotheken verortet wurden (Waligora & Proll 1975, 48-58):

  • “Einfach lesen” (32,1%)

  • “Interesse am Thema” (18,9%)

  • “Interesse am Autor” (11,6%)

  • “Sachinteresse” (9,0%)

  • “Hobby” (7,4%)

  • “Schule” (5,1%)

  • “Interesse an der Literatur des Landes” (3,7%)

  • “Fachschule” (2,7%)

  • “Hochschule” (2,7%)

  • “Berufsausbildung” (2,6%)

  • “Berufsausübung” (1,4%)

  • “laufende berufliche Information” (1,4%)

  • “Gesellschaftliche Tätigkeit” (1,4%)

Des Weiteren wurde zusammengetragen, was die Nutzerinnen und Nutzer eigentlich in der Bibliothek tun. Dabei stellte die Auswahl aus der Freihandausstellung mit 86,7% (der Nutzerinnen und Nutzer bei einem beobachteten Besuch) die Hauptaktivität dar, gefolgt von der Beratung durch Bibliothekarin und Bibliothekar (27,1%) sowie Auskunftserteilung (11,8%). Die Katalogbenutzung lag bei 9,9%. Die Zeitschriftennutzung lag bei insgesamt 12,8% und damit wenig hoch.
Die Zusammenfassung dieser Auswertung liest sich – lässt man die Terminologie fort – wieder recht modern:

“Die Untersuchung hat ergeben, daß die Benutzung in den Räumen der Bibliothek eine zunehmende und bedeutende Rolle spielt. Die Ergebnisse zeigen Tendenzen, aus denen zu ersehen ist, daß die ideologische und wissenschaftliche Wirksamkeit noch zu erhöhen ist. Die Verhaltensweise der einzelnen Benutzergruppen geben dafür aufschlußreiche Anhaltspunkte.

Zurückkommend auf das eingangs zur Rolle und Bedeutung der Bibliotheksbenutzung und der Rolle der Dienstleistungen Gesagte läßt sich unter Stützung auf die Untersuchungsergebnisse feststellen, daß die Wirksamkeit der Dienstleistungen einerseits durch die Aktivitäten der Benutzer bestimmt wird, diese jedoch andererseits durch Vorhandensein und Angebot der Bibliotheken hervorgerufen werden. Das Angebot der Bibliotheken ist die Voraussetzung die Vorgabe. Somit besteht eine Wechselwirkung zwischen beiden Aktivitäten. Die Benutzer bedienen sich dabei in unterschiedlicher Weise der Einrichtung Bibliothek.

Die Inanspruchnahme der Dienstleistungen der Bibliotheken ist an die funktionstüchtige stationäre Bibliothek gebunden. Literaturbeschaffung und Literaturbenutzung kann auch auf anderen Wegen zustandekommen als dem durch die StAB. Je besser aber die StAB mit über die Literaturbeschaffung hinausgehenden Dienstleistungen ausgestattet sind, umso wirkungsvoller wird Bibliotheksbenutzung über die bloße Beschaffung hianus. Die Ergebnisse haben bestätigt, daß sich die Benutzer vielfältig in der Bibliothek betätigen.

Die Benutzergruppe verhalten sich dabei unterschiedlich, sie orientieren sich schwerpunktmäßig auf verschiedene Aktivitäten, vom umfangreichen Entleihen, der Benutzung vieler Dienstleistungen bis zur gezielten Literatur- und Informationssuche. Keine Aktivität ist gegen die andere abzuwerten.” (Waligora & Proll 1975, 119)

“Die Bibliotheken entwickeln sich immer mehr vom bloßen Ausleihzentrum zum geistig kulturellen Zentrum. Das zunehmende Bedürfnis, sich in den Räumen der Bibliothek länger aufzuhalten, muß als ein wichtiger Hinweis betrachtet werden. Ausreichende und ansprechende Bibliotheksräume sind dazu notwendig. Der Raumbedarf der Bibliotheken darf nicht nur bemessen werden nach der Stellfläche für Bücher, sondern nach den Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten für Benutzer.” (Waligora & Proll 1975, 127)

Heute

Die Untersuchung des Zentralinstituts hat heute in den Zahlen gewiss nur noch historischen Wert. Sie wurde für Bibliotheken in einem anderen gesellschaftlichen System, in einem nicht mehr existierenden Staat und zudem vor Jahrzehnten durchgeführt. Erstaunlich ist vielleicht, wie wenig das, was man heute über die DDR weiss (vor allem die Zensur und politische Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Systemen) in der Studie selber vorkommt.
Interessant scheint mir, wie viel von dem, was man heute als moderne Nutzerinnen- und Nutzerforschung beschreiben könnte, selbst das, was heute den Bibliotheken immer wieder als neues Paradigmen vorgeschlagen wird, in der Studie ‒ wenn auch teilweise in anderer Terminologie ‒ vorkommt. Grundsätzlich liesse sich die Studie, wieder mit anderer Terminologie und leicht verschobenen Fragestellungen ‒ beispielsweise anderen Gruppen, die Unterteilung in Intelligenz oder Genossenschaftsbauern interessiert zum Beispiel aktuell weniger ‒ heute ähnlich wiederholen. (Dabei muss man bedenken, dass die Studie gewiss keine Einzelerscheinung war, sondern aus einer weiteren Forschungspraxis entstanden sein wird.)
Ist das erstaunlich? Nicht wirklich, die Fragen haben sich so gross nicht geändert. Zu erwähnen ist selbstverständlich, dass es offenbar immer wieder eine Abgrenzung zu einem “Früher” gibt. Nur: Wann und wo war dieses Früher eigentlich genau? Wenn in den 70er Jahren gesagt wird, die Bibliotheken würden heute zum Arbeitsraum und wären nicht mehr nur Ausleihzentrum und in den 2010er Jahren ebenso, ist irgendetwas komisch. Hier scheint es weniger um eine wirkliche Bibliotheksgeschichte zu gehen, sondern mehr um ein Selbstbild der Bibliothek.
Mir ist die Publikation eher zufällig in die Hand gefallen und ich wollte hier nur mein Erstaunen mitteilen.

 

Fussnoten

1 Waligora, Johanna ; Proll, Rotraud (1975) / Benutzungsanforderungen an Staatliche Allgemeinbibliotheken : Untersuchungsergebnisse aus ausgewählten Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik (Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit ; 19). Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen,1975.

2 Eine weit kritischere, gleichwohl polemische Darstellung des Zentralinstituts findet sich im letzten Kapitel bei Rothbart, Otto-Rudolf (2002) / Deutsche Büchereizentralen als bibliothekarische Dienstleistungsinstanz : Gestaltung und Entwicklung von Zentraleinrichtungen im gesamtstaatlichen Gefüge (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München ; 69). Wiesbaden : Harrassowitz, 2002.

3 Oder im Jargon der DDR: “Bedeutende Veränderungen vollzogen sich am Ende der 60er Jahre in der Arbeit der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken. Um die Versorgung der am Ort tätigen wissenschaftlichen Kader mitzuübernehmen, mußten sie in breitem Maße wissenschaftliche und Spezialliteratur in ihre Bestände aufnehmen. Zur Unterstützung der sozialistischen Bewußtseinsbildung, der sozialistischen Allgemeinbildung und der Aus- und Weiterbildung war es erforderlich, Informationsbestände aufzubauen und eine große Palette von Fachzeitschriften bereitzuhalten. Neue Medien (auditive, visuelle und audiovisuelle Mittel) fanden als Bestandseinheiten Eingang in die Bibliotheken. War mit den vorhanden Literaturfonds einerseits die niveauvoll Unterhaltung und schöpferische Freizeitgestaltung der Bevölkerung zu fördern, so mußte andererseits die auf das Territorium bezogene regionalkundliche Literatur ‒ unter Einschluß von Veröffentlichungen der örtlichen Organe und Einrichtungen ‒ gesammelt, erschlossen und archiviert werden. (…)

[Somit, KS] stellen die staatlichen Allgemeinbibliotheken den territorial wirksam werdenden Teilbereich des Bibliothekssystems der DDR dar. […] Der mit der 5. DB [Durchführungsbestimmung, KS] der BVO [Bibliotheksverordnung, KS] konstituierte Typ der staatlichen Allgemeinbibliothek erwuchs aus den allgemeinen öffentlichen Bibliotheken der 60er Jahre und knüpfte an die progressiven Traditionen dieser Einrichtungen an. Denn die wesenseigenen Merkmal dieses Bibliothekstyps, die umfassende Verbreitung belletristischer und künstlerischer Literatur, die Propagierung gesellschaftswissenschaftlicher und Fachliteratur sowie die Literaturbetreuung von Kindern und Jugendlichen, blieben erhalten.” Marks, Erwin (1987) / Die Entwicklung des Bibliothekswesens der DDR (Zentralblatt für Bibliothekswesen ; Beiheft 94). Leipzig : VEB Bibliographisches Institut, 1987, S.177f.

4 Nicht umsonst veröffentlichte das Zentralinstitut zahlreiche Materialien zur Einführung unterschiedlicher Nutzerinnen- und Nutzergruppen in die Bibliothek. Es wurde einfach davon ausgegangen, dass eine gute Bibliothek die Nutzerinnen und Nutzer lenkt. Vgl. als einer der letzten dieser Publikationen Rossoll, Erika (1989) / Zum Verhalten der Benutzer bei der Literaturauswahl : Untersuchungsergebnisse aus staatlichen Allgemeinbibliotheken (Beiträge zu Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit ; 47). Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen, 1989

5 Emmerich, Wolfgang (2007). Kleine Literaturgeschichte der DDR. Neuauflage. Berlin : Aufbau Verlag, 2007.

6 Das Statistische Jahrbuch der DDR ist zwar bei DigiZeitschriften vollständig digitalisiert, gibt aber nur zu einigen der erhobenen Kriterien Auskunft.

Noch ein bibliothekshistorisches Schmankerl: Übergelassene Elemente eines alten Bestandsmanagementsystems. (In vielen Medien aus den Magazinen der ETH Zürich zu finden.)
Noch ein bibliothekshistorisches Schmankerl: Übergelassene Elemente eines alten Bestandsmanagementsystems. (In vielen Medien aus den Magazinen der ETH Zürich zu finden.)