Vorüberlegungen zu einem notwendigen Neuen Lehrbuch für das Bibliothekswesen: Teil 3

Teil 1: Kapitel 1-4

Teil 2: Kapitel 5.1-5.9

Teil 3: Kapitel 5.9-6

5.10 Projektarbeit und Drittmittel

Der Themenbereich Projektarbeit und Drittmittel wäre für mich einer, der zu einem Lehrbuch hinzukommen müsste. Das wäre eine Entwicklung, die meiner Überzeugung nach auch in Zukunft das Bibliothekswesen prägen wird – hier wäre ich also der Meinung, dass es nicht ein Trend ist, der in zehn Jahren schon wieder einigermassen vorbei sein wird – und die gleichzeitig bislang wenig thematisiert wird. Sowohl in «Bibliothekarisches Grundwissen» als auch in «Le Métier de Bibliothécaire» ist sie bislang, soweit ich das sehe, nicht ausreichend behandelt worden.

Was ich mit dem Thema meine, ist nicht einfach die Arbeit an Projekten. Heute werden in Bibliotheken zahlreiche Arbeiten als «Projekte» durchgeführt (und hier müsste, wie ich gerade beim Schreiben merke, gewiss auch ein Kapitel zum Projektmanagement in das Lehrbuch integriert werden, schon, weil es in vielen Bibliotheken bislang nicht immer optimal organisiert ist) und Kolleg*innen müssen dies in ihren Arbeitsalltag integrieren. Das ist der eine Teil. Aber der andere, der mit wichtig scheint, ist, dass klar sein muss, dass immer Entwicklungen in Bibliotheken über Drittmittel finanziert werden. Das gilt für Wissenschaftliche Bibliotheken noch mehr, aber auch in Öffentlichen Bibliotheken ist dies der Fall.

Angehende Kolleg*innen sollten wissen, was es heisst, Drittmittel zu organisieren (im Idealfall auch mit der Nennung der wichtigsten Drittmittelgeber, wieder für den ganzen DACH-Raum und das gesamte Bibliothekswesen), inklusive der Arbeit an Anträgen. Thematisiert werden sollte aber auch, was es dann heisst, wenn Drittmittel eingeworben sind. Insbesondere sollte diskutiert werden, dass es immer die Gefahr gibt, dass die Arbeit in solchen Projekten «neben der eigentlichen Bibliothek» läuft, von Personen gemacht wird, die in den Bibliotheksalltag nicht integriert sind und dass dann nach dem Ende der Projektzeitlauf die Projekte selber in der Bibliothek nichts hinterlassen wird. Es muss also auch angesprochen werden, dass es Aufgabe der Bibliotheksleitungen ist, die Ergebnisse von Projekten in die Bibliotheksarbeit zu überführen.

Gleichzeitig wird es eine Aufgabe sein, die Kritik an dieser Struktur (also zum Beispiel, dass in solchen Strukturen Personen «verbraucht» werden und nach Jahren der Projektarbeit oft wieder anderswohin in das nächste Projekt müssen, was für die Personen, aber auch die Bibliotheken, die von ihrem Wissen profitieren könnten, negativ ist) zwar anzusprechen, aber auf der anderen Seite die reale Situation zu schildern. Ein Lehrbuch soll nicht politischer Aufruf sein, sondern Einführung in das Thema. (Und dann wird es auch noch wichtig, die Unterschiede in den Ländern des DACH-Raumes anzusprechen.¨Das Wissenschaftsteilzeitgesetz gibt es zum Beispiel nicht in allen dieser Länder.)

5.11 Kooperationen, Verbünde und Konsortien

Ein Thema, welches meiner Meinung nach in den beiden Lehrbüchern, die ich immer als Beispiel anführe, noch immer zu kurz kommt und welches ich in einem neuen Lehrbuch ausgeweitet sehen wollen würde, ist der gesamte Bereich von Kooperationen und Zusammenarbeit in Bibliotheken. Dabei würde es sowohl um bibliothekarische Infrastrukturen wie Verbünden und (institutionalisierte) Konsortien gehen als auch um weniger formalisierte Kooperationen. Angehenden potentiellen Kolleg*innen muss gleich am Anfang klar vermittelt werden, dass sie nicht in einer Bibliothek arbeiten werden, sondern in einem untereinander vernetzten Bibliothekswesen. Man muss das dann noch einmal für verschiedene Bibliothekstypen und -grössen differenzieren, aber grundsätzlich muss klar sein, dass (a) das Bibliothekswesen dazu tendiert, sich intern (also zwischen den Bibliotheken) weiter über die einzelnen Bibliotheken hinaus zu organisieren (beispielsweise in Arbeitsgruppen, Kommissionen, mehr oder minder losen Verbindungen), (b) das Bibliotheken Infrastrukturen wie Verbünde und Konsortien etablieren oder aber (das eher bei Öffentlichen Bibliotheken mit den Fachstellen) staatlicherseits etabliert bekommen, (c) dass Bibliotheken auch dazu tendieren, diese Verbindungen zum Beispiel innerhalb eines Bibliothekstyps immer wieder neu zu knüpfen, selbst wenn sie einmal zerbrechen (ich denke da an die juristischen Bibliotheken, aber es gibt so viele andere Beispiele). Es muss klar sein, dass Bibliothekar*in sein, heute praktisch immer heisst, nicht nur in einem «Haus» tätig zu sein, sondern weiter ständig mit anderen Kolleg*innen in anderen «Häusern» zu kommunizieren.

  • Es sollte zudem – vielleicht anhand von Beispielen, aber immer mit Vorsicht – klar werden, was diese Zusammenarbeit bedeuten kann. Ich denke da an lose Kontakte, «wo man sich halt kennt», als ein Extrem, über Strukturen, die regelmässige Treffen und Vorträge organisieren, bis hin zu offiziellen Kommissionen von Verbänden oder Bibliotheksstrukturen. Was klar werden muss, ist, dass es nicht nur erwartet wird, dass sich Bibliothekar*innen in solche Strukturen einbringen, sondern das es auch für alle Bibliothekar*innen möglich und sinnvoll ist, dies zu tun. (Und für die Kolleg*innen, die einmal in die Leitungsebene wechseln werden, muss auch klar sein, warum es sinnvoll und für die eigene Bibliothek vorteilhaft ist, wenn für solche Kooperationen Arbeitszeit aufgewendet wird.) Vielleicht muss es dann nochmal betont werden, aber ohne Frage ist die Aufgabe der Kooperationen immer, die Arbeit der Bibliotheken bezogen auf ihre jeweiligen Aufgaben effizient zu organisieren.
  • Was so ein Lehrbuch selbstverständlich auch enthalten muss, ist ein Überblick zu den vorhandenen Strukturen, insbesondere den Verbünden, Fachstellen und anderen bibliothekarischen Infrastruktureinrichtungen sowie Konsortien, aber auch den wichtigsten Kommissionen an den Nationalbibliotheken. Zudem sollte klar werden, dass es zum Beispiel immer weitere Verbindungen (ich denke nur an mehr oder minder offizielle Zusammenschlüsse von Öffentlichen Bibliotheken in Kantonen, Bundesländern oder Regionen sowie an Zusammenschlüsse von fachliche ähnlichen Bibliotheken wie den Medizinbibliotheken oder den Museumsbibliotheken) gibt – und das die immer in Entwicklung sind. Eine Sache, die mich an «Bibliothekarisches Grundwissen» immer störte, war, dass dies nur für Deutschland gemacht wird und nicht für den gesamten DACH-Raum, obwohl gerade das ja nicht so schwer wäre, auch die Verbundslandschaft in Österreich, Schweiz und Liechtenstein zu ergänzen.
  • Wichtig wäre auch, dass klar wird, was die Verbünde und so weiter tun, aber auch, dass die Arbeit in Verbundszentralen (oder wie sie heissen) eine mögliche Karriere im Bibliothekswesen darstellt, die mit grossen Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung der Bibliotheken verbunden ist.

5.12 Bau, Bauprojekte, Betrieb von Bibliotheksgebäuden und Magazinen

Das Interesse am Thema Bibliotheksbau scheint in letzter Zeit – erstaunlicherweise, wenn man bedenkt, wie wichtig es vor vielleicht zehn Jahren schien, aber genau deshalb darf man sich bei Lehrbüchern nicht auf kurzfristige Publikationstrends verlassen – stark abgenommen zu haben. Für eine Lehrbuch ist es dennoch relevant, allerdings aus Sicht des Bibliotheksmanagements, nicht aus Sicht des Designs oder Architektur. Grundsätzlich sollte vermittelt werden, welche Aufgaben sich stellen, wenn neue Bibliotheken gebaut oder Bibliotheken grundsätzlich umgebaut werden. Angehende Kolleg*innen sollten frühzeitig lernen, welche Standards es gibt (wobei man wieder für den DACH-Raum die unterschiedlichen Regeln zu Durchsetzung der Standards nennen muss), worauf geachtet werden muss, wenn man die Interessen von Bibliothek, Bibliothekar*innen und Nutzer*innen in die Bauplanung einbringt. Zudem sollten sie auch lernen, dass man grossen Worten und Behauptungen von Architekt*innen nicht vertrauen, sondern eigene Nachforschungen anstellen sollte. Und, dass man bei der Planung den normalen Bibliotheksbetrieb im Auge haben muss. Zudem sollte ein Überblick dazu gegeben werden, wie Planungen von Bauprojekten ablaufen, damit dies nicht erst im Laufe eines solchen Projektes herausgefunden wird. Grundsätzlich sollte ein solches Lehrbuch angehende Bibliothekar*innen darauf vorbereiten, sich beim Bau nicht von Behauptungen oder einfachen, schönen Bildern beeindrucken zu lassen, sich auf den schon vorhandenen Standards abzustützen und sich bei Bauprojekten einbringen zu können. Und es sollte gesagt werden, dass der Neu- und Umbau von Bibliotheken eigentlich kontinuierlich immer irgendwo stattfindet (also nicht nur eine theoretisch möglich ist), auch wenn es die «eigene» Bibliothek nur von Zeit zu Zeit trifft.

Das gleiche gilt für den Bau von Magazinen. Auch der sollte angesprochen und die relevanten Aufgaben beschrieben werden, weil es weiterhin eine wiederkehrende Aufgabe für Bibliotheken darstellt. Wichtig wäre mir, dass man dabei auch nicht darin verfällt, zu behaupten, dass es einen eindeutigen Trend zu kooperativ betriebenen Magazinen gibt, nur weil in den letzten Jahren einige gebaut wurden – aber gleichzeitig zu erwähnen, dass es diese gibt und welche Herausforderungen das stellt.

Was mir in den beiden anderen Lehrbüchern fehlt, ist eine Darstellung der Aufgaben, die sich Bibliotheken auch beim normalen Betrieb, im Bezug auf Gebäude (Bibliotheksgebäude, Magazine, aber wohl auch den «Mitbetrieb» von solchen Annexen wie Gemeindesälen) stellt. Das ist eine alltäglichere Aufgabe als der Neu- und Umbau, aber eine, die auch organisiert werden muss. Dabei würde es darum gehen, welche Routinen etabliert werden müssen (zum Beispiel die regelmässige Raumpflege, die Überprüfung von Temperatur, Feuchtigkeit, Fenstern, Bau und so weiter, die Katastrophenplanung – die noch mehr umfasst, selbstverständlich), aber auch, dass das oft bedeutet, diese Aufgaben «auszulagern». Für potentielle Kolleg*innen wäre es wichtig zu wissen, dass dies teilweise zum Aufgabenbereich einer Bibliothek gehören kann, auch wenn es teilweise zum Beispiel von der Gemeinde oder Hochschule im Rahmen ihrer Aufgaben übernommen wird.

5.13 Statistik und Evaluation

Ein bibliothekarisches Lehrbuch sollte eine Darstellung der vorhandenen statistischen Daten im Bibliotheksbereich enthalten, aber auch eine Darstellung davon, wie diese in der Praxis genutzt werden. Immerhin gibt es eine wachsende Zahl dieser Daten, deren Qualität zudem langsam zu steigen scheint. Bis auf Liechtenstein haben jetzt alle Länder im DACH-Raum jährlich erhobene Bibliotheksstatistiken, praktisch alle Bibliotheken nutzen heute Bibliothekssysteme, die auch Daten zur Nutzung bereitstellen (können) und die COUNTER-Daten haben sich im Bereich der Wissenschaftlichen Bibliotheken durchgesetzt. (Ein Lehrbuch kann gerade auch den COUNTER-Standard nehmen, um zu zeigen, wie ein solcher Standard weiterentwickelt wird und wie Bibliotheken daran teilhaben können.)

Mir ist klar (weil ich auch ständig alte bibliothekarische Zeitschriften anschaue), dass die Frage, ob und welche statistischen Daten Bibliotheken erheben sollten, das moderne Bibliothekswesen praktisch von Beginn an umtreibt. Es scheint also, als wäre es relevant. Was mir allerdings auch klar ist, ist, dass es wenig Wissen darüber gibt, wie die ganzen statistischen Daten in der Praxis tatsächlich genutzt werden. (Das habe ich mehrfach versucht zu klären oder klären zu lassen – und es gibt immer nur kurze Einblicke und Hinweise, aber nicht so richtig eine Darstellung und Diskussion dieser Praxis.) Für ein Lehrbuch fände ich es aber relevant (und hier könnte es dann über die Aufgaben der «Einführung» hinaus auch als Darstellung von Möglichkeiten für die Profession wirken), zu zeigen, wie sie tatsächlich genutzt werden. Nicht einfach «man kann sie benutzen» oder «man kann die eigene Bibliotheken mit ähnlichen Bibliotheken vergleichen», sondern konkreter – wie sie benutzt werden, um regelmässige Entscheidungen zu treffen. Das wäre ein Punkt, bei dem ich denken würde, das Planen eines neuen Lehrbuches könnte zu mehr Forschung über den Status Quo in Bibliotheken führen – weil sie wohl notwendig wäre, um ein solches Kapitel überhaupt schreiben zu können.

5.14 Bibliothekstechnologie, Bibliothekssoftware

Die Arbeit in Bibliotheken ist auch immer mit der Nutzung von Technologie und Software verbunden. Das muss, glaube ich, nicht diskutiert werden. Was zu diskutieren wäre, ist, welche Technologien und welche Software in einem Lehrbuch dargestellt werden sollte. Mir wäre wichtig, dass angehenden Kolleg*innen klar vermittelt wird, dass sie in ihrem Alltag (wohl) nicht darum kommen werden und das es deshalb auch wichtig ist, sich mit den Entwicklungen von Technik und Software auseinanderzusetzen sowie die Aufgaben von Bibliotheken die sich durch den Einsatz von Technik ergeben haben, sich zum Beispiel um das Updaten von Technologien und den Erhalt Sorgen zu machen. Dem ist als Grundprinzip ist wohl nichts entgegenzuhalten.

Es gäbe meiner Meinung nach aber noch einiges, was man diskutieren kann.

  • Sicherlich zuerst, welche Technologien und welche Software näher dargestellt werden sollten. Der Fokus sollte selbstverständlich auf solchen liegen, die im Bibliotheksalltag tatsächlich genutzt werden – aber welche das sind (und zwar langfristig), muss wohl erst diskutiert werden, genauso wie die Frage, ob und wie tief darauf eingegangen werden müsste, dass bestimmte Technologien für bestimmte Bibliothekstypen relevant sind und für andere nicht (beispielsweise die Fahrregalanlagen, die für Kantons-/Landes-/Nationalbibliotheken prägend, aber für Öffentliche Bibliotheken praktisch irrelevant sind).
  • Was ich relevant finde, wäre darzustellen, wie die tatsächliche Situation der Technik- und Softwareentwicklung in Bibliotheken ist: Auf der einen Seite die immer weniger werdenden, grossen Anbieter, inklusive ihrer jeweils eigenen Modelle (von der Zusammenarbeit mit Bibliotheken bis zu reinen software as service oder «schlüsselfertigen» Technologien). Auf der anderen Seite die Bibliotheken, die sowohl Strukturen aufbauen und Arbeit organisieren, um mit diesen Angeboten zu arbeiten und auf der anderen Seite in vielen Bereichen auf Open Source Lösungen und Entwicklungen setzen. Insbesondere scheint es mir in einen einführenden Lehrbuch wichtig zu zeigen, wie unterschiedlich diese Strukturen sind (also das zum Beispiel einige Bibliotheken selber direkt mit Anbietern interagieren und viele andere «vermittelt» über Verbundzentralen und ähnliche Einrichtungen) und was dies für die konkreten Bibliotheken bedeutet. Es sollte auch klar werden, dass nicht nur der Umgang mit Technik und Software normaler Teil der bibliothekarischen Arbeit ist, sondern auch das Updaten, Reparieren, Ersetzen und Ergänzen eigentlich eine regelmässige Aufgabe darstellen – die intern organisiert und dann auch von Personal umgesetzt werden muss. Zudem sollte – wie auch an anderen Stelle – klar werden, dass es spezifische Aufgaben und Stellen in Verbundzentralen gibt, die auch im Bereich Software und Technik einen grossen Einfluss auf zahlreiche Bibliotheken haben.
  • Wichtig wäre kurz zu schildern, wie Bibliotheken vor allem über Drittmittelprojekte an der Entwicklung von Software im Open Source Bereich mitwirken. Hier sollten einige «Erfolge» dieser Entwicklungen genannt werden (also insbesondere Repository-Software), um zu zeigen, dass sie möglich sind.
  • Eine Frage, die ich schwer zu beantworten finde, ist die danach, ob eine Marktübersicht sinnvoll wäre. Einerseits ist die Zahl der Anbieter von Technologie und Software, auf die Bibliotheken zurückgreifen, soweit zurückgegangen, dass eine solche Übersicht nicht allzu viel Platz einnehmen würde (man müsste halt darauf achten, wirklich alle zu erwähnen), was potentiellen neuen Kolleg*innen auch zeigen würde, dass es Auswahl gäbe, aber nicht so viel – aber gleichzeitig würde eine solche Übersicht selbstverständlich schnell veralten.
  • Was mir wichtig wäre – aber ich weiss, dass ist kein Konsens –, wäre zu vermitteln, dass Bibliotheken an sich recht erfolgreich darin sind, Technologien und Software für die bessere Organisation ihrer eigenen Arbeit zu integrieren. Nicht perfekt, aber auch nicht so langsam, wie es teilweise dargestellt wird. Die doch vorhandene Agilität (trend-besetztes Wort, ich weiss) von Bibliotheken sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden.

5.15 Bibliotheksentwicklung und Bibliotheksmanagement

Als Querschnittsthema sollte ein Lehrbuch enthalten, dass sich Bibliotheken kontinuierlich entwickeln und dass das Management dieser Entwicklung eine Aufgabe ist. Mir scheint, die beiden «Vorbild»-Lehrbücher vermitteln etwas sehr den Eindruck, als wären Entwicklungen selten und wenig zu beeinflussen. Dass scheint mir einerseits faktisch nicht richtig, andererseits aber auch gefährlich. Potentielle neue Kolleg*innen sollten frühzeitig wissen, dass es neben beständigen Aufgaben immer Veränderungen geben wird – egal ob solche, die «von aussen» kommen, beispielsweise Veränderungen in der Mediennutzung, oder solche, die sich im Bibliothekswesen durchsetzen (wenn zum Beispiel der Begriff «Dritter Ort» von nächsten Begriff abgelöst werden wird) oder aber die, welche konkret in der «eigenen» Bibliothek angegangen werden (zum Beispiel neue Veranstaltungsreihen) – und dass es ihre Aufgabe sein wird, diese Veränderung mit umzusetzen oder gar zu planen. Für solche Planungen gibt es zahlreiche Werkzeuge, aber mir scheint, in einem Lehrbuch wäre es wichtiger zu zeigen, warum es überhaupt notwendig ist, solche Werkzeuge zu nutzen, als in sie einzuführen – dafür gibt es schon ausreichend viele andere Lehrbücher für das Projektmanagement oder so.

(Wie mir gerade auffällt benutze ich hier im ganzen Text auch ständig das Wort Management. Es wäre notwendig früh in einem Lehrbuch zu diskutieren, was im Bibliotheksbereich darunter gemeint ist – also, dass es weniger mit dem Management von Firmen mit Profitorientierung und mehr mit dem nachhaltigen Management von zum Beispiel Wäldern oder gemeinnützigen Stiftungen zu tun hat.)

5.16 Bibliotheksrecht

Zum Thema Bibliotheksrecht will ich nur sagen – da es wirklich nicht mein Kompetenzbereich ist –, dass es auf der einen Seite relevant ist, zu schildern, (a) welche Rechtsthemen mit Bezug zum Bibliothekswesen es gibt, (b) wie es von Bibliotheken beeinflusst wird / beeinflusst werden kann und (c) das selbstverständlich wieder für alle Länder des DACH-Raumes.

5.17 Personalgewinnung, Personalentwicklung, Modelle der Führung in Bibliotheken

Das Thema Personalentwicklung und Führung ist ebenso eines, dass mir grundsätzlich als wichtig für ein Lehrbuch erscheint, aber bei dem ich denke, es wäre erst einmal wichtig, zu diskutieren, was davon erwähnt werden muss. Grundsätzlich wieder sollte potentiellen Kolleg*innen klar werden, dass alle Bibliotheken die Personalentwicklung organisieren müssen, zumal schon weil sich Teile der bibliothekarischen Arbeit schneller ändern als die Ausbildungsgänge – sie müssen wissen, dass sie sich in Bibliotheken entwickeln können werden, als auch, dass es ihre Aufgabe werden kann, diese Weiterbildungen für andere zu organisieren. Sie sollten auch lernen, zumindest in einer Übersicht, wie dies konkret umgesetzt wird.

Ebenso sollte gezeigt werden, welche Führungsmodelle in Bibliotheken tatsächlich gelebt werden und mit welchen Ergebnissen (auch hier scheint es mir wenig hilfreich, das «Lieblingsmodell» eine*r Autor*in zu schildern – vielleicht sogar eines, dass gar nirgends gelebt wird – und dann praktisch für dieses zu argumentieren). Das ist selbstverständlich ein «politisches» Thema – es könnte ja zum Beispiel sein, dass bestimmte gelebte Modelle eher negative Ergebnisse zeigen. Aber dennoch, angesichts dessen, dass Personen mit einem Lehrbuch ein potentielle Karriere beginnen sollen, die sie auf allen Positionen im Bibliothekswesen und auch in allen möglichen Bibliotheken bringen kann, sollte das Thema aus der Sicht von Angestellten als auch von Leitungen geschildert werden.

Klar muss werden, dass das Personal in Bibliotheken die Arbeit trägt und deshalb die Gewinnung, Entwicklung und das Management von Personal einen der Hauptbereiche des Bibliotheksmanagements darstellt.

5.18 Ausbildungen und Weiterbildungen

Eng verbunden mit der Personalentwicklung ist die Aus- und Weiterbildung. Mir schiene es relevant, dass in einem Lehrbuch ein Überblick über die verschiedenen Ausbildungs- und Weiterbildungswege, die es im Bibliothekswesen gibt, gegeben wird. Und zwar wieder ein realistischer. Dass heisst zum Beispiel, dass alle direkten Ausbildungen und Studiengängen «in das Bibliothekswesen» im DACH-Raum erwähnt werden (eventuell auch Hinweise auf die im nahen Ausland, weil auch von dort eventuell Kolleg*innen kommen), aber auch die Ausbildungen von Personen, die auf verschiedenen Wegen in das Bibliothekswesen einsteigen. Es sollte darauf vorbereitet werden, welche unterschiedlichen Kompetenzen in Bibliotheken vorhanden sind – also nicht nur die Namen von Ausbildungen und Studiengängen genannt werden, sondern auch deren Inhalte umrissen. Schon, weil in Zukunft wohl mehr Personen aus anderen Bereichen für die Bibliotheksarbeit gewonnen werden müssen, weil es immer weniger gibt, die direkt einsteigen. (Man kann gerne erwähnen, dass Bibliotheksverbände immer versuchen, das irgendwie mittels Marketingkampagnen zu verändern; aber man muss auch die tatsächlich Entwicklung realistisch schildern.)

Das gleiche gilt für die «wuchernde» Landschaft von Weiterbildungen und Weiterbildungsanbietern, auf die Bibliotheken zurückgreifen, von den Weiterbildungseinrichtungen grosser Bibliotheken über Fachstellen und Bibliotheksverbände bis hin zu Angeboten von Vereinen und Berater*innen. Relevant scheint mir, dass die potentiellen Kolleg*innen wissen, (a) wie komplex diese Landschaft ist / sein kann, (b) dass sie selber auf diese Angebote zurückgreifen können (sowohl als Personal als auch als Personen mit Personalverantwortung, die Personalentwicklung betreiben sollen) und (c) dass sie immer die Möglichkeit haben, diese Landschaft mit zu gestalten. Vermittelt werden sollte auch, dass es eine Aufgabe von Bibliotheken ist, Weiterbildungsangebote kontinuierlich zu evaluieren.

5.19 Bibliotheksverbände & -politik

Sicherlich, ein bibliothekarisches Lehrbuch benötigt eine Übersicht der bibliothekarischen Verbandslandschaft – wieder für den gesamten DACH-Raum – inklusive der (selbstgestellten) Aufgabenbereiche der existierenden Verbände und zumindest einer Skizze ihrer Strukturen. Es muss klar werden, warum Bibliotheken sich in Verbänden organisieren und was sie damit erreichen (oder zumindest zu erreichen hoffen).

Aber auch hier: Das alleine wäre vielleicht ein Stoff für eine Klausur. Es sollte aber ein explizites Ziel verfolgen: Den potentiellen neue Kolleg*innen sollte dargestellt werden, ob und wie sie sich in diesen Verbänden selber engagieren können, warum dies sinnvoll wäre und wohl auch, welche Grenzen es haben kann. Das sollte nicht zur Werbung verkommen, sondern wieder realistisch bleiben (und wenn bestimmte Verbände praktisch nur aus Bibliotheksleiter*innen bestehen und «normales Personal» sich dort nicht wirklich engagieren kann, sollte das auch gesagt werden – es wäre eine Aufgabe, der Verbände das zu ändern, nicht des Lehrbuches).

Ebenso sollte dargestellt werden, welche Themen Verbände politisch besetzen (oder es zumindest versuchen) und dabei klar werden, dass es auch immer die Möglichkeit für potentielle Kolleg*innen gibt, dies mitzugestalten. Sicherlich kann das Lehrbuch nicht einführen in die unterschiedlichen politischen Systeme im DACH-Raum, aber es sollte zumindest klar werden, dass Bibliotheken mindestens in Formen von Verbänden auch selber politisch aktiv werden können. (Zu diskutieren wäre, welche anderen Formen von Bibliothekspolitik ausserhalb von Verbänden angesprochen werden sollte – grundsätzlich sollte gesagt werden, das zum Beispiel auch Ad hoc-Protestgruppen möglich sind. Aber wie viel an anderen Varianten besprochen werden sollte, ist für mich eine offene Frage.)

Und, es sollte auch klar werden, dass bei bestimmten politischen Themen Bibliotheken quasi gesamthaft eine Position vertreten, bei anderen Themen sich aber zum Beispiel auch Personal und Leitung gegenüberstehen kann (nicht umsonst gibt es ja auch immer in Gewerkschaften organisierte Bibliothekar*innen). Man muss auch in einem Lehrbuch kein falsches Bild von einem Bibliothekswesen ohne interne Friktionen zeichnen.

5.20 Wissenstransfer in die Praxis

Das ist eventuell mein persönliches Thema, aber mir scheint, im Bibliothekswesen gibt es oft nicht genügend Verständnis dafür, dass es eine Aufgabe der Bibliotheken selber ist, dass vorhandene Wissen, welches für Bibliotheken relevant ist (beispielsweise das in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft produzierte, aber auch in «an das Bibliothekswesen angrenzenden» Bereichen wie der Leseforschung, der Wissenschaftssoziologie oder den Medienwissenschaften), in den Bibliotheksalltag zu überführen. Das kann die Wissenschaft nicht tun, dass muss in der Praxis passieren.

Es sollte (a) klar werden, dass es diesen Widerspruch von vorhandenem Wissen und genutztem Wissen gibt, (b) dass es auf verschiedenen Ebenen in Bibliotheken Aufgabe ist, den Wissenstransfer zu organisieren und (c) zumindest ein Überblick über verschiedene Modelle dieses Wissenstransfers gegeben werden – wieder, für das Wissensmanagement gibt es ausreichend viele andere Lehrbücher, die müssen nicht ersetzt werden, aber es müsste in einem bibliothekarischen Lehrbuch klar werden, dass es eine Aufgabe für Bibliotheken darstellt. Man sollte zumindest erwähnen, dass (und wie) das zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Forschenden (die man dafür finanzieren muss) oder Berater*innen (die man auch finanzieren muss), in Kooperation mit anderen Bibliotheken oder intern geschehen kann.

Aber, wichtige Einschränkung, vielleicht wünsche ich mir bei diesem Thema einfach, dass ein Lehrbuch auf das Bibliothekswesen einwirkt und weiche deshalb von meiner Warnung ab, sich sehr auf die Realität zu konzentrieren.

So oder so sollte dieser Abschnitt eine Übersicht zu den Feldern geben, in denen Wissen produziert wird, das für den Bibliotheksbetrieb und die Bibliotheksentwicklung relevant ist. Ich habe oft erstaunt festgestellt, dass dies manchmal bei Kolleg*innen gar nicht auf dem Schirm ist (wenn zum Beispiel mittels Umfragen geklärt werden soll, wie Forschende mit Forschungsdaten umgehen, wenn das schon – abgesehen von anderen Bibliotheken selber – länger Thema der Wissenschaftsforschung ist, die das gut genug darstellt, um daraus Aussagen für Bibliotheken abzuleiten).

5.21 Das Umfeld

Noch ein Thema, das ausführlich diskutiert werden müsste, ist, was an «Umfeld» von Bibliotheken in einem bibliothekarischen Lehrbuch dargestellt werden müsste. Mir scheint sofort einsichtig, dass die grundlegenden demographischen Entwicklungen (beispielsweise die Veränderungen der Altersstruktur im DACH-Raum) oder des Medienmarktes ein grundlegendes Wissen darstellen, wenn jemand in das Bibliothekswesen einsteigen soll. Auch zum Beispiel die Entwicklungen von Wissenschaft und Bildungseinrichtungen ist relevant. Aber… wie weit sollte ein Lehrbuch das Netz um die Bibliotheken spannen? Was kann vorausgesetzt werden, was nicht?

Als Grundsatz würde ich vermerken: Alle Themen, welche die Nutzung von Bibliotheken und den Betrieb von Bibliotheken direkt betreffen. Doch das ist ja auch wieder offen. Zumindest würde ich es tiefergehend diskutieren, bevor ein neues Lehrbuch geschrieben wird.

5.22 Bibliothekarisches Kommunikationswesen

Dieses Thema scheint mir selbsterklärend (auch wenn es nicht in den beiden «Vorbild»-Lehrbüchern enthalten ist): Potentielle neue Kolleg*innen sollten einen Überblick darüber haben, wie im Bibliothekswesen miteinander kommuniziert wird. Sie sollten die vorhandenen Kommunikationswege und deren Eigenheiten kennen, um die existierenden Diskussionen nachvollziehen und sich an ihnen beteiligen zu können.

Das hiesse für mich:

  • Eine Schilderung der verschiedenen Formen von bibliothekarischen Zeitschriften und eine Nennung der wichtigsten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Jahren noch erscheinen werden. (Aber mit einer Darstellung, dass auch immer wieder neue entstehen und also auch von neuen Kolleg*innen gegründet werden könnten, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen. Wichtiger wäre mir aber zu zeigen, dass das bibliothekarische Zeitschriftenwesen im DACH-Raum sehr offen für Beiträge ist.)
  • Die wichtigsten Verlage (es sind ja nicht viele) sollten genannt werden.
  • Skizziert werden sollte das Gleiche für das bibliothekarische Publikationswesen mindestens im globalen Norden im Allgemeinen und etwas tiefer für die Bibliothekswesen im «nahen Ausland».
  • Die Bedeutung der wichtigsten Konferenzen im Bibliothekswesen (sowohl der Bibliothekskongresse als auch solcher «spezialisierten» Veranstaltungen wie den Open Access Tagen) sollte dargestellt werden. Auch hier würde es darum gehen, darzustellen, dass neue Kolleg*innen diese nutzen können, sowohl um die aktuellen Diskussionen mitzuverfolgen als auch, um sich selber einzubringen. Es sollte zumindest gesagt werden, wie man sich engagieren kann (eigene Beiträge, Mitorganisation oder auch Ausrichtung von Veranstaltungen wie Barcamps).
  • Für das Bibliothekswesen scheint mir, dass ein grosser Teil der Kommunikation auf Mailinglisten und / oder in kleineren Fachcommunities geschieht. Das sollte sowohl genannt als auch zumindest die wichtigsten Mailinglisten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft existieren werden, aufgelistet werden.

5.23 Bibliotheksgeschichte

Die Geschichte von Bibliotheken und des Bibliothekswesens an sich sind nach und nach aus den bibliothekarischen Lehrbüchern verschwunden. In «Bibliothekarisches Grundwissen» war es, soweit ich es überblicke, in keiner Ausgabe ein wichtiges Thema, in älteren Ausgaben von «Le Métire de Bibliothécaire» war dies anders. Aber in den älteren Lehr- und Handbüchern wurde sehr Wert darauf gelegt, die historische Entwicklung von Bibliotheken (und oft auch des Buchwesens) zu schildern.

Ich persönlich bin immer an der historischen Entwicklung interessiert und finde das gänzliche Streichen des Themas (das ja auch in vielen Ausbildungsgängen passiert ist) falsch. Ich würde dafür plädieren, es wieder in ein Lehrbuch aufzunehmen, aber immer unter dem Blickwinkel, dass es potentiellen neuen Bibliothekar*innen etwas vermittelt, dass für den Einstieg in das Bibliothekswesen notwendig ist.

  • Man kann schon erwähnen, dass Bibliotheken – verstanden als geordnete Sammlungen von Medien – in vielen verschiedenen Kulturen und Zeitaltern existierten, aber nur kurz. Moderne Bibliotheksgeschichte, aus der die heute existierenden Bibliotheken hervorgegangen sind, beginnt mit der modernen Gesellschaft, genauer Industrialisierung und «Massengesellschaft». In einem einführenden Lehrbuch sollte man nicht weiter zurückgehen, ausser es gibt einen guten Grund dafür. (Was könnten so ein Grund sein? Mir würde einfallen, dass man zeigen will, dass Mediensammlungen und ihre Nutzung in unterschiedlichen Gesellschaften auch sehr unterschiedliche Medien und Nutzungsweisen bedeutet haben und deshalb in Zukunft oder in anderen Gesellschaften auch anderes bedeuten können.)
  • Klar sollte bei der geschichtlichen Darstellung werden, dass Bibliotheken immer an die jeweilige Gesellschaft gebunden sind und keine irgendwie ausserhalb der Gesellschaft vorhandenen «Kern» haben. Man sollte zumindest zeigen, dass alle Gesellschaften, die seit dem Beginn der Moderne im DACH-Raum bestanden (von Drei-Klassen-Gesellschaften über Diktaturen bis hin zu den heutigen Demokratien) auch jeweils Bibliothekswesen ausprägten, welche die «Aufgaben», die sich in diesen Gesellschaften stellten, unterstützen sollten und das sich zum Beispiel auch immer Kolleg*innen fanden, die sich für diese Bibliotheken und diese Ziele engagierten (manchmal auch für verschiedene Gesellschaften nacheinander). Das muss nicht als Vorwurf vorgetragen werden, sondern sollte vor allem zeigen, wie sehr Bibliotheken mit der Gesellschaft verbunden sind, in der sie jeweils existieren.
  • Dargestellt werden sollte auch, dass moderne Bibliotheken sich kontinuierlich Gedanken dazu machen, wie sie auf Entwicklungen des Medienmarktes (oder wie man das für die DDR nennen möchte), die Mediennutzung, der Kultur- und Bildungseinrichtungen reagieren können oder müssen. Und das sie sich auch ständig darüber unterhalten, welche weiteren Aufgaben sie übernehmen sollen. Potentielle neue Kolleg*innen sollten lernen, dass zum Beispiel Behauptungen über «neue Aufgaben, die über die Medienausleihe» hinausgehen genauso eine Tradition haben wie die Auseinandersetzung mit jeweils neuen Medienformaten.
  • Was auch gezeigt werden sollte – und dazu muss man aufpassen, es nicht zu sehr als das Wirken einzelnen «grosser Männer und Frauen» darzustellen – ist, dass Veränderung im Bibliothekswesen möglich ist und sich damit ein Engagement für Veränderungen immer lohnt.

5.24 Ethische Fragen

Ein Thema, dass ich gerade nicht gross in einem Lehrbuch behandeln würde, wären bibliotheksethische Fragen. Ich weiss, da würde es gewiss Widerspruch geben – von einzelnen Personen. Aber genau deshalb habe ich das hier in die Liste mit aufgenommen. Bibliotheksethik ist ein Thema, dass von Zeit in der bibliothekarischen Presse besprochen wird, zu dem es auch Arbeitsgruppen in den Bibliotheksverbänden gibt und Chartas erlassen werden. Ich war auch selber auf genügend Veranstaltungen, auf denen argumentiert wurde, wie wichtig bibliotheksethische Fragestellungen wären.

Aber dann? Mir scheint nicht, dass die Chartas eine Relevanz in der Bibliothekspraxis haben – oder auch nur über die Arbeit der Arbeitsgruppen hinaus. Und mir fällt auch auf, wie schnell solche Arbeitsgruppen nach einer kurzen Zeit der Aktivität zu verstummen scheinen und wie schnell das Thema dann auch wieder nicht in den Zeitschriften erwähnt wird.

Ist es also ein Thema, dass man unter «kurzfristigen Trend» einordnen kann? Oder ist es langlebig, nur nicht so oft sichtbar? Oder ist es vielleicht trotzdem – aus politischen Gründen oder aus Gründen der Systematik – wichtig und sollte aufgenommen werden? Was müssen potentielle neue Kolleg*innen zu diesem Thema wissen, wenn sie ins Bibliothekswesen einsteigen? Müssen sie beispielsweise die «bibliotheksethischen» Chartas des DACH-Raumes kennen, die so in den letzten Jahren erlassen wurden? Ich habe das Thema hier ans Ende gestellt, um zu zeigen: Das kann nicht einfach so entschieden werden – schon gar nicht von einer Person alleine. Es sollte das Ergebnis einer Diskussion in der Profession sein, ob und wenn ja, was genau davon in ein Lehrbuch gehört. (Und es steht hier als ein Beispiel für eine ganze Reihe solcher Themen.)

6. Schlussbemerkungen

Ich beende den Beitrag hier, weil ich mir zu anderen Themen bislang wenig Gedanken gemacht habe. Aber mir ist klar, dass hier noch eine ganze Reihe fehlt und / oder das andere Personen auch andere Themen relevant finden werden. Es sind halt meine persönlichen Überlegungen, recht unsystematisch.

Grundsätzlich habe ich das alles vor allem in der Hoffnung aufgeschrieben, dass sich auch andere beginnen, sich Gedanken über ein neues Lehrbuch für den Bibliotheksbereich zu machen (oder sich schon längst machen, aber das dann laut äussern). Weil, auch wenn ich am Anfang gesagt habe, dass ich der Meinung bin, dass es aus strukturellen Gründen wohl in absehbarer Zukunft keines geben wird – eigentlich benötigen wir, das Bibliothekswesen, eines, einerseits für potentielle neue Kolleg*innen und anderseits für den Erhalt des Professionalitätslevels des Bibliothekswesens im Allgemeinen.

Vorüberlegungen zu einem notwendigen Neuen Lehrbuch für das Bibliothekswesen: Teil 2

Teil 1: Kapitel 1-4

Teil 2: Kapitel 5.1-5.9

Teil 3: Kapitel 5.9-6

5. Themen für ein neues Lehrbuch

Im folgenden jetzt will ich die Überlegungen, die ich mir zu verschiedenen Themen für ein solches neues Lehrbuch gemacht habe, darstellen. Die sind allerdings, als Vorwarnung, noch unvollständiger als alle hier schon dargestellten Punkte: Es sind die Punkte, von denen ich – als jemand der jetzt seit über mehr als zehn Jahre in der bibliothekarischen Ausbildung und Forschung über Bibliotheken engagiert bin – ausgehe, dass sie als Thema für ein solches Lehrbuch notwendig wären. Dabei geht es mir immer um diese Doppelfunktion eines Lehrbuches: Einerseits finde ich es wichtig, dass die Themen vermittelt werden, wenn Personen neu in das Bibliothekswesen einsteigen. Andererseits denke ich, dass sie als geteilter Wissensstand für das Bibliothekswesen im Allgemeinen sinnvoll wären.

Aber, wie gesagt, bin ich mir im Klaren, dass es weitere Themen geben wird, die Kolleg*innen aus dem Bibliothekswesen sinnvoll finden. Und auch, dass meine Abneigung gegen «innovative Trends» in einem solchen Lehrbuch nicht von allen geteilt werden wird. Man sollte die folgenden Teile also am Besten als meinen ersten Beitrag zu einer möglichen Diskussion verstehen, nicht als fertige Aussagen. Man sollte auch der Reihenfolge oder der Länge meiner Ausführungen hier keine allzu grosse Bedeutung beimessen. Es ist eine eher zufällige Abfolge, keine Hierarchie. Und zu einigen Themen habe ich einfach mehr zu sagen, als zu anderen. Das heisst nicht unbedingt, dass sie wichtiger wären als andere. Zudem sind in den folgenden Abschnitten die Themen nicht so zu verstehen, dass ich zu allen ein eigenes Kapitel / einen eigenen Text in einem Lehrbuch schreiben (lassen) würde – einige sind auch erwähnt, weil ich sie grundsätzlich relevant genug finde, aber vielleicht eher als «Querschnittthema».

5.1 Bibliothekstypologie

Obwohl, wie gesagt, die Themen hier (noch) nicht in eine Systematik gebracht wurden, würde ich dennoch sagen, dass die Bibliothekstypologie in einem Lehrbuch recht weit nach vorne, in die Grundlagen gehört. [Ich bin auch ein wenig überrascht von der Aussage. Vor einigen Jahren hätte ich sie bestimmt nicht gemacht.]

Bibliothekstypologie ist erstmal ein gutes Beispiel für ein Thema, dass thematisch so sehr ausufern kann, dass es dann nicht mehr Teil eines Lehrbuches ist. Man kann sich bekanntlich endlos darin vertiefen, nach welchen Kriterien Bibliotheken zusammengefasst, unterteilt und systematisiert werden können. Man kann Spezialfälle und Prototypen zu zeigen versuchen. Man kann sich Gedanken über Bibliotheken machen, die zu zwei oder noch mehr Typen zugeordnet werden können. Das alles kann sehr schnell zu einer intellektuellen Übung werden, bei der die meisten Menschen (auch ich) schnell aussteigen.

Aber, wenn man die Bibliothekstypologie an die Aufgabe zurückbindet, einen Überblick zu den Typen und damit auch Aufgaben der Bibliotheken, die existieren, zu geben, dann wird sie zu einer wichtigen Grundlage für den Einstieg in das Wissen der Profession.

Und unter diesem Aspekt sollte sie auch in einem Lehrbuch behandelt werden. Zuerst sollte mit der Bibliothekstypologie geklärt werden, das Bibliotheken Institutionen sind und das sie von anderen Institutionen (Buchhandel, Schulen, Kindertagesstätten, Archive, Museen und so weiter) unterschieden werden können. Zugleich sollte klar gemacht werden, dass sie sich als Institutionen von anderen Vorstellungen, die sich an Bibliotheken binden (die Bibliothek als Privatsammlung, die Bibliothek in der Literatur und so weiter) unterscheiden. Diese kann man erwähnen, in einem Lehrbuch zum Bibliothekswesen sollte sehr am Anfang klar werden, dass es in der Profession darum geht, konkrete Bibliotheken zu betreiben und in ihnen (als Personal, nicht als Nutzer*in) zu arbeiten.

Sodann müsste dargestellt werden, dass Bibliotheken an ihre Träger gebunden sind und sich die Aufgaben sowie die alltägliche Arbeit hauptsächlich daraus bestimmt, was diese Träger von den Bibliotheken erwarten. Es muss klar werden, dass Bibliotheken schon immer einen Spielraum bei der Ausgestaltung der eigenen Arbeit haben, aber auch keinen unendlichen, sondern das sie zurückgebunden sind an die Aufgaben, die sie als Institution erfüllen sollen. Und sichtbar sollte damit dann auch werden, dass Bibliotheken vor allem Serviceeinrichtungen sind, die Aufgaben erfüllen – nicht etwa losgelöst von der Gesellschaft schwebende Einrichtungen. Damit einher sollte auch gehen, dass klar wird, dass in Bibliotheken Menschen jeweils einer Arbeit nachgehen, die darauf bezogen ist, die Aufgaben der jeweiligen Bibliothek zu erfüllen – nicht etwa um die Welt zu retten, die Gesellschaft neu zu erfinden oder reine intellektuelle Spielerei zu betreiben.

Daraus dann würde sich der Sinn einer Typologie von Bibliotheken ergeben, die dann anschliessend dargestellt werden könnte. Diese Darstellung sollte dann die Breite der verschiedenen Bibliotheken zeigen, aber auch die unterschiedlichen möglichen Zugänge für eine solche Typologie: Nach Trägern, nach Aufgaben der Bibliotheken (sowohl denen, die sich aus der jeweiligen Trägerschaft ergeben als auch denen, welche sie im Bibliothekswesen übernehmen) und nach Grösse der Bibliotheken. Es würde so klar werden können, dass Bibliotheken gesammelt ein eigenes Feld darstellen, dass in diesem Feld aber bestimmte Bibliotheken ähnliche Aufgaben, Trägerschaften und Grössen haben und gemeinsame Typen (mit vergleichbaren Aufgaben, Arbeitsweisen und Herausforderungen) darstellen. Bei dieser Darstellung muss man wohl schon erwähnen, dass es keine endgültige Typologie gibt, sondern immer über bestimmte Zuordnungen diskutiert werden kann und dass jede Typologie auch immer in Bewegung ist. Aber relevant wäre zu zeigen, dass sich die praktisch existierenden Unterschiede im Bibliotheksfeld auch durch die unterschiedlichen Trägerschaften erklären lassen.

Eine solche Typologie würde dann am Anfang eines Lehrbuches einen Überblick zu den verschiedenen Bibliotheken geben, zu den Eigenheiten verschiedener Bibliothekstypen und kann den Personen, die sich mit diesem Wissen dann durch die verschiedenen Aufgaben und Diskussionen des Bibliothekswesens hindurch finden sollen (sowohl in ihrer potentiellen Karriere als auch durch das Lehrbuch) eine Basis mitgeben. Es wäre klar, über was im Bibliothekswesen überhaupt geredet und nachgedacht wird: Über die Arbeitsweisen und Aufgaben von Institutionen.

Die Typologie kann dann auch dafür genutzt werden, Angaben zur ungefähren Anzahl der unterschiedlichen Bibliotheken im DACH-Raum zu machen, damit klar wird, dass diese nicht wenige sind, aber auch nicht unendlich viele und damit zum Beispiel sichtbar wird, dass es viel mehr Öffentliche Bibliotheken gibt, dass aber gleichzeitig die Wissenschaftlichen Bibliotheken durch ihre Trägerschaften viel mehr Ressourcen haben beziehungsweise potentiell mobilisieren können, so dass klar wird, warum deren Themen einen so viel grösseren Platz in den bibliothekarischen Diskussionen einnehmen. Gleichzeitig kann die Typologie auch genutzt werden, um einen ersten Hinweis darauf zu geben, dass die Bibliothekswesen in den Ländern des DACH-Raumes zwar ähnlich sind, aber doch immer auch noch Unterschiede aufweisen (nur schon, wenn thematisiert wird, wie viel mehr Kantonsbibliotheken es in der Schweiz gibt im Vergleich zu den Landes- und Staatsbibliotheken in Österreich oder Deutschland).

5.2 Bestandsmanagement und Medienkunde

Die Hauptaufgaben der Bibliotheken ist und wird auch in Zukunft das Management des Medienbestandes sein. Auch wenn es manchmal beim Blick in die bibliothekarische Literatur so aussieht, als wären andere Themen wichtiger, wird sich in Zukunft die Arbeit der meisten Bibliothekar*innen weiterhin um den Bestand drehen. Deshalb sollte es in einem einführenden Lehrbuch auch eine grossen Platz einnehmen. Zu diskutieren wäre eigentlich nur, was genau thematisiert werden sollte.

Das es unterschiedlich gehandhabt werden kann, kann man wieder gut durch einen vergleichenden Blick in «Bibliothekarisches Grundwissen» und «Le Métire de Bibliothécaire» sehen. Ist es zum Beispiel notwendig, grundlegend das Verlagswesen und den Buchmarkt mit zu thematisieren? Im ersten Buch findet sich dazu fast nichts, im zweiten recht viel (aber in früheren Ausgaben noch viel mehr).

Meiner Meinung nach sollte ein Lehrbuch, dass grundsätzliches Wissen vermittelt, aber mindestens folgende Themen behandeln:

  • Eine Medienkunde, welche die zahlenmässig wichtigsten Medientypen, die in den Bibliotheken stehen, beinhaltet. Was diese Medienkunde vermitteln sollte, ist, (a) die grundsätzlichen Eigenheiten der jeweiligen Medien (zum Beispiele ihre Materialität, wenn sie eine haben, oder ihre Eigenschaften, die sie von anderen Medien unterscheiden), (b) die verschiedenen wichtigen Genres (oder vergleichbares), die in der bibliothekarischen Praxis vorkommen, (c) Wissen darum, wofür, von wem und wofür die jeweiligen Medientypen genutzt werden (also zum Beispiel, welche Leute warum bestimmte Genres lesen und was sie daraus ziehen), (d) die jeweiligen Akteure auf den Märkten für diese Medientypen (beispielsweise für gedruckte Bücher Verlage, Buchhandel, Autor*innen, Literaturagent*innen aber für Musik dann auch Label und so weiter), (e) die jeweiligen anderen Institutionen, die mit den Medientypen auch hauptsächlich umgehen (beispielsweise bei Romanen und Lyrik die Literaturhäuser). Sinn dieser Medienkunde – und das muss gleich am Anfang gesagt werden – ist es nicht, wieder möglichst viel zum auswendig lernen zusammenzutragen, sondern zu vermitteln, wie ähnlich oder unterschiedliche die jeweiligen Medienformen sind, dass sie nicht aus dem Nichts entstehen, sondern aus einem Netzwerk von Akteur*innen mit unterschiedlichen Interessen und das sie für verschiedene Aufgaben genutzt werden, die dann auch bestimmen, ob Medien sich wandeln oder nicht. Es muss klar werden, dass die Interessen der anderen Akteur*innen im Blick behalten werden müssen, wenn man verstehen will, wie sich die Medientypen entwickeln. Diese Medienkunde muss auch den Hinweis enthalten, dass es immer noch mehr Medientypen gibt und das Bibliotheken grundsätzlich recht gut darin sind, die Medientypen vorzuhalten, die für die Aufgaben, die sie erfüllen sollen, relevant sind. Dargestellt werden müssen die für Bibliotheken wichtigsten Medien, aber mit dem Verweis, dass sich immer schon geändert hat, welche dieser Medien die wichtigsten sind und sich auch weiterhin ändern wird. Ob dafür dann zum Beispiel eine Einführung in die Buchgeschichte oder die typographische Gestaltung von Büchern (wie sie in früheren Lehrbüchern enthalten waren) notwendig ist, ist eine andere Frage. Ich würde sagen nein oder wenn, dann nur als ein Beispiel mit dem Verweis, dass alle Medientypen eine solche Geschichte haben.
  • Die Medienkunde muss selbstverständlich auf die rechtlichen Unterschiede zwischen physischen Medien (Kauf) und elektronische Medien (Lizenzen) eingehen. Diese sind für die bibliothekarische Arbeit mit den Medien essentiell.
  • Was die Medienkunde auch leisten muss – hier wird es tricky –, ist, die Entwicklungen der Medienmärkte und Mediennutzung darzustellen, aber dabei nicht zu sehr historisch zu werden und auch nicht zu aktuell zu sein. Ein Lehrbuch ist für mehrere Jahre geschrieben, nicht für den aktuellen Moment. Es geht nicht darum, die Mediennutzung in den nächsten zwei Jahren zu zeigen, sondern vor allem die Tendenzen zu zeigen, welche die Bibliotheken, wie sie jetzt sind, geprägt haben und wohl in den nächsten Jahren prägen werden. Ist es dazu zum Beispiel notwendig zu wissen, wann die ersten Zeitungen oder Audiobooks publiziert wurden? Eher weniger. Wichtiger wäre zu zeigen, dass dies alles eine Geschichte hat, die vielleicht – bei den gedruckten Zeitungen – langsam an ein Ende gelangt, aber doch noch relevant ist oder aber auch eine bestimmte Flughöhe erreicht hat – bei den heute elektronischen Audiobooks – die noch eine Weile so bleiben wird, wohl ohne grosse Entwicklungen. Als Wissen scheint es mir relevanter zu sein, das sich im Laufe der Karriere der potentiellen neuen Kolleg*innen, welche dieses Lehrbuch als Einstieg nutzen, weiter merklich verändern wird (ohne das Bibliotheken das werden ändern können), aber auch nicht so radikal, dass es morgen schon ganz anders sein wird. Hilfreich wird dabei sein, zu zeigen, dass «am Anfang», wenn neue Medien eingeführt werden, oft viel mehr und andere Entwicklungen vorausgesagt werden, als sich dann in der Realität zeigen.
  • Einer Einführung in das Bestandsmanagement als Management, also als möglichst effektives Auswählen, Erwerben / Lizenzieren, Erschliessen, Anbieten oder auch wieder Entfernen von einer grossen Zahl an Medien, welche die jeweilige Aufgaben der jeweiligen Bibliotheken erfüllen. Es muss klar werden, dass es nicht (oder nur in sehr besonderen Fällen) um bestimmte einzelne Medien geht, sondern eigentlich immer um eine möglichst grosse Zahl, die auch nicht um ihrer selbst Willen gemanagt werden sollen. Daraus muss dann abgeleitet werden, was «möglichst effizient» heisst – also zum Beispiel auch den Einsatz von «automatisierten Erwerbungsinstrumenten» wie Approval Plans oder Patron Driven Acquisition. Es muss klar werden, dass es die Aufgabe der Bibliotheken ist, diese Arbeit möglichst gut zu planen, durchzuführen und zu steuern. Im Lehrbuch sollte auch gezeigt werden, was das auf den verschiedenen Hierarchiestufen in Bibliotheken heisst, also wie es konkret in der Arbeit umgesetzt wird.
  • Was unbedingt auch thematisiert werden muss, ist die Frage von Sammlungen und Magazinen. Es muss klar werden, dass der Aufbau einer Sammlung und damit Fragen des Bestandserhalts und Magazinbetriebs grundsätzlich immer weniger Bibliotheken betrifft. Gesagt werden sollte, dass Öffentliche Bibliotheken und immer mehr Wissenschaftliche Bibliotheken keine längerfristig angelegten Sammlungen haben und sich deshalb in deren Arbeit auch die konkreten Fragen, die sich bei solchen Sammlungen stellen, nicht auftauchen. Gleichzeitig muss angesprochen werden, welche Fragen dies sind, denn die vorhandenen Sammlungen in National-, Landes-/Kantons- und Forschungsbibliotheken sind fraglos relevant, auch der Magazinbetrieb wird in den Bibliotheken, welche ein solches betreiben, weiter relevant bleiben. Wieder: Das Lehrbuch soll das notwendige Grundwissen für alle Karrieren im Bibliothekswesen vermitteln. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass man lernt, wie wichtig die Arbeit von «Magaziner*innen» für das Funktionieren der jeweiligen Bibliothek ist.
  • Als Teil des Bestandsmanagements müssen auch die Aufstellungen und die Aufstellungssystematiken dargestellt werden. Wieder nicht bis ins Detail, aber es wäre notwendig zu lernen, (a) warum eine Aufstellungssystematik notwendig ist, (b) das es verschiedene Ansätze und Standards (und welche) gibt, (c) dass diese in ständiger Veränderung sind.

5.3 Geschäftsgang

Eine der sinnvollsten Darstellung in «Bibliothekarisches Grundwissen» (aber auch eine, die unbedingt überarbeitet und aktualisiert werden müsste, insbesondere für elektronische Medien / Lizenzierung), ist die des Geschäftsganges, also des Weges eines physischen Mediums von der Auswahl desselben bis zur Bereitstellung in der Bibliothek. (Ich würde bei einer Aktualisierung noch die Deacquisition beziehungsweise Magazinierung ergänzen, weil diese den Weg des Mediums durch die Bibliothek «abschliesst».) Grundsätzlich ist eine Darstellung des Geschäftsganges auch in jeder Ausgabe von «Bibliothekarisches Grundwissen» seit der ersten von 1972 enthalten.

Das sollte für ein neues Lehrbuch aktualisiert, aber beibehalten werden. Was sich anhand des Geschäftsganges gut zeigen lässt, sind folgende Dinge:

  • Die Organisation der Bibliothek auf die Aufgabe hin, Medien zur Verfügung zu stellen.
  • Die konkrete Organisation dieser Arbeit, die sich ja in vielen Bibliotheken – wenn sie nur gross genug sind – auch in der Verteilung in verschiedene Abteilungen oder (organisatorisch und oft auch räumlich getrennte) Büros niederschlägt.
  • Den Zusammenhang der teilweise im Arbeitsalltag vom Eindruck her sehr freistehenden Arbeitsschritte, die sich auf Medien beziehen.

Zugleich lässt sich am Geschäftsgang gut zeigen, wie ein so übergreifender Blick, der ein Medium in den Fokus stellt, in der Bibliothek genutzt werden kann, um die Aufgaben des Personals und auch konkret das Personal zu managen.

Was sich auch mit dem Geschäftsgang nochmal gut zeigen lässt, in meiner Erfahrung, ist der Unterschied zwischen physischen und elektronischen Medien. Man kann nebeneinander stellen, wie der Geschäftsgang für ein physisches Medium aussieht und wie er für elektronische Medien aussieht, und kann dann sehr gut sehen, dass zum Beispiel der ganze Aufgabenbereich der «technischen Bearbeitung» bei elektronischen Medien fortfällt oder auch das «Ende» eines Mediums einer anderen Entscheidung (Bei physischen Medien: Soll es ausgesondert / magaziniert werden?, bei elektronischen: Soll die Lizenz erneuert werden?) bedarf.

5.4 Katalogisierung, Metadaten, Kataloge und Discovery Systems

Es muss, glaube ich, nicht länger begründet werden, dass sowohl die Katalogisierung und Metadatenpflege als auch der Aufbau von Bibliothekskatalogen und Discovery Systemen in einem grundlegenden Lehrbuch zum Bibliothekswesen einen Platz einnehmen muss. Es muss grundsätzlich allen Kolleg*innen in allen Positionen bewusst sein, warum diese Arbeit gemacht wird, wie sie gemacht wird und warum es relevant ist, um zu wissen, wie die Kataloge und Recherchemittel der Bibliotheken funktionieren. (Es gibt aktuell die ernstzunehmende Kritik, dass zu wenig Bibliothekar*innen das tun und deshalb Bibliotheken zu sehr von kommerziellen Anbietern von OPAC- und Discovery Systemen abhängig sind. Was bedenkenswert ist, aber es sollte meiner Meinung nach schon aus Gründen der Professionalität des Feldes zum Grundwissen gehören.) Und: Es ist auch notwendig zu vermitteln, dass Katalogdaten zwar Metadaten sind, aber das in Bibliotheken – egal, dass das von einzelnen Kolleg*innen explizit anders gefordert wird – oft zwischen diesen beiden unterschieden wird. Das muss nicht ewig so sein, aber potentielle Kolleg*innen sollten das wissen, bevor sie es im Bibliotheksalltag selber herausfinden müssen.

Die relevante Frage ist nur, was genau und wie tief es in einem Lehrbuch notwendig ist. Die Antwort sollte auf der realen bibliothekarischen Praxis basieren und die ist, dass die konkrete Katalogisierung von Medien immer mehr ein spezielles Feld geworden ist, an der immer noch viele, aber doch auch immer mehr nur darauf fokussierte Kolleg*innen tätig sind – und das die Katalogisierung tendenziell, falls RDA und seine Möglichkeiten einmal «greifen» (also zum Beispiel auch in den Bibliothekssystemen vollständig umgesetzt sind), noch mehr zu einem wichtigen Spezialfeld werden wird, dass im Arbeitsalltag der meisten Bibliothekar*innen konkret kaum noch vorkommt. Aber gleichzeitig wird das Anlegen und Pflegen von anderen Metadaten sowie die Konsequenzen der Erstellung von Metadaten ausserhalb des Bibliothekswesens, welche in die Kataloge integriert werden (vor allem für elektronische Medien), weiterhin die bibliothekarische Arbeit prägen. Deshalb muss es auch einen relevanten Raum in einem einführenden Lehrbuch einnehmen.

Im Lehrbuch muss einerseits die Grundlage dafür gelegt werden, dass Kolleg*innen potentiell Karrieren beschreiten, die – zum Beispiel an Bibliotheken mit Archivauftrag – hauptsächlich in der Katalogisierung bestehen. Aber es kann nicht eine vollständige Einführung in die Katalogisierung selber sein. Das gleiche gilt für potentielle neue Kolleg*innen, die auf die eine oder andere Weise mit Metadaten arbeiten werden. Auch für diese muss im Lehrbuch eine Grundlage gelegt werden, ohne das Thema vollständig darzustellen. Und für alle anderen Kolleg*innen muss klar werden, wie umfangreich diese Arbeit ist, schon damit sie – beispielsweise aus dem Blick von Bibliotheksleitungen – angemessen gewürdigt werden kann.

In der aktuellen Ausgabe von «Bibliothekarisches Grundwissen» gibt es einen recht langen Abschnitt, in welchem der OPAC eingeführt und im Detail beschrieben wird. Ist das notwendig? Eine klare Antwort habe ich da nicht (wenn, dann sollte es auch für Discovery Systems passieren). Mir scheint aber, dass das als Grundlage nicht notwendig ist, solange die Funktionen von Katalogen dargestellt werden. Das Aussehen und die einzelnen konkreten Funktionen der Systeme werden sich eh recht bald wieder ändern – die Funktionen nicht so schnell. Als Wissen wichtig wäre eher auf diese kontinuierliche Weiterentwicklung hinzuweisen.

Insoweit sollte folgendes behandelt werden:

  • Eine Einführung darein, was der Katalog ist, wofür er notwendig ist und wieso Katalogisate erstellt werden. Zudem ein kurzer Überblick zu den aktuell genutzten Katalogregeln (wohl RDA, aber es wäre für das Erstellen eines Lehrbuches auch wichtig zu wissen, ob die überall genutzt werden oder ob weitere in Gebrauch geblieben sind). Dabei sollte es darum gehen, dass die Grundkonzepte verständlich werden und das klar wird, dass sie immer weiter entwickelt werden. (Dazu sollte kurz, wirklich nur als Überblick, erwähnt werden, welche Formen von Katalogen und Katalogregeln es bis heute gegeben hat. Es geht wieder nicht darum, etwas zum Auswendiglernen vorzulegen, sondern zu zeigen, dass die Aufgabe und Form der Kataloge und Katalogisierungsregeln mit den Jahrzehnten bestimmte Entwicklungsrichtungen hatten: Hin zur Integration von immer mehr Medienformen, zur Nutzung des jeweils vorhandenen Techniken, hin vom Nachweis zum Recherchewerkzeug und auch hin zu einer immer grösseren Standardisierung und Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung und Nutzung von Katalogen. Gleichzeitig sollte gesagt werden, dass es normal ist, dass aus den Regelwerken in der Praxis wieder «Hausregeln» werden – weil es die Praxis ist, auf die die potentiellen Kolleg*innen treffen werden.) Klar werden muss in dieser Einführung auch, dass das Ziel eigentlich eine kooperative Katalogisierungspraxis möglichst vieler Bibliotheken gemeinsam ist, auch wenn dies teilweise (noch nicht?) umgesetzt wird.
  • Eine Einführung in die Praxis, Katalogisate von anderen Einrichtungen als Bibliotheken zu übernehmen und mit ihnen im Katalog zu arbeiten. Das bezieht sich ja vor allem auf Verlage. Es sollte dargestellt werden, warum das so gemacht wird (also vor allem die Menge an Katalogisaten, die so integriert werden kann, aber auch die «Kurzlebigkeit» solcher Katalogisate im Fall von grossen Paketen elektronischer Medien, die nur für einen kurzen Zeitraum lizenziert werden und deshalb auch keinen grösseren Aufwand rechtfertigen würden) und was die Vor- und Nachteile sind. Es muss klar werden, dass es neben dem Erstellen von Katalogisaten heute eine Aufgabe von Bibliothekar*innen ist, die Qualität von solchen kurzfristig und massenhaft in Kataloge eingespielte Katalogisate zu überprüfen und zur Not zu verbessern beziehungsweise Verbesserungen einzufordern.
  • Sinnvoll wird wohl auch sein, darzustellen, dass es seit langem Versuche gibt, die Erstellung von Katalogisaten durch technische Möglichkeiten zu unterstützen, also oft möglichst zu automatisieren. Das dies bislang zu wenigen konkreten Lösungen gefunden hat, heisst nicht, dass es nicht im Laufe der Karriere der potentiellen Kolleg*innen verändern wird. Vielmehr wird es die Katalogisierungsarbeit weiter begleiten, selbst wenn es nie zu einem handfesten Ergebnis führt.
  • Das Thema Metadaten müssten ähnlich tief, aber mit Verweisen auf verschiedene Bereiche, eingeführt werden. Sicherlich müsste dargestellt werden, was Metadaten sind und wofür sie genutzt werden. Zu diskutieren wäre, ob man nicht die Katalogisate erst danach als gesonderte Form von Metadaten einführen sollte. Darüber hinaus sollte dargestellt werden, welche Metadaten in der bibliothekarischen Praxis relevant sind, also einmal die, die von anderer Seite – beispielsweise im Rahmen von Discovery Systems – in die Bibliothek kommen und dann die, an deren Erstellung oder Pflege Bibliotheken beteiligt sind – also zum Beispiel mit einem Verweis auf Forschungsunterstützung.
  • Relevant ist zudem, die Bedeutung von Metadatenstandards darzustellen und, wie diese weiterentwickelt werden. Klar sein muss, dass Bibliotheken nicht nur ihre eigenen Regelwerke fortschreiben, sondern dass Bibliothekar*innen auch an der Weiterentwicklung anderer Standards beteiligt sind. Die Strukturen, welche diese Standards fortschreiben, und ihre Arbeitsweise, sollte zumindest beispielhaft dargestellt werden, zum Beispiel generisch anhand des W3C oder solcher spezifischen Institutionen wie der Music Encoding Initiative / MusicXML.
  • Die grundlegenden Prinzipien von Katalogen und Discovery Systems sollte ebenso dargestellt werden. Dabei muss nicht erklärt werden, welche verschiedenen Katalogarten (alphabetischer versus systematischer Katalog und so weiter) es früher gab. Vielmehr sollte die verschiedenen Suchzugänge dargestellt werden, die an heutigen Systemen möglich sind.

5.5 Bibliotheksbenutzung

Neben der Arbeit mit Medien ist eindeutig die Nutzung der Bibliothek der Bereich, welcher für die praktische Arbeit relevant ist, aber in der Literatur und Diskussion eher gerne herunterfällt. (Mir fällt das auch im Gespräch mit Kolleg*innen aus verwandten Gebieten auf. In Archiven zum Beispiel scheint die Nutzung auch viel Ressourcen einzunehmen, aber nicht so prägend zu sein, wie für Bibliotheken.) Dabei geht es um zwei Bereiche: Die Nutzung des Bestandes und die Nutzung des Raumes Bibliothek.

Wie auch bei den anderen Themen hier bin ich der Überzeugung, dass es in einem Lehrbuch wichtig ist, die reale Nutzung und die damit zusammenhängenden Arbeiten, die durchgeführt werden (müssen) darzustellen. Es kann nicht darum gehen, irgendwelche Idealbilder und Träume zu schildern oder gerade aktuellen Obsessionen des Bibliothekswesens zu folgen, die nicht in der Empirie sichtbar sind. Es bringt nichts, wenn die potentiellen Kolleg*innen im Lehrbuch von flexiblen Räumen und Dritten Orten lesen, aber dann in der Praxis vor allem einen Arbeitsalltag haben werden, der von Aufsicht im Lesesaal und Betreuung von Schulklassen geprägt ist, während die Kaffeemaschine in der Ecke manchmal genutzt wird. Das Lehrbuch kann schon sagen, was die Bibliotheken gerne hätten, wie die Bibliotheken genutzt werden, aber es muss auch darauf vorbereiten, in den realen Bibliotheken zu arbeiten.

Welche Themen sollten also, meiner Meinung nach, zum Thema Bibliotheksnutzung dargestellt werden?

  • Im Bereich der Mediennutzung sollten Zahlen und Entwicklungen gezeigt werden. Es muss klar werden, welche Medientypen die Nutzung prägen (in Öffentlichen Bibliotheken weiterhin gedruckte Bücher, in Wissenschaftlichen elektronische Medien und gedruckte Bücher) und wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Wieder sollte es vor allem darum gehen, die potentiellen Kolleg*innen auf den Arbeitsalltag vorzubereiten: (a) Sie sollten sehen, welche Medientypen sie hauptsächlich beschäftigen werden, (b) sie sollten auch sehen, dass es kontinuierliche Veränderungen gibt, dabei aber auch starke «Beharrungskräfte» einiger Medientypen gibt – nicht als Polemik, sondern weil dies wohl auch in den nächsten Jahrzehnten weiter so sein wird, (c) sie sollten auch lernen, dass bestimmt Medientypen in gewisser Weise «kommen und gehen» und das dies ihre Karriere auch prägen wird. (Hier wären ein-zwei Beispiele, die explizit als solche bezeichnet werden sollten, interessant. Mir scheint die CD / CD-ROM immer ganz gut, weil man zeigen kann, mit was für hohen Ansprüchen sie einmal eingeführt wurde, wie sie eine Zeit lang auch relevant war und wie sie dann wieder aus den Beständen der meisten Bibliotheken «verschwand». VHS-Kassetten finde ich auch ein gutes Beispiel, weil man hier zeigen kann, wie der Medientyp selber einen Einfluss auf den Raum Bibliothek hatte, weil für diese teilweise eigene Möbel angeschafft / gebaut wurden.)
  • Es muss klar werden, welche Arbeit «hinter» der eigentlichen Bibliotheksnutzung steckt, also zum Beispiel die technische Bearbeitung, das kontinuierliche Einstellen, Verschieben, Neuordnen und Entfernen von physischen Medien oder die Pflege von Metadaten, Lizenzen, das Lösen technischer Probleme oder die Kommunikation mit Verlagen bei elektronischen Medien. Es sollte auch klar dargestellt werden, dass dies fast alles «invisible work» ist, also solches, dass von Nutzer*innen oder Trägerschaft regelmässig übersehen wird. Auch darauf sollte in einem Lehrbuch vorbereitet werden, dieses «Übersehenwerden» und die Aufgabe, damit umzugehen – persönlich, als Bibliothekar*innen, und institutionell als Bibliothek, welche die Notwendigkeit und Breite dieser Arbeiten immer nach aussen zeigen muss.
  • Das Lehrbuch sollte auch zusammenfassen, was wir über die tatsächliche Nutzung des Raumes Bibliothek wissen. (Mir scheint, beim Schreiben würde das eines der grössten Probleme darstellen, weil man hier zwischen tatsächlich vorhandenem Wissen und irgendwelche Artikeln, die auf Ausnahmesituationen wie Veranstaltungen, Feste oder so fokussieren, unterscheiden muss. Hier muss vielleicht sogar einiges erst empirisch erhoben werden.) Es wäre zum Beispiel relevant, zu vermitteln, dass weiterhin der Grossteil der Nutzer*innen relativ kurz in Öffentliche Bibliotheken kommt, um Medien auszuleihen und dann wieder zu gehen, dass ein relevanter Teil der Bibliotheksnutzung in Wissenschaftlichen Bibliotheken darin besteht, diese als Lern- und Arbeitsort (nicht einmal unbedingt mit den Medien aus der konkreten Bibliothek selber) zu nutzen und das es gleichzeitig immer Versuche von Bibliotheken gibt, andere Formen von Nutzungen zu ermöglichen und zu motivieren. Hierbei kann man auch Beispiele nennen, aber man sollte ehrlich darstellen, was die Hauptnutzung ist und was nicht.
  • Sicherlich sollte man auch darstellen, wer überhaupt die Bibliotheken nutzt und was dies für Möglichkeiten und Probleme mit sich bringt. Erstmal Probleme: Hier scheint mir, dass Bibliotheken teilweise zu sehr auf «problematische Nutzer*innen» fokussiert sind. Das scheint mir teilweise mehr Thema der Literatur und Diskussion zu sein als der Realität in den meisten Bibliotheken. Aber es sollte im Lehrbuch auch als möglicher Teil der Bibliotheksarbeit angesprochen werden, inklusive Verweise auf Lösungsansätze und darauf, dass der Umgang mit diesen Nutzer*innen nicht gelingen kann, wenn er von Vorurteilen geprägt ist. Die andere Seite, nämlich wer überhaupt Bibliotheken nutzt, wäre ein wichtiges Thema, aber auch eines, für das man eventuell erstmal Daten erheben müsste. Das scheint mir ein Problem des Bibliothekswesens an sich zu sein, dass es kaum ein Wissen zum Beispiel über die sozio-demographische Zusammensetzung der Nutzer*innenschaft gibt. Zu den Altersgruppen kann man noch recht gut etwas sagen, aber anderes ist schwieriger zu bestimmen. Wichtig wäre mir bei diesem Abschnitt dann auch, auf empirischen Erfahrungen aus Bibliotheken aufzubauen, also eher sagen zu können, wie viel Zeit Bibliothekar*innen mit Aufsicht, Beratung, Medienarbeit und so weiter verbringen und wie viel zum Beispiel mit der Organisation von Maker-Veranstaltungen oder der Arbeit mit Schulklassen.
  • Es gibt im Bibliothekswesen erstaunlich wenig Literatur und Diskussionen zur konkreten Arbeit für und mit Nutzer*innen, wenn man dies zum Beispiel mit der Literatur aus der Pädagogik oder der Sozialen Arbeit vergleicht. Hier bin ich hin und her gerissen: Einerseits fände ich es nur sinnvoll, wenn es zum Beispiel ein Nachdenken und Untersuchungen zu pädagogischen und didaktischen Fragen gäbe – aber gleichzeitig sollte das Lehrbuch ja darauf vorbereiten, was in Bibliotheken tatsächlich passiert. Sollte also zum Beispiel grundlegende didaktische Konzepte behandelt werden (weil es sinnvoll wäre)? Oder darauf verwiesen werden, dass sie sich in der Realität von Bibliothekar*innen selber angeeignet werden müssen (was die Realität ist)?
  • Ich denke, es wäre auch gut, in diesem Abschnitt Nutzungsordnungen (unter welchem Namen auch immer) zu behandeln. Zum einen kann man an konkreten Nutzungsordnungen sehen, wie Bibliotheken sich die Nutzung der Medien und des Raumes vorstellen, zum anderen kann man vermitteln, dass die Arbeit an und mit den Nutzungsordnungen einen wichtigen Teil der Bibliotheksarbeit darstellen sollte. An ihnen lässt sich zum Beispiel auch gut diskutieren, dass Bibliotheken immer eine Balance suchen zwischen Medienerhalt und Zugang zu Medien und das diese Balance immer geprägt ist vom Bibliothekstyp (mit den beiden Extremen Bibliotheken mit Archivierungsauftrag auf der einen Seite und Bibliotheken, die beim Bestandsmanagement den «Verbrauch» von Medien in einem überschaubaren Zeitraum schon einplanen, auf der anderen Seite).

5.6 Services und Veranstaltungen

Ein solches Lehrbuch muss ohne Frage einen Einblick geben in die zahlreichen Services und Veranstaltungen, die von Bibliotheken durchgeführt werden. Auch hier unter dem Blickwinkel, dass klar sein muss, was an tatsächlicher Arbeit in Bibliotheken passiert (hier zum Beispiel unter anderem, was es heisst, Veranstaltungen zu planen und durchzuführen, vom Personaleinsatz über Didaktik hin zu baulichen Fragen oder auch, welche Arbeit und Ressourcen konkret für bestimmte Services notwendig sind), aber gleichzeitig auch mit realistischen Darstellungen. Im Lehrbuch sollte weniger geschildert werden, was Bibliotheken sich manchmal wünschen, welche Aufgaben sie übernehmen oder welche Bedeutung sie haben könnten, sondern vielmehr, was tatsächlich «in der Fläche» passiert. Gleichzeitig sollte klar werden, dass die Entwicklung solcher Vorstellungen oder auch das Testen von neuen Services und Veranstaltungsformen Teil der Arbeit im Bibliothekswesen ist und sein wird. Die potentiellen neuen Kolleg*innen sollten darauf vorbereitet sein, ohne dann zu hoffnungsvoll oder zu kritisch an solche Entwicklungen herangehen zu können.

Das Ziel wäre, dass potentielle Kolleg*innen mit dem Lehrbuch darauf vorbereitet werden, dass zum Beispiel die Organisation von Lesungen oder Beratungen zum Forschungsdatenmanagement Teil ihrer Arbeit (oder gar ihre Hauptarbeit) in Bibliotheken sein kann. Und sie sollen in der Lage sein, wenn dies nicht der Fall sein wird, diese Arbeit und ihre Bedeutung dennoch Wert zu schätzen (als Kolleg*innen oder als Vorgesetzte).

  • Man kann in einem Lehrbuch auch nicht alle Services und Veranstaltungsformen darstellen. Aber es wäre wichtig, die hauptsächlichen Bereiche (aus der Realität) darzustellen und gleichzeitig zu zeigen, dass es immer Versuche gibt, in andere Bereiche weiterzugehen.
  • Zu vermitteln wäre aber auch, dass Bibliotheken der Erfahrung nach vor allem dann mit der Etablierung von Services erfolgreich sind, wenn sie eine Servicefunktion für Nutzer*innen oder Trägereinrichtungen übernehmen und weniger erfolgreich, wenn sie versuchen, darüber hinauszugehen und selber neue Aufgaben zu (er-)finden.
  • Es sollte auch klar gesagt werden, dass Öffentliche Bibliotheken bei allen Versuchen, neue Bereiche zu besetzen, seit Jahrzehnten vor allem im Bereich Literatur und der Arbeit mit Kinder sowie Schulklassen erfolgreich sind. Potentielle Kolleg*innen sollten darauf vorbereitet werden, dass sich in praktisch allen Öffentlichen Bibliotheken ein oder zwei «besondere» Veranstaltungsangebote finden, die für die jeweilige Bibliothek spezifisch sind, aber das der Grossteil der Nutzer*innen trotzdem zu Literatur- und Kinderveranstaltungen kommt und dass es Teil der Bibliotheksarbeit ist, diese zu organisieren.
  • Zu diskutieren wäre zu diesem Themenbereich, wie tief man in die Organisation von Veranstaltungen und Services hineingehen muss. Sicherlich lässt sich in einem einführenden Lehrbuch eh nicht die gesamte Veranstaltungsorganisation vermitteln, aber es wäre wohl notwendig, dass klar wird, dass auch dies alles Arbeit ist, die geplant, durchgeführt und mit Ressourcen ausgestattet werden muss und nicht einfach «nebenher» passieren kann. Und das sie teilweise, wenn die Bibliothek gross genug wird, auch als Hauptaufgabe von Personen oder Abteilungen stattfindet. Nicht so sehr bei Services, aber gerade bei Lesungen in Öffentlichen Bibliotheken kann man auch daran denken, hier zu thematisieren, wie das Auslagern dieser Arbeit an Dritte passieren kann, die dann im Auftrag von Bibliotheken Veranstaltungen in der Bibliothek durchführen – und was dies an Arbeit für Bibliotheken bedeutet (Ressourcen für die Auslagerung organisieren, Qualität überprüfen und so weiter).
  • Das Lehrbuch sollte auch auf die Unterschiede im DACH-Raum eingehen und wohl auch darauf, welche Tradition im DACH-Raum, im Gegensatz zu Traditionen in anderen Ländern bestehen. Die Bibliotheken im DACH-Raum sind ja, im Gegensatz zum Beispiel zu denen in Frankreich, Kanada und den USA, davon geprägt, dass sie vor allem Veranstaltungen in der Bibliothek (als im eigentlichen Gebäude) planen und durchführen, während anderswo Veranstaltungen an anderen Orten zur normalen Bibliotheksarbeit gehören. Es gibt auch im DACH-Raum dazu Ausnahmen, allerdings dann auch meist in bestimmten Einrichtungen, wie Schulen. Gleichzeitig gibt es daneben die Tradition, in der bibliothekarischen Literatur aus Bibliotheken anderer Länder Beispiele anzuführen und als Vorbilder beziehungsweise Bilder zukünftiger Bibliotheken darzustellen. Mir scheint, es wäre wichtig, gleich in einem Lehrbuch zu zeigen, dass dies beides – also die Veranstaltungen vor allem in der Bibliothek, mit Bezug auf Dienstleistung und Literatur, als auch das Anführen von Beispielen aus anderen Ländern, die nicht in diese Tradition passen – sich seit Jahrzehnten nicht gross verändert hat. Gleichzeitig wäre es wichtig zu sagen, dass in der Schweiz und in Liechtenstein die Leseanimation einen grösseren Platz in den Öffentlichen Bibliotheken einnimmt als in Deutschland, aber dass Spielzeug in Ludotheken verliehen wird (die kurz dargestellt werden müssten) und nicht, wie in den anderen Ländern des DACH-Raumes, in Öffentlichen Bibliotheken.
  • Mir scheint für diesen Abschnitt müssten auch Daten erhoben werden. In der Literatur werden eher besondere Entwicklungen dargestellt, weniger die Realität in Bibliotheken. Die Einführung neuer Services oder die Diskussion darüber, ob ein bestimmter Bereich – aktuell zum Beispiel das Forschungsdatenmanagement – von Bibliotheken mit Services besetzt werden soll oder nicht, produziert immer weit mehr Beiträge als Services, die dann in der Praxis so sehr «funktionieren», dass sie kaum noch thematisiert werden müssen. Aber die Arbeit potentieller Kolleg*innen wird eher von letzteren, also schon aufgebauten, Services geprägt sein, als von solchen «in der Debatte» – insbesondere, wenn sie eine längere Karriere im Bibliothekswesen absolvieren werden und nicht nur einen kurzen Ausflug in die Projektarbeit. Für das Lehrbuch müsste also erhoben werden, welche Services und Veranstaltungen tatsächlich im DACH-Raum etabliert sind (nicht nur diskutiert oder gerade in Projekten ausprobiert werden). Und zwar hier auch nochmal mit einem extra Fokus auf Spezialbibliotheken mit ihren spezifischen Aufgabenfelder. Insbesondere die Medizinbibliotheken haben da ja erfahrungsgemäss immer eine grosse Palette dieser spezifischen Angebote.

5.7 Lesen, Leseförderung und Leseforschung

Die Leseforschung spielt – ich habe das schon mehrfach anderswo angesprochen – im Bibliotheksalltag und in der bibliothekarischen Diskussion kaum eine Rolle. Dabei wird sie selbstverständlich immer weitergetrieben (und ihre Zeitschriften und Monographien stehen in Bibliotheken). Mir irritiert dass immer wieder, weil ich es anders erwarten würde – gerade Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken sind weiterhin hauptsächlich damit befasst, Medien für Leser*innen zur Verfügung zu stellen, Lesungen zu organisieren und hauptsächlich Veranstaltungen für Kinder und Schulklassen durchzuführen, also für Personen, die dann gerade in der Leselernphase sind. Und dennoch wird Wissen darüber, was gelesen wird, von wem, wofür, wie und so weiter kaum referenziert. Auch die Entwicklungen im Medienmarkt oder der Literatur selber sind fast nie Thema von bibliothekarischen Publikationen oder Diskussionen.

Ich weiss bei diesem Thema nicht, was alles in einem Lehrbuch notwendig wäre. (Offenbar funktionieren Bibliotheken ja auch ohne die Thematisierung dieses Wissens.) Aber mir scheint, falls jemand darangehen würde, ein Lehrbuch neu zu planen, wäre es ein gutes Zeitpunkt, darüber nachzudenken. (Ich würde Lesen hier auch erweitern auf das Lernen, zumindest das Lernen mit Medien.) Eventuell könnte dann ein Lehrbuch auch die Rolle spielen, die Bedeutung eines Themas für die Praxis zu verstärken und dann damit die Bibliothekspraxis näher an das Wissen aus der Leseforschung zu bringen.

Was bei diesem Thema aber auch wichtig wäre, ist, die konkrete Leseförderung, die in Bibliotheken tatsächlich stattfindet, darzustellen. Dabei sollte klar werden, dass diese oft auf Prämissen basiert, die halt nicht so richtig auf der Leseforschung basieren und das ihre Zielsetzungen manchmal recht unklar sind – also nicht immer klar, ob es wirklich um die Förderung von Lesen geht oder um Veranstaltungen, die an sich etwas Medien zu tun haben. Der Widerspruch kann auch benannt werden. Aber dennoch ist die Arbeit in einigen Bibliothekstypen davon geprägt, einmalige oder regelmässige Veranstaltung in diesem Bereich durchzuführen oder auch solche Kampagnen wie Buchstart (ein schönes Beispiel dafür, dass ein Lehrbuch den gesamten DACH-Raum beachten müsste und nicht zum Beispiel nur schreiben dürfte, wer in Deutschland «hinter» Buchstart steht, weil es in der Schweiz / Liechtenstein und in Österreich anders organisiert ist) mit zu tragen.

5.8 Beratungen und Schulungen

Der Themenbereich, den ich hier Beratungen und Schulungen nenne, ist ein gutes Beispiel dafür, warum es bei einem Lehrbuch wichtig wäre, einerseits nicht jedes aktuell in der bibliothekarischen Literatur diskutierte Thema zu integrieren, es andererseits aber auch regelmässig zu aktualisieren und mit der tatsächlichen Praxis in Bibliotheken abzugleichen.

Vor zehn-fünfzehn Jahren hätte man diese Abschnitt wohl eher «Informationskompetenz» genannt und, auf der Basis der damaligen bibliothekarischen Literatur, den Eindruck haben können, dass es ein Thema wäre, dass in Zukunft die Arbeit von (mindestens) Wissenschaftlichen Bibliotheken immer mehr prägen würde.

Heute ist das nicht so eindeutig. Was passiert ist, ist, dass eine ganze Reihe von Projekte in diesem Bereich, die einmal erfolgreich waren (oder zumindest schienen) ohne Anschluss eingestellt wurden und gleichzeitig aber in Bibliotheken feste Aufgaben und Personalstellen (aber wohl weit weniger als zur Hochzeit der Informationskompetenz-Projekte) in diesem Bereich geschaffen wurden. Die Kolleg*innen, welche diese Stellen ausfüllen, haben jetzt ein Wissen darüber gesammelt, was diese Arbeit heisst: Vor allem das Durchführen von Schulungen und Beratungen, wobei gerade die Schulungen zwar schon auf Themenbereich angepasst werden, aber doch oft einführend bleiben. Es gibt ein Wissen darum, wie diese Veranstaltungen und Beratungsgespräche geplant, durchgeführt, evaluiert und weiterentwickelt werden können und wie man sich auf die vorbereiten kann. Nicht zuletzt gibt es einzelne Strukturen (Arbeitsgemeinschaften für Informationskompetenz etc.), die jetzt teilweise seit über einem Jahrzehnt aktiv sind. Aber gleichzeitig sind viele Diskussionen, die es vor zehn-fünfzehn Jahren gab praktisch verstummt, beispielsweise zu didaktischen Fragen oder zu Modellen der Informationskompetenz. Es ist ein Thema geworden, dass zum Arbeitsbereich von Bibliotheken gehört, aber keines, welches die Arbeit von Bibliotheken grundlegende geändert hätte. Und, dieses Thema ist heute so sehr mit den «normalen» Auskunftsgesprächen verbunden – die es ja eigentlich ablösen oder auf einen neue Ebene heben sollte – dass mir scheint, dies kann und sollte gemeinsam behandelt werden.

In einem Lehrbuch würde ich mir zweierlei wünschen: Zum einen sollte die tatsächliche Arbeit in diesem Bereich dargestellt werden. (Hierfür müsste man sie wohl erforschen.) Zum anderen fände ich es aber auch ein gutes Beispiel um kurz darzustellen, wie die Diskussionen und Entwicklungen abgelaufen sind. Die potentiellen Kolleg*innen sollten lernen, dass es solche Hochphasen der Diskussionen und Projekte gibt, inklusive Vermutungen darüber, wie sie die Zukunft der Bibliotheken prägen werden. Sie sollten auch lernen, dass die Ergebnisse nach diesen Hochphasen diese Vermutungen meist nicht bestätigen, aber das die Projekte und Diskussionen gleichzeitig auch nicht gar keine Veränderung bringen. Potentielle neue Kolleg*innen sollten nicht unkritisch jede Vermutung tragen, aber auch nicht zynisch jede Idee über die Entwicklung des Bibliothekswesens gleich ablehnen. Und sie sollten lernen, dass es Kolleg*innen sind, die solche Entwicklungen vorantreiben – und damit auch, dass sie dies tun können, wenn sie im Bibliothekswesen arbeiten.

5.9 Etat und Etatmodelle

Ein bibliothekarisches Lehrbuch muss auch über Geld reden, sowohl wie viel Geld Bibliotheken zur Verfügung steht, woher es kommt, wie es in Bibliotheken verwaltet, verteilt und genutzt wird, als auch, was das für einen Effekt hat. Mir scheint, dass das oft untergeht, obwohl es wichtig wäre, in der Praxis einen Blick dafür zu haben. Insbesondere scheint mir wichtig, dass klar würde, dass Bibliotheken nicht in einem Raum ausserhalb von Wirtschaft und Gesellschaft schweben, sondern das sie durch ihre stetigen Etats Teil von Märkten sind. Es wäre zum Beispiel wichtig, auch als Verantwortliche*r in Bibliotheken verstehen zu können, wie die Firmen und Einrichtungen, die auf diesen Etat zielen, denken – und das weder als reine Kooperation noch als reines Profitinteresse zu interpretieren. Bibliotheken müssen mit Firmen interagieren, also muss klar sein, wie die funktionieren. Das gleiche gilt für Träger: Bibliotheken müssen auch wissen, wie ihre jeweiligen Träger über ihre Einnahmen und Ausgaben entscheiden.

Zudem muss schon in einer Einführung klar werden, dass es eine Aufgabe von Bibliotheken ist, den eigenen Etat möglichst sinnvoll zu verwenden, also die Aufteilung des Etats auf die Funktionen zu organisieren. Es muss klar sein, welche Auswirkungen bestimmte Entscheidungen haben, beispielsweise was die Übernahme von bestimmten Funktionen und damit einhergehende Kosten für Personal, Infrastruktur und Medien, für den Etat hat. Wichtig finde ich zudem, dass Kolleg*innen dann im Alltag wissen, dass die Aufteilung des Etats sich an den Aufgaben der Bibliothek orientieren sollte, nicht an gewachsenen Strukturen oder Interessen – egal, in welchen Positionen sie dann später in ihren potentiellen Karrieren arbeiten.

  • Eine Aufgabe eines solchen Kapitels wäre es, einen realistischen Überblick über die Etats zu geben: Wie viel Geld haben grosse und kleine Bibliotheken zu Verfügung? Wie ist dieses Etat heute normalerweise verteilt? (Beispielsweise sollte klar sein, dass in den meisten Bibliotheken die Personalkosten höher sind als die Kosten für Medien selber und die Kosten für den Erhalt von Bau und Infrastruktur.) Aber gleichzeitig sollte das wieder für den gesamten DACH-Raum mit seinen unterschiedlichen Währungen und Preisniveaus geschehen (im Kontext, also auch nicht so, dass der Eindruck entsteht, schweizerische und liechtensteinische Bibliotheken hätten unendlich viel mehr Etat, nur weil die Summen grösser sind).
  • Es müsste klar werden, welche Formen von Kosten überhaupt anfallen und wie oft (also mindestens laufende Kosten, solche die regelmässig neu verhandelt werden wie Lizenzen und solche, die einmal anfallen wie bei Bauten). Dabei muss auch klar werden, welche unterschiedlichen Töpfe es für diese Kosten gibt, also zum Beispiel, dass Bauten meist nicht aus dem laufenden Etat finanziert werden. Zu vermitteln wäre aber auch, wie viel Einfluss Bibliotheken auf diese Kosten nehmen können, also was verhandelt werden kann und mit wem. (Sichtbar sollte zudem werden, dass solche Verhandlungen zu den Aufgaben von Bibliotheken gehören.)
  • Die Auswirkungen von (a) Kooperationen (vor allem Konsortialverträgen) und (b) Drittmittelprojekten auf die Planung von Etats sollte klar werden, zumindest die zunehmende Komplexität.
  • Im DACH-Raum wird selten über die verschiedenen Modelle zur Planung und Verteilung von Etats gesprochen, obgleich diese in allen Bibliotheken (teilweise implizit) existieren. In einem Lehrbuch sollten die thematisiert werden, inklusive der wichtigsten Entwicklungen – hier wäre es wieder eine Aufgabe bei der Planung zu entscheiden, welche Entwicklungen aktuell «nur» angedacht werden und sich vielleicht nie durchsetzen. Ich würde zum Beispiel dafür plädieren, das man die Zusammenlegung von Etatsträngen für physischen und elektronische Medien, die in den letzten Jahren in vielen Wissenschaftlichen Bibliotheken vorgenommen wurden, darstellt (damit sichtbar wird, dass es Veränderungen gibt); aber beim Thema «Informationsbudget», dass aktuell hier und da diskutiert wird, würde ich zumindest noch diskutieren: Ist das etwas, was sich wirklich etablieren wird? Oder ist es eine aktuelle (relevante) Diskussion von möglichen Entwicklungen? Benötigen potentielle neue Kolleg*innen einen Einblick in diese Diskussion für ihre Einstieg in das Bibliothekswesen?
  • Was auch recht früh vermittelt werden sollte, ist, dass der Etat von Bibliotheken zwar im Allgemeinen recht stabil ist, aber das es eine Aufgabe des Managements ist, diesen Etat gegenüber den Trägern begründen zu können und auch, wenn nötig, für eine Erhöhung zu argumentieren. Dabei sollte man schon recht früh lernen, dass es auch hierbei darum geht, zu verstehen, wie die Träger denken und was sie von den Bibliotheken erwarten – und nicht darum, was Bibliotheken sich erhoffen.

Ein Repository für Projekte in Bibliotheken? Gut wäre es ja.

Es ist noch gar nicht Weihnachten, aber ich dachte, ich schreibe hier dennoch mal einen Wunsch auf. Oder vielleicht auch einen Traum. Oder zumindest: Etwas, was ich wünschte, dass es dies im Bibliothekswesen im DACH-Raum gäbe, als gelebte Praxis. Etwas, was ich mir im Alltag an der Hochschule so wünsche, aber von dem ich auch denke, dass Bibliotheken selber profitieren würden.

Also: Es wäre gut, wenn es ein Repository gäbe für all die Projektberichte, Daten aus Projekten und vielleicht auch gescheiterten Projektanträge (intern und extern) von Bibliotheken. Eines, dass auch aktiv genutzt wird und nicht nur als fast tote Datenbank «irgendwo» existiert.

Aktuell ist es Praxis in Bibliotheken, gerade Wissenschaftlichen (aber auch immer mehr grossen Öffentlichen), immer und immer wieder neue Projekte aufzusetzen. Wohl auch viel mehr intern finanzierte als extern finanzierte. (Was relevant ist, weil extern finanzierte viel eher in Projektberichten enden, die dann auch viel eher noch irgendwie publiziert werden, teilweise publiziert werden müssen, als intern finanzierte.) In diesen Projekten werden kontinuierlich Recherchen gemacht, Paper geschrieben, sich intern und in Netzwerktreffen gegenseitig Vorträge gehalten, Interviews und Umfragen gemacht, Software verglichen, Anforderungsprofile erstellt und so weiter. Kurzum: Es wird Wissen erstellt. Selbstverständlich immer auf die Praxis bezogen.

Dass das passiert, weiss man. Aber wo und was genau, dass ist immer undurchsichtig, ausser man steckt gerade in den aktuellen Strukturen, Netzwerken, Projekten und so weiter mit drin. Das kann man aber nicht immer tun und deshalb gibt es auch bei den best-vernetzten Kolleg*innen wohl immer das Gefühl, woanders etwas zu verpassen. (Dazu trägt auch bei, dass in Bibliotheken, je grösser sie sind, Aufgaben in immer mehr Arbeitsgruppen und Untergruppen verteilt wird, die sich dann wieder in Netzwerken zwischen verschiedenen Bibliotheken kommunizieren, aber gleichzeitig sich zum Teil von der Bibliothek, in der sie angesiedelt sind, lösen.) Es ist ja nicht so, dass nichts passiert. Eher passiert zuviel gleichzeitig.

Und parallel dazu ist es leicht, dass Gefühl zu kriegen, dass alles schon mal gemacht wurde. Nimmt man an einer Umfrage teil und gibt ein Interview hat man oft das Gefühl, dass alles doch schon mal gesagt zu haben. Oder hört man von einer Umfrage, ist es nicht selten so, dass man von irgendwoher weiss, dass das in einem anderen Projekt, einer anderen Bibliothek schon mal eine ähnliche Umfrage gab. Es stellt sich schnell der Effekt ein (in der Schweiz vielleicht noch schneller als in Deutschland), dass sich irgendwie alle untereinander immer wieder neu zu den ähnlichen Themen befragen.

Oder, noch anders formuliert: Das Gefühl ist schnell da, dass irgendwie die gleich Arbeit immer wieder neu gemacht wird.

Stimmt das? Who knows. Niemand kann das wirklich sagen, weil es keinen Überblick über all diese geleistete Arbeit gibt.

Und hier kommt meine, sagen wir mal, Idee eines Repositories für all diese Projekte ins Spiel. Es wäre recht egal, wie genau das aufgebaut wäre.

  • Wichtig wäre halt, dass es ein Ort sein müsste, wo Bibliotheken (oder auch Arbeitsgruppen in Bibliotheken, Netzwerken von Arbeitsgruppen, egal wie sie sich nennen, und so weiter) anlegen könnten, dass es solche Projekte gibt oder auch nur geben soll.
  • Dann zu den Projekten alle erstellten Berichte, Datensammlungen, Präsentationen und so weiter hochgeladen werden könnten. (Soweit die denn öffentlich geteilt werden können, wobei man wohl zwei Hürden zu überwinden hat, erstens die – sagen wir mal – forschungsethischen Fragen wie die Anonymisierung von Daten und zweitens die Angewohnheit vieler Bibliotheken, solche Berichte und Präsentationen intern halten zu wollen, auch wenn es dafür manchmal gar keinen richtigen Grund gibt.)
  • Selbstverständlich muss das alles mit ordentlichen Metadaten ausgezeichnet werden – was Arbeit ist, ohne Frage, aber auch für Bibliotheken gerade kein Neuland.
  • Langzeitverfügbar sollte es auch sein. Auch hier: Irgendwie selbstverständlich, aber in der Umsetzung schwieriger.

Das ist jetzt keine neue Idee, sondern… well, Forschungsdatenmanagement. Nur halt für Bibliotheken, die sich nicht gerne als Forschungseinrichtung verstehen, sondern im Fall Wissenschaftlicher Bibliotheken als Forschungsinfrastruktur. Und ja, es gibt einen Unterschied zwischen all den Projekten in Bibliotheken und Forschung an sich. Aber hier, auf der Ebene von Projekte planen und durchführen, Dokumente erstellen, Berichte schreiben und Präsentationen halten, ist der Unterschied nicht so gross.

Die Idee, auch schon Projekte anzulegen, die geplant werden, ist selbstverständlich aus der medizinischen Forschung übernommen, wo das normal ist. So kann man heute besser nachvollziehen, wenn Projekte in der Medizin ohne (publiziertes) Ergebnis beendet oder gar abgebrochen wurden. (Was oft heisst, das die Ergebnisse nicht überwältigend waren, was aber für Metastudien auch ein relevantes Ergebnis sein kann.)

So richtig funktionieren würde ein solches Repository, wenn es auch tatsächlich genutzt werden würde. Bibliotheken (und Arbeitsgruppen in Bibliotheken und so weiter) müssten sich angewöhnen, ihre Projekte in ihm zu dokumentieren. (Sinnvoll ist das wohl vor allem, wenn es daran ein Interesse aus der Führungsebene gibt. Bibliotheken vermuten ja auch oft, dass Forschende dazu gebracht werden können, Daten zu publizieren und so weiter, wenn sie dadurch mehr Reputation erhalten. Eventuell könnte das auch im Bibliothekswesen gelten.)

Vorteil wäre für alle Bibliotheken, dass bei Projekten immer geschaut werden kann, ob es schon ähnliche Projekte gab oder in anderen Projekten schon Fragen beantwortet wurden, die man klären will. Wie gesagt: Wenn es stimmt (und nicht einfach ein Gefühl ist), dass bestimmte Umfragen, Interviews und Fokusgruppen immer wieder gemacht werden, würde sich das in so einem Repository zeigen. Dazu aber müsste sich auch die Praxis entwickeln, ihn ihm zu recherchieren. Aber dann, dann würde es möglich sein, ständige Mehrfacharbeit zu reduzieren und stattdessen Arbeitszeit und andere Ressourcen zu nutzen, um weiterzugehen, nicht um immer wieder neu anzufangen, nicht immer vom Neuen das Gleiche zu lernen. Und es würde auch weniger von mehr oder minder zufälligen Kontakten abhängig sein, was man aus anderen Bibliotheken, Netzwerken und so weiter lernt. Nicht zu vergessen, dass so auch Wissen (also zumindest die Repräsentation von Wissen) zugänglich gehalten wird, wenn Kolleg*innen das Bibliothekswesen in Richtung andere Felder oder in Richtung Rente verlassen.

Und selbstverständlich – das spricht vielleicht zu sehr der Forscher in mir – würden sich so auch Daten für weitergehende Fragen ansammeln. Man könnte so besser längerfristige Trends erkennen und zum Beispiel nach Strukturen fragen. Welche Ergebnisse finden sich zum Beispiel immer wieder? Welche Hoffnungen von welchen Stakeholdern? Welche Projekte bringen nicht die Ergebnisse, die sich erhofft werden? Gibt es da zum Beispiel bestimmte Ansatzpunkte, aus denen man dann für spätere Projekte etwas lernen kann?

Wie gesagt: Keine neue Idee. Aber das muss es ja auch nicht sein. (Wenn etwas daran neu ist, dann vielleicht, hier Bibliotheken in gewisser Weise parallel zu Forschungseinrichtungen zu sehen.) Es ist aber schon so, dass ich mir oft wünschte, ein solches Repository würde existieren. Zu oft tauchen Fragen auf, von denen man den Eindruck hat, dass sie schon längst an anderer Stelle im Bibliothekswesen bearbeitet wurden. Zu oft auch der Wunsch, eine gewisse Übersicht von Projekten und Projektergebnissen erstellen zu können. Und immer wieder der Wunsch, ein paar Jahre zurückliegende Projekte nachträglich untersuchen zu können, um nach Strukturen zu suchen, die heutige Projekte erfolgreicher werden lassen können. (Einer meiner Unterträume hier wäre einmal herauszufinden, was sich bei all den virtuellen Fachbibliotheken gedacht, was für diese erfragt, ausprobiert, geplant wurde. Mir scheint, da wurde viel Arbeit investiert, die jetzt in vielen Fällen verloren gegangen ist.)

Mir ist auch klar, dass so ein Repository nicht von alleine entsteht. Irgendwer muss die Infrastruktur stellen, irgendwer die Daten pflegen, irgendwie muss das alles nachhaltig finanziert sein. (Hier lesen wohl vor allem Bibliothekar*innen: Insoweit, wem sage ich das?)

Sollten das nicht zum Beispiel Fachhochschulen tun, höre ich da die Frage aus dem Off. Immerhin würde die Wissenschaft davon auch profitieren (so viele Metastudien, die ich mir vorstellen kann…) und ist das nicht genau etwas an der Schnittstelle von Forschung und Praxis, an dem Fachhochschulen tätig sein sollen? Maybe. Aber Fachhochschulen sind politisch gewollt gerade so aufgestellt, dass sie das nicht tun können. Sie können immer nur Projekte durchführen, immer nur mit begrenzter Laufzeit und immer nur mit Finanzierung durch Dritte. (Sie könnten ein solches Repository also aufbauen, aber nicht betreiben.) Interne Mittel, gar für Infrastrukturen, wie es ein solches Repository darstellen würde, gibt es nicht. Also: Nein. Politisch ist das gerade nicht gewollt.

Wer sonst könnte es machen? Ich würde es eher Netzwerken von Bibliotheken, Bibliotheksverbänden oder auch, vielleicht, Verbünden als Aufgabe zuschreiben. Für die Schweiz gibt es Beispiele von gemeinsamer Finanzierung von Strukturen, die man als Bibliotheken wichtig findet, die mir sofort als Vorbild einfallen, wie die Speicherbibliothek oder SLSP. Das ist alles nicht ungehört.

Aber gut: Eventuell ist auch nur mein Traum. Nur, dass ich mir gut vorstellen kann, dass es für die Arbeit in Bibliotheken auch von Vorteil wäre, wenn es so eine Infrastruktur und die dazugehörige Praxis gäbe.

Zur Differenz zwischen Zielen bibliothekarischer Angebote und dem Bewerten derselben

Öffentliche Bibliotheken sind erstaunlicherweise wenig gut in der Lage, zu zeigen, wie ihre Angebote wirken, also vor allem, welche Veränderungen sie bei ihren Nutzer*innen hervorrufen. Sicherlich sollen gar nicht alle Angebote Veränderungen herbeiführen, beispielsweise sollen Medien aus der Bibliothek auch einfach dafür benutzt werden, um aus Spass an der Freude, aus Jux und Dollerei gelesen zu werden. Aber eine ganze Anzahl von Angeboten zielt zumindest diskursiv darauf, etwas zu verändern: Leseförderung soll die Begeisterung für das Lesen, die Regelmässigkeit des Lesens, den Aufbau von Lesekompetenz und so weiter fördern. Andere Angebote beispielsweise demokratisches Handeln oder den kritischen Umgang mit Fake-News. Bibliotheken sollen auch «mehr und mehr» Teil des Stadtraumes werden oder soziale Orte. Diese Aufzählung lässt sich ergänzen.

Und all dieses «Fördern», «mehr und mehr», «verstärkt» impliziert, dass es jeweils Veränderungen gibt. Menschen nehmen an Demokratieworkshops teil und können nachher demokratischer argumentieren und Dinge aushandeln. Kinder und Jugendliche durchlaufen Leseförderprogramme einer Bibliothek und haben nachher mehr Lesekompetenz als vorher. Oder sie haben mehr Spass am Lesen als vor dem Programm. So ungefähr.

Die Praxis sieht aber so aus, dass es immer wieder eine erstaunliche Differenz zwischen den angegebenen oder zu vermutenden Zielen von bibliothekarischen Angeboten auf der einen Seite und den dann durchgeführten Messungen dieser Ziel auf der anderen Seite gibt. Das war mir schon aufgefallen, als ich meine Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken schrieb – die auch deshalb nicht bestimmt werden konnten, weil keine Daten zu diesen Veränderungen vorliegen. Desletztens betreute ich aber auch einige Bachelorarbeiten, die mich wieder an dieses Phänomen erinnerten. Das war die Motivation, dieses Phänomen nochmal zu besuchen und zu fragen: Warum ist das eigentlich so?

Mir geht es dabei nicht um die Evaluation von einzelnen Projekten – die kann man auch von «ausserhalb» (Berater*innen, Hochschulen und so weiter) einkaufen, was ja auch getan wird, aber dann ist es halt nicht die Arbeit der Bibliothek selber. Mir geht es darum, dass meistens die Ziele von Angeboten gar nicht nachgewiesen zu werden scheinen, beispielsweise dass in Jahresberichten steht, warum man bestimmte Angebote wie Leseförderung macht, aber nicht, ob dieses Ziele erreicht worden sind. Oder dass wenn Angaben zu den Erfolgen von solchen Angeboten gemacht werden, diese zumeist nicht wirklich in Zusammenhang mit den Zielen stehen. Beispielsweise wieder in vielen Jahresberichten findet man oft Angaben dazu, wie viele Kinder und Jugendliche oder Schulklassen bestimmte Leseförderangebote im letzten Jahr besucht haben, manchmal auch Hinweise dazu, dass die Teilnahme wieder gestiegen ist oder die Zusammenarbeit mit den Schulen weiter funktioniert. Und in einigen Fällen finden sich auch Bilder davon, wie Kinder und Jugendliche begeistert an den Leseförderangeboten teilnehmen. Aber… das Ziel der Leseförderangebote – Lesen und Begeisterung für das Lesen fördern, den Aufbau von Lesekompetenzen zu unterstützen und so weiter – ist ja nicht, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche die Angebote irgendwie durchlaufen oder das sie dabei Spass haben. Um diese Differenz geht es mir.

Vorbild Schule / Kita

Vielleicht, so habe ich mehr als einmal überlegt, fällt mir diese Differenz deshalb auf, weil ich damals bei meiner Promotion (und dann nachher, als ich in der Bildungsforschung arbeitete) auch gesehen habe, wie es in Schulen und – damals recht neu – Kindertagesstätten gemacht wird. Mir ging es ja damals darum, herauszukriegen, welche Bildungseffekte Bibliotheken haben – und wer ist besser darin, Bildungseffekte zu bestimmen, als Schulen? (Die Kindertagesstätten kamen dazu, weil es damals relativ neu Bildungspläne für diese gab und sie anfingen, systematisch in der alltäglichen Praxis die Entwicklung der Kompetenzen von Kindern zu dokumentieren und zu reflektieren.)

Sicherlich: Zur Schule gehört auch immer die Kritik an dieser Beobachtung der Bildungsentwicklung von Kindern und vor allem die Messung mittels Noten – spätestens wohl seit die Staaten Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts die Aufsicht über die Schulen übernahmen. Aber auch diese Tradition der Kritik existiert schon so lange, weil es halt zum Beruf von Lehrpersonen gehört, zu beobachten und zu messen, wie sich das Wissen, die Fähigkeiten, die Kompetenzen der Schüler*innen verändern. Es gehört zur professionellen Arbeit einer Lehrperson, dies regelmässig zu machen, egal ob als Notengebung von Klassenarbeiten oder als Schreiben von individuellen Lernreports für Schüler*innen oder noch anders. Das findet nicht einfach so statt, sondern um die eigene Arbeit als Lehrperson zu reflektieren und auch zu verändern, wenn das notwendig ist. (Es gibt auch weitere Gegebenheiten, für die dieses Messen genutzt wird. Beispielsweise, was ich auch quasi live in der pädagogischen Literatur beobachten konnte, als ich die für die Promotion las, immer mehr Berichte für schulsozialarbeiterische Interventionen oder indirekt für die Evaluation ganzer Schulen.)

Es ist kein Zufall, dass Lehrpersonen so gut darin sind, Aussagen zu den Lernfortschritten «ihrer» Schüler*innen zu machen: Sie sind explizit dafür ausgebildet, es ist Teil der Arbeit, die von ihnen erwartet wird (und für die es dann auch Arbeitszeit gibt), es ist notwendiger Teil für andere Teile ihrer Arbeit, beispielsweise die Unterrichtsplanung selber.

Kindergärten, zumindest in den Deutschland, waren damals (vor fast fünfzehn Jahren) ein weiteres gutes Beispiel: Durch die ersten Bildungsplänen für diese Einrichtungen, die in einigen Bundesländern erlassen wurden, wurde der Wandel von «der Bewahreinrichtung zur Bildungseinrichtung», der eh seit Jahrzehnten im Gang war, weitergetrieben. Von Kindergärtner*innen wurde damals neu erwartet, die Entwicklung der Kinder zu beobachten, zu dokumentieren und auch die Unterstützung weiteren Lernens zu planen. Es gab damals eine Welle der Professionalisierung, die sich in Debatten in der Fachliteratur und der Forschung niederschlug, aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Kindergärten sichtbar wurde. Es war also offenbar möglich, so eine Praxis zu etablieren – wenn es gewollt wurde.

Bibliotheken

In Bibliotheken ist dieses Beobachten von Lernentwicklungen nicht Teil professioneller Arbeit. Auch nicht das Beobachten von anderen Entwicklungen, beispielsweise ob Menschen mehr demokratisch handeln oder sozialer werden.

Das wird klarer, wenn man es mit dem Beispiel Lehrperson vergleicht. Lehrpersonen lernen das Bewerten, das Notengeben, auch das Beobachten und das Einbeziehen all der Daten, die so zustande kommen, in die weitere eigene Arbeit (wieder vor allem die Unterrichtsplanung) in der Ausbildung. In der Entwicklung der Profession von Lehrpersonen wurden immer mehr Formen dieser Beobachtungen und Bewertungen angedacht, ausprobiert, kritisiert, selber bewertet, weiterentwickelt und so weiter. Und sie wurden so sehr Teil der Arbeit, dass sie Teil der Arbeitszeit und der Anforderungen an Lehrpersonen sind: Ein*e Lehrer*in vergibt Noten, dass ist Teil der Arbeit – auch wenn die Lehrperson das alles kritisch sieht.

In Bibliotheken ist das nicht so. Das Bewerten von Angeboten über einfach zu erhebende Daten (die, die eh im Bibliothekssystem erhoben werden oder solchen, die leicht ausgezählt werden könne, wie die Anzahl von Teilnehmenden) ist weder Teil der Ausbildung noch Teil der professionellen Arbeit selber. Es gibt weder eine Diskussion im Bibliothekswesen über die Möglichkeiten und Grenzen von Erhebungsinstrumenten noch gibt es überhaupt etablierte Erhebungsinstrumente. In Schulen werden die meisten Lehrpersonen sich kritisch zu Schulnoten äussern – aber es gibt Schulnoten und sie sind etabliert.

Dadurch, dass solche Messungen nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit sind, fehlt in Bibliotheken zum Beispiel auch Arbeitszeit, um diese Messungen überhaupt durchzuführen oder die Ergebnisse regelmässig zu reflektieren. (Deshalb vielleicht immer wieder neue Versuche in Projekten, in denen man Zeit dafür einplanen kann, die aber nicht in die kontinuierliche Arbeit übernommen werden.)

Und selbstverständlich: Wenn es nicht gemacht wird, wird es auch nicht geübt und kann auch nicht zu einem so normalen Teil der Arbeit werden, wie es das Benoten für Lehrpersonen oder das Anlegen von Lerndossiers für Kindergärtner*innen ist.

Warum ist das so?

Warum ist das so? Warum wird des Messen der Effekte von Angeboten von Bibliotheken nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit? Warum gibt es zum Beispiel gerade keine bekannten Projekte, Messinstrumente dafür zu entwickeln, wie Leseförderaktivitäten bei den potentiellen Lesenden wirken? Sicherlich kann man einige naheliegende Gründe finden, warum es in Schulen einfacher ist, zu benoten oder Lernentwicklungen zu beobachten, als in Bibliotheken. Beispielsweise die Freiwilligkeit der Teilnahme an bibliothekarischen Angeboten (ausser gerade dann, wenn sie im Rahmen von Schulen oder Kindergärten stattfindet), die vielfältigen Aufgaben von Bibliotheken, der Fakt, dass Lehrpersonen die von ihnen betreuten Schüler*innen über Jahre regelmässig treffen, Bibliothekar*innen hingegen nur selten. Aber das wären alles Herausforderungen, keine unüberwindlichen Hindernisse.

Der Grund scheint mir ein anderer zu sein: Es ist einfach nicht notwendig, diese Arbeit zu leisten. Zwar gibt es immer wieder die Behauptung, Bibliotheken müssten (immer mehr, gerade jetzt et cetera) nachweisen, was sie machen und das sie damit erfolgreich sind. Aber… das stimmt ja nicht. Oder zumindest zumeist nicht. Weder die Träger noch die allgemeine Politik noch die Gesellschaft an sich wollen so genau wissen, welche Effekte die Arbeit von Bibliotheken haben. Was gerade die Träger immer wieder interessiert ist, dass Bibliotheken den Eindruck vermitteln, sich zu entwickeln und gleichzeitig zu wissen, was sie tun. Das gilt auch oft für Kooperationspartner. Aktive Bibliotheken sind gefragt, solche die zeigen, dass sie sich entwickeln. Aber keine Schule wird erst von der Bibliotheken einen Nachweis der Wirksamkeit von Leseförderangeboten und so weiter verlangen, bevor sie sich für oder gegen eine Zusammenarbeit entscheidet.

Vielleicht kann mir jemand Gegenbeispiele nennen, aber in all meinem Jahren, in denen ich auch Bibliotheken bei Strategieentwicklungen und so weiter unterstütze, ist mir noch nie ein Fall untergekommen, wo wirklich gefragt wurde, ob zum Beispiel die Leseförderung der Bibliothek wirklich dazu führt, dass die Kinder und Jugendlichen mehr oder besser und lieber lesen oder nicht. Was mir begegnet ist die immer wieder Überzeugung von Trägern, dass Bibliotheken (zum Beispiel) Leseföderung machen und das sie sich gleichzeitig entwickeln sollen. Aber wie genau – das bleibt immer wieder den Bibliotheken selber überlassen.

Gleichzeitig ist es nicht Teil bibliothekarischer Arbeit, die Ergebnisse (zum Beispiel) von Leseförderung so zu reflektieren, dass sie mehr förderlich werden können. Vielmehr wird immer wieder gefragt, was sich die Kolleg*innen zutrauen, woran Kinder und Jugendliche Spass haben, was die Schulen und Kindergärten von der Bibliothek erwarten. Aber wenn das die Kriterien sind, nach denen Leseförderung bewertet und entwickelt wird, dann ist es auch nicht notwendig, nach den tatsächlichen Effekten zu fragen.

Und nicht notwendig heisst auch, dass es nicht zum Teil der professionellen Arbeit wird und dann zum Beispiel auch nicht Arbeitszeit dafür genutzt werden kann. (Es heisst nicht, dass nicht einzelne Kolleg*innen es trotzdem immer wieder einmal versuchen oder zumindest andenken. Ein wenig scheint das parallel zu gehen damit, dass im Schulwesen kontinuierlich das Notengeben kritisiert wird – genauso wird immer wieder einmal im Bibliothekswesen angemerkt, dass man eigentlich nicht richtig weiss, ob die Leseförderung wirklich das Lesen fördert.)

Was das auch heisst, ist selbstverständlich, dass es nicht ein Fehler, gar ein Fehler von bestimmten Kolleg*innen, wäre, dass es ständig diese Differenz zwischen Zielen von bibliothekarischen Angeboten und dem Messen der Effekte derselben gibt. Wenn es ein Sinn im System Bibliothek hätte, würde es dieses Messen schon geben. Aber solange es diesen Sinn nicht gibt – weil die Entwicklung und Weiterentwicklung von Angeboten nicht beinhaltet, ob die Ziele überhaupt erreicht wurden, und wenn es auch von aussen kein wirkliches Interesse daran gibt, dass zu wissen – wird das strukturell nicht Teil der professionellen Arbeit von Bibliotheken werden. (Wird es weiter immer wieder Kolleg*innen irritieren? Ja. Aber, wie gesagt, gehört das wohl auch zu dieser Struktur.)

Warum es doch gut wäre

Kann sich diese Situation ändern? Ja, selbstverständlich. Die oben geschilderte Entwicklung in den Kindergärten vor einigen Jahren ist da ein Beispiel für.

Aber es muss einen Grund geben, warum diese Änderung stattfinden sollte. Ansonsten bleibt es bei vereinzelten Versuchen, Kolleg*innen, die irritiert über die Situation sind und Behauptungen darüber, dass es notwendig wäre, solche Nachweise der Wirksamkeit einzuführen. Bei den Kindergärten war es vor allem, aber nicht nur, die Politik, welche diese Entwicklung vorantrieb. Kindergärten wurden in das Bildungssystem integriert und somit wurde von ihnen auch erwartet, mehr wie andere Bildungseinrichtungen zu funktionieren. Sicherlich: Die konkrete Umsetzung fand dann in den Einrichtungen selber statt und wurden zum Beispiel von der Erziehungswissenschaft unterstützt. Aber die Erwartung von aussen war Triebfeder für die Veränderung selber.

Das kann auch im Bibliothekswesen passieren. Falls die Bildungspolitik einmal die immer wieder von Bibliotheken und Bibliotheksverbänden vorgebrachte Argumentation, sie seien auch Bildungseinrichtungen, ernst nimmt, wird das wohl auch heissen, dass innerhalb recht kurzer Zeit Öffentliche Bibliotheken mehr wie die anderen Bildungseinrichtungen werden und es schnell zum Teil professioneller bibliothekarischer Arbeit werden, Lernentwicklungen zu beobachten und zu dokumentieren. Auch wenn jetzt noch nicht klar ist, wie das genau aussehen könnte. (Und keine Angst: Wenn es tatsächlich ein Interesse daran gibt, gibt es auch mehr Personalmittel, um diese Anforderung umzusetzen – so, wie es bei den Kindergärten passierte.)

Aber dieser Druck von aussen ist nicht die einzige Möglichkeit. Professionen können sich aus sich selber heraus verändern, wenn es eine Neubewertung davon gibt, was für die Profession relevant ist. Dann beginnen sich Professionen auch Gedanken darum zu machen, wie die dann neuen Ziele erreicht und in die normale Arbeit integriert werden können.

Eine solche Veränderung wäre zum Beispiel, wenn es im Bibliothekswesen als relevant angesehen wird, nicht Angebote zu machen, von denen man hofft oder annimmt, dass sie das Lesen fördern, sondern wenn man es als notwendig ansehen würde, nur Angebote zu machen, die dies auch wirklich tun. Wenn also die tatsächlichen Entwicklungen der Lesemotivation, der Lesefähigkeiten, der Lesekompetenzen und so weiter der potentiellen Lesenden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt würden. Das würde dann einiges verändern. Nicht nur würde dann ein Interesse daran erwachsen, den jeweiligen Stand dieser Fähigkeiten und so weiter vor, während und nach Leseförderungsaktivitäten zu bestimmen, sondern auch daran, überhaupt zu verstehen, wie der Aufbau derselben vonstatten geht, wie Aktivitäten mithilfe solcher Daten weiterentwickelt werden könnten und so weiter. Das würde dann gewiss auch die Leseförderung in Bibliotheken konkret verändern, bestimmte Formen würden weniger gemacht, andere mehr. Bestimmte Vorstellungen über die Wirksamkeit von Leseförderung, die in Bibliotheken oder bei einzelnen Bibliothekar*innen existieren, würden dann hinterfragt werden. (Einige Kolleg*innen würden dann aus dem Bibliothekswesen ausscheiden, weil sie das alles nicht mittragen wollen oder können; andere würden dafür dazu kommen – das ist in Kindergärten genauso passiert wie damals, als Ende des 19. Jahrhunderts die Schulen professionalisiert wurden.)

Wäre das besser? In bin versucht zu sagen, für die potentiellen Lesenden wäre es tatsächlich besser. Aber es wäre halt eine Veränderung, die von innen heraus, aus dem (Öffentlichen) Bibliothekswesen kommen müsste.

«Mit den Menschen reden gehen.» Einige Überlegungen zur Popularität von Design Thinking, Partizipation etc. im Bibliotheksbereich

Eine Frage, die mich schon eine ganze Weile umtreibt (auch schon vor der Pandemie), ist die, warum solche Methoden / Methodensätze wie «Design Thinking» eigentlich so populär im Bibliothekswesen sind. Nicht nur Design Thinking, auch vieles was unter dem Label «Partizipation» läuft, obwohl es «nur» um die Entwicklung / Weiterentwicklung von bibliothekarischen Angeboten unter Einbezug von einigen Nutzenden geht oder auch verschiedene «Technology Acceptance Models», die in einer Anzahl von Bibliotheken auch für diese Aufgaben herangezogen werden. Sicherlich: Alles, was präsentiert wird als hippe, neue Methode, die so mal nix Probleme lösen soll, die angeblich früher nicht gelöst worden wären, löst bei mir Vorsicht aus. Das klingt eher nach Marketingbehauptung als nach Tatsachen. So oft gibt es die angeblichen Probleme gar nicht wirklich, so oft löst die Methode auch gar nicht ein, was über sie behauptet wird. Aber mir scheint, es ist nicht nur das.

Was soll eine Methode in der Forschung? Was soll sie in der Praxis?

Grundsätzlich habe ich als Wissenschaftler vielleicht einen anderen Anspruch an Methoden als Bibliotheken. Für mich gilt: Eine Methode muss immer zur Frage passen. Genauer: Die Anwendung der Methode muss es ermöglichen, eine konkrete Frage zu beantworten, ein Problem zu lösen und so weiter. Sicherlich kann bei der Anwendung einer Methode noch einiges schief gehen: Umfragen können nicht beantwortet werden, Fragen können sich als unbeantwortbar herausstellen, Probleme können komplexer sein, als erwartet und so weiter. Aber man sollte bei einer Methode zumindest annehmen dürfen, dass sie zur Lösung der jeweiligen Frage oder des jeweiligen Problems beiträgt. Die Frage «Welche Schwerpunkte sollen wir beim Bestandsaufbau setzen» beantwortet man nicht mit einer Experiment, ein Problem mit der Beleuchtung im Lesesaal geht man nicht sinnvoll mit einer Fokusgruppe an. Und nicht zuletzt sammelt sich in der Forschung mit der Zeit Wissen darüber an, welche Methoden für welche Fragen gut oder weniger gut funktionieren.

Und wenn man diesen Anspruch anlegt, dann schneidet Design Thinking zum Beispiel sehr schlecht ab. Zwar wird gerne behauptet, dass man mit diesem Prozess / Methodenset kreative Lösungen für Probleme finden würde, bei denen mehrere Blickwinkel einbezogen werden. Aber eigentlich kommen immer nur Lösungen heraus, die erstaunlich eng gefasst sind, deren Kreativität man schon bezweifeln kann (sicher: Wie Kreativität bewerten? Aber auffällig ist, wie oft praktisch die gleichen Lösungen herauskommen) und bei denen am Ende notorisch schwierig zu bestimmen ist, ob sie wirklich Lösungen für die behaupteten Probleme sind. Vor allem fällt auch auf, wie oft Design Thinking im Bibliothekswesen genutzt wird, wenn es gar nicht um die Lösung von Problemen geht sondern zum Beispiel darum, eine Situation zu verstehen. Man könnte das noch weiter ausführen (beispielsweise diskutieren, warum gerade die Profession des Design ein positives Vorbild sein soll) und auch die anderen oben genannten Methodensets anschauen, aber das soll hier nicht der Punkt sein. (Zumal es schon genug kritische Literatur gerade zu Design Thinking gibt, auch wenn sie im Bibliothekswesen nicht so recht rezipiert wird.1) Nehmen wir hier einfach einmal als gegeben an, dass die Methoden wirklich kaum zu den Fragen passen und sich auch nicht «beweisen», also das nicht gezeigt werden kann, dass sie besser Antworten oder Ergebnisse liefern, als andere Ansätze. Mir geht dann um etwas anders: Die Frage, warum sie dennoch so beliebt zu sein scheinen oder zumindest, warum sie immer und immer wieder angewendet werden.

Eines fällt nämlich auf: Nicht nur die «üblichen Verdächtigen» – die Berater*innen, welche Design Thinking als Beratungsangebot verbreiten, die Kolleg*innen an Hochschulen und Bibliotheken, welche immer sehr schnell dabei sind, neue Entwicklungen auszuprobieren und anzupreisen – zeigen sich einigermassen begeistert. Sondern auch Kolleg*innen in Bibliotheken, die Projekte mit diesen Methoden durchgeführt haben, äussern sich nachher recht positiv, wenn man sie privat / halb-privat fragt. Gleichzeitig scheinen (das ist jetzt nicht empirisch untermauert – aber alle können das selber nachvollziehen, indem sie im eigenen Umfeld Bibliothekar*innen, die solche Projekte mitgemacht haben, befragen) die Kolleg*innen nicht so richtig sagen zu können, was genau an den Ergebnissen so besonders oder anders wurde durch die jeweils im Projekt genutzten Methoden. Aber grundsätzlich fanden sie es immer gut.

Mich erinnert das an die Ergebnisse einer Studie zu Berater*innen in kanadischen Bibliotheken: Dort wurden Bibliothekar*innen befragt, was die jeweiligen Berater*innen, die an ihren Bibliotheken tätig waren, eigentlich getan hatten und was sich durch sie verändert hätte – im Ergebnis konnten das die Bibliothekar*innen nicht genau sagen, hatten aber dennoch eine positive Meinung von den Berater*innen (nicht unbedingt vom eigenen Management, welche die Berater*innen engagiert hatte).2 Die beiden Autorinnen dieser Studie konnten sich aus diesem Ergebnis keine richtigen Reim machen und so ein wenig fühle ich mich manchmal auch, wenn ich die tatsächlichen Ergebnisse von «Design Thinking»-Projekten in Bibliotheken anschaue auch.

«Etwas verändern» als Ziel

Aber: Ich denke, das hat auch etwas mit der Perspektive zu tun. Wie gesagt ist für mich klar, dass eine Methode zur jeweiligen Fragestellung beziehungsweise zum jeweiligen Problem passen muss. Und das sie deshalb auch danach bewertet werden kann, wie sehr sie am Ende dazu beigetragen hat, die jeweilige Frage zu beantworten oder das jeweilige Problem zu lösen. (Oder, in der Studie aus Kanada: Berater*innen und ihre Arbeit sollten danach bewertet werden können, wie sie helfen, die jeweiligen Probleme zu lösen – aber das ist nicht, wonach sie dann bewertet wurden.)

Aber offenbar muss man den Blickwinkel wechseln und fragen, was Bibliothekar*innen (und Bibliotheken) eigentlich aus den Projekten ziehen. Denn: Das Methoden helfen sollen, Fragen zu beantworten, ist selbstverständlich der Blick aus dem Wissenschaftssystem, in dem es ja immer darum geht, neues Wissen zu produzieren, indem Fragen gestellt und möglichst systematisch beantwortet werden. Das ist in Bibliotheken aber nicht die Aufgabe, dort geht es vor allem darum, bibliothekarische Arbeit zu organisieren und Probleme, die in dieser Arbeit auftreten, so zu lösen, dass sie nicht mehr als Probleme erscheinen (was nicht heissen muss, dass sie wirklich gelöst sind, sondern das man irgendwie mit ihnen arbeiten / leben kann). Und oft geht es – zumindest aus der Sicht vieler Bibliotheksleitungen – darum, Veränderungen so zu organisieren, dass sie vom Personal mitgetragen werden (und nicht zum Beispiel als Angriff «von oben» auf das Bibliothekspersonal verstanden werden).

Das ändert aber alles: Um die Aufgaben zu erfüllen, die Bibliotheken an die Projekte stellen, müssen nicht unbedingt Fragen gut (und systematisch) beantwortet werden oder Probleme gelöst werden. Vielmehr müssen sie dabei helfen, die Arbeit von Bibliotheken so zu organisieren, dass sie anschliessend verändert und besser erscheint. Weder müssen das die bestmöglichen Lösungen sein, noch die effektivsten – das wird selten überprüft. Es müssen einfach am Ende Veränderungen stattgefunden haben, die im Idealfall besser funktionieren als die vorherigen Lösungen. (Sicherlich ist der Anspruch immer, eine möglichst gute Lösung zu finden, aber es fällt auf, dass das selten überprüft und schon gar nicht auf die in Projekten genutzten Methoden zurückgeführt wird.) Die Methoden werden also – beispielsweise von Berater*innen oder Bibliotheksleitungen – gar nicht dafür genutzt, um strukturiert neues Wissen zu erarbeiten, wie das in der Forschung der Fall wäre, sondern um Veränderungsprozesse zu strukturieren. (Und damit unterliegt das am Ende doch entstandene Wissen, dass in neue Angebote, Gebäude und so weiter fliesst, auch nicht den gleichen Bewertungen, wie es Wissen in und aus der Forschung unterliegt – was eigene Probleme mit sich bringt, die aber vielleicht Thema für einen anderen Post sein sollten.)

Fragen wir unter diesem Blickwinkel, was solche Methoden wie Design Thinking, «Partizipation» und so weiter für Bibliotheken mit sich bringen, fällt etwas auf: Wenn sie auch immer wieder mit anderem Gestus präsentiert werden, verbindet diese alle, dass sie – richtig durchgezogen, was auch nicht immer der Fall ist – immer wieder ein ähnliche hintergründige Struktur haben:

  1. Zuerst wird bestimmt, über was man bei den Projekten überhaupt reden und was man verändern möchte. Beim Design Thinking nennt es sich oft «das Problem definieren», anderswo heisst es «das Thema bestimmen» oder ähnlich. Aber grundsätzlich kommt es auf immer wieder das gleiche heraus: Es wird umrissen, um was es im Projekt genau geht und es wird allen Beteiligten – dass sich vor allem die Bibliothekar*innen – vermittelt, dass die jeweilige Veränderung grundsätzlich notwendig ist.3
  2. Anschliessend werden die Bibliothekar*innen mehr oder minder direkt gezwungen, «aus der Bibliothek hinauszugehen», also mit Nutzer*innen und anderen Personen direkt zu kommunizieren. Manchmal heisst das, wirklich explizit anderswohin zu gehen (zum Beispiel auf den Marktplatz, durch die Innenstadt, in den Kiez / das Quartier), manchmal heisst das mit Umfragen, Interviews und so weiter räumlich mehr in der Bibliothek zu bleiben, aber trotzdem mit Nicht-Bibliothekar*innen zu kommunizieren.
  3. Ergebnis dieses «Hinausgehens» ist dann oft, dass die Rückmeldungen gegenüber der Bibliothek grundsätzlich positiv sind. Es scheint, wenn man mit Bibliothekar*innen redet, die solche Projekte mitgemacht haben, dass sie gerade das überrascht. Irgendwie scheinen sie (oft) erwartet zu haben, dass die «Menschen da draussen» sie negativ sehen und das sie Probleme haben werden, wenn sie mit ihnen reden. Aber am Ende geht das immer wieder gut aus und der Grossteil der Menschen hat eine positive Sicht auf Bibliotheken. [Das könnte man auch so wissen – weil es immer wieder das Ergebnis von Umfragen et cetera ist. Aber… offenbar gibt es immer wieder diese Angst.]
  4. Am Ende der Projekte kommt es dann zu einer Art von Umsetzungen von neuen Angeboten, dem Um- oder Neubau von Bibliotheken und so weiter. Zumindest erscheint es am Ende immer so, dass das Projekt «nicht umsonst» war. (Auch hier könnte man empirisch schauen, ob die Lösungen überhaupt zu den «Problemen» aus Schritt eins passen – das scheint nicht immer der Fall zu sein. Aber wieder ist das vielleicht auch die falsche Frage aus der Forschung heraus, die einen solchen Zusammenhang vermuten würde. Aus der eigenen «Beratungspraxis» kenne ich das auch, dass während solcher Projekte die Themen auf einmal wechseln, aber trotzdem alle einigermassen zufrieden scheinen, wenn überhaupt am Ende irgendetwas herauskommt.)

Einerseits sieht man hier den einen… Trick, den man als Berater*in mit solchen Methoden vollführen kann. Die Methoden, gerade Design Thinking, führen immer dazu, dass es am Ende ein Ergebnis gibt und da Veränderung an sich das implizite Ziel solcher Projekte zu sein scheint, liefert man mit einem solchen Methodenset am Ende genau das: Eine Struktur, die eine Veränderung provoziert. You can’t go wrong.

Aber andererseits sticht für mich gerade der zweite Punkt heraus: Der Zwang – erzeugt durch die Struktur, welche die Methode vorgibt – «herauszugehen». Wie gesagt ist das ein Eindruck und keine empirisch untermauerte Erfahrung, aber mit scheint, dass ist es, was Bibliothekar*innen am Ende positiv erinnern: Das sie sich trauen mussten, mit Menschen ausserhalb ihres eigenen Kreises über ihr Bibliothek reden zu müssen und das dies letztlich eine positive Erfahrung war.

Das kann man auch so organisieren

Nur – dafür braucht es kein Design Thinking oder Partizipations-Projekt oder auch nur unbedingt ein Projekt, dass irgendwie in einer Veränderung enden soll. Was die Begeisterung für solche Projekte aktuell auszumachen scheint ist, dass es für Bibliothekar*innen offenbar nicht zur Normalität gehört, solche Gespräche ausserhalb der eigene Komfortzone zu führen. Die Methoden scheinen jeweils eine gewisse Dynamik, vielleicht auch einen Druck, zu produzieren, solche Gespräche doch zu führen. Im Idealfall strukturieren sie diese auch vor (mit Fragebögen, Ziele, warum man die Gespräche führt und so weiter) und geben damit eine gewisse Sicherheit beim Führen der Gespräche. (Nicht zuletzt scheinen sie dazu zu führen, dass solche Gespräche gemeinsam geführt werden. Kaum je werden Bibliothekar*innen alleine losgeschickt, um sie zu führen, sondern eher in Paaren oder kleinen Gruppen.)

All das lässt sich auch so gestalten und mir scheint, es wäre sinnvoll, es von den hippen Methoden und Veränderungsprojekten zu trennen. Es liesse sich in die normale bibliothekarische Arbeit integrieren. Regelmässig organisiert würde es auch dazu führen, dass es für die einzelne*n Bibliothekar*in zur Normalität wird, nicht zu etwas, dass man sich irgendwie trauen muss. Es wäre dann sogar möglich, Erfahrungen aus diesen Gesprächen zu sammeln, reflektieren und so Kompetenzen im Planen und Führen dieser Gespräche aufbauen. Man wäre auch nicht mehr von den grundsätzlich positiven Rückmeldungen erfreut oder erleichtert, sondern könnte konkreter auf die Zwischenstimmen hören.

Was wäre dafür zu tun?

  1. Man müsste regelmässige Anlässe für solche Gespräche schaffen und nicht Bibliothekar*innen einfach so «hinaus schicken». Aber alle ein, zwei Jahre finden sich immer Projekte, bei denen Angebote evaluiert, Wissen drüber, wie bestimmte Angebote in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, gesammelt oder – ja, das auch – Angebote verändert, eingestellt oder neu eingefügt werden sollen und bei denen es sich anbietet, irgendeine Form von Gesprächen «ausserhalb der Bibliothek» zu führen: Interviews, Umfragen, Meinungssammlungen zu bestimmten Vorschlägen der Bibliothek. Das zu organisieren, wäre eine Leitungsaufgabe. (Auch, dass alle Kolleg*innen immer wieder diese Aufgabe übernehmen dürfen / müssen – wie gesagt, scheint es immer wieder bei solchen Projekten auch einen gewissen Mut zu benötigen, der erst durch die Logik des jeweiligen Projektes – «das muss jetzt getan werden» – aufgebracht wird, zumindest bei einigen Kolleg*innen; aber dann nach dem Projekt als positiv erlebt wird. Wenn das so ist, wird das auch im «normalen» Bibliotheksbetrieb so sein.)
  2. Die grundsätzliche Struktur, die oben geschildert wurde, kann ruhig beibehalten werden. (1) Eine konkrete Fragestellungen formulieren, die auch zu einer gewissen Änderung im Bibliotheksalltag führen kann, (2) dann Personen «ausserhalb der Bibliothek» direkt ansprechen, (3) nachher auswerten und, wenn sinnvoll, tatsächlich eine Veränderung durchführen (oder gemeinsam entscheiden, aufgrund der Ergebnisse, sie nicht durchzuführen, aber so, dass die Ergebnisse der Gespräche auch einen sichtbaren Einfluss haben). Wenn man das regelmässig – und für alle transparent – durchführt und nicht nur bei expliziten Veränderungsprojekten, die irgendwie als Besonderheiten herausragen, wird sich eine gewisse Normalität einstellen, auch wenn dann schon neue Methoden und nicht mehr Design Thinking als hip gelten werden. Grundsätzlich sollte es zu einer professionell arbeitenden Bibliothek gehören, solche Gespräche zu führen und deren Ergebnisse in die Entscheidungen über die Bibliotheksarbeit einzubeziehen. Das Erstaunliche ist eher, dass es das offenbar in vielen Bibliotheken nicht ist.

Fussnoten

1 Vgl. Gram, Maggie (2019). On Design Thinking. In: N+1 (2019) 35, https://nplusonemag.com/issue-35/reviews/on-design-thinking/.

2 Vgl. Dymarz, Ania; Harrington, Marni (2019). Consultants in Canadian Academic Libraries: Adding new voices to the story. In: In the Library with the Lead Pipe, 30.10.2019, http://www.inthelibrarywiththeleadpipe.org/2019/consultants/.

3 Was sich oft zeigt, ist ja, dass das Ergebnis dieses Schritts nicht sein kann, «es gibt kein Problem». Ein wenig ist das dann auch ein Trick bei solchen Projekten – irgendwas muss sich immer ändern, weil sie so strukturiert sind, dass sie als Misserfolg gelten, wenn man feststellt, dass alles schon optimal ist.

Zoos sind doch schon lange Teil der Stadtgesellschaft! Oder: Über die Ungeduld von Bibliotheken, dass ihre Veränderungen endlich anerkannt werden sollen.

In letzter Zeit lese ich in Sozialen Medien und an ähnlichen Orten wieder verstärkt Äusserungen von Bibliothekar*innen, die mal mehr und mal minder zu beklagen scheinen, dass die Veränderungen, die in Bibliotheken – es geht dabei meist um Öffentliche Bibliotheken – von anderen nicht wahrgenommen werden würden. «Bibliotheken sind längst Teil der Stadtgesellschaft» heisst es da oder «Bibliotheken sind schon lange Dritte Orte» oder «Es ist erstaunlich, was [die Politik, der Journalismus, die Öffentlichkeit, Entscheider*innen, konkrete Personen] noch über Bibliotheken denken. Wir sind ganz anders geworden.» Grundsätzlich scheinen diese Äusserungen eine gewisse Verzweiflung zu vermitteln, aber auch ein gewisses Beleidigtsein. Es scheint, als würden die, die sich so äussern, etwas von ausserhalb des Bibliothekswesens erwarten, und gleichzeitig in gewisser Weise daran zu leiden, dass diese Erwartung nicht erfüllt wird.

Mich erstaunen diese Aussagen und vor allem, dass es scheint, als würden sie immer und immer wieder gemacht werden. Als würde das alles nicht von der Stelle kommen. (Selbstverständlich ist das nur zum Teil richtig: Es sind immer wieder einmal neue Bibliothekar*innen, die sich so äussern. Aber Inhalt und Tenor scheinen sich trotzdem nicht gross zu ändern.) Was ich in diesem Blogpost machen möchte, ist (1) zuerst die Erwartungen, die hinter solchen Äusserungen stehen, etwas zu erden, (2 & 3) zweitens die Erwartungen etwas genauer klären, weil ich denke, dass sich wenig über mögliche Konsequenzen Gedanken gemacht wird, (4) diese möglichen Konsequenzen kurz aufgliedern. Einerseits sagen diese Äusserungen selbstverständlich etwas über das Bibliothekswesen und wie es sich selber versteht aus. Man kann dabei stehenbleiben und es als Teil der «Identität» von Bibliotheken akzeptieren. Andererseits muss man das aber nicht. Wenn diese verzweifelten Ausrufe ernst gemeint sind, dann könnte man nämlich auch daran gehen, etwas an ihren Gründen zu ändern.

1. Zootest II

Ich hatte für das Thema «Umfragen in Bibliotheken» schon einmal einen Zootest vorgeschlagen. Hier ist ein zweiter. Insbesondere dann, wenn Bibliothekar*innen das Gefühl haben: «Ja, es stimmt was mit diesen Äusserungen gesagt wird, dass die Welt [Politik, Öffentlichkeit und so weiter] ignoriert, was wir in Bibliotheken so in den letzten Jahren verändert haben», kann der vielleicht etwas erden.

  1. Schreiben Sie einmal, ohne nachzuschauen, auf, fünfzehn Minuten lang auf, was Zoos machen: Was sind ihre Aufgaben? Wie erfüllen sie die? Was macht einen Zoo aus?1
  2. Zoos haben sich in den letzten 15 Jahren verändert und sind nicht mehr so, wie sie früher waren. Schauen Sie jetzt, was ihr gerade geschriebener Text über Zoos über diese Veränderungen sagt. Schauen Sie dann einmal in der Literatur über Zoos nach und vergleichen Sie dann: Was von den tatsächlichen Veränderungen findet sich in Ihrem eigenen Text wieder? Was von dem, wie Zoos ihre Aufgaben und Aussenwirkung verstehen, findet sich in Ihrem Text?

Was man, so wette ich, bei dieser Übung merken wird, ist, dass man es nicht so richtig weiss. Vielleicht hat man hier und da etwas bemerkt, als man zuletzt im Zoo war – beispielsweise, dass öffentliche Fütterungen jetzt eigentlich immer moderiert werden –, aber die meisten Veränderungen, vor allem die, wie sich Zoos selber sehen und wie sie gerne von der Öffentlichkeit gesehen würden, kennt man nicht. Eher würde man die eigene Vorstellung von Zoos bei der Überprüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit als, nun ja, veraltet und etwas stereotyp ansehen. Und das ohne böse Absicht, weil: Wer hat schon was gegen Zoos?2

Wie Einrichtungen in der Öffentlichkeit [der Politik, dem Journalismus und so weiter] wahrgenommen werden, hat immer nur indirekt etwas mit der Realität in diesen Einrichtungen zu tun. Die Vorstellungen, die über eine Einrichtung verbreitet sind, ändern sich nur langsam – und fast nie, weil die Einrichtungen sich ändern. Das ist mit Bibliotheken nicht anders als mit Zoos. Wenn man selber, als Bibliothekar*innen aber die Veränderungen in Zoos nicht wahrgenommen hat, wie soll man dann erwarten, dass andere die Veränderungen in Öffentlichen Bibliotheken wahrgenommen und dann auch noch so bewertet haben, wie die Bibliotheken sie selber bewerten? [Und wenn man glaubt, dass das halt bei Zoos so ist, aber nicht bei anderen Einrichtungen: Was hat sich denn in den letzten 15 Jahren in Fachhochschulen verändert? Da stosse ich in Bibliotheken auch immer wieder auf erstaunliche Vorstellungen.]

Man sollte die eigenen Ansprüche realistisch halten. Sicherlich: Leute arbeiten Tag für Tag in der Bibliothek, sie versuchen dies, verändern das, machen sich Gedanken, stecken Arbeit hinein. Und dann stellen sie fest, dass die ganze Arbeit nicht – oder nicht so viel, wie sie gerne möchten – wahrgenommen wird. Das kann frustrieren, aber es ist nichts Bibliotheksspezifisches. Das gilt einfach für alle Einrichtungen in unseren funktional differenzierten Gesellschaften. Gerade deshalb, weil die Funktionen differenziert werden und wir mehr oder minder darauf vertrauen können, dass sie von Einrichtungen, «die dafür zuständig sind», erfüllt werden, denken wir alle wenig darüber nach, wie sich die ganze Einrichtungen tatsächlich verändern, ausser wenn wir mit ihnen direkt zu tun haben oder aber es zu Krisen in ihrer Funktion kommt. Auch, wenn man sich dadurch persönlich manchmal in der eigenen Arbeit in der jeweils eigenen Einrichtung herabgesetzt fühlen kann, hat das im Gesamt gesehen auch grosse Vorteile: Mehr oder minder funktioniert die Gesellschaft. (Sie könnte immer besser funktionieren, aber immerhin bricht sie nicht auseinander und liefert bessere Ergebnisse, als wenn es sie nicht gäbe.)

Äusserungen von Bibliothekar*innen, die sich verärgert darüber zeigen, dass die ganzen Veränderungen, die sie so anstreben oder durchführen oder wahrzunehmen scheinen, gar nicht richtig gewertschätzt werden, übergehen das. Deswegen ändern sie auch nichts. (Und haben tatsächlich wenig verändert. Seit den 1970er Jahren, nachdem die Freihand etabliert war, sind Öffentliche Bibliotheken immer wieder in Sinnkrisen und wollen sich entwickeln – und entwickeln sich auch. Aber seitdem finden sich solche Stossseufzer, dass diese Entwicklungen nicht wahrgenommen werden würden, immer wieder. Sicherlich jetzt, mit den sozialen Medien, verstärkter wahrzunehmen, aber mehr versteckt auch in der bibliothekarischen Literatur in den Jahrzehnten zuvor. Das legendäre Bild von dem «Bild der verstaubten Bibliothek, von dem wir wegkommen müssen» ist keine neue rhetorische Figur, sondern eine mit Tradition. Die Frage ist, was das Ziel ist: Was wollen Bibliothekar*innen mit diesen Äusserungen erreichen? Die Gesellschaft und die Bibliotheken haben sich verändert, aber diese Stossseufzer eigentlich nicht. Es scheint, als ginge es um etwas anderes: Um die Identität der Bibliotheken selber.)

2. Was wäre denn wenn?

Man könnte dabei stehen bleiben. Vielleicht ist es einfach Teil der Identität von gesellschaftlichen Einrichtungen, dass von Zeit zu Zeit einmal solche Stossseufzer ausgestossen werden. (Weil, wenn man sich nur genug mit anderen Einrichtungen beschäftigt, hört man solche Äusserungen auch dort.) Vielleicht hört man sie im Bibliothekswesen mehr oder intensiver als in anderen Einrichtungen, die sich ihrer Position sicherer sind – aber das wäre zu überprüfen (vielleicht ist das auch einfach meine Wahrnehmung, weil ich mehr mit Bibliotheken zu tun habe, als mit anderen Einrichtungen). Ich möchte aber ein bisschen weitergehen und fragen, was denn wäre, wenn jemand auf diese Äusserungen reagieren würde – wie würde die Welt dann aussehen?

Interessanterweise ist das praktisch nie Thema solcher Äusserungen. Man kann einiges vermuten, aber es klingt dann immer wie ein Klischee: Menschen würden für bestimmte Dinge, die, die halt neu sind (und nicht einfach die Medien sind, die eine Bibliothek im Angebot hat) in die Bibliothek kommen. Politiker*innen würden mehr Geld geben – oder auch nur, sich positiv über die Arbeit von Bibliotheken äussern (aber das tun sie eigentlich auch schon so regelmässig). Journalist*innen würden vor allem darüber berichten, wie sich Bibliotheken verändern (aber ehrlich gesagt, ist das immer wieder Thema von Artikeln und Beiträgen, die dann in der Bibliotheksszene rumgereicht werden). Oder Jugendliche würden sagen «Bibliotheken sind cool» (aber wer sagt schon noch «cool»?). Grundsätzlich ist nicht klar, was eigentlich erwartet wird, welche Veränderung von welchen Personen sich erhofft werden und was das dann wieder für Bibliotheken heissen würde.

Und das ist selbstverständlich ein Problem. Weil: Wenn man nicht weiss, was sich eigentlich ändern soll, kann man auch nicht feststellen, ob es sich verändert. Wenn wir zum Beispiel erwarten würden, dass im Journalismus ein anderes, «zeitgenössisches» Bild von Bibliotheken gezeichnet wird, könnte man erst bestimmen, wie dieses Bild aussehen sollte; dann eine Inhaltsanalyse von journalistischen Beiträgen machen und anschliessend die Ergebnisse mit den Erwartungen vergleichen (und gleichzeitig sehen, ob sich dieses Bild in den Beiträgen über die Zeit verändert hat). Aber – abgesehen davon, dass ich vermuten würde, dass das gezeichnete Bild schon «modern» ist, nur das die Erzählung halt oft ist, dass die/der Journalist*in davon überrascht ist – das ist nicht möglich, weil wir nicht wissen, was für ein Bild den gewünscht ist. Oder wenn wir wüssten, was von der Politik und den Trägereinrichtungen erwartet wird, könnten wir nachschauen, was die den wirklich tun. Aber: Sollen die rumkommen und die Bibliotheken regelmässig für ihre Veränderung loben? Wenn ja, könnte man nachschauen, ob sie das machen. (Auch hier wäre ich nicht überrascht, wenn sich zeigen würde, dass die Politik dies nicht von Zeit zu Zeit macht.) Oder wenn wir wüssten, was Jugendliche oder andere Teile der Bevölkerung von den Bibliotheken denken sollen, könnte man schauen, ob sie das nicht auch machen. (Und auch hier: Wenn man nicht zu hohe Ansprüche hat, kann ich mir gut vorstellen, dass die nicht so negativ denken, wie man vermuten könnte.)

Grundsätzlich scheint mir, dass die, die sich beschweren, nicht wirklich sagen können, was sie den sonst wollen. Die Bibliothek, wenn ihr veränderten Angebote wahrgenommen würden, würde gut benutzt werden. Bibliotheken werden im Allgemeinen recht gut benutzt. Vielleicht nicht alle neuen Angebote so, wie sich die Bibliothekar*innen, die die einrichten, erhoffen – aber an was liegt das? Liegt es wirklich daran, dass die nicht wahrgenommen werden?

3. Ein Politiktest

Ich würde noch einen Test vorschlagen, um die eigenen Ansprüche etwas zu erden: Einmal die Position wechseln.

  1. Stellen Sie sich vor, sie sind Kommunalpolitiker*in mit Regierungsverantwortung: Bürgermeister*in einer mittelgrossen Gemeinde zum Beispiel. Wie sieht ihr Alltag wohl aus? Sie müssen Entscheidungen treffen. Sie benötigen Informationen, um diese Entscheidungen zu treffen – die Sie nicht alle alleine erstellen und besorgen können, sondern über die Sie sich oft auch informieren lassen. Sie müssen Entscheidungen auch vorbereiten, beispielsweise schauen, welche Sie überhaupt rechtlich treffen können und welche Gesetze Sie beachten müssen. Sie müssen Entscheidungen mit anderen absprechen, die auch Einfluss haben. Oft müssen Sie auch über Entscheidungen verhandeln, Kompromisse schliessen und so weiter. Und Kontakte pflegen müssen auch noch.
  2. Was wissen und was wollen Sie in dieser Position von der Bibliothek? Erst einmal wissen Sie, ob die Bibliothek vor Ort funktioniert oder ob es Krisen gibt, also ob sich zum Beispiel viele Menschen über die Bibliothek beschweren oder ob das Bibliothekspersonal ständig nach einigen Monaten kündigt. Aber solange das nicht der Fall ist und solange die Bibliothek nicht negativ heraussticht, wissen Sie vor allem, dass sie funktioniert. Sie wissen nichts von täglichen Klein-Klein in der Bibliothek, so wie sie auch nichts vom täglichen Klein-Klein in den Schulen der Gemeinde oder im Bauamt oder der Stadtgärtnerei wissen. Sie halten Kontakte, sie lassen sich informieren – über die Bibliothek so wie auch über andere Einrichtungen. Das schon. Aber sonst vertrauen Sie, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft die Einrichtung Bibliothek schon weiss, was sie tut.
  3. Was können Sie erwarten von der Bibliothek? Das sie professionell funktioniert. Unter anderen, dass die schon selber weiss, wie Medien für den Bestand ausgewählt werden. Aber auch, dass die richtigen Veranstaltungen organisiert werden. Oder, dass sich die Bibliothek im Kontext der Entwicklung des gesamten Bibliothekswesens mitentwickelt. Anders gesagt: Das sie selber handelt. Das heisst zum Beispiel, dass, wenn es notwendige Änderungen gibt, die Bibliothek Ihnen das präsentiert. Als Politiker*in wollen sie nicht wissen, was Bibliotheken untereinander darüber diskutieren, wozu sie zum Beispiel einen Makerspace oder Beete für das Urban Gardening oder Bibliothekscafés brauchen. Sie wollen eine Entscheidung dazu vorbereitet haben. Wenn die Bibliothek denkt, dass sie einen Makerspace braucht, möchten Sie von der darauf hingewiesen werden und wenn es nötig ist dafür Entscheidungen zu treffen, die über den Rahmen der Bibliothek hinausgehen (beispielsweise weil die Personalstellen, der Platz der Bibliothek oder der Etat verändert werden müssen), dann wollen Sie diese Entscheidung vorbereitet bekommen. Zu dieser Vorbereitung zählt auch, erklärt zu bekommen, wozu das aus Sicht der Bibliothek nötig ist. Aber grundsätzlich wollen Sie eine Bibliothek, die sich selber entwickelt.
  4. Manchmal, meist im Rahmen anderen Entscheidungen, wollen Sie Entscheidungen über die Bibliothek treffen, die nicht von der Bibliothek selber vorbereitet werden. Beispielsweise wollen Sie den Gemeindekern neu beleben, weil der nach und nach immer leerer wird und denken daran ein neues Gemeindezentrum zu bauen, in dem auch die Bibliothek unterkommen soll. Das kommt vor – aber selten. Dann beschäftigen Sie sich etwas mehr mit der Bibliothek, aber vor allem doch mit der Entwicklung Ihrer Gemeinde.
  5. Heisst das, dass sie etwas gegen die Bibliothek haben? Nein. Oft – in mittelgrossen Gemeinden – sind sie gut vertraut mit der/dem Bibliotheksleiter*in, vielleicht auch einzelnen Bibliothekar*innen. Aber halt auch mit so vielen anderen Personen. Da sticht die Bibliothek nicht heraus.

Wenn wir einmal diesen Blickwinkel einnehmen, wird schnell klar, dass Erwartungen an die Politik, dass diese irgendwie wahrnehmen soll, wie sich die Bibliotheken verändern, eigentlich recht illusorisch sind. Was sollte sich denn in der Politik dabei ändern? Sollte sie mehr Lob verteilen? Sollte sie in Leistungsvereinbarungen mit der Bibliothek «moderne Angebote» integrieren im Sinne von «Die Bibliothek betreibt auch ein Café»? (Das passiert, aber vor allem, wenn die Bibliothek es vorbereitet.)

Meiner Erfahrung aus Beratungsprojekten nach funktioniert dies alles auch schon recht gut. Die Politik, insbesondere die lokale, ist eigentlich immer recht gut auf die Bibliothek zu sprechen und unterstützt die im Rahmen ihrer Möglichkeiten. [Selbstverständlich: Die Bibliotheken, die meine Kollegen und mich in Beratungsprojekten engagieren, sind schon eine Auswahl. Vielleicht geht es anderen schlechter und sie können deshalb solche Projekte nicht aufsetzen und finanzieren.] Aber wenn es etwas zu ändern gäbe, dann eher von Seiten der Bibliotheken aus: Die müssten sagen, was sie den anderes von der Politik erwarten. Und da die Aufgabe von Politiker*innen immer wieder heisst, Entscheidungen zu treffen, Richtlinien zu erlassen und so weiter, heisst es auch, dass Bibliotheken solche Entscheidungen vorbereiten müssen. Sie müssen sagen, wofür Geld da sein soll, wofür andere Richtlinien erlassen werden sollen und so weiter. Aber was sie, ehrlich gesagt, von der Politik erwarten können, ist, dass auf ihre Entscheidungsgrundlagen reagiert wird. Nicht weniger, aber auch nicht wirklich mehr – und das ist wieder nicht Bibliotheksspezifisches, sondern gilt für alle Einrichtungen.

4. Veränderungen anstossen

Nehmen wir aber an, die oben genannten Äusserungen von Bibliothekar*innen sind nicht vor allem dazu da, die eigene Identität von Bibliotheken und Bibliothekar*innen als immer wieder irgendwie «übersehen» zu bestätigen, sondern die Kolleg*innen wollen tatsächlich eine Veränderung. Dann sollte man daran gehen, auch tatsächlich etwas zu verändern. Was wäre zu tun?

  1. Erstmal müsste man sich darüber klar werden, dass diese Äusserungen nicht singulär sind – weder für die Bibliotheken als Einrichtungen, noch für diese aktuelle Zeit, noch für die einzelnen Kolleg*innen. Personen in anderen Einrichtungen machen ähnliche Aussagen. Bibliothekar*innen haben solche Aussagen in den letzten Jahrzehnten schon oft gemacht. Andere Bibliothekar*innen machen solche Aussagen auch. Es geht also nicht um einzelne Personen, um die aktuelle Situation oder nur um Bibliotheken – es geht um Strukturen. Was zu verändern wäre, wären Strukturen. Es ginge nicht um die eine Bürgermeisterin, der eine Skater auf dem Platz vor der Bibliothek, die eine Journalistin die nicht schreibt, was man gerne hätte – sondern um grundsätzliche Veränderungen.
  2. Es müsste klar werden, was die angestrebten Veränderungen eigentlich sein sollten. Ich könnte (siehe oben) das nicht sagen – aber hoffentlich die Kolleg*innen, die solche Äusserungen machen. Was genau soll den anders werden? Man könnte das gut und gerne einmal aufschreiben – für solche Selbstverständigungsprozesse von Institutionen sind ja zum Beispiel Berufsverbände da.
  3. Anschliessend müsste man versuchen zu verstehen, warum «die anderen» so handeln, wie sie handeln, wie weiter oben beim «Politiktest». (Dabei muss man nicht raten – es gibt genügend Literatur dazu. Aber wichtig ist, die einzelnen Personen nicht als Individuen – die eine Bürgermeisterin, der eine Skater –, sondern als Personen in Handlungszusammenhängen zu verstehen.)
  4. Und dann müsste man daran gehen, aufbauend auf diesem Verständnis, systematisch auf Veränderungen hinzuarbeiten. Wenn man weiss, welche Veränderungen und welche Handlungszusammenhänge, dann kann man auch ein Programm erarbeiten (wieder: man muss nicht raten, es gibt schon Vorarbeiten, aber die muss man nutzen), um diese Veränderungen anzustreben.
  5. Und dann kann – auch hier sind wieder festere Strukturen wie Berufsverbände im Vorteil gegenüber einzelnen Kolleg*innen – regelmässig geschaut werden, welche Effekte das jeweilige Vorgehen hat und dann darüber nachdenken, warum. Das liefert dann mehr Wissen dazu, ob die Veränderungen möglich sind und was an Vorgehen «funktioniert». Das klingt ein bisschen einfach, aber wenn man versteht, dass es nicht individuelle «Probleme» sind, sondern Strukturen, dann ist das der richtige Weg.

Es müsste dann, in diesem Zusammenhang, auch ein Messinstrument installiert werden, das klären kann, ob man den Veränderungen näher kommt oder nicht. Wenn sich dann über ein längeren Zeitraum nichts verändert, hätte man auch einen klaren Hinweis darauf, dass das (zumindest über den dann eingeschlagenen Weg) nicht funktioniert. Die Interpretation wäre dann eine andere Aufgabe. Es könnte sich zum Beispiel zeigen, dass die bisherige Struktur – beispielsweise: Die Bibliotheken stellen immer mal wieder Angebote um, die Politik begleitet das wohlwollend, aber auch distanziert, weil sie die Bibliotheken als sich selber steuernde, professionelle Einrichtungen wahrnimmt – recht gut funktioniert, als Teil der lose gekoppelten, funktionalen Differenzierung, die unsere Gesellschaften prägt. Aber dann wüsste man es zumindest und könnte sich – als Profession und als Bibliothekar*in – fragen, ob solche Stossseufzer überhaupt einen Sinn haben.


Fussnoten

1 Das funktioniert nicht, wenn Sie zufällig eng verwandt oder befreundet sind mit jemand, die/der in einem Zoo arbeitet und ständig mit Ihnen darüber spricht. Sie müssen von Zoos ein wenig entfernt sein, so wie die normale Öffentlichkeit auch von Bibliotheken ein wenig entfernt ist. Sie können aber eine ähnlich gut beleumundete Einrichtung nehmen: Jugendclubs, Museen und so weiter.

2 Ja, okay. Selbstverständlich gibt es Kritik an Zoos, beispielsweise aus der Tierschutzrechtsszene. Einige davon auch, weil die Entwicklungen in Zoos in den letzten Jahren von den Kritiker*innen nicht so richtig wahrgenommen werden; andere aber wohl nicht unberechtigt. Aber grundsätzlich sind Zoos, wie Öffentliche Bibliotheken, Einrichtungen, die in der Öffentlichkeit keine schlechten Leumund haben.

Die eigene Situation als Bibliothekar*in verstehen. Ein Beispiel von Autoethnographien

Arellano Douglas, Veronica ; Gadsby, Joanna (2020). Deconstructing Service in Libraries: Intersections of Identities and Expactations. (Series on Gender and Sexuality in Information Studies; 11) Sacramento: Litwin Books, 2020


Das Buch, welches diesen Blogpost motiviert, ist ein «hard read». Es geht eigentlich darum zu klären, was «Services» in (vor allem Wissenschaflichen) Bibliotheken sind, wie gering sie wertgeschätzt werden und warum. Die Grundidee, die sich durch fast alle Beiträge in diesem Band zieht, ist die, dass Services – von Beratungen über Unterricht durch Bibliothekar*innen bis hin zu Angeboten, die entwickelt werden, weil auf Nutzende gehört wird – auch «emotional labor» sind und dieser Teil der Arbeit nicht wahrgenommen, teilweise auch aktiv negiert wird. Stattdessen gäbe es eine Überbewertung von einfach zu erheben Zahlen, die als Ausweis von Arbeit interpretiert werden, und von technischen Lösungen. Grundsätzlich wäre das Ausdruck eines neoliberalen Denkens, dass alle Arbeit in reproduzierbare (und von den Effekten her einfach mess- und vergleichbare) Produkte fassen will. Ein Effekt sei, dass die Arbeit von Bibliothekar*innen den Interessen der Universitäten untergeordnet wird, nicht den der Nutzenden, mit denen man aber in der bibliothekarischen Arbeit zu tun hat, so dass ständig unterschiedliche Wertigkeiten das Handeln bestimmen würden. Eine andere Kritikebene ist, dass so «weiblich» konnotierte Tätigkeiten ab- und «männlich» konnotierte aufgewertet werden.

All das kann man diskutieren und ist auch in der Realität von bibliothekarischer Arbeit (zumindest in den USA) fundiert. Aber eigentlich ist dieses Buch für mich eines über die Möglichkeiten von Autoethnographie (und offenen Essays) dafür, diese Realität abzubilden und über den Einzelfall hinaus verständlich zu machen. Es zeigt, dass problematische Strukturen und Entwicklungen auch im Bibliothekswesen greifbar gemacht werden können. Viele der Texte vermitteln zudem den Eindruck, als wären die schreibenden Kolleg*innen – die zumeist aktiv Bibliothekar*innen und nicht vor allem Forschende sind – durch das Schreiben der Texte dazu gekommen, darzustellen, wie ihre persönliche Situation tatsächlich ist. Schreiben scheint hier das Werkzeug gewesen zu sein, um sich und anderen die eigene Situation überhaupt verständlich zu machen.

Es gab einen Call for Papers für dieses Buch. Aus diesem ist ersichtlich, dass es wenig formale Vorgaben für die Beiträge gab. Das zeigt sich dann auch. Es gibt ausgewertete Umfragen und Interviews, persönliche Reflexionen, die Beschreibung einer Lerngruppe. Aber hauptsächlich gingen die Autor*innen autoethnographisch vor: Die eigenen Erfahrungen wurden als Datenmaterial genommen, um nach Strukturen, Funktionsweisen von Institutionen und Settings, von wirkmächtigen Vorannahmen und so weiter zu fragen. Das macht das Buch zum erwähnten «hard read», weil es sehr oft sehr erschreckend ist, was die Autor*innen darstellen.

Es wird aus sehr unterschiedlichen Subjektpositionen geschrieben: gay asian-american, fat female librarians, disabled staff, Kolleg*innen mit Depressionen. Die Schreibenden bestimmen (meist) mittels der Frage «Wie funktionieren die sozialen Beziehungen in meiner Einrichtung?» und fragendem Vorgehen, bei dem eigene Erfahrungen und Wissen aus anderen Quellen verbunden werden, ihre eigene Situation in den Bibliotheken zu verstehen, aber auch, was diese Situation über die Institution Bibliothek aussagt. Und – wie gesagt – das führt nicht immer zu positiven Antworten.

Dabei geht es weniger um konkrete Diskriminierung und vielmehr um strukturelle Einschränkungen sowohl bezogen auf die persönliche Ebene als auch auf die institutionelle Ebene (hier vor allem der Bibliothek gegenüber der Universität, aber auch der Servicebereiche gegenüber anderen Bereichen in der Bibliothek selber). Beispielsweise geht es immer wieder darum, für was Kolleg*innen als kompetent oder nicht kompetent wahrgenommen werden oder was für sie faktisch schwieriger ist aufgrund dessen, was Personen ihrer jeweiligen Identität zugeschrieben wird und wie die Institution konstituiert ist. Es geht auch oft um die kontinuierliche Devaluation der Erfahrungen und Arbeit in Servicebereichen gegenüber shiny tech projects oder Wirkungen, die in «harten Zahlen» zu fassen sind.

Das alles ist – trotzdem im CfP zu Einreichungen aus anderen Ländern aufgerufen wurde – sehr US-lastig und lässt sich nicht direkt in den DACH-Raum übertragen. Alle Ungleichheitskategorien haben ihre eigenen Geschichten und Bedeutungen in unterschiedlichen Gesellschaften, also auch die in diesem Buch diskutierten. Autoethnographie als Methode produziert zudem immer erst einmal lokales Wissen. (Aber, wie das Buch zeigt: Viel lokales Wissen, dass immer wieder ähnliche Strukturen aufzeigt, deutet darauf hin, dass es nicht einfach um lokale Probleme geht.)

Was das Buch zeigt, ist, dass ein solches Vorgehen, bei dem Bibliothekar*innen autoethnograpisch über ihre Position schreiben, hilfreich ist. Hilfreich für Kolleg*innen selber, um zu klären, in welcher Position sie sich befinden, warum die Situation so ist, wie sie ist und welche Strukturen wie auf ihre Möglichkeiten einwirken. (Das gilt nicht nur für Personen, deren Identität «am Rand» der Mehrheitsgesellschaft verortet wird.) Aber hilfreich auch, um als Bibliothek oder Bibliothekswesen darüber nachzudenken, was geändert werden kann.

Dieses Vorgehen macht das Vorhandensein von Strukturen und deren Wirkung sichtbar – und wenn sie benannt sind, lassen sich auch ändern. Es zeigt, dass es oft nicht einfach um persönliche Probleme oder Lösungen geht. Was die Texte machen, ist, Wissen zum Beispiel aus der Literatur und Praxis zusammenzubringen, indem «theoretisches Wissen» anhand persönlicher Erfahrungen überprüft und in seiner Wirkung aufgezeigt wird. Es ist zum Beispiel das eine, wenn grundsätzlich über bestimmte Vorurteile gesprochen wird, aber das andere, wenn man liest, wie sie Kolleg*innen tatsächlich betreffen.

Bibliotheken im DACH-Raum (und nicht nur dort) machen sich in den letzten Jahren darum Gedanken, wie sie auf die wachsende gesellschaftliche Diversität reagieren können und sollen. (Manchmal geht das sehr dahin, vor allem darüber nachzudenken, wie das Personal diverser werden kann – was nur ein Teilbereich ist. Aber vielleicht ist das einfach das greifbarste Thema.) Dieses Buch gibt dazu praktisch ein Werkzeug in die Hand, dass mitgenutzt werden sollte. Insbesondere zeigt es, dass autoethnographisches Vorgehen hilft, die ganzen Theorien zu Ungleichheitskategorien (die ja auch nicht einfach am Schreibtisch erarbeitet wurden, sondern vorrangig anhand empirischen Materials) mit praktischen Erfahrungen in Bibliotheken zu verbinden. Es hilft einerseits Kolleg*innen, sich zu verorten, aber e hilft anderen auch, diese Verortung nachzuvollziehen. Oder genauer: Es würde Bibliotheken (und dem Bibliothekswesen) helfen zu verstehen, was zu bearbeiten ist, wenn man dem Anspruch, die gesellschaftliche Diversität mindestens in der Bibliothek auch abzubilden, gerecht werden möcchte.

Kurz: Ich empfehle das Buch, wenn auch nicht unbedingt für den eigentlichen Inhalt (der einen weiteren Text wert wäre). Aber man sollte sich auf eine längere Lesezeit einstellen. So einfach «weglesen» lässt es sich nicht.

Advocacy für Bibliotheken: Erinnert sich wer?

Aufgabe von Verbänden ist es immer, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, was (auch) heisst, Lobbyarbeit zu betreiben. Für Bibliotheksverbände heisst dies dann, Lobbyarbeit für Bibliotheken zu machen. (Auch wenn einige Verbände dabei zweigespalten sein müssen, weil sie sowohl die Institutionen als auch das Personal vertreten – also in vielen Fällen zwei Seiten zu einer Frage gleichzeitig. Aber das ist ein anderes Thema.) Diese Arbeit bezieht sich oft auf «die Öffentlichkeit» im Allgemeinen und «die Politik» auf nationaler und Landes-/Kantonsebene. Auf lokaler Ebene – also vor allem auf Ebene der Gemeinden – betreiben sowohl Bibliotheken selber als auch manchmal andere Vereinigungen (zum Beispiel Freundeskreise oder im Krisenfall Ad-hoc Bündnisse) solche Arbeit.

Wenn das wie eine selbstverständliche Aussage klingt, dann, weil es so allgemein akzeptiert ist. Es gibt solche Aktivitäten immer wieder und sie werden auch immer wieder neu aufgegleist. Oder anders: Es gibt schon viele Erfahrungen mit unterschiedlicher Lobbyarbeit für Bibliotheken (oder auch vergleichbaren Einrichtungen, Museen sind zum Beispiel auch recht aktiv). Das Erstaunliche ist aber, dass diese Erfahrungen kaum genutzt werden. Schaut man sich an, was Verbände, Bibliotheken und andere Vereinigungen an Lobbyarbeit für Bibliotheken machen, fällt schnell auf, dass immer wieder ähnliche Ideen verfolgt, ähnliche Projekte aufgesetzt und auch, wenn überhaupt, am Ende ähnliche Berichte zu diesen Aktivitäten publiziert werden. Was auch auffällt ist, dass kaum über tatsächliche Erfolge (oder Misserfolge) solcher Aktivitäten berichtet und diskutiert wird. Grundsätzlich ist das vielleicht auch nicht nötig: Das Verbände Lobbyarbeit machen scheint so normal, dass es nicht hinterfragt wird. Aber fraglos wäre es besser, über die Erfolge und Misserfolge dieser Aktivitäten nachzudenken. Das würde potentiell die weitere Arbeit auf diesem Gebiet besser machen (und damit, idealerweise, wohl positive Effekte für Bibliotheken haben). Darum soll es im Folgenden gehen.

Die Krise britischer Bibliotheken – und die Lobbyarbeit für sie

Ausgangspunkt soll dabei das Buch Bibliothèques publiques britanniques contemporaines: autopsie des années de crise sein.1 In diesem geht es grundsätzlich um die Krise, in welcher sich das britische Öffentliche Bibliothekswesen seit mehr als zehn Jahren befindet. Die Autor*innen schildern hier, wie tiefgehend dieser Krise ist, wie sie sich in Zahlen ausdrückt, aber auch, wie sehr sie Ergebnis politischer Entscheidungen war / ist.2 Ihr Fokus liegt auf den Regierungsjahren von David Cameron (2010-2016), aber die Krise ist weitergegangen.

Der zweite und letzte Teil des Buches widmet sich dem, was im Buch als «advocacy» beschrieben wird: Unterschiedliche Formen von Lobbyarbeit für Bibliotheken. Hier werden viele Beispiele von verschiedenen Formen von Protesten, von direkter Lobbyarbeit, vom Eintreten für lokale Bibliotheken oder für Bibliotheken im Allgemeinen – beispielsweise durch Autor*innen – dargestellt. Gerade weil dabei viele Beiträge direkt von Aktiven (ins Französische übersetzt) übernommen wurden, finden sich hier auch viele Argumente, die bei deiser Advocacy für Bibliotheken gesammelt wurden. Auf der einen Seite zeigt dieser Teil des Buches eine beeindruckende Breite an Aktivitäten. Auf der anderen Seite zeigt er auch ein Scheitern an: Die meisten dieser Proteste, dieser Lobbyarbeit und so weiter haben nicht dazu geführt, dass Bibliotheken «gerettet» wurden oder das die Krise des britischen Öffentlichen Bibliothekswesens beendet worden wäre. Die Erfolge all dieser Aktivitäten waren gering. Irritierend ist ein wenig, dass das in diesem Buch nicht einmal thematisiert wird, sondern das es nach der Darstellung endet.

Dabei wird im ersten Teil des Buches dargestellt, dass diese Krise Ergebnis politischer Entscheidungen auf einer anderen Ebene waren, als die der Bibliotheken. Es geht dabei um das spezifische Verständnis von Gesellschaft und den Aufgaben von Staat und Gesellschaft, die von den Regierungen unter David Cameron vertreten wurden. Diese ideologischen Weichenstellungen mögen in der Radikalität, mit der es damals umgesetzt wurden, eine britische Besonderheit sein. Aber was mich hier interessiert, sind zwei Sachen:

  1. Die auffällige Differenz zwischen den politischen Entwicklungen (also vor allem dem Umbau des britischen Sozialstaates und die Etablierung neoliberaler politischer Vorstellungen), welche als Hauptgrund der Krise dargestellt werden und den Aktionen für Bibliotheken, die dann geschildert werden. Die politischen Entwicklungen gingen (so das Buch) dahin, dass sich der Staat aus der Finanzierung der gesellschaftlichen Infrastruktur zurückzieht und der Gesellschaft (in Form von Vereinen und ähnlichen Institutionen) überträgt. Die Argumentationen für Bibliotheken gingen dahin, den gesellschaftlichen Wert der Bibliotheken zu betonen, teilweise zu quantifizieren, und für den Erhalt der vorhandenen Bibliotheken einzutreten. Das sind zwei sehr unterschiedliche, sogar zum Teil widersprüchliche Sachen.
  2. Auf Seiten der Advocacy für Bibliotheken waren die eigentlichen, langfristigen Ziele kaum klar. Es ging oft um den Erhalt des Status Quo, also beispielsweise einer Bibliothek oder des gesamten Netzes von Bibliotheken. Aber dann? Was war das langfristige Ziel? Auch, wenn zum Beispiel mit Versuchen, den Wert von Bibliotheksleistungen für die Gesellschaft zu berechnen, über den lokalen Rahmen hinausgegangen wurde, war nicht klar, was genau das Ziel war. Wenn zum Beispiel Labor wieder (einmal) in Grossbritannien regieren würde, was genau sollte die Regierung dann tun? Über das «rettet die Bibliothek / die Bibliotheken, wie sie gerade ist / sind» ging die ganze Lobbyarbeit kaum hinaus.

Beispiele aus dem DACH-Raum

Das Buch ist aus Frankreich und es handelt von Grossbritannien. Aber es illustriert gut eine Struktur der Lobbyarbeit für Bibliotheken, die sich auch im DACH-Raum findet. Einige Beispiele:

Ökonomischer Wert der Bibliotheken

Vor zehn, fünfzehn Jahren wurden recht viele Arbeiten dazu geschrieben, wie man den «Wert von Bibliotheken» berechnen könnte. Es gab einige Projekte dazu und immer noch findet sich auf dem Bibliotheksportal des Deutschen Bibliotheksverbandes der «Bibliothekswertrechner»,3 bei dem Bibliotheken eingeben können, wie viele Medien sie verliehen haben und so weiter, um dann einen Wert in Euro geliefert zu bekommen, den die Bibliothek «wert» sei. Es gab und gibt andere Formeln, um solche Wert zu errechnen. Zum Beispiel werden in den sozialen Medien immer wieder einmal Bilder von Bibliotheken aus dem Ausland geteilt, auf deren Ausleihquittungen Werte angegeben werden, wie viel Geld die jeweiligen Nutzer*innen mit dieser Ausleihe oder den Ausleihen des letzten Jahren schon gespart hätten. Ebenso gab es ähnliche Ansätze wie «willingness to pay»-Studien, wo versucht wurde, den Wert von Bibliotheken zu messen, indem man fragt, was Leute sonst bereit wären, für bestimmte Angebote zu zahlen.

Die Idee kommt auch immer wieder einmal auf, dass man solche Werte bräuchte, um Werbung für Bibliotheken machen zu können. (Was… manchmal erstaunlich ist.) Auch im oben besprochenen Buch finden sie sich.

Hinter diesem Ansatz stand wohl immer die – manchmal angedeutete, manchmal nicht ausgesprochene – Vorstellung, dass Bibliotheken dann gut abschneiden würden, wenn sie zeigen könnten, dass die Bevölkerung durch sie viel einspart oder mehr Wert «erhält», als sie über die Steuern und / oder Nutzungsgebühren bezahlt hätte. So was in der Art. Aber: Abgesehen davon, dass das selbstverständlich auch andere Einrichtungen behaupten können – und es gab und gibt immer auch willingness zu pay-Studien zu Museen, Parks und so weiter, in denen dann auch gezeigt wird, dass diese Einrichtungen mehr Wert «bringen» als sie kosten – ist zumindest mir nie ein Text untergekommen oder eine Geschichte erzählt worden, wo dies einen positiven Effekt hatte.

Es ist auch nicht klar, wie genau das funktionieren soll: Sagen wir wieder einmal, eine Politikerin kriegt diese Zahlen auf den Tisch – was dann? Was soll sie tun? Selbst wenn diese zum Beispiel mit der Forderung verbunden wären, zum Beispiel in einem Flugblatt, deshalb eine Bibliothek nicht zu schliessen, kann die Politikerin wenig mehr tun, als dann gegen die Schliessung zu stimmen, wenn es zur Abstimmung kommt. Aber wird sie dass wegen solcher Zahlen tun?

Auffällig war eigentlich immer, dass mit solchen Angaben vom «Wert» von Bibliotheken die Überzeugung verbunden war, dass solche Nachweise des eigenen Werts eine Bedeutung in der Politik haben. Aber so funktioniert Politik ja nicht. Es geht um Macht und Verteilung von Macht, um das Identifizieren von Problemen, den Entwurf von Lösungsmöglichkeiten, die Etablierung von Alternativen, die Durchsetzung ideologischer Programme. Das ist Politik. Argumente aller Art, auch solche, die in Geldwerten ausgedrückt werden, sind nur ein kleiner Bestandteil, der nicht von sich aus überzeugt.

Was nötig wäre, wenn man die Idee vertritt, mit solchen Nachweisen Lobbyarbeit zu betreiben, wäre zu sagen, welchen Effekt diese Zahlen haben sollen: Wer soll die glauben? Wer soll durch die von was überzeugt werden? Was genau soll danach geschehen? (Was, wenn andere Einrichtungen ähnliche Zahlen vorlegen können?) Ist die Politik angesprochen? Die Öffentlichkeit? Die Medien? Was soll das bringen? Aber das ist bislang nicht gesagt worden. Stattdessen sind diese Versuche seltener geworden.

«Bibliothek 2007»

In der gleichen Zeit, als diese Versuche der Wertberechnung populär waren – und wohl inhaltlich damit verbunden – gab es von der Bundesvereinigung deutscher Bibliotheksverbände und der damals im Bibliotheksbereich aktiven Bertelsmann Stiftung das Projekt «Bibliothek 2007». Heute ist nicht mehr fiel davon zu finden. Die damals aktiven Homepages sind abgeschaltet.4 Ganz klar war auch da nicht, was eigentlich genau das Ziel war. Es wurden beispielsweise «Best Practice» recherchiert,5 was hiess, eine Anzahl von Öffentlichen Bibliothekswesen vorzustellen (wobei, so überraschend waren die nicht: Skandinavien, Grossbritannien – obwohl es damals schon immer mehr in die Krise schlitterte – und Singapur wurden oft genannt). Es wurden Dokumente erstellt, in denen ein «Reformbedarf» des Deutschen Bibliothekswesens postuliert wurde. Ausserdem wurde das Bild eines Öffentlichen Bibliothekswesen, welches sich auf Bildung und neue Medien fokussieren und als gemeinsames Netz organisiert würde, gezeichnet. Dieses sollte bis 2007 etabliert sein.

Im Rahmen dieses Projektes wurde auch auf Politikberatung gesetzt. Beispielsweise wurde ein Treffen mit Mitgliedern des Bundestages angestrebt.

Was hat dieses Projekt gebracht? Schon der Fakt, dass man heute nach ihm intensiv recherchieren muss und eigentlich nur Konzeptpapiere, aber keine Texte, die über die tatsächlichen Effekte berichten oder nur nachdenken, findet, ist ein Hinweis. (Ich kann zum Beispiel nicht sagen, ob das Treffen im Bundestag nur angestrebt oder auch durchgeführt wurde. Und wenn ja, mit wem? Mit welchem Ergebnis?) Auch hier muss man vermuten, was eigentlich die Erwartungen waren. Sichtbar ist – aber das ist zu erwarten, wenn die Bertelsmann-Stiftung dabei war – die Übernahme von neoliberalen Vorstellungen und Terminologien. Die Bibliotheken wurden als effizient, aber entwicklungsfähig verkauft. Es wurde von Investition in die Zukunft gesprochen. Und so weiter.

Wieder: Wenn eine Politikerin das damals, 2004, auf den Tisch bekommen hat – was genau hätte sie tun sollen? War zum Beispiel die «BibliotheksEntwicklungsAgentur», von der im «Zukunftsbild» gesprochen wurde, ernstgemeint und sollte die Politikerin sie einrichten? (Eine bundesweit agierende Agentur, wenn Kultur und Bildung Landessache sind? Wie soll das gehen?) Oder war sie ein Symbol? Was genau sollte getan werden? Was in den Dokumenten auffällt, ist nicht nur, wie quer zur politischen Struktur Deutschlands die dort beschriebene Zukunft des Bibliothekswesens stand, sondern auch, dass gleichzeitig nicht klar wurde, was genau gefordert wurde.

Und, im Nachhinein, wie schnell von der Kampagne nicht mehr geredet wurde. (Zum Beispiel verschwand sie als Thema ganz schnell aus BuB und Bibliotheksdienst, obwohl dort einige Jahre regelmässig Artikel zu ihr erschienen.)

«Bibliofreak»

2015 bis 2017 gab es in der Schweiz die Kampagne «BiblioFreak». Die Homepage lässt sich noch aufrufen,6 aber der Schlussbericht nicht mehr.7 Sie zielte darauf ab, das Bild von Öffentlichen Bibliotheken zu verbessern – I guess. Ich habe die Kampagne quasi live miterlebt und dennoch nie so richtig verstanden, was das Ziel war. Weiterhin steht auf der Kampagnenseite dazu folgendes:

«BiblioFreak ist eine nationale Imagekampagne für Bibliotheken. Sie will die Bibliotheken stärken, deren öffentliche Wahrnehmung verbessern und ihre Bekanntheit steigern.

BiblioFreak will dazu beitragen, den Kreis der Nutzerinnen und Nutzer der Bibliotheken zu erweitern.

BiblioFreak macht die vielfältigen Leistungen der Bibliotheken sichtbar, bringt Bibliotheken ins Gespräch und hilft so, das nachhaltige Engagement der Träger zu sichern.

BiblioFreak hilft auf unkonventionelle Art, dass über die Bibliotheken gesprochen wird.»8

Was nicht heisst, dass die Kampagne damals nicht beliebt gewesen wäre – bei Bibliotheken. Viele Bibliotheken verlinkten damals auf die Homepage, besorgten sich Kampagnenmaterialien und machten solche Aktionen wie gemeinsames Wandern (mit Shirts der Kampagne), produzierten Flyer und Werbematerialien. Oft war der Eindruck, als ob vor allem Bibliotheken selber sich mit der Kampagne identifizieren konnten und mit ihr eine gewisse «feel good»-Atmosphäre vermittelt wurde. (Was nicht zu unterschätzen ist.)

Das Ergebnis der Kampagne ist nicht klar. Herbert Staub (damals Präsident des damaligen Verbandes Bibliothek Information Schweiz, der praktisch das Gesicht der Kampagne war) hat, als er sie 2017 auf dem Deutschen Bibliothekstag vorstellte – und auch anderswo – selber gesagt, dass die Ergebnis schwierig zu bestimmen sind. Und jetzt wird praktisch nicht mehr über diese Kampagne geredet. Der Verband und Vorstand ist ein anderer und offenbar ist das alles kein Thema mehr.

Fazit

Das sind alles ein paar Beispiele. Selbstverständlich gab es mehr. Aber wir können aus diesen Beispielen schon einiges lernen, denke ich:

  1. Die Ziele solcher Aktivitäten sind oft erstaunlich unklar. Sicherlich gab auch einige anderen Lobbyaktivitäten, die konkreter waren. Ich denke nur an die Versuche, Bibliotheksgesetze zu etablieren, die in einigen deutschen Bundesländern und einem schweizerischen Kanton erfolgreich waren (in anderen nicht). Aber ansonsten gibt es oft erstaunlich ungenaue Angaben dazu, was hier eigentlich von wem erreicht werden soll. Immer wieder geht es darum, Politik und Bevölkerung irgendwie anzusprechen – aber wofür? Immer wieder, wenn ich mir eine Politikerin vorstelle, die von den Kampagnen angesprochen wird, kann ich mir nicht vorstellen, was genau von der erwartet wird. Aber wenn man kein konkretes Ziel hat: Warum macht man es dann überhaupt?
  2. Erstaunlich ist auch, wie selten überhaupt am Ende solcher Aktivitäten über deren Ergebnisse berichtet oder nachgedacht wird. Das es mal einen Abschlussbericht für BiblioFreak gab und auch einige Vorträge dazu, war schon eine Ausnahme. Das hinterlässt – besonders, wenn es immer wieder passiert – schnell den Eindruck, dass es niemand so richtig mit diesen Aktivitäten ernstgemeint hat (was ich nicht glauben kann). Eventuell ist es, wie angedeutet, einfach so, dass jeder Verband Lobbyarbeit macht und von jeweils neuen Vorständen erwartet wird, es auch zu tun (ausser sie haben andere Projekte, die auch als wichtig erscheinen).
  3. Bemerkenswert ist auch, wie schnell diese Kampagnen wieder aus dem «Gedächtnis» der Profession verschwinden, also wie schnell nicht mehr von ihnen gesprochen wird, wenn sie einmal vorbei sind. Hören die «jungen Leute», wenn sie jetzt mit der bibliothekarischen Ausbildung oder dem Studium anfangen, überhaupt noch von «Bibliothek 2007» oder «Bibliofreak»?9 So ist es dann aber auch nicht möglich, aus den schon gesammelten Erfahrungen aus vorhergehenden Kampagnen zu lernen – und wäre es auch nur, dass bestimmte Dinge schon ohne erkennbares Ergebnis probiert wurden.
  4. Was manchmal erstaunt, ist, wie sehr die eigentlichen Kampagnen und die politische Realität nebeneinander stehen. Im oben besprochen Buch war dies auffälliger als bei anderen Beispielen, weil es einfach auch im Buch selber zwei getrennte Teile waren. Die Analyse der politischen Veränderung hatte mit den Aktivitäten, die dann beschrieben wurden, nicht viel zu tun. Wenn die Tories die Idee vertraten, dass die Gesellschaft und nicht der Staat die gesellschaftlichen Einrichtungen tragen soll, die sich wichtig findet (was eine komische Vorstellung davon ist, was eigentlich der Staat ist – aber gut, anderes Thema), war es zum Beispiel nicht sinnvoll, wenn Bibliotheken zeigen, dass sie der Bevölkerung so und so viel Wert seien oder so und so viel einsparen. Aber das war, was gemacht wurde. Wie Politik tatsächlich funktioniert, scheint bei all der Advocacy kaum bedacht zu werden. (Ein anderes Buch aus Frankreich – Des bibliothèques pour Marseille: en finir avec l’indolence – ist da direkter.10 Hier nimmt der Autor direkt die Position ein, dass die Ausgestaltung des Öffentlichen Bibliothekswesen in Marseille das Ergebnis politischer Entscheidungen sei und deshalb auch nur durch Entscheidungen der Politik verändert werden kann. Im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Buch Public Library Governance11beschreiben Edward Abbott-Halpin und Carolynn Rankin das Verhältnis von Bibliothek und Politik deshalb auch als «wicked problem», weil weit mehr Stakeholder als nur Bibliotheken und Politiker*innen an solchen politischen Entscheidungen beteiligt sind und weil die Entscheidungen auch komplex sind. Aber in der Lobbyarbeit für Bibliotheken erscheint es oft nicht so.)

Ich bin niemand, der sich in so grossen Vereinigungen wie Bibliotheksverbänden engagieren kann. Aber wäre ich es, ich würde mir vornehmen, diese Situation zu verändern. Lobbyarbeit ist wohl Teil der Arbeit von Verbänden, aber wenn der Überblick hier etwas gezeigt hat, dann folgendes:

  • Sie sollte klare Ziele haben.
  • Sie sollte sich bemühen zu verstehen, wie Entscheidungen getroffen werden, die dazu führen, dass diese Ziele erreicht werden – und nicht einfach nur um goodwill oder so werben. (Das ist bei Bibliotheken nicht notwendig. Wie viel mehr goodwill wollen sie noch haben?) Es geht um Politik, also sollte man auch verstehen, wie Politik funktioniert und wo angesetzt werden muss, um etwas zu verändern.
  • Alle Lobbyaktivitäten sollten daraufhin überprüft werden, was eigentlich ihre Ergebnisse waren. Das Wissen, welches über Jahre und Jahrzehnte mit solchen Kampagnen gesammelt wurde, sollte nicht einfach wieder verschenkt, sondern aktiv gesammelt werden.

Fussnoten

1 Touitou, Cécile (dir.) (2020). Bibliothèques publiques britanniques contemporaines: autopsie des années de crise. [La Numérique] Villeurbanne: Presses de l’enssib, 2020, https://doi.org/10.4000/books.pressesenssib.11527

2 Ich habe letztens gehört, dass es Berater*innen gibt, die aktuell die Öffentlichen Bibliotheken in Grossbritannien als positives Vorbild für bestimmte Entwicklungen im DACH-Raum darstellen. Aber ich kann nicht glauben, dass das jemand ernst meint oder ernst nimmt. Alle Zahlen in Grossbritannien zeigen kontinuierlich nach unten: Etat, Personal, Anzahl Filialen, Ausleihen, Medien, Veranstaltungsbesuche.

3 https://bibliotheksportal.de/bibliothekswertrechner/.

4 Aber ganz verschwindet so was selbstverständlich nicht. Es gibt die gedruckten Medien noch in Bibliotheken und teilweise digitalisiert: https://core.ac.uk/download/pdf/195393741.pdf.

5 https://media02.culturebase.org/data/docs-bideutschland/Best_Practice_Recherche.pdf.

6 http://bibliofreak.ch.

7 http://bibliofreak.ch/uploads/downloads/Bericht/BiblioFreak_Schlussbericht.pdf.

8 http://bibliofreak.ch/page/hilfe.

9 Und während ich das schreibe fällt mir auf, dass sie es von mir hören könnten – aber haben sie nie. Nie erschien mir das wichtig, ihnen Wissen über diese vergangenen Kampagnen mitzugeben. Ein Fakt, über den ich nochmal nachdenken muss.

10 Rose, José (2020). Des bibliothèques pour Marseille: en finir avec l’indolence. Marseille: Éditions Gaussen, 2020

11 Abbott-Halpin, Edward ; Rankin, Carolynn (edit.) (2020). Public Library Governance: International Perspectives (IFLA Publications, 176). Berlin; Boston: De Gruyter Saur, 2020.

Würde ein Schulbibliothekswesen in Deutschland ein Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sein? Hinweise aus anderen Ländern

Okay, noch ein Wort zu Schulbibliotheken. Letzte Woche triggert mich die Nachricht, dass sie demnächst in der deutschen Bibliotheksstatistik auftauchen sollen, so weit, dass ich doch nochmal einen Blogpost zu ihnen geschrieben habe. Dort habe ich in einer Fussnote einen Punkt angesprochen, der mich schon irritiert hat, als ich mich noch tiefer mit dieser Bibliotheksform auseinandersetzte. Damals habe ich nichts dazu geschrieben, weil ich immer auch etwas anderes besprechen wollte. Aber vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn zu thematisieren, bevor mich der Elan wieder verlässt.

Was ist eigentlich mit Schulbibliotheken in anderen Ländern?

Ich komme gleich (nach der nächsten Überschrift) zu diesem Punkt, aber woher noch eine Anmerkung: Eine Sache, die bei der deutschen bibliothekarischen Literatur zu Schulbibliotheken schnell auffällt, ist, dass Verweise auf die Situation von Schulbibliotheken in anderen Ländern eher ungenau sind. Nicht selten wird angeführt, dass Schulbibliotheken in diesem oder jenem Land besser organisiert wären oder Teil des Bibliothekswesens wären oder ähnliches. Daraus werden dann Forderungen für die deutsche Situation abgeleitet. Aber kaum einmal scheint jemand zu schauen, ob diese Aussagen überhaupt stimmen. Die Situation im Ausland wird also als Argument genutzt, aber kaum als Möglichkeit, um etwas zu lernen. (Das ist aber nicht nur im Bezug auf Schulbibliotheken so.)

Sehr gut kann ich mich zum Beispiel daran erinnern, wie damals, als die PISA-Studien in der Öffentlichkeit noch Wellen warfen, mehrfach in der bibliothekarischen Literatur behauptet wurde, die Länder, welche in diesen (ersten Runden der) PISA-Studien gut abgeschnitten hätten, hätte allesamt ein «gut ausgebautes Schulbibliothekswesen» (was dann oft nicht weiter beschrieben wurde) und dann daraus abgeleitet wurde, Deutschland bräuchte auch eines. Das hat als Argument die Politik offensichtlich nicht überzeugt, sonst gäbe es heute in Deutschland wohl mehr Schulbibliotheken der Art, wie sie in der bibliothekarischen Literatur beschrieben werden. Als ich das Argument dann im Rahmen meiner Magisterarbeit überprüfte, zeigte sich, dass viel mehr Ländern, die an den PISA-Studien teilgenommen hatten, auch ein Schulbibliothekswesen hatten, hinter dem Geld und politischer Wille steckte – das dies aber nichts mit der Position innerhalb der PISA-Studien zu tun hatte. Diese Ländern fanden sich auf allen Positionen der «PISA-Listen». Herausstechend war nur, dass Deutschland (und einige andere Länder) aus dem Rahmen fallen, weil sie kaum Schulbibliotheken hatten / haben. Das Argument wurde also gemacht, ohne es selber zu überprüfen.1

Mir scheint, diese Situation, dass die Realität von Schulbibliotheken in anderen Ländern gar nicht richtig wahrgenommen, sondern im besten Fall als Argument dafür angeführt wird, das (durch wen?) in Deutschland mehr getan werden sollte, mit ein Grund ist dafür, dass sich bei diesem Thema so wenig ändert: Es wird kaum geprüft, ob die Annahmen, die im deutschen Bibliothekswesen jetzt seit einigen Jahrzehnten immer wieder reproduziert werden, stimmen (können).2

Das Öffentliche Bibliothekswesen wird die Schulbibliotheken anleiten

Der Punkt, welcher mich immer irritiert, ist folgender: Die implizite Erwartung derer, die sich im Öffentlichen Bibliothekswesen für das Thema Schulbibliotheken engagieren, scheint immer zu sein, dass am Ende die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken sein werden. Es wird – früher, als es mit der schulbibliothek aktuell noch eine regelmässige Publikation gab, expliziter formuliert als heute – offenbar davon ausgegangen, das Schulbibliotheken, wenn sie erst einmal auf weiter Fläche eingeführt sein wären, nicht nur wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren sondern auch in das Öffentliche Bibliothekswesen eingefügt sein würden.

Alle Planungen in diesem Bereich, alle Projekte, alle Konzeptpapiere gehen implizit davon aus. Deshalb erscheint es ja auch offenbar richtig, wenn das Öffentliche Bibliothekswesen schon vorgängig beschreibt, wie Schulbibliothek in dieser Zukunft sein werden. Oder, dass die Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken als eine Seite, Schulbibliotheken als andere Seite der gleichen Aufgabe angesehen wird. (Und deshalb auch in einer Kommission des dbv, die sich aus der Arbeitsgruppe im Deutschen Bibliotheksinstitut entwickelt hat, gemeinsam behandelt wird.) Und auch, wenn realistischer davon gesprochen wird, dass die vorhandenen Schulbibliotheken und Öffentlichen Bibliotheken «verzahnt» werden sollen, «mehr Kooperationen eingehen» sollen und so weiter, scheint diese Vorstellung dahinter zu stehen, dass das Öffentliche Bibliothekswesen die Schulbibliotheken integrieren, beraten und anleiten soll.

Aber: Ist das überhaupt zu erwarten, falls es je dazu kommen würde (beispielsweise weil die Bildungspolitik in Deutschland oder zumindest einigen Bundesländern so will), dass in allen Schulen solche Schulbibliotheken eingerichtet würde, wie sie im Öffentlichen Bibliothekswesen beschrieben werden? Nein, ist es nicht. Wenn man es einmal näher durchdenkt, ist es wenig haltbar. Und wenn man dann wirklich ins Ausland schaut, finden sich da auch vor allem Hinweise, dass es gerade nicht so sein wird. Darum soll es im Folgenden gehen.

So viel Schulbibliothekspersonal, so wenig in den Öffentlichen Bibliotheken

Was sich mir nie richtig erschlossen hat bei dieser Vorstellung: Nehmen wir einmal als Gedankenspiel an, es würden, wie das oft die Forderung ist, in jeder Schule in Deutschland (oder halt eines Bundeslandes) Bibliotheken mit bibliothekarischem Personal eingerichtet. Schon wenn das nur ein Person pro Schule wäre (was nicht zu erwarten ist, in vielen Schulen wären es dann gleich mehrere Personen), dann gäbe es auf einmal viel, viel mehr Schulbibliothekspersonal als es Personal in Öffentlichen Bibliotheken gäbe. Es gibt ja einfach viel mehr Schulen (32.3323) als es Öffentliche Bibliotheken (7.1484) gibt.

Dieses Personal würde nicht explizit gegen Öffentliche Bibliotheken arbeiten oder so, aber es hätte einfach andere Interessen und einen anderen Fokus:

  • Schulbibliotheken haben zum Beispiel – im Gegensatz zu Öffentlichen Bibliotheken – eine sehr klar definierte Nutzer*innenschaft: Die Schüler*innen ihrer Schule und – je nachdem, wie die Bibliothek genutzt wird – die Lehrpersonen (nicht als Privatmenschen, sondern als Personen, die unterrichten). Die Schüler*innen haben dann ein klar definierbares Alter und recht klare Aufgaben: Die, die sich in der Schule stellen und die, die sich mit dem Alter stellen (Stichwort: Adoleszenz). All die Gedanken, die sich Bibliotheken um andere Nutzer*innen oder andere Aufgaben machen, sind für Schulbibliotheken deshalb wenig interessant.
  • Schulbibliotheken dieser Art hätten auch einen anderen Kontext als Öffentliche Bibliotheken: Konkrete Schulen, als Bildungseinrichtungen, in denen sie integriert wären. Während Öffentliche Bibliotheken recht einfach behaupten können, Bildung anzubieten, ohne das das je wirklich geprüft wird, befinden sich Schulbibliotheken in einem Kontext, wo andere Personen eine pädagogische Ausbildung haben und auch pädagogisch handeln – die Lehrpersonen: Sie müssen dann, wenn sie ernst genommen werden wollen, an dieses Wissen anschliessen. Sie würden also mehr in dieser Richtung diskutieren, planen, testen wollen als das bei Öffentlichen Bibliotheken der Fall ist.
  • Der Kontext Schule würde für Schulbibliotheken auch heissen, dass es im Umfeld schon viele andere Orte gibt, die Aufgaben wahrnehmen, welche sich Öffentliche Bibliotheken zuschreiben: Lernorte gibt es zum Beispiel zuhauf in den Schulen; auch Orte, wo Schüler*innen Kommunizieren oder Partizipation üben. Schulbibliotheken müssen sich deshalb viel genauer verorten und ihre Aufgaben definieren, als das Öffentliche Bibliotheken tun.
  • Andere Themen, die Öffentliche Bibliotheken umtreiben, sind für Schulbibliotheken nicht relevant, beispielsweise weil sie betreffende Nutzer*innen gar nicht bedienen oder bestimmte Aufgaben nicht haben (aktuell in der Diskussion zum Beispiel: Bibliotheken und Stadtentwicklung).

In so einer Situation wäre nicht zu erwarten, dass das Schulbibliothekspersonal sich in der Öffentliche Bibliothekswesen einordnen würde. Vielmehr würde es wohl eigene Strukturen ausbilden – nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen, aber doch ausserhalb. Die gemeinsamen Interessen der Schulbibliotheken wären wohl einfach grösser als die gefühlte Verbindung zum Öffentlichen Bibliothekswesen – selbst wenn das Personal in beiden Bibliotheksformen die gleiche Ausbildung hätte. Zu erwarten wäre eher, dass dann, neben Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken eine eigene Bibliotheksform mit einer beachtlichen Grösse wären.5 Aber dann wäre die ganze Vorarbeit aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken auch schnell hinfällig.

Zu erinnern ist nur, dass erst letztens die Medienpädagog*innen in Bibliotheken auch eine eigene Fachgruppe in der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (und nicht einem bibliothekarischen Verband) gegründet haben, weil sie ihre Interessen als so unterschiedlich vom Öffentlichen Bibliothekswesen (aber nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen) ansehen, dass eine eigene Struktur als notwendig ansehen (https://www.gmk-net.de/ueber-die-gmk/lf-fachgruppe/medienpaedagogik-in-bibliotheken/). Und es gibt noch lange nicht so viele Medienpädagog*innen in Bibliotheken,6 wie es Schulbibliothekspersonal gäbe, wenn die Vorstellungen aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen umgesetzt würden.

Schulbibliothekswesen in anderen Ländern

An verschiedenen Stellen habe ich betont, dass sich das Öffentliche Bibliothekswesen in jedem Land unterschiedlich entwickelt, auch wenn sich einige Bibliothekswesen gegenseitig beeinflussen. Insoweit warne ich selber immer wieder davor, die Entwicklung in einem Land als Hinweis dafür zu nehmen, wie sich die Bibliotheken in einem anderen Land entwickeln werden. Aber wenn sich in verschiedenen Ländern ähnliche Strukturen entwickeln, dann lässt sich dies doch als Hinweise darauf lesen, dass sich Bibliothekswesen in anderen Ländern, wenn sie mit vergleichbaren Herausforderungen und Situationen umgehen müssen, zu ähnlichen Ergebnissen gelangen werden.

Im Folgenden werde ich eine Anzahl Länder durchgehen, die alle ein einigermassen etabliertes Schulbibliothekswesen haben, wie es sich in deutschen bibliothekarischen Texten nur vorgestellt wird: Mit Schulbibliotheken in den meisten Schulen, mit für die Arbeit in Schulbibliotheken ausgebildetem (oder weitergebildetem) Personal, mit Einbindung der Schulbibliotheken in den Unterricht und so weiter. Die Auswahl ist beschränkt durch meine Sprachkenntnisse (deutsch / englisch / französisch), durch die Zugänglichkeit zu Informationen im Homeoffice und durch die Zeit, welche ich für diese Recherche aufbringen konnte. Sie kann (und sollte) von anderen also immer ergänzt werden.

Und dennoch zeigt sich bei der schnellen Recherche (rund zwei Stunden), dass sich zumindest in den beschriebenen Ländern immer wieder ähnliche Strukturen zeigen, die darauf hindeuten, dass sich auch in Deutschland «gut ausgestattete Schulbibliotheken» ab einer gewissen Verbreitung halt nicht zum Öffentlichen Bibliothekswesen zählen werden und sich von diesem auch nicht anleiten lassen würden.

Frankreich

Schulbibliotheken in Frankreich heissen seit 1973 centre de documentation et d’information (CDI). Es gibt einen eigenen Verband, die Association des professeur documentaliste de l’education nationale (http://apden.org), der nicht Teil des Öffentlichen Bibliotheksverbandes ist.

Die Ausbildung des Personals ist uneinheitlich und bereitet auch immer wieder Kopfschmerzen (sie wird also immer wieder einmal diskutiert). Grundsätzlich wird das Personal in den CDI als professeur·e·s documentaliste bezeichnet. Aber es gibt keine eigene Ausbildung um professeur·e documentaliste zu werden, sondern verschiedene Wege in die Profession (über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung, immer plus Weiterbildungen) und es gibt Vorgaben, welche Kompetenzen auf diesem Weg zu erwerben sind. (http://apden.org/Prof-doc-un-nouveau-cadre.html) Grundsätzlich wird die Arbeit aber als anders angesehen als die anderer Bibliothekar*innen aber auch anderer Lehrpersonen.

Es gibt eine eigene Zeitschrift, die interCDI (http://www.intercdi.org) und eine Konferenz, welche alle vier Jahre stattfindet (http://apden.org/?page=federation).

USA

Die American Association of School Librarians (AASL) (http://www.ala.org/aasl/) ist eine Division der American Library Association (http://www.ala.org/aboutala/divs), in der es auch Divisionen für Öffentliche Bibliotheken oder Research Libraries gibt. In einigen Bundesstaaten gibt es darüber hinaus selbstständig agierende School Library Associations. Jährlich findet eine Konferenz der AASL statt, zudem ist sie an den halbjährlichen ALA-Konferenzen vertreten.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian (oder School Library Media Specialist) genannt, für das es gesonderte Ausbildungen an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen gibt. Geregelt ist diese von Bundesstaat zu Bundesstaat anders. (http://www.ala.org/aasl/about/ed/recruit/learn)

Die AASL selber gibt zwei Zeitschriften heraus, eine praxisorientierte (Knowledge Quest https://knowledgequest.aasl.org) und eine wissenschaftliche (School Library Research, http://www.ala.org/aasl/pubs/slr). Zusätzlich existiert das School Library Journal (https://www.slj.com), eigene Reihen für Schulbibliotheken in bibliothekarischen und pädagogischen Verlagen und Blogs, Newsletter und Zeitschriften einzelner Verbände auf Ebene der Bundesstaaten.

Kanada

Die bewegteste Situation findet sich in Kanada. Dort brachen Mitte der 2010er Jahre vorhandene Strukturen für Schulbibliotheken auf Bundesebene zusammen (nicht aber die in allen Provinzen und Territorien): Die School Library Division der Canadian Library Association wurden 2010 aufgelöst, die Zeitschrift School Libraries in Canada eingestellt, Projekte nicht mehr weitergeführt. (https://www.canadianschoollibraries.ca/wp-content/uploads/2018/01/CSL_Poster_OLA2018-SMALL.pdf)

2016 dann wurde wieder die Non-Profit Canadian School Libraries (CSL) gegründet, welche eigenständige Verbände für Schulbibliotheken aus den Provinzen und Territorien vereinigt (https://www.canadianschoollibraries.ca). Sie ist nicht Teil der Library Association. Das Personal in den Schulbibliotheken wird zumeist Teacher-Librarian genannt. Es gibt an verschiedenen Universitäten und Ausbildungseinrichtungen Kurse für diese (sowohl zur direkten Ausbildung als auch zur Weiterbildung auf Basis bibliothekarischer oder pädagogischer Ausbildungen). (https://journal.canadianschoollibraries.ca/exploring-teacher-librarian-training-in-canada/) Nicht in allen Schulbibliotheken sind auch Teacher-Librarians angestellt.

Mit dem Canadian School Libraries Journal (https://journal.canadianschoollibraries.ca) gibt es seit 2017 wieder eine Zeitschrift für kanadische Schulbibliotheken. Eine eigene Konferenz ist (noch nicht) wieder etabliert, aber es wurde ein «Think Thank» für Schulbibliotheken (tmc – treasure mountain canada) gegründet, welcher jährlich ein Symposium anbietet (https://tmc.canadianschoollibraries.ca), auf dem Forschung zu Schulbibliotheken diskutiert werden soll.

Australien

Auch in Australien gibt es eine eigenständige Australian School Library Association (ASLA) (https://asla.org.au), die alle zwei Jahre eine Konferenz organisiert sowie eine Zeitschrift, Access (https://asla.org.au/access), und einen Newsletter (https://asla.org.au/asla-newsletter) herausgibt. Das Personal in den Schulbibliothek wird Teacher Librarian genannt, für die es keine direkte Ausbildung gibt. Vielmehr gibt es Wege über eine bibliothekarische oder pädagogische Ausbildung und dann jeweils kontinuierlicher Weiterbildung, um diesen Beruf auszuführen. Was existiert, sind Dokumente, in denen von der ASLA beschrieben wird, welche Kompetenzen die Teacher Librarians mitbringen sollen. (https://asla.org.au/what-is-a-teacher-librarian, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_tls_in_australia.pdf, https://asla.org.au/resources/Documents/Website%20Documents/Policies/policy_qualifications.pdf)

Aotearoa New Zealand

Die Struktur in Aotearoa New Zealand ist ähnlich, aber auch nicht gleich wie in Australien. Es gibt wieder einen eigenständigen Verband ausserhalb des Bibliotheksverbandes, die School Library Association of New Zealand Aotearoa (SLANZA) (http://www.slanza.org.nz), welche eine eigene Zeitschrift, Collected (http://www.slanza.org.nz/collected.html), herausgibt. Die Zusammentreffen, welche der Verband auf nationaler oder regionaler Ebene organisiert, sind allerdings unregelmässig.

Das Personal in den Schulbibliotheken des Landes hat keine einheitliche Bezeichnung oder Ausbildung. Vielmehr beschreibt SLANZA die Situation so: «School Librarians and Library Assistants, Teacher Librarians, Teachers with Library Responsibility and school staff involved in managing school libraries». (http://www.slanza.org.nz) Es gibt verschiedene Ausbildungen, um in diese Positionen zu gelangen, die offenbar alle akzeptiert sind.

Grossbritannien

Auch die School Library Association (SLA) (https://www.sla.org.uk) in Grossbritannien ist ein eigenständiger Verband, der eine eigene Zeitschrift, The School Librarian (https://www.sla.org.uk/the-school-librarian), publiziert. Es gibt allerdings keine gesonderte Ausbildung, sondern das Personal wird als School Librarian bezeichnet und durchläuft grundsätzliche eine bibliothekarische Ausbildung, teilweise mit gesonderten Kursen. Die SLA führt keine eigene Konferenzen durch, dafür organisiert sie viele Kurse und Weiterbildungen. Zudem publiziert sie eigene Broschüren und Plakate (https://www.sla.org.uk/publications).

Irland

Erstaunlich, aber dann für das Thema dieses Blogpost auch bezeichnend, ist die Situation in Irland. Es existierte eine eigene School Library Association in the Republic of Ireland (https://www.slari.ie), die nicht Teil des Bibliotheksverbandes ist. Dafür ist sie aber Teil der britischen SLA. Sie führt – im Gegensatz zur SLA – jährlich Konferenzen durch. Als Zeitschrift wird wohl die britische The School Librarian ((https://www.sla.org.uk/the-school-librarian) mitbenutzt.

Das Personal in den Schulbibliotheken wird School Librarian genannt und es wird dafür als Ausbildungsweg auf bibliothekarische Studiengänge in Irland, Nord-Irland, Wales und Schottland – aber nicht England – verwiesen (https://www.slari.ie/advice-and-support/becoming-a-school-librarian/).

Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen gibt, wird es sich ausserhalb des Öffentlichen Bibliothekswesens organisieren

Wie gesagt: Vorsicht ist geboten, wenn man aus den Entwicklungen im Bibliothekswesen eines Landes die Entwicklungen in einem anderen Land ableiten will. Nationale Strukturen und Traditionen übertrumpfen immer wieder mögliche Einflüsse aus anderen Ländern. Aber wenn sich Strukturen so oft zeigen – wenn also in verschiedenen Ländern bei ähnlichen Herausforderungen immer wieder ähnliche Entwicklungen vorkommen –, dann lässt sich doch ein vorsichtiger Schluss ziehen.

Und in diesem Fall ist der Schluss – auch weil er unabhängig von den Beispielen theoretisch nachvollziehbarer ist als andere mögliche Entwicklungen –: Wenn es je ein deutsches Schulbibliothekswesen geben wird, wenn also in allen (oder vielen) Schulen Schulbibliotheken mit dafür explizit angestelltem Personal eingerichtet würden, dann würden sich diese Schulbibliotheken nicht als Form Öffentlichen Bibliotheken verstehen, sondern wohl eigenständig organisieren, um ihre eigenen Fragen zu klären, Herausforderungen anzugehen und gemeinsam zu handeln. Sie werden dann eine eigene Identität als Schulbibliotheken ausprägen.

Die Beispiele zeigen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede: Gemeinsam ist ihnen, dass sich eigenständige Verbände (oder Divisions in grösseren Bibliotheksverbänden, in denen es eigene Division für unterschiedliche Bibliothekstypen gibt) organisieren, dass eigene Publikationsmedien aufgebaut werden (und nicht einfach die Öffentlicher Bibliotheken mitbenutzt werden), dass eigene Treffen und Weiterbildungen organisiert und versucht wird, sich darauf zu verständigen, welche Kompetenzen und Ausbildungen das Schulbibliothekspersonal haben soll. Bei letzterem sind nicht alle Schulbibliotheksverbände gleich erfolgreich, aber immer geht es darum, nicht einfach Bibliothekar*innen aus Öffentlichen Bibliotheken einzusetzen, sondern Personal mindestens mit gezielten Weiterbildungen, wenn nicht gar eigener Ausbildung, auf die spezifische Bibliotheksform Schulbibliothek hin auszurichten. Normalerweise wird dann Wert darauf gelegt, dass das Personal gleichzeitig bibliothekarische und pädagogische Kenntnisse haben soll. Die eigenen Zeitschriften dieser ganzen Verbände weisen auch darauf hin, dass es für Schulbibliotheken genügend Themen gibt, die sie so, wie sie in anderen bibliothekarischen Medien bearbeitet werden, nicht passen: Einige Themen werden Schulbibliotheken viel mehr interessieren als Öffentliche Bibliotheken, andere gar nicht und wieder andere vielleicht nur Schulbibliotheken.7

Was die Beispiele auch zeigen, ist, dass diese Entwicklung nicht immer erfolgreich sein muss (das Beispiel Kanada), manchmal die Zahl der Schulbibliotheken so klein (?) zu sein scheint, dass man sich anderen Verbänden anschliesst (das Beispiel Irland). Auch, dass selbst Länder, die eigentlich viele Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit aufweisen, bei Schulbibliotheken unterschiedliche Lösungen haben können (die Beispiele Aotearoa New Zealand und Australien). Es ist noch nicht mal einheitlich in einem Sprachraum geklärt, wie das Personal in den Schulbibliotheken genannt wird. Es gibt also eine gemeinsame Richtung, in der sich Schulbibliothekswesen vieler Länder entwickeln, aber keine überall gleiche Lösung.

Und so würde es wohl auch in Deutschland sein, würde sich der seit den 1970er Jahren immer wieder im Bibliothekswesen geäusserte Wunsch erfüllen und flächendeckend viele «gut ausgestattete Schulbibliotheken» eingerichtet: Vielleicht mit einiger Verzögerung würde sich dann eine eigene Struktur – als eigener Verband oder auch eigenständige Gruppen in vorhandenen bibliothekarischen Strukturen – entwickeln, eigene Publikationskanäle etabliert (vielleicht eine Zeitschrift, aber vielleicht auch «nur» Blogs und Newsletter), eigene Konferenzen und wohl auch eine von den Schulbibliotheken selber dominierte Diskussion darum, was das Schulbibliothekspersonal an Kompetenzen haben und wie es dafür ausgebildet werden soll. Und dann werden Schulbibliotheken nicht gegen das Öffentliche Bibliothekswesen arbeiten, aber sich auch nicht viel von ihm hereinreden lassen. Warum? Weil es sich um zwei unterschiedliche Bibliotheksformen handelt, mit unterschiedlichen Zielsetzungen, «Problemlagen» und Kontexten.

Hat das eine Bedeutung?

Jetzt mag man sagen: Okay, vielleicht wird es sich so ergeben und nicht so, wie es sich implizit erhofft wird, wenn im Öffentlichen Bibliothekswesen über Schulbibliotheken nachgedacht werden. Ist das aber nicht, im besten Fall, Zukunftsmusik? Ich würde dagegen argumentieren. Die wahrscheinliche Zukunft sagt halt auch etwas über all die immer wieder angemahnten Versuche, «etwas für Schulbibliotheken zu tun», «mal anzufangen», «Schulbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken zu verzahnen» und wie das noch immer ausgedrückt wird: Es funktioniert wohl auch immer wieder nicht, weil die vorhandenen Unterschiede zwischen Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliotheken (egal in welcher Form sie aktuell existieren), die in anderen Ländern zum Entstehen von getrennten Strukturen führen, übergangen werden. Schon für all solche Versuche liesse sich einiges aus dem gerade Dargestellten lernen:

  • «Verzahnen von Schul- und Öffentlichen Bibliotheken» muss immer davon ausgehen, dass es zwei unterschiedliche Bibliotheksformen sind, bei denen keine der anderen «untergeordnet» ist. Das ist etwas anderes, als wenn zum Beispiel zwei Öffentliche Bibliotheken zweier Gemeinden sich «mehr verzahnen wollen».
  • Eine einfach Sache wäre, wenn sich im Öffentlichen Bibliothekswesen nicht mehr nur gefragt würde, wie man die eigenen Vorstellungen auf Schulbibliotheken und Schulen übertragen könnte, sondern vielmehr, was man selber als Öffentliche Bibliotheken von Schulbibliotheken lernen könnte. Schon durch den Kontext gibt es zum Beispiel in Schulbibliotheken (selbst denen, die als Zweigbibliothek von Öffentlichen Bibliotheken geführt werden) auch heute schon mehr Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sowie mehr Erfahrungen mit Unterricht und Erwartungen von Lehrpersonen als in Öffentlichen Bibliotheken.
  • Diese Unterschiede sollten auch beim Nachdenken über Schulbibliotheken einbezogen werden. Anstatt zum Beispiel bei den unregelmässigen Schwerpunktheften zu Schulbibliotheken diese immer wieder möglichst ähnlich zu Öffentlichen Bibliotheken darzustellen (und gerade die vorzustellen, die sich nahe an den Vorstellungen des Öffentlichen Bibliothekswesens befinden) sollte sie eher im Kontext von Schulen und als eigene Bibliotheksform präsentiert werden (und dann vielleicht auch eher die ganze Bandbreite der vorhandenen Schulbibliotheken, nicht nur ausgewählte). Ebenso wäre wohl hilfreich, wenn in den ganzen Abschlussarbeiten, die in bibliothekarischen Studiengängen zu Schulbibliotheken geschrieben wird, nicht immer wieder danach gefragt wird, wie eine «gute» Schulbibliothek aussehen oder wie sie eingerichtet werden sollte, sondern in ihnen den Blick darauf zu lenken, wie die Realität in den Schulen tatsächlich ist und wieso. Und schon gar nicht aus eine Defizitperspektive (im Sinne von «Warum sind die nicht so, wie Öffentliche Bibliotheken? Was fehlt denen?»). [Auch wenn verständlich ist, dass Studierende eher untersuchen wollen, was «gute» Schulbibliotheken sind, wenn sie der vorhandenen bibliothekarischen Literatur folgen. Es wäre wohl Aufgabe der Dozierenden, sie auch auf andere mögliche Forschungsfragen hinzuweisen.]
  • Im deutschen Bibliothekswesen werden die beiden Themen «Zusammenarbeit von Schulen und Öffentlichen Bibliotheken» und «Schulbibliotheken» oft zusammen verhandelt, als wäre das praktisch eines. So ist es, wie gesagt, beispielsweise eine Kommission im dbv, die sich beiden Themen widmet (und sich mal mehr auf das eine und mal mehr auf das andere fokussiert). In Schwerpunktheften bibliothekarischer Zeitschriften zu einem Thema finden sich auch immer wieder Beiträge zum anderen Thema. Aber es sind zwei unterschiedliche Themen, bei denen sich auch nicht einfach Erfahrungen vom einen direkt zum anderen Thema übertragen lassen. Dieses Zusammenfassen sollte aufhören. Nur, weil Öffentliche Bibliotheken in vielen Fällen gut angenommene Angebote für Schulen und Lehrpersonen machen können, heisst das nicht, das sie automatisch auch wissen, wie Schulbibliotheken funktionieren. Deswegen werden beide Themen in anderen Ländern auch getrennt behandelt. Das sollte auch in Deutschland etabliert werden.
  • Was hoffentlich auch schon durch diese schnelle Recherche sichtbar geworden ist: Es lohnt sich nicht einfach nur immer auf die Situation im Ausland zu verweisen, wenn man das irgendwie als Argument für die eigenen Vorstellungen verwenden will, sondern tatsächlich die dortige Situation genauer anzuschauen. Mir fiel zum Beispiel auf, dass all die genannten Zeitschriften, ausser der französischen und dem School Library Journal, frei als PDF (aber oft nicht mit OA-Lizenz) vorliegen. Man kann die immer lesen oder zumindest überfliegen, was dort als Thema behandelt wird. (Das war, als ich meine Magisterarbeit schrieb, noch nicht möglich. Wie sehr hätte ich das gewünscht.) Das würde gewiss helfen, zumindest diese Unterschiede zwischen Schulbibliothek und Öffentlicher Bibliothek wahrzunehmen.

Fussnoten

1 Dabei wäre vielleicht «fast alle Länder in der OECD haben ein Schulbibliothekswesen, deshalb sollte Deutschland auch eines haben» ein viel besseres Argument gewesen.

2 In meinem Blogpost von letzter Woche habe ich auf ein Buch von 1970 verwiesen, dass ich als Beginn des Denkens über Schulbibliotheken, wie es seitdem im deutschen Bibliothekswesen etabliert ist, bezeichne. Und auch da wurde es schon so gehandhabt: Schulbibliotheken aus dem Ausland wurden einfach als zu erreichendes Vorbild dargestellt, ohne zu fragen, warum die Schulbibliotheken im Ausland (angeblich) so anders waren. Ob sie vielleicht andere Aufgaben erfüllt als in deutschen Schulen oder eine andere Tradition hatten.

3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/235954/umfrage/allgemeinbildende-schulen-in-deutschland-nach-schulart/

4 Deutsche Bibliotheksstatstik, Stand 2019, https://service-wiki.hbz-nrw.de/pages/viewpage.action?pageId=99811337

5 Und daneben selbstverständlich die ganzen weiteren Bibliotheksformen, die sich ja auch oft in eigenen Gruppen organisieren, nur das sie je nicht so viele sind, wie es dann Schulbibliotheken sein würden.

6 In der geschlossenen Facebook-Gruppe sind es aktuell (28.01.2021) 940 Mitglieder.

7 Hier läge eine Arbeit drin: Jemand könnte daher gehen und systematisch schauen, welche Themen überhaupt in diesen «Schulbibliotheks-Zeitschriften» behandelt werden und jeweils vergleichen mit denen, die in anderen bibliothekarischen Medien aus den jeweiligen Ländern behandelt werden. Zeigen sich dann eindeutige Themenbereiche, die Schul- oder Öffentlichen Bibliotheken (oder noch anderen Bibliothekstypen) zugeordnet werden können?

Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik – Wird die Realität in den Schulen pfadabhängig übergangen?

Letztens bin ich fast vom Stuhl gefallen, als eine Nachricht des Deutschen Bibliotheksverbandes über die üblichen Kanäle verbreitet wurde. Die Nachricht: Schulbibliotheken sollen ab demnächst in der Bibliotheksstatistik vertreten sein (https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2021/january/article/deutsche-bibliotheksstatistik-dbs-erfasst-ab-2021-daten-zu-schulbibliotheken-in-deutschland.html?tx_ttnews%5Bday%5D=15&cHash=84ee7046e7eeef7861ab5ddd1d98e4c6). Das ist so falsch, ich habe erst geglaubt, es wäre ein schlechter Scherz. Aber offenbar ist das ernst gemeint.

Ich möchte hier gerne erklären, warum das keine gute Idee ist. Das Bibliothekswesen in Deutschland ist seit 1970 auf einem falschen Pfad was Schulbibliotheken betrifft.1 Dieser Schritt ist nur ein weiterer auf diesem Pfad, der in den meisten existierenden Schulbibliotheken auch gar nichts verändern wird. Das Erstaunliche ist aber, dass das Bibliothekswesen den immer weiter geht.

Ich habe eine ganze Anzahl von Jahren über Schulbibliotheken in Deutschland geforscht: Angefangen von meiner Magisterarbeit über ein Praxisbuch (nicht alleine geschrieben) bis hin zu einer Langzeitstudie (zehn Jahre) über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin. Danach habe ich das Thema aufgegeben, weil alle meine Fragen beantwortet waren. (Und ich zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr in Deutschland, sondern der Schweiz arbeitete; aber auch in der Schweiz bin ich vom Thema Schulbibliotheken nicht unberührt geblieben.)

Es war auch nicht so, dass ich je ein engagierter Vertreter von Schulbibliotheken gewesen wäre. Ich habe das Thema für meine Magisterarbeit gewählt, weil ich einigen Abstand zu ihm hatte. Interessiert hat es mich, weil Schulbibliotheken gerade nicht einfach Bibliotheken sind, sondern Einrichtungen, deren Realität in der jeweiligen Schule selber von verschiedenen Personen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen ausgehandelt werden. Bei vielen Personen, die sich sonst mit Schulbibliotheken beschäftigen, ist das anders. Die meisten Studien werden von Personen durchgeführt, die oft stark in Schulbibliotheken engagiert sind. Ebenso werden meisten Projekte von Engagierten aufgesetzt und auch die meisten Texte von ihnen geschrieben. Eventuell ist das ein Grund, warum ich einen anderen Blick auf die Entscheidung habe, Schulbibliotheken in den Bibliotheksstatistik aufzunehmen als andere, die diese Meldung begeistert retweetet haben. Mir interessiert die Geschichte, die Denkweisen über Schulbibliotheken, die Realität in Schulbibliotheken und die Strukturen hinter diesen. Aber eine Schulbibliothek gründen oder gar Schulbibliotheken sagen, wie sie zu sein hätten, das wollte ich nie. Das ist bei Engagierten anders (mit gutem Grund, sonst wären sie nicht engagiert).

Und eigentlich wollte ich auch gar nichts mehr zu Schulbibliotheken sagen, aber dieses Presseerklärung hat mich doch so erstaunt, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Es ist eine falsche Entwicklung und das Bibliothekswesen sollte endlich aufhören, immer nur diesen Weg weiterzugehen.

Das Bibliothekswesen will bestimmen, was Schulbibliotheken sind

Das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland nimmt für sich in Anspruch, über Schulbibliotheken entscheiden und für Schulbibliotheken sprechen zu können. Es nimmt auch für sich in Anspruch, sagen zu können (und zu wissen), wie Schulbibliotheken sein sollten, also wie sie funktionieren sollten, welche Aufgaben sie übernehmen sollten, welche Wirkungen sie haben würden, wenn sie nur so wären, wie das Bibliothekswesen sich das vorstellt. Aber: Das ist schlicht und ergreifend falsch.

Schulbibliotheken sind keine kleinen, spezialisierten Öffentlichen Bibliotheken. Sie sind nicht Teil des Bibliothekswesens. Die Vorstellungen darüber, wie Schulbibliotheken sein sollen und welche Wirkungen sie haben sollen, die im Bibliothekswesen verbreitet werden, sind weder alternativlos – es gibt immer auch andere Vorstellungen, die in der Praxis in den konkreten Schulen oft eine viel grössere Bedeutung haben als die aus dem Bibliothekswesen – noch sind sie irgendwie besser begründet (oder gar mit empirischen Daten untermauert) als die anderen Vorstellungen. Und dennoch wird im Bibliothekswesen so gehandelt, als wären die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken.

Die reale Situation

Wie sieht die reale Situation aus? (Hier verweise ich gerne darauf: Während meiner «aktiven Jahre» zu diesem Thema war ich in ungezählten Schulbibliotheken in Deutschland, habe viele Interviews geführt – die ersten für meine Magisterarbeit – und habe Daten gesammelt, vor allem für meine Langzeitstudie in Berlin. Das Folgende sind also nicht reine Behauptung. Und auch, wenn ich vor einigen Jahren damit aufgehört habe und sich seitdem bestimmt einiges geändert hat: Soviel wird es nicht sein.)

  1. Schulbibliotheken sind deshalb interessante Einrichtungen, weil sie aus Aktionen verschiedener Stakeholder (in Mangel eines besseres Wortes) entstehen. Die wichtigsten sind dabei die Schulen selber, welche Schulbibliotheken unterhalten und in diesen die Personen, die konkret die Schulbibliothek betreiben sowie die Schulleitungen. Wie die sich vorstellen, was die Aufgabe einer Schulbibliothek ist, prägt am meisten, wie die Schulbibliothek dann tatsächlich aussieht. Und das ist in den Schulen sehr, sehr unterschiedlich.2 Oft, aber nicht so oft, wie man vielleicht vermuten würde, sind es Lehrpersonen, die für die Schulbibliotheken zuständig sind. Werden Schulbibliotheken von Ehrenamtlichen (oder manchmal auch geringfügig Beschäftigten) betrieben, sind auch diese Stakeholder, was vor allem dann relevant ist, wenn ihre Vorstellungen nicht – wie bei Lehrpersonen – durch pädagogische Ausbildungen geprägt sind. Da viele Schulbibliotheken von Schulvereinen unterstützt werden, sind auch die Eltern und anderen Engagierten in diesen Vereinen, Stakeholder. Wichtig sind oft, aber nicht immer, die anderen Lehrpersonen einer Schule – es gibt Schulbibliotheken, die so abgetrennt vom Unterricht existieren, dass es egal ist, was die anderen Lehrpersonen denken und solche, die sehr in den Unterricht integriert sind und in denen es dann relevant ist, was diese Lehrpersonen denken. Ob die Schüler*innen selber Stakeholder sind, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In konkreten Schulbibliotheken ist auffällig, dass einige explizit Schüler*innen einbinden (einige Schulbibliotheken werden sogar ganz von Schüler*innen betrieben), andere aber direkt über sie hinweg entscheiden.
  2. Öffentliche Bibliotheken und das Bibliothekswesen im Allgemeinen sind nur der geringste unter diesen Stakeholdern. Um sicherzugehen: Es gibt Schulbibliotheken, die sind als Zweigstellen Teil Öffentlicher Bibliotheken. Es gibt Städte und Gemeinden, in denen Öffentliche Bibliotheken unterschiedliche Infrastrukturen aufgebaut haben, um mit Schulen zusammen Schulbibliotheken zu betreiben oder Schulen beim Betrieb ihrer Bibliotheken zu unterstützen. Für all das gibt es Beispiele. Aber das sind alles Ausnahmen. Und zwar nicht erst seit Öffentliche Bibliotheken durch Sparmassnahmen seit den 1980ern Zweigstellen in Schulen, die einmal (seit den 1970ern) eingerichtet wurden, wieder schlossen, sondern schon weit davor. Die ganze Zeit über waren die Schulbibliotheken, die von Öffentlichen Bibliotheken oder mit Hilfe Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurde, viel weniger als die Schulbibliotheken, die anders und ohne Kontakt mit den Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurden. Lokal ist das manchmal anders (wie gesagt: Es gibt Städte, wo in allen Schulen eine Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek zu finden ist oder gut ausfinanzierte und aktive «Schulbibliothekarische Arbeitsstellen»), aber alle breiteren Datensammlungen, die seit den 1970ern durchgeführt wurden, zeigen das gleiche: Die Schulbibliotheken mit irgendeinem feststellbaren Kontakt zu Öffentlichen Bibliotheken sind immer in der krassen Minderzahl.
  3. In vielen Schulbibliotheken interessiert sich deshalb niemand dafür, was für Vorstellungen von Schulbibliotheken (oder anderen Bibliotheken) im Bibliothekswesen vertreten werden. Oft denkt niemand überhaupt daran, dass das Öffentliche Bibliothekswesen überhaupt solche Vorstellungen haben könnte. Vielmehr gibt es immer unterschiedliche andere Vorstellungen in den Schulen. Ich habe einmal fünf unterschiedliche Modelle von Schulbibliotheken aufgestellt, die ich in Berlin real vorgefunden habe (also nicht theoretisch formuliert, sondern aus den Daten, die ich gesammelt hatte, herausgezogen), aber es gibt weitere. Aber auch dabei war auffällig: Die Idee, eine Schulbibliothek müsste wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren, war eine Randerscheinung. Die meisten Schulbibliotheken wollten Orte sein, wo Schüler*innen in Ruhe – oft abgetrennt vom anderen Schulalltag – lesen konnten und auf der Basis dieser Vorstellung waren sie auch aufgebaut. Gerade kein Unterrichtsraum, kein Katalog (auch weil es vor allem um Belletristik ging, die nicht tief erschlossen wurde), kein Ort für Hausaufgaben, sondern Platz, um sich anders zu fühlen als in der restlichen Schule. Was man in Interviews mit den Aktiven in solchen Schulbibliotheken oft feststellt, ist, dass sie ihre Bibliothek auch als eine Einrichtung sehen, die ganz andere Aufgaben hat als eine Öffentliche Bibliothek. Und vor allem, dass die Engagierten vor Ort ihre Bibliothek, so wie sie ist, gut finden. Nicht zuletzt sind auch fast alle diese unterschiedlichen Schulbibliotheken recht gut benutzt – es kann also so falsch nicht sein, was sie machen.
  4. Aber selbst in den Schulbibliotheken, die eine Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betreiben, bringen immer andere Vorstellungen ein. Sie sehen immer wieder anders aus und haben andere Aufgaben, selbst in Städten, in denen eine starke Schulbibliothekarische Arbeitsstelle existiert und Beratungen anbietet. Auch dort finden sich viele Schulbibliotheken, die sehr an Leseförderung und «ausserschulischen Räumen in der Schule» interessiert sind und andere, die sich als Ort für das selbstständige Lernen der Schüler*innen verstehen. Es ist einfach nie so einheitlich, wie das im Bibliothekswesen typisch ist, wo trotz aller konkreten Unterschiede ähnliche, durch die berufliche Sozialisation erworbene, Vorstellungen davon, was eine Öffentliche Bibliothek für Aufgaben hat und wie sie organisiert sein soll, die Arbeit in den unterschiedlichen Bibliotheken vorgeben.
  5. Auffällig ist auch, dass sich die meisten Schulbibliotheken als Teil ihrer Schule verstehen und auch versuchen, im Rahmen ihrer Schule zu funktionieren. Nur wenige schauen über diesen Bezugsrahmen hinaus, nur wenige organisieren sich mit anderen Schulbibliotheken (und dann bezeichnenderweise oft in «Landesarbeitsgemeinschaften» von Schulbibliotheken, die weder Teil bibliothekarischer noch pädagogischer Verbände sind). Immer wieder gibt es Engagierte, die ein Zusammengehen von Schulbibliotheken anstossen wollen, aber immer wieder stossen diese auch auf Probleme, andere zu diesem Zusammengehen zu motivieren. Die meisten Schulbibliotheken funktionieren gut in ihrer Schule und versuchen gar nicht erst, darüber hinaus zu gehen. Somit bildet sich auch kein gemeinsames Verständnis davon aus, wie solche Einrichtungen funktionieren sollten.
  6. In konkreten Schulbibliotheken – die als solche, um das nochmal zu sagen, in ihrer Schule immer wieder gut und oft auch über längere Zeiträume funktionieren – finden sich auch immer wieder explizite Unterschiede zu Öffentlichen Bibliotheken. Einige Beispiele:
    1. Öffentliche Bibliotheken streben einen inhaltlich breiten Bestand an, da sie auch für unterschiedliche Funktionen genutzt werden wollen. In vielen Schulbibliotheken ist eine inhaltliche Breite (oder eine Breite von Medienformen) gar nicht gewünscht. Das ist auch logisch: Wenn die Aufgabe die Leseförderung ist (nur als Beispiel) ist ein weitergehender Sachbuchbestand nicht nötig.
    2. Öffentliche Bibliotheken, insbesondere wenn sie Zweigbibliotheken in Schulen betreiben, betonen gerne die Funktion, dass sie den Unterricht, Hausaufgaben und das selbstständige Lernen von Schüler*innen unterstützen. In einigen Schulbibliotheken wird das auch als wichtige Funktion angesehen und dann beispielsweise der Bestand darauf ausgerichtet oder der Raum so eingerichtet, dass Unterricht und / oder selbstständiges Lernen möglich ist. Aber in vielen (viel mehr) Schulbibliotheken ist das explizit nicht das Ziel. Das ist in jeder Schulbibliothek anders. [Öffentliche Bibliotheken scheinen einfach davon auszugehen, dass die Bibliothek der perfekte Ort für solche Tätigkeiten ist. Aber selbst das ist nicht klar. Schulen haben immer auch andere Orte geschaffen, in denen das möglich ist.]
    3. Oft ist, wie gesagt, liegt Fokus einer Schulbibliothek auf dem Lesen an sich. Und das wird dann auch als ausreichend angesehen. Das muss noch nicht mal heissen, dass andere mögliche Funktionen von Bibliotheken als irrelevant angesehen werden – aber dann halt oft als Aufgabe der jeweiligen Öffentlichen Bibliothek vor Ort, nicht als Aufgabe der Schulbibliothek.
    4. Wirklich auffällig ist, wie die Katalogisierung in Schulbibliotheken gehandhabt wird. Meistens gar nicht. Bibliotheken versuchen auch seit Jahrzehnten immer wieder entweder Schulbibliotheken beizubringen, wie man richtig katalogisiert oder aber Kataloge für Schulbibliotheken – gerne mit Fernleihfunktion von einer Schulbibliothek in die nächste – aufzubauen. Der Katalog steht sehr oft im Mittelpunkt des Denkens des Öffentlichen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken. In konkreten Schulbibliotheken ist das ganz anders: Oft gibt es keinen Katalog, sondern der Bestand ist durch Aufstellung erschlossen. Oft ist der Katalog ein reiner Nachweis, der für die Ausleihverbuchung benutzt wird, aber in dem Medien nicht inhaltlich erschlossen sind. (Oft findet sich der eine Rechner in einer solchen Bibliothek mit dem Katalog auf dem Pult der Bibliothekar*in, ohne das die Schüler*innen diesen je selbst für Recherchen benutzen.) Und auch das ist nachvollziehbar: Wenn der Bestand klein ist (einfach so überblickt werden kann) und der Fokus nicht auf die Vermittlung der Medien, warum sollte sich dann jemand die ganze Arbeit machen, einen Katalog à jour zu halten?
    5. In den meisten Schulbibliotheken ist nichts darüber bekannt, was das Öffentliche Bibliothekswesen über Schulbibliotheken denkt und es besteht auch kein Interesse, dass irgendwie zu wissen. Sie sehen sich als Teil der eigenen Schule und sie funktionieren in der Schule. Sie sehen sich nicht als Teil des Bibliothekswesens.

Bibliothekarische Ansprüche

In der oben angeführten Pressemitteilung des dbv, welcher die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik angekündigt, heisst es:

Das Schulbibliothekswesen in Deutschland ist sehr heterogen. So gibt es die Schulbibliothek als Zweigstelle einer Öffentlichen Bibliothek, als Schulbibliotheks-Verbund mit unterschiedlichen organisierenden Institutionen, als kombinierte Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek, oder als selbständige Schulbibliothek, bei der die Schule die Bibliothek eigenständig betreibt.

Auf den ersten Blick scheint es, als würde hier die Vielgestaltigkeit der Schulbibliotheken akzeptiert, aber genau das passiert nicht. Die Passage erscheint so oder so ähnlich seit Jahrzehnten immer wieder, wenn im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken berichtet wird und sie vermittelt ein Denken, das falsch ist. Interessant ist, dass es – pfadabhängig – immer und immer wieder reproduziert wird, obwohl es – was noch diskutiert wird – immer und immer wieder scheitert.

Was ist falsch an diesem Zitat? Zuerst geht es von einem «Schulbibliothekswesen» aus. Das gibt es nicht. Die Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten so eng zusammen, dass man von einem Bibliothekswesen reden kann. In diesem werden Vorstellungen über die Funktion von Bibliotheken geteilt und diskutiert (über den Bibliotheksverband, die Fachpresse, die Konferenzen, die Gremienarbeit, die Ausbildung und so weiter). Die Wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten sogar noch enger zusammen (beispielsweise regelmässig in Projekten) und prägen gemeinsame Vorstellungen aus. Bei ihnen kann man auch gut von einem Bibliothekswesen reden. Schulbibliotheken sind nicht so: Sie arbeiten nicht zusammen. Die meisten Versuche, sie zu organisieren und sie dazu zu bringen, gemeinsame Vorstellungen, Richtlinien und so weiter zu entwickeln, waren seit den 1970er Jahren kurzlebig; meistens blieben sie in der Anfangsphase stecken. (Und selbst die, wie die Landesarbeitsgemeinschaft in Hessen, die lange aktiv blieben, taten dies ausserhalb des Bibliothekswesens.) Schulbibliotheken bilden in Deutschland kein «Schulbibliothekswesen», dass irgendwie gemeinsam handeln würde oder gemeinsame Interessen hätte. Dies zu behaupten, heisst einfach nur, Denken aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen auf Schulbibliotheken übertragen zu wollen.

Schlimmer ist aber, was in dem Zitat – und, wie gesagt, seit Jahrzehnten immer wieder neu – als «heterogen» aufgezählt wird. Im Bibliothekswesen werden Schulbibliotheken seit den 1970er Jahren immer wieder in die gleiche Reihenfolge gebracht, die eine Wertigkeit vermittelt:

  1. Zuerst die «richtigen» Bibliotheken, die als Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken so wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren.
  2. Dann die Schulbibliotheken, die zwar von mehreren Einrichtungen betrieben werden, aber die dann – idealtypisch – von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden. Also Netzwerke, in denen andere Einrichtungen akzeptiert werden – beispielsweise Schulen, die Etat geben und inhaltlich einbringen, welche Medien sie benötigen –, aber die von Öffentlichen Bibliotheken dominiert werden.
  3. Dann die weniger akzeptablen «kombinierten» Schulbibliotheken, wo die jeweiligen Schulen einen grossen Einfluss haben. Nicht in dieser Presseerklärung, aber anderswo oft schon, wird das als Kompromisslösung dargestellt, die eigentlich nur als Übergang zu akzeptieren sei.
  4. Und dann erst die selbstständigen Schulbibliotheken, die gar nicht so richtig als Bibliotheken akzeptiert werden. Deshalb stehen sie immer am Ende dieser Aufzählungen. Gerade in älteren Texten werden sie sogar als Notlösung bezeichnet, die es aufzuheben gälte.

Wie gesagt: Die Reihenfolge ist kein Zufall, sie findet sich immer wieder. Die Realität sieht, wie gesagt, ganz anders aus. Die «selbstständige Schulbibliothek» ist der Normalfall und zwar schon «immer». Sie sind sehr divers, aber im Denken des Bibliothekswesens werden sie immer als eine «Anderes»-Kategorie zusammengefasst, über die nur nicht zu viel nachgedacht wird. In älteren Texten wurde sie auch mit solchen Worten wie «noch» als abzuschaffende Form von Schulbibliotheken bezeichnet, die zu ersetzen sei. Die anderen drei Formen von Schulbibliotheken sind die Ausnahme. Aber das bibliothekarische Denken zu Schulbibliotheken beschäftigt sich eigentlich nur mit diesen drei Formen. Als richtige Schulbibliothek wird immer nur die Bibliothek angesehen, die direkt in das Öffentliche Bibliothekswesen eingebunden ist. Je mehr sie davon entfernt scheint – wenn beispielsweise die Schulen ein grosses eigenes Mitspracherecht nutzen –, je weniger wird sie akzeptiert. Es ist ein absonderlicher Blick, bei dem sich im Bibliothekswesen das Recht und das Wissen zugesprochen wird, über Schulbibliotheken entscheiden zu dürfen und zu können und gleichzeitig den anderen Stakeholdern dieses Wissen und Recht tendenziell abgesprochen wird.

Das erstaunliche ist, dass dies seit 1970 immer wieder passiert und auch Projekte, wie jetzt die Eingliederung von Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik, leitet, die immer wieder scheitern. So, als gäbe es keinen Lerneffekt, sondern immer nur diesen einen Pfad, den das Bibliothekswesen immer weiter geht.

Erfahrungen

Das alles ist nicht erst seit Gestern so, sondern schon lange Jahrzehnte. Und seit langen Jahrzehnten gibt es auch Versuche von Seiten des Bibliothekswesens, das zu ändern. Viele sind schon wieder vergessen worden, aber man sollte nicht denken, dass nicht schon alles mögliche versucht wurde. Einige Beispiele:

  • Am Deutschen Bibliotheksinstitut gab es eine Arbeitsgruppe zu Schulbibliotheken, die – übernommen aus einem Vorgängerprojekt – bis 2000 sogar eine eigene Zeitschrift schulbibliothek aktuell publizierte.
  • In verschiedenen Projekten wurden Schulbibliotheken mit Hilfe von Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, komplett mit Weiterbildungen für Lehrkräfte, die lernen sollten, wie die Bibliothek zu managen und wie sie zu nutzen seien.
  • Es wurden immer wieder neue Broschüren darüber aufgelegt, wozu Schulbibliotheken genutzt werden können. Mindestens ein Lehrfilm wurde gedreht (aber er scheint verschollen).
  • Es wurden «Lehrbriefe Schulbibliothek» herausgegeben, die im Selbststudium und in Lehrgängen genutzt werden sollten, um Schulbibliothekspersonal auszubilden.
  • Immer wieder wurden politische Vorstösse unternommen, um in Schulen gut ausgestattete Bibliotheken einzurichten. Und nicht erfolglos: Gerade in Schulen, die für irgendwelche Reformen gegründet wurden, wurden diese auch tatsächlich eingerichtet. Und dann meistens wieder irgendwann geschlossen.3 Einen «Leuchtturmeffekt», der sich oft davon erhofft wurde, scheint nirgends eingetreten zu sein.
  • Ungezählt sind auch die Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken, die tatsächlich irgendwann einmal in den letzten Jahrzehnten in deutschen Schulen eingerichtet, dann aber auch wieder geschlossen wurden. Niemand hat die gezählt, aber es ist wirklich nicht ungewöhnlich, in eine Schule zu kommen, in der eine Lehrkraft eine Schulbibliothek betreibt, die irgendwann mal Zweigstelle war, aber jetzt mit anderen Zielen geführt wird.4 Es würde mich nicht wundern, wenn es heute mehr solcher ehemaligen Zweigstellen gibt als aktive Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken in Schulen.
  • Es ist auch ganz normal, dass Schulbibliotheken zu Schwerpunkten in solchen bibliothekarischen Zeitschriften wie der BuB werden (in zwei Monaten ist das nächste solcher Hefte angekündigt). Es gäbe also eine Ort, wo sich über die Fortentwicklung von Schulbibliotheken Gedanken gemacht werden könnte, aber immer wieder im Bibliothekswesen, nicht im Schulwesen.
  • Auch endlos oft wurden in Öffentlichen Bibliotheken Schulbibliothekarische Arbeitsstellen oder ähnliche Institutionen eingerichtet oder angedacht, solche einzurichten. Die Hinweise darauf sind verstreut, aber es ist nicht ungewöhnlich, beispielsweise in Bibliotheksentwicklungsplänen oder -strategien von solchen Plänen (die dann oft nicht umgesetzt wurden) zu lesen. Was genau diese tun sollten oder sollen ist (wieder) sehr unterschiedlich. Viel öfter aber sind sie, wenn sie je eingerichtet wurden, heute auch schon wieder geschlossen (und oft vergessen) als das sie weiterbestehen.
  • Auch unzählbar sind die Versuche, Personen, die mit Schulbibliotheken zu tun haben, irgendwie zusammenzubringen, ob jetzt unter dem Dach von Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen oder anderswie. Viele diese Versuche haben bestimmt keine sichtbaren Spuren in Dokumenten oder Artikeln hinterlassen. Aber die, es taten, sind über Jahrzehnte verstreut. (Auffällig ist aber, dass die, die über einen längerem Zeitraum bestanden haben, das oft gerade nicht in Verbindung mit dem Öffentlichen Bibliothekswesen taten.)
  • Vollkommen unüberblickbar sind die Abschluss- und Studienarbeiten zum Thema, die an bibliothekarischen Ausbildungsstellen geschrieben wurden, oft mit dem Ziel, zu klären, wie eine gute Schulbibliothek aussehen soll. Hinzu kommen zahllose Seminare im Studium, die manchmal über das Studium hinaus wirkten.

All das ist ohne grössere Probleme zu recherchieren. Die meisten Dokumente dazu liegen mehrfach in Bibliotheken, beispielsweise die gesamte schulbibliothek aktuell. Als Start dieser Entwicklung ist das Jahr 1970 zu nennen, als das Buch «Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung» (Doderer et al.) erschien. Dieses war Teilergebnis eines Projektes – nicht mal im Bibliothekswesens – des Instituts für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Im gleichen Projekt wurde auch die Zeitschrift gegründet, die dann die schulbibliothek aktuell wurde, und die Grundlage für die Arbeitsgruppe gelegt, die dann im Deutschen Bibliotheksinstitut aktiv war. Was das Buch ausmacht, ist, dass hier der Pfad angelegt wurde, auf dem das deutsche Bibliothekswesen bis heute wandelt, wenn es um Schulbibliotheken geht. Die Vorstellung, dass die Schulbibliothek den Konzepten Öffentlicher Bibliotheken folgen soll – und nicht etwa einer eigenen Entwicklung – wurden hier zuerst öffentlich formuliert. Alle Argumente, die seitdem im Bibliothekswesen vorgebracht werden, wenn es darum geht, diese Vorstellung zu untermauern, finden sich in diesem Buch das erste Mal zusammengefasst. Auch die tendenzielle Geringachtung anderer Formen von Schulbibliotheken und die Staffelung von «richtiger» Schulbibliothek (die wie eine Öffentliche Bibliothek funktioniert) bis hinab zu «selbstständigen Schulbibliotheken», die tendenziell abgeschafft werden müssten, ist in diesem Buch angelegt. Das Bibliothekswesen hat seitdem praktisch diesen Pfad immer nur weiter beschritten und ausgetreten, aber die Grundstruktur nicht mehr verlassen. (Zurückgelassen wurde der Kontext der Bildungsreform, in welchem dieses Projekt durchgeführt wurde.)

Im Buch wird zum Beispiel postuliert,

  1. dass die Bibliothek zentral sein soll, das heisst einerseits eine Einrichtung in der Schulen (und nicht verteilt in Klassenräumen) und andererseits ein zentrale Einrichtung in der Schulen, am Besten zentral gelegen.
  2. dass sie eine Einrichtung sein muss, in der Unterricht und selbstständiges Lernen stattfindet und dass sie auf den Unterricht ausgerichtet sein muss.
  3. dass sie von ausgebildetem Personal geleitet werden muss (im Buch heisst es «sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren»; aber da es diese Ausbildung in Deutschland gar nicht gibt, wurden daraus in der bibliothekarischen Literatur schnell ausgebildete Bibliothekar*innen).
  4. dass der Bestand modern und auf den Unterricht ausgerichtet sein soll (das schliesst dann auch die je aktuellen Medienformen ein) und dass eine Schulbibliothek relevant mehr Medien pro Schüler*in vorhalten müsse als eine Öffentliche Bibliothek pro potentielle*r Nutzer*in.
  5. dass die Katalogisierung und Aufstellung einheitlich sein soll, damit alle Schulbibliotheken ein Netzwerk bilden können.

Das sind alles Argumente, die seit 1970 immer und immer wieder vorgebracht werden, wenn auch manchmal umformuliert. Wenn in der oben angeführten Presseerklärung des dbv die Rede davon ist, dass Schulbibliotheken durch die Eingabe ihrer Daten in die Bibliotheksstatistik «ihr Bildungspotential sichtbar» machen können sollen, ist das nur eine aktuelle Fassung der Idee, dass sie vor allem für Bildung (und im Schulbereich dann Unterricht und Selbstbildung) zuständig seien. Auch die Vorstellung, dass man die Arbeit von Schulbibliotheken durch bibliothekarische Kennzahlen – selbst wenn diese, wie das wohl der Fall sein wird, angepasst werden – ausgedrückt werden kann, ist nur eine Fortschreibung der Idee, dass sei von ausgebildeten Schulbibliothekar*innen auf die immer gleiche Weise geführt werden müssten, um richtige Schulbibliotheken zu sein.

Das ist alles nicht durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte untermauert. (Aber: Auch das ist ein Teil dieses Pfades. Schon im Buch wurden die Aussagen nicht theoretisch oder mit Daten untermauert. Vielmehr wurde gesagt, dass müsste so sein; ausserdem gäbe es andere Ländern, in denen es so wäre und es wäre schlimm, dass in Deutschland nicht so sei.)

  • Eine Erfahrung, die sich durch die ganzen Jahrzehnte zieht, ist, dass das Bibliothekswesen schon in der Lage ist, Bibliotheken nach eigenen Vorstellungen in Schulen einzurichten, solange es die dafür notwendigen Mittel (Etat und Personal) mitbringt. Dann werden sie oft (nicht immer) in Schulen akzeptiert. Aber wenn diese Mittel nicht mehr da sind (weil das Projekt zu Ende ist oder wenn der Etat der Bibliotheken gekürzt wird), dann führen die Schulen die Bibliotheken nicht so weiter, wie das Öffentliche Bibliotheken machen. In vielen Schulen werden die Bibliotheken dann geschlossen, was bedauert wird, aber nicht so sehr, dass sich so eingesetzt wird, dass sie doch irgendwie weiterlaufen. (Das passiert auch: Bibliothekar*innen sind mehrfach aus dem Bibliothekswesen ausgeschieden und vollständig aus einem Schuletat finanziert worden, um Bibliotheken fortführen zu können. Aber immer nur in Ausnahmefällen.) In anderen Schulen werden die Schulbibliotheken weitergeführt, aber verändert. Kataloge werden nicht weitergeführt, der Bestand wird verändert (oder nicht verändert, sondern über Jahre einfach weitergenutzt, aber nicht ergänzt).
  • Alle Beratung durch das Bibliothekswesen, alle Projekte und so weiter führen nicht dazu, dass Schulen ihre Bibliotheken einfach so nach den Vorstellungen des Bibliothekswesens umgestalten. So oft auch Bibliotheken davon schreiben, dass Bibliotheken Unterrichtsort werden oder Plätze für Hausaufgaben und selbstgesteuertes Lernen einrichten sollen, so oft wird das von Schulen nicht wahrgenommen oder wahrgenommen, aber ablehnt. Der einzige überzeugende Weg ist in den letzten Jahrzehnten immer nur der gewesen, dass das Bibliothekswesen selber Mittel zum Betrieb einer Schulbibliothek zur Verfügung stellt.
  • Die Behauptungen über Schulbibliotheken, die im Bibliothekswesen gemacht werden, wandeln sich kaum. Sie werden immer wieder einmal neu formuliert (und der Aspekt der Demokratisierung, welcher im genannten Buch von 1970 wichtig war, wurde fallengelassen). Aber es bleibt immer bei diesen Behauptungen. Zu erwarten wäre, dass das Bibliothekswesen losgeht und die Zusammenhänge, die es behauptet – beispielsweise das gut ausgestattete Schulbibliotheken zu besserem Lernen führen würden – untersucht (und dann aus diesen Untersuchungen lernt). Aber das passiert nicht. Stattdessen werden die gleichen Argumente, die schon vorher keinen Erfolg hatten, wiederholt. Das sie offenbar nicht überzeugen (was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie nicht stimmen), ändert dies nicht.5 Stattdessen werden neue Projekte aufgelegt, um Schulen dazu zu bringen, ihre Bibliotheken nach bibliothekarischen Vorstellungen zu gestalten.
  • Immer weiter findet das meisten «Leben» von Schulbibliotheken ausserhalb des Bibliothekswesens in den Schulen selber statt. Aber – das eine weitere Erfahrung über die letzten Jahrzehnte – die Erfahrungen aus diesen Schulbibliotheken werden gar nicht erst gesucht, auch das Wissen aus Schulen interessiert im Bibliothekswesen nicht.6 Die Erfahrung ist, dass das Bibliothekswesen die anderen Stakeholder immer wieder disqualifiziert oder ganz ignoriert.

Die Bibliotheksstatistik als weiterer Schritt auf dem gleichen Pfad

Die Entscheidung, Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik aufzunehmen, ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Pfad. Wieder wird so getan, als sei es die Aufgabe des Bibliothekswesens – des kleinsten und unerfolgreichsten Stakeholder – über die Schulbibliotheken zu bestimmen und ihre Entwicklung vorzugeben. Die bibliothekarische Wertigkeit – eine richtige Schulbibliothek ist nur eine, die bibliothekarischen Vorstellungen folgt, alle anderen sind Kompromisse – wird so wieder einmal hergestellt.

Weil, was wird wohl passieren? Ersteinmal sind die Schulbibliotheken, die Zweigstellen Öffentlicher Bibliotheken sind, schon in der Bibliotheksstatistik enthalten. Für die ist dieser Schritt nichts. Die anderen Schulbibliotheken, die sich die Arbeit machen werden, sich in die Bibliotheksstatistik einzutragen, werden die sein, die ansonsten sehr nahe an der Öffentlichen Bibliothek sind – vielleicht einige der «aufgegebenen» Zweigbibliotheken, die vollständig von Schulen übernommen wurden.

Aber die anderen Bibliotheken? Mal abgesehen davon, dass die mit hoher Wahrscheinlichkeit nie von dieser Statistik hören werden, würden sie gar nichts davon haben, sich diese Arbeit zu machen. Öffentliche Bibliotheken, die ihre Daten an die Bibliotheksstatistik abliefern, haben den Vorteil, dass sie so in ihrer Identität als Öffentliche Bibliothek bestätigt werden (und theoretisch die Daten nutzen können, um sich zu vergleichen und so weiter, aber ob das passiert, ist eine andere Frage) – eine richtige Öffentliche Bibliothek führt eine Statistik und nimmt an der Bibliotheksstatistik teil. Doch Schulbibliotheken, die gar nicht der Vorstellung folgen, dass sie wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren sollten, würden ihre Realität gar nicht in einer solchen Statistik abbilden können – und selber wenn, gar keinen Mehrwert daraus ziehen können. Müssen sie auch nicht, weil sie gar nicht Teil eines «Schulbibliothekswesens» sind, das über solche gemeinsamen, geteilten Strukturen zusammengehalten wird.

Man darf nicht glauben, dass das diesmal anders gemacht wurde, als bei den anderen Projekten der letzten Jahrzehnte: Wieder wurde vom Bibliothekswesen aus definiert, was eine Schulbibliothek sein soll und damit auch, was sie nicht sein darf. Man muss in der Presseerklärung des dbv nur nach den Vertreter*innen suchen, die eine andere Position hätten einbringen können, beispielsweise solche aus Schulen oder Landesarbeitsgemeinschaften:

An der Arbeitsgruppe der dbv-Kommission Bibliothek & Schule zur Einrichtung der entsprechenden statistischen Abfrage waren beteiligt: Irene Säckel von der Stadtbücherei Frankfurt am Main, Frank Raumel vom Medien- und Informationszentrum Biberach, Ira Foltin, Gaby Heugen-Ecker und Therese Nap von der DBS-Redaktion des Hochschulbibliothekszentrums des Landes NRW sowie Dr. Ulla Wimmer von der Humboldt Universität zu Berlin.

Es gab sie nicht – wieder einmal. Hier haben wieder einmal Bibliothekar*innen, eine Bibliothekswissenschaftlerin und Vertreter*innen das Anbieters der Bibliotheksstatistik über Einrichtungen entschieden, die zumeist gar keinen Kontakt zum Bibliothekswesen haben. Deshalb werden in der Statistik bestimmt Werte abgefragt, die im Alltag der Schulbibliothek gar keine Rolle spielen. (Das Beispiel mit dem Katalog weiter oben ist da nur das sichtbarste. Die Anzahl der Medien ist beispielsweise für eine Schulbibliothek nicht unbedingt wichtig, wenn ihr Hauptfokus der ist, dass die Schüler*innen sich aus dem Schulalltag zurückziehen können. Aber die Statistik wird verlangen, dass die vorhandenen Medien gezählt werden, nicht wie viele Schüler*innen sich in den Raum Schulbibliothek zurückziehen.)

Wieder wird versucht, der Realität ein bibliothekarisches Verständnis von Schulbibliotheken überzustülpen. Das wird genauso wenig funktionieren, wie alle anderen dieser Versuche. Was mich verwundert ist, dass es immer noch passiert. Das Bibliothekswesen betrügt sich einfach selbst und tut so, als könnte es über Schulbibliotheken bestimmen, während die Schulen weiter an ihm vorbei handeln werden. (Was heisst, es ist eher ein Problem des Bibliothekswesens und man könnte es dabei belassen. Wäre es nicht gleichzeitig so unverschämt gegenüber all den Aktiven in den Schulbibliotheken, die vom Bibliothekswesen als «nicht so richtig schulbibliothekarisch arbeitend» disqualifiziert werden.)

Ein besserer Pfad

Ich hatte oben gesagt, dass ich das Thema Schulbibliotheken hinter mir gelassen habe. Nie wollte ich Schulbibliotheken oder anderen Personen sagen, was sie zu tun haben (ausser sie fragen), sondern ich wollte diese wunderbar amorphe Einrichtung «Schulbibliothek» verstehen. Aber wenn ich schon so geschockt bin, dass ich doch nochmal auf das Thema zurückkomme, vielleicht doch einige Worte. Das Bibliothekswesen könnte anders handeln und sollte es auch. Ansonsten wird es nur noch weiter Projekte dieser Art aufsetzen, die es dann nur weiter bestätigen werden, dass «auch mal was für die Schulbibliotheken getan werden muss».7

  1. Das Bibliothekswesen muss endlich von seinem hohen Ross absteigen (und den eingetretenen Pfad verlassen): Schulbibliotheken sind nicht Teil des Bibliothekswesens, sondern eine eigene Form von Einrichtungen, über deren Aufgaben, Arbeit und Entwicklung nicht das Bibliothekswesen entscheiden kann. Sie sind keine kleinen Öffentlichen Bibliotheken, ausser dann, wenn das Bibliothekswesen die dafür notwendigen Ressourcen stellt. Anstatt die Schulbibliotheken zwanghaft in das Bibliothekswesen integrieren zu wollen, sollten sie als eigene Bibliotheksform verstanden und behandelt werden. (Öffentliche Bibliotheken wollen ja auch den Gefängnisbibliotheken, Museumsbibliotheken, Gerichtsbibliotheken und so weiter nicht vorschreiben, was ihre Aufgaben sein sollen. So müsste es auch mit Schulbibliotheken sein.)
  2. Das Bibliothekswesen weiss nicht, was eine richtige und funktionierende Schulbibliothek ist. Es weiss noch nicht mal, ob und wie die Schulbibliotheken, die es selber betreibt, eigentlich wirklich funktionieren. Das sollte akzeptiert und dann davon aus weitergegangen werden. Auf der einen Seite wäre es sinnvoll, die ganzen Argumente, die immer wieder gemacht werden, ernsthaft zu untersuchen: Sind diese kleinen Öffentlichen Bibliotheken in Schulen wirklich für einen besseren Unterricht, selbstgesteuertes Lernen, Hausaufgaben und so weiter relevant? Wie soll das funktionieren? Welche Daten gibt es dazu (Daten, nicht Behauptungen oder hübsche Bilder)? Oder übernehmen sie ganz andere Aufgaben? Das wäre die einfache Seite. Die schwierige wäre für das Bibliothekswesen wohl zu akzeptieren, dass in den meisten Schulen mit Bibliotheken diese Schulbibliotheken andere Aufgaben haben, als sich die Öffentlichen Bibliotheken vorstellen und das sie deshalb auf diese Aufgaben ausgerichtet arbeiten – und das das okay ist. (Eine Kleinigkeit, die mich auch früher schon immer irritiert hat, und die man leicht ändern könnte: Das die Kommission im dbv «Bibliothek & Schule» heisst, also die Bibliothek nach vorne stellt, obwohl Schulbibliotheken viel eher von Schulen bestimmt werden und das in ihr überhaupt keine Vertreter*innen aus Schulen zu finden sind. Wäre ich Schulleiter, ich würde das nicht ernst nehmen können. Der Namen sollte geändert und der ständige Kontakt zu Vertreter*innen von Schulen gesucht werden.)
  3. Das Bibliothekswesen muss akzeptieren, dass es nur ein Stakeholder – und dann auch noch nicht der wichtigste – ist, wenn es um Schulbibliotheken geht. Insbesondere dann, wenn es (wie in den meisten Fällen) gar keine Ressourcen für Schulbibliotheken mitbringt. Es mag sein, dass man das ändern will, weil man gehört hat, dass dies in anderen Ländern anders wäre8 – aber das wäre eine Entscheidung auf Ebene der Bildungspolitik und lässt sich nicht erwirken, indem man immer so tut, als wäre man selber wichtiger als die anderen Stakeholder.
  4. Das Bibliothekswesen sollte aus den vergangenen Projekten lernen: Schulen sind nicht mit den immer gleichen Argumenten zu überzeugen, Bibliotheken nach Vorstellungen des Bibliothekswesens einzurichten. Die Bildungspolitik ist so auch nicht zu überzeugen, dass Schulwesen so zu ändern, dass Schulbibliotheken in jeder Schule notwendig werden. (Die lokale Politik manchmal schon.) Die Engagierten in den Schulbibliotheken sind so auch nicht zu überzeugen.
  5. Was auch auffällt, weil immer nur der gleiche Pfad weitergegangen wird, ist, dass bei den ganzen Texten, Vorträgen und so weiter im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken die konkreten Schulen und die Entwicklungen, die in ihnen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, praktisch nicht auftauchen. Es ist eine von der schulischen Praxis (und der Erziehungswissenschaft) oft ganz losgelöste Debatte. Das sollte aufhören. Schulen haben sich verändert und es ist – nur ein Beispiel – heute normal, das Unterricht als Arbeit in Laboren und Projekten stattfindet. Es gibt in vielen Schulhäusern zahlreiche Lernorte, an denen Schüler*innen selbstbestimmt arbeiten, inklusive der Umstellung des Unterrichts von Wissensvermittlung zu Kompetenzentwicklung. Aber man wüsste es nicht, wenn man bibliothekarische Texte über Schulbibliotheken liest. Da sieht es so aus, als wäre die Schulbibliothek der einzige Ort, wo selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Das muss sich ändern, so oder so. Das Bibliothekswesen muss wahrnehmen, wie Schulen heute funktionieren, wenn es irgendwelche Aussagen über Schulbibliotheken machen will.

***

Fussnoten

1 Ich sage hier Deutschland, um es abzukürzen. Aber historisch ist es selbstverständlich so: Von 1970 bis 1990 meint das die BRD, danach tendenziell Deutschland inklusive der «neuen Bundesländer», obwohl es immer auch Traditionen aus der DDR gab, die länger vorhielten, auch im Bibliothekswesen. Anderswo habe ich auch dargestellt, wie die Vorstellungen über Schulbibliotheken aus der BRD einige Jahre später in der Schweiz rezipiert wurden. Aber dort sind sie wieder auf andere Traditionen und Realitäten getroffen, hatten dann auch eine andere Wirkung. Wie immer bei der Entwicklung von Bibliothekswesens gilt auch hier: Es gibt gegenseitige Beeinflussungen, aber grundsätzlich ist die Entwicklung doch je Land unterschiedlich. Insoweit geht es in diesem Beitrag nicht um den DACH-Raum, sondern um Deutschland.

2 Es gibt, wie ich in der Schweiz gelernt habe, auch Traditionen dabei, was als Aufgaben einer Schulbibliothek angesehen wird, die lange existieren können.

3 Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch, dass in alle Oberstufenzentren, die in den späten 1970ern in Berlin gegründet wurden, eine Bibliothek inklusive Personalstelle eingerichtet wurde und dann, als ich 2005/2006 meine Magisterarbeit schrieb, gerade noch die letzte Bibliothekarin in der letzten dieser Bibliotheken «erwischte», die gerade in Rente ging und deren Bibliothek dann, als letzte, auch geschlossen wurde.

4 Solche Bibliotheken haben dann oft noch Bibliothekstechnik aus den Jahren, in denen sie zuletzt Teil der Öffentliche Bibliothek waren, in der Ecke stehen. Sie wird dann nicht mehr benutzt, aber weggeworfen wird sie auch nicht.

5 Eine Zeit lang wurden auch in der deutschen bibliothekarischen Literatur sogenannte «school library impact studies» aus den USA zitiert, in den angeblich gezeigt worden wäre, dass Schulbibliotheken eine positive Wirkung auf die Noten der Schüler*innen in den jeweiligen Schulen hätten. Aber einerseits stimmte das so nie – nicht nur ist das Schulwesen in den USA anders als in Deutschland, auch nannten die meisten Studien für gut ausgestattete Schulbibliotheken Minimalwerte, die in Deutschland nirgends erreicht werden und waren die Studien selber nicht frei von Bias – und überzeugte auch nicht gross ausserhalb des Bibliothekswesens. Andererseits ist das verstummt, jetzt, wo es auch in den USA immer mehr Schulen ohne Schulbibliothek und ohne Schulbibliothekspersonal gibt (obwohl es die Studien weiterhin gibt).

6 Immer wieder kann man von Engagierten aus Schulbibliotheken und Landesarbeitsgemeinschaften Geschichten hören, wie sie von Vertreter*innen des Bibliothekswesens von Beratungen ausgeschlossen oder so behandelt wurden, als hätten sie keine Ahnung von Schulbibliotheken – nicht immer und von allen, aber doch regelmässig. Erstaunlich ist auch, dass die schulbibliothek aktuell zwar in der Vorgängerzeitschrift der heutigen kjl&m aufgegangen ist, die bis heute deshalb den Untertitel forschung.schule.bibliothek führt, aber das es keinen Kontakt mehr zwischen der Redaktion dieser Zeitschrift und den Vertreter*innen im dbv gibt, welche die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik vorangetrieben haben.

7 Ein Satz, den ich so oft in meiner «aktiven» Zeit gehört habe: Immer wieder wird sich im Bibliothekswesen – auch von Kolleg*innen, die schon lange dabei sind – vorgestellt, man würde am Anfang einer Entwicklung von Schulbibliotheken stehen, man hätte mit dem Projekt XYZ Neuland betreten, obwohl es immer wieder die gleiche Geschichte ist und immer wieder das gleiche Ergebnis schon zu Beginn angelegt ist. So, als hätte es die ganzen Projekte seit 1970 nicht gegeben.

8 Wobei das oft auch so nicht stimmt, wenn man genau schaut. In meiner aktiven Zeit habe ich oft gehört, in den USA wären die Schulbibliotheken Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens – aber, plot twist, in der Realität bilden sie dort ein eigenes (schrumpfendes) Schulbibliothekswesen mit eigener Ausbildung, eigenen Medien, eigenen Verbänden und Strukturen. Sie arbeiten mit den Öffentlichen Bibliotheken zusammen, aber Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sind sie gerade nicht.