Eine kurze Anmerkung zu Umfragen betreffs Open Access

Letztens beantwortete ich (als Forschender) eine Umfrage dazu, ob ich in Open Access veröffentliche, was meine Haltung zu Open Access ist und vergleichbaren Themen. Ich habe solche Umfragen schon mehrfach ausgefüllt und frage mich oft, warum sie nochmal erstellt werden müssen. Reichen die Ergebnisse anderer Umfragen wirklich nicht aus? Kann man die nicht verwenden? (Aber, als Forschender, gefangen in den Strukturen von Projektförderung und Forschungsanträgen, verstehe ich selbstverständlich auch, dass solche Wiederholungen oft durch die Struktur der Förderungen erst erzwungen sind. Eine geplante Umfrage lässt immer begründet nach mehr Fördermitteln fragen, als die Wiederverwendung von schon vorhandenen Ergebnissen.)

Killerkriterium APC

Aber diesmal war ich nach der Umfrage mehr verärgert als auch schon. Bislang konnte ich immerhin in den offenen Kommentaren am Ende hinterlassen, dass mich nicht beim Publizieren nicht interessiert, ob etwas Open Access ist oder nicht, sondern welche Geschäftsinteressen hinter einer Publikation stehen. Wo ich grundsätzlich nicht veröffentliche, sind Zeitschriften mit Article Processing Charges, auch wenn sie ansonsten Golden OA sind. Da mache ich keine Ausnahme. Aber wenn z.B. eine Fachzeitschrift, die nur gedruckt erscheint oder die nicht wirklich Open Access ist, weil sie keine Lizenzen hat (und das sind im Bibliotheksbereich erstaunlich viele, ebenso in “angrenzenden Gebieten” wie der Erziehungswissenschaft), aber mir die Körperschaft dahinter sympathisch ist, publiziere ich auch da. Das hat für mich auch damit zu tun, dass ich im Grenzbereich von Wissenschaft und Praxis arbeite und in “der Praxis” andere Interessen und Regeln gelten, als in der Wissenschaft. Der Goldstandard für Zeitschriften, in denen ich publizieren möchte, sind Scientist Lead Diamond Open Access Journals. Aber wenn es die gedruckte Zeitschrift einer Fachstelle für Öffentliche Bibliotheken oder eines Bibliotheksverbandes ist, rücke ich von diesem Anspruch auch schon mal ab.

Aber… um meine eigenen Ansprüche soll es hier gar nicht gehen. Sondern darum, dass ich bei dieser Umfrage noch nicht mal angeben konnte, dass mir solche Kriterien wie Reputation, Review Prozess, Ansehen der Zeitschrift oder Lizenzierung relativ egal sind, während das Killerkriterium für mich Article Processing Charges sind. In der Umfrage  wurden einfach Fragen dazu gestellt, ob ich auf die gerade genannten Kriterien achte – und dann war sie auch schon vorbei. Eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen OA–Farben (also Grün, Gold, Diamond etc.) wurde dabei gar nicht erst gemacht.

Einerseits ärgerte mich, dass ich das nicht loswerden konnte. Hier hätte die Umfrage zumindest Kommentare zulassen können. Andererseits hatte ich aber auch nie das Gefühl, dass meine Kommentare bei den vorhergehenden, vergleichbaren Umfragen irgendeine Auswirkung gehabt hätten. Mehrfach habe ich später Artikel gelesen, in den diese Umfragen ausgewertet wurden – ohne auch nur eine Anmerkung in diese Richtung zu lesen. Insoweit.

Umfragen und Projekte, die nicht mehr zur aktuellen Situation passen

Mir scheint aber, und deshalb breite ich das hier etwas aus, dass dies für mich ein Hinweis über den Zustand von Projekten im Open Access-Bereich war (für die ja solche Umfragen immer und immer wieder durchgeführt werden): Meine These ist, dass diese langsam aber sicher der Zeit, also der realen Situation hinterher sind, wenn sie Open Access an sich als gut / anstrebenswert / Wert an sich / als Ziel ansehen.

Was meine ich?

Open Access hatte einmal das Potential, die Wissenschaftskommunikation und die Machtstrukturen in der Wissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verändern. Es gab die Vorstellung, die Kommunikation in die Hände der Forschenden zurückzugeben. Bibliotheken und Forschungsförderer sollten dies unterstützen. So zumindest kann man die Texte von Beginn dieser “Bewegung” lesen, die so vor 20 Jahren geschrieben wurden. (Allen voran die Berlin Declaration.)

Die Landschaft heute

Das ist jetzt eine ganze Weile her und die Dinge haben sich seitdem – wie eigentlich ja auch alle wissen – grundlegend verändert. Die Wissenschaftsverlage haben reagiert, Open Access wurde in und für die Forschungspolitik operationalisiert – Ressourcen und Policies wurden in Bewegung gesetzt. Die Reaktionen der Wissenschaftsverlage haben jetzt schon eine Geschichte, die man schreiben kann, mit einzelnen Phasen und Lerneffekten. Wichtig für heute ist aber: Sie haben Open Access erfolgreich als Thema besetzt und in Übereinstimmung mit ihrem Geschäftsmodell gebracht. Article Processing Charges, Read and Publishing-Verträge auf nationaler Ebene, in Verbindung mit Policies von Forschungsförderern und Hochschulleitungen sowie Nationalen Open Access-Strategien, haben die Landschaft grundlegend verändert.

Das vor allem Wissenschaftsverlage, die als Wirtschaftsunternehmen aufgestellt sind, auch so reagieren werden, dass sie Wege suchen, Entwicklungen in der Wissenschaftskommunikation in Übereinstimmung mit ihrem Geschäftsmodell zu bringen – das sollte niemand überraschen. Das ist es, was Wirtschaftsunternehmen tun (beziehungsweise tun müssen, weil ihre Konkurrenz, die anderen Verlage, es auch tun). Man kann das lang und breit kritisieren. Aber es ist erst einmal Fakt.

Wir haben heute eine Landschaft, in der immer mehr Zeitschriften grundlegend Open Access Publikationen sind (die meisten neu gegründeten sind ja auch reine Open Access Zeitschriften, im goldenen Weg, aber mit Article Processing Charges und / oder zugänglich für das Veröffentlichen im Rahmen von Read-and-Publishing-Verträgen). Alles andere sind Zeitschriften, die entweder “an den Rändern” existieren (gerade praxisorientierte Zeitschriften in Fachgebieten, die im DACH-Raum eher an der Fachhochschulen als den Universitäten angesiedelt sind), die in sehr spezifischen Fachgebieten existieren (beispielsweise im juristischen Bereich) oder die in gewisser Weise “legacy” sind – alt und schon immer gedruckt und ohne Open Access. Aber das sind nur (vielleicht sogar schrumpfende) Teile der wissenschaftlichen Zeitschriften. Ausnahmen halt.

Die haupstsächliche Realität für Forschende, für Hochschulen und für Bibliotheken ist: Open Access, in einer Form, wie es vor allem in die Geschäftsmodelle von Verlagen passt, ist etabliert und die Strukturen der Forschungsförderung, Forschungspolitik und auch der Bibliotheken sind darauf ausgerichtet, dieses Modell zu unterstützen. Daneben gibt es auch immer Versuche von Gegenbewegungen – Scientist Lead Journals, OJS-Instanzen, die von Hochschulbibliotheken gepflegt werden. Aber immer als Nebenthema.

Den Status Quo verfestigen

Wenn jetzt bei Umfragen, Projekten und so weiter, diese Situation nicht bedacht und auf sie reagiert wird, dann tragen die letztlich nur dazu bei, diese Situation weiter zu verfestigen. Sie erhalten dann das System anstatt Potentiale für andere Wege zu eröffnen.

Es hat den Eindruck, als wären die Begründungen für Open Access (also zum Beispiel das öffentliches finanziertes Wissen auch öffentlich zugänglich sein soll), die Ziele von Open Access (also vor allem, dass alles öffentlich geförderte Wissen als Open Access publiziert werden sollte, zu möglichst 100% und möglichst direkt) und auch die Vorstellungen davon, was die Haltung von Forschenden zu Open Access ist, einfach seit langem nicht mehr geupdatet worden. So, als würden in Umfragen immer wieder Fragen gestellt (und dann darauf aufbauend bestimmt Projekte in Bibliotheken durchgeführt), die auf den Vorstellungen aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Situation im Feld Open Access stammen.

Mein Beispiel aus der oben genannten Umfrage ist eine Frage danach, ob ich (als Forschender) denken würde, dass eine Open Access Zeitschrift weniger wissenschaftliche Reputation hätte als eine Closed Access Zeitschrift und deshalb nicht in ihr publizieren würde. Aber in immer mehr Wissenschaftsfeldern gibt es diese Frage gar nicht mehr: Alle Zeitschriften sind Open Access, da sie von den grossen Wissenschaftsverlagen verlegt werden (und dann oft in Read-and-Publishing-Verträgen drin sind). Und manchmal gibt es daneben Diamond-OA Zeitschriften oder Zeitschriften, hinter denen andere Körperschaften stehen (Plos One zum Beispiel). Die Forschenden in diesen Feldern können gar nicht entscheiden, ob sie in Open Access publizieren wollen, sondern nur noch, unter welchem Modell (und damit vielleicht mit welchem politischen und / oder moralischen Anspruch).

So eine Frage war vielleicht vor zehn, fünfzehn Jahren noch sinnvoll, als Bibliotheken (und andere) merkten, dass Forschende weniger oft in den damals existierenden Open Access Zeitschriften publizierten. Was waren die Gründe dafür? Und – bezogen auf Projekte, die in Bibliotheken und so weiter durchgeführt wurden – konnte man etwas dagegen tun? Also zum Beispiel dafür sorgen, dass mehr bekannt wird, dass Open Access Zeitschriften “genauso gut” sind, wie Closed Access Zeitschriften? Oder irgendwie anders die Reputation der Open Access Zeitschriften erhöhen? Dafür dann fragen, ob Forschende überhaupt an Reputation denken, wenn sie publizieren und ob sie eine Verbindung (und wenn es eine negative war) zwischen Reputation einer Zeitschrift und deren Open Access-Status herstellen – okay. 2008 mag das eine sinnvolle Frage gewesen sein. Aber nicht mehr 2023.

Professionalisierungseffekte?

Mir scheint immer wieder einmal, nicht nur bei solchen Umfragen, dass die Kolleg*innen, die im Bereich Open Access tätig sind – nicht alle, aber… immer mehr –, recht unbedacht einfach nur das Ziel “alles muss zu 100% Open Access sein” verfolgen, ohne sich so richtig klar zu machen, warum. Und auch ohne, dass sich über die Konsequenzen Gedanken gemacht wird. Dabei – ich weiss nicht, ob man das extra betonen muss – sind die Konsequenzen aktuell, dass die Wissenschaftsverlage einfach immer mehr Geld einfordern können und mehr Profit machen, während die aktive Teilnahme an der Wissenschaftskommunikation immer mehr geschlossen wird (also immer mehr davon abhängt, ob Menschen in Vollzeit an Forschungseinrichtungen und Universitäten arbeiten oder an anderen Einrichtungen und auch immer mehr, in welchen Ländern sie tätig sind). Und das ist, ehrlich gesagt, nichts, was ich gut finde. (Und warum ich zum Beispiel lieber der Zeitschrift eines Bibliotheksverbandes publiziere, die gedruckt wird und dann irgendwann, vielleicht, in einem schlechten PDF und ohne Lizenz, auf einer Homepage tief in den Verzeichnissen versteckt, veröffentlicht wird, als in einer Gold Open Access Zeitschrift.)

Vielleicht habe ich Unrecht. Und ich weiss auch, dass viele Kolleg*innen in den Bibliotheken und anderen Einrichtungen, die sich mit Open Access befassen, etwas anderes wollen. Aber mir fällt schon auf, dass diese Kolleg*innen, von denen ich das weiss, eher schon länger in diesem Bereich aktiv sind. Während die Umfragen und Projektberichte und so weiter, die mir Sorgen machen, eher von Kolleg*innen verantwortet werden, von denen ich vorher noch nichts gehört habe. Nicht selten habe ich deshalb die Vermutung, dass das eine neue Generation von Kolleg*innen ist – neu in dem Sinne, dass sie in den letzten Jahren zum Thema gekommen sind, zum Beispiel weil sie in einem Projekt als Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in eingestellt wurden und jetzt in diesem Rahmen eine Umfrage verfassen (und das meist, weil es so von jemand anders in den Projektplan geschrieben wurde und dann auf der Basis der Literatur zu Open Access, die in den letzten zwei Jahrzehnten verfasst wurde). Was nur verständlich ist. Wir kennen alle den Jobmarkt – und auch wenn der für die potentiellen Arbeitnehmer*innen in den letzten Jahren besser geworden ist, kann man sich gerade am Anfang des Berufseinstiegs oft nicht aussuchen, an was für einem Thema man arbeitet. (Nicht anders bin ich in das erste Projekt gekommen, das ich betreut habe.)

Aber mir scheint, diese neue Generation ist ein Zeichen für eine gewisse Professionalisierung im Bereich Open Access. Professionalisierung in dem Sinne, dass es immer mehr “ein Job ist”, der gemacht wird, weil man dafür eingestellt ist. Und immer weniger ein Job, den man macht, weil man selber von ihm – sagen wir es mal so – politisch oder moralisch überzeugt ist. Mir scheint, viele Kolleg*innen, die mit Open Access das Ziel der Veränderung der Wissenschaftskommunikation verbinden, sind zu diesem Bereich in einer Zeit gestossen, in dem noch nicht klar war, wohin der sich entwickeln würde. Sie haben wohl eher – sonst wären sie vielleicht nicht so lange dabei geblieben – ein über die eigentliche Arbeit hinausgehendes Interesse an ihm. Sie wollen (wollten?) etwas verändern. Und sie haben die Entwicklung des Feldes miterlebt, vielleicht sogar mitgestaltet. Die Kolleg*innen aus der “neuen Generation” kommen aber in das Feld (vielleicht) aus anderen Gründen (Weil sie einen Job brauchen? Weil ihnen der Job vorher noch weniger zusagen?). Vor allem kommen sie aber in ein Feld, in dem schon viel passiert ist und schon viel entschieden wurde. Darin müssen sie sich zurechtfinden. Dass das Feld eigentlich ein hochpolitisches ist, weil es darum geht, wer im Wissenschaftsfeld welche Macht hat, wie Ressourcen verteilt werden und so weiter, dass ist vielleicht nicht sofort klar.

Wenn das stimmt, dann ist das allerdings auch eine “natürliche” Entwicklung – Felder professionalisieren sich, indem Fragen geklärt, Entscheidungen getroffen, Policies, Regeln und Abläufe etabliert werden – und dann in einen “Normalbetrieb” übergegangen wird. Leute, die ein Feld am Anfang prägen, verlassen es irgendwann (spätestens mit der Rente) und dann besteht das Feld aus Personen, die in es kamen, als es schon professionalisiert war.

Aber: Auch wenn ein Feld professionalisiert ist, heisst das noch lange nicht, dass es immer nur in eine Richtung weiterentwickelt wird. Es nicht ausgemacht, dass die Entwicklung im Bereich Wissenschaftskommunikation immer Strukturen verfestigt, die die Macht der Wissenschaftsverlage aufrechterhalten. Das ist nur der Fall, wenn es einfach immer so weiter getrieben wird.

Für eine Repolitisierung von Open Access

Grundsätzlich, scheint mir, ist im Laufe der Zeit der politische Anspruch aus dem ganzen Feld Open Access verschwunden. (Oder vielleicht hätte ich mir immer gewünscht, dass es ihn gibt, obwohl das eher meine Hoffnung war – aber jetzt wird immer offensichtlicher, dass es ihn nicht gab / gibt?) Was ich damit meine, ist ein Ziel: Warum Open Access? Was für eine Landschaft der Wissenschaftskommunikation – und damit wohl dann auch, was für eine Gesellschaft oder zumindest was für ein Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft – wird angestrebt? Wer soll Macht über die Wissenschaftskommunikation und die Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, haben? Wie sollen diese Ressourcen verteilt werden?

Stattdessen scheint mir Open Access ist irgendwie “abzuarbeitende Aufgabe” geworden, wo es nur noch darum geht, Vorgaben der Forschungsförderung innerhalb der vorhandenen Strukturen irgendwie umzusetzen. Und nebenher hier und da andere Möglichkeiten offen zu halten. Aber dadurch werden die grundlegenden Strukturen mehr und mehr in einen “unveränderlichen Status Quo” überführt und festgeklopft – anstatt sie als veränderbar zu begreifen. (Was nur heisst, dass man die Vorstellungen der Wissenschaftsverlage selber – die sich als Zentrum der Wissenschaftskommunikation und Hauptprofiteur der Ressourcenverteilung sehen – und der Forschungsförderer – die sich immer mehr als Regulatoren der Wissenschaft sehen – umzusetzen hilft.)

Wie könnte eine andere Vorstellung aussehen? Mir scheint, das Ziel von Open Access – aus der Sicht von Forschenden und Bibliotheken – sollte klar formuliert (aber von wem?) und dann auch angestrebt werden. Die Verlage haben ihre Ziele (nach einigen Jahren, in denen sie anderes versucht haben) schon direkt angestrebt. Auch die Forschungsförderer. Da müssen Bibliotheken und Forschende nicht hinten anstehen.

Grundsätzlich, meiner Meinung nach, sollte es das Ziel sein, die Wissenschaftskommunikation entweder in die öffentliche Hand (das ist der Staat beziehungsweise die Staaten, zumindest in Demokratien) oder in die Hände von Forschenden selber zu bekommen. Forschungsförderer und -politik sollen dafür Ressourcen organisieren (und wohl auch, als Teil der Öffentlichkeit, Forderungen stellen). Wissenschaftsverlage und Bibliotheken sollen die dafür notwendige Infrastruktur stellen. (Braucht es dafür überhaupt Verlage – dass müssten die selber zeigen.)

Um so eine Situation zu erreichen, müssten die Begriffe geschärft und genauer benutzt werden (also nicht mehr einfach von Open Access reden oder in Umfragen und Projekten Gold und Diamond-OA als gleichwertig benutzen). Das Feld hat sich verändert, die anderen Akteur*innen im Feld haben agiert. Die alten Begriffe bezeichnen nicht mehr, was sie einmal bezeichnet haben.


Was ich vielleicht einfach sagen möchte: Das ganze Feld Open Access (betrachtet aus dem Blickwinkel von Bibliotheken und Forschenden) sollte mehr politisch verstanden werden. Auch in Projekten – die man ja irgendwie machen muss – sollte versucht werden, nicht einfach die vorhandenen Strukturen und Begrifflichkeiten zu reproduzieren und zu optimieren. Und es sollte auf der tatsächlichen Praxis von Forschenden aufbauen, nicht auf Kategorien, die in der Forschungspraxis ihre Definitionskraft verloren haben – weil nach und nach Open Access zur Norm geworden ist, nur halt in einer schlechten Form. Es geht nicht mehr um Open Access oder nicht Open Access, sondern (wieder / immer noch) um die Zukunft der Wissenschaftskommunikation.

Sollten (auch) Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

In diesem Blogpost möchte ich eine Frage diskutieren, bei der ich mir schon denken kann, dass sie nicht allen gefällt. Mir ist klar, dass irgendjemand zumindest denken wird, wie falsch das ist, dass ich ausgerechnet als Deutscher in die Schweiz komme und dann den Schweizer Bibliotheken dieses Thema auftische (auch wenn es jetzt erstaunlicherweise schon zehn Jahre sind, die ich hier bin). Und dennoch, die Frage drängt sich immer wieder auf. In den Kunstmuseen der Schweiz wird sie jetzt laut thematisiert. Selbst wenn ich sie nicht anspreche, wird irgendjemand anders es machen. Sie ist einfach zu naheliegend.

Deshalb: Sollten Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?

Die Frage impliziert, dass sie es bislang nicht tun. Ich kann da falsch liegen, aber mir ist kein Projekt, kein Arbeitsgang, kein Ansatz dazu bekannt. Zumindest als grösser besprochenes Thema ist es mir noch nicht untergekommen. Ich werde im Folgenden (1) kurz thematisieren, wie sich die Situation gerade in Kunstmuseen der Schweiz darstellt, (2) wie sie in deutschen und österreichischen Bibliotheken ist, (3) dann diskutieren, ob die schweizerischen Bibliotheken sich überhaupt die Frage stellen sollten, ob sie auch vom NS-Regime in den Nachbarländern profitiert haben. Ganz am Ende (4) gehe ich nochmal darauf ein, wie Bibliotheken in der Schweiz vorgehen könnten, wenn sie die Initiative übernehmen wollen (und nicht erst darauf warten wollen, dass es zu einem Skandal kommt und sie dann dazu getrieben werden).

1. Das kontaminierte Museum

Ein Buch, dass aktuell recht gut herumgeht, ist «Das kontaminierte Museum» von Erich Keller (Keller 2021). In diesem geht es um die Sammlung Bührle, welche jetzt für zwanzig Jahre im Kunsthaus Zürich ausgestellt ist. Emil Bührle war, wie man aus dem Buch lernt – wenn man es nicht schon vorher wusste –, einer der Industriellen, welche von der Schweiz aus während des NS die deutsche Wehrmacht mit bewaffnete (und vorher, dafür ist er erst aus Deutschland in den Schweiz eingewandert, illegal die Bewaffnung dieser Armee während der Weimarer Republik): In seinen Fabriken wurden in der Schweiz Waffen und Munition hergestellt, die zu grossen Teilen an die Wehrmacht verkauft wurden (später aber auch an die Alliierten, als dies geographisch möglich war).

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Gewinnen dieser Geschäfte der Aufbau einer privaten Kunstsammlung finanziert. Dabei profitierte Bührle direkt und indirekt vom nationalsozialistischen Staat. Der Kunstmarkt in Europa war damals davon geprägt, dass Menschen direkt und indirekt gezwungen wurden, die Kunstwerke, die ihnen gehörten, zu verkaufen (zum Beispiel um überhaupt fliehen zu können oder um im Exil zu überleben). Und davon, dass Kunstwerke beschlagnahmt und in grossen Massen wieder direkt im Auftrag des NS-Staats verkauft beziehungsweise versteigert wurden. Dies hatte Auswirkungen bis nach 1945.

Bührle konnte so für relativ wenig Mittel eine Sammlung anlegen und sich gleichzeitig als Mäzen des Kunsthauses Zürich etablieren. Im Buch von Keller geht es darum, wie diese Sammlung – die lange in einem Privatmuseum gezeigt wurde – quasi moralisch «gewaschen» wurde und heute als unbedenklich im aktuellen Neubau des Kunsthauses gezeigt wird. Es geht im Buch auch darum, wie die Politik in eine Studie zur Herkunft der Sammlung eingriff, wie die Familie und Stiftung Bührle versuchte, sich selber moralisch rein zu waschen und auch, wie sich die Sammlung in die Konzepte der Aufwertung der Stadt Zürich einfügte. (Er skandalisiert auch, dass dies gerade in einer rot-grün regierten Stadt passierte.)

Es ist also ein angriffiges Buch, aber mit gutem Grund. Was mich hier aber interessiert sind zwei Sachen: Keller zeigt anhand der Bührle-Sammlung, dass in der Schweiz selbstverständlich auch direkt und indirekt vom NS profitiert wurde. (Das ist nicht neu, es macht aber den Eindruck, als müsste man erstaunlich oft daran erinnern.) Und gleichzeitig zeigt er auch, wie Provenienzforschung dazu genutzt werden kann, die historische Verantwortung, die mit diesem Fakt einhergeht, zu verdecken oder aber anzugehen. Die Bührle-Stiftung legte nämlich eine eigene Forschung vor, die zeigen sollte, dass praktisch alle Bilder in der Sammlung eine ausreichend gesicherte Provenienz haben – und sprach sich dabei immer wieder von moralischen Fragen frei.

Dem entgegen steht, wieder bezogen auf die Schweiz, vor allem das Kunstmuseum Bern und das Kunstmuseum Basel. Beide betreiben seit einigen Jahren auch Provenienzforschung und gehen dabei anders vor als die Bührle-Stiftung und das Kunsthaus Zürich. Bei ihnen geht es nicht darum, möglichst keine moralischen Fragen aufkommen zu lassen, sondern sich diesen zu stellen. Im Fokus steht oft das Kunstmuseum in Bern, welches 2014 in den Besitz der Gurlitt Sammlung gelangte, nachdem es ihr im Testament Cornelius Gurlitts‘ zuerkannt wurde.

Zur Erinnerung: Cornelius Gurlitt war der Sohn des Kunsthändlers Hildebrandt Gurlitt. Dieser wurde 1930 unter anderem durch die NSDAP aus seinem Amt als Leiter des König-Albert Museums in Zwickau entlassen, weil er dort vor allem moderne Kunst förderte und weil er jüdische Vorfahren hatte. Er arbeitet dann nach 1930 und während des NS als Kunsthändler – und zwar auch als einer derer, welche vom NS-Staat eingesetzt wurden, um im grossen Stil beschlagnahmte Kunst zu veräussern. 2012 dann wurden bei Cornelius Gurlitt rund 1500 Werke der Sammlung seines Vaters entdeckt, die praktisch dann erst einmal alle unter Raubgut-Verdacht standen. Die Situation Gurlitts, des Vaters, einerseits gut in der Kunstszene der 1920er und 1930er vernetzt gewesen zu sein, andererseits sich mit dem NS arrangieren zu können, liess nicht klar erkennen, woher diese Bilder stammten und unter welchen Umständen sie erworben wurden. Als das Kunstmuseum Bern dieses Erbe annahm, übernahm es auch die Verantwortung, die Provenienzen dieser Bilder zu klären. Bislang bestätigte sich der Raubkunstverdacht nur bei wenigen Werken, bei anderen ist die Provenienz nicht zu klären.

Es ist also auch in der Schweiz möglich, dass ein Museum sich zu fragen beginnt, woher eigentlich die Werke in seinem Besitz stammen und welche moralischen Fragen sich an diesen Besitz knüpfen. Die Gurlitt Sammlung kam von aussen an das Museum und es ist auch auffällig, dass erst damit eine regelrechte Provenienzforschung eingerichtet wurde. So, als wäre es bei der anderen Sammlung in Bern nicht notwendig gewesen. Dem steht aber nicht gegenüber, das die Bührle-Stiftung es immerhin als notwendig ansah, moralischen Verdacht an ihrer Sammlung (mehr oder weniger erfolgreich) auszuräumen, sondern auch, dass das Kunstmuseum Basel von sich aus in den letzten Jahren begann, die Herkunft der eigenen Sammlung zu hinterfragen und auch – wie das Kunstmuseum Bern – Werke zu restituieren, wenn sich ein Raubkunstverdach erhärtet.

Es gibt also verschiedene Möglichkeiten und es ist eine Entscheidung der Museen (und vielleicht der Politik der jeweiligen Stadt und anderen Träger), wie mit diesem historischen Erbe umgegangen wird.

Was diese Beispiele aber auch zeigen, ist, dass ein Verdrängen der Fragen nur den Zeitpunkt verschiebt, wann sie auftauchen und angegangen werden. Man kann nicht einfach hoffen, dass sie verschwinden werden, sondern muss als Einrichtung immer damit rechnen, dass sie wieder auftauchen. Oft als Skandal. Nur, wenn sich ihnen aktiv gestellt wird, kann man dies irgendwann ausschliessen. (Ganz abgesehen von der moralischen Frage, ob man überhaupt hoffen sollte, dass sie irgendwann, irgendwie vergessen gehen.)

Und: Es ist ja auch nicht so, als hätte die Schweiz keine Erfahrung mit problematischen Geschichten, die verdrängt wurden und dann doch wieder auftauchten. In den letzten Jahren sind zum Beispiel so viele Publikationen zur Verbindung der Schweiz zum Kolonialismus (direkt (Falk et al. 2013, Purtschert & Fischer-Tiné 2015) und indirekt (Schär 2015)) erschienen, dass niemand mehr ernsthaft behaupten kann, dass es diese Verbindungen nicht gegeben hätte. Und jetzt – wieder sichtbarer in Museen als in anderen Bereichen – muss sich damit auseinandergesetzt werden. Vorher war es die Geschichte der «Verdingkinder» und der „Administrativen Versorgungen“ in der Schweiz, mit der sich die Öffentlichkeit und die Strukturen von Politik, Verwaltung und Jugendhilfe auseinandersetzen mussten. (beispielsweise Leuenberger et al. 2011, Guggisberg 2016, Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen 2019)

2. Provenienzforschung in deutschen und österreichischen Bibliotheken

Auch in Deutschland und Österreich dauerte es Jahrzehnte, bis sich Bibliotheken der Verantwortung im Bezug auf den NS stellten. Wirklich begann dies erst Ende der 1990er Jahre, unterstützt durch die «Washingtoner Principles» (zu denen siehe zum Beispiel bei Sarr & Savoy 2018, Hoffrath 2020), nachdem längst alle Beteiligten das Bibliothekswesen verlassen hatten (entweder in Rente waren oder tot). Aber was damals als Einzelprojekte begann, ist heute eine gewissermassen professionelle Organisation:

  • Bibliotheken haben sich Wissen dazu angeeignet – mit Rückgriff auf historische Methodiken, aber auch der Arbeit am Bestand selber – wie vorzugehen ist, um mögliche Problemfälle im Bestand zu identifizieren und zu überprüfen, um Forschungen zur Herkunft von Büchern anzustellen und, im Falle, dass sich ihre Provenienz als problematisch herausstellt, Kontakt zu Erben herzustellen und mit ihnen über die Rückgabe der betroffenen Bücher zu verhandeln. Es gibt etablierte Arbeitsabläufe.
  • Das es solche Bestände gibt und das es notwendig ist, die moralische Schuld zu übernehmen, ist heute im deutschen und österreichischen Bibliothekswesen eine etablierte Position. Auf Konferenzen werden Veranstaltungen zum Thema organisiert, auf denen es oft mehr um Detailfragen beim methodischen Vorgehen oder um Fragen der Ausweitung der Provenienzforschung geht und gar nicht mehr – weil das geklärt ist – um moralische Fragen. Publikationen zum Thema – sowohl als Monographien als auch eigenständige Artikel – sind so zahlreich, dass sich kaum noch zu überblicken sind. (nur drei: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern 2007, Bödeker & Bötte 2008, Hoffrath 2020) Mit der «DBV Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung», der «VÖB AG NS-Provenienzforschung» und – etwas umständlich – der AG Provenienzforschung in Bibliotheken im Arbeitskreis Provenienzforschung (sonst eher von Museen geprägt) existieren auch etablierte Strukturen für dieses Thema.
  • Die Erfahrung ist zweigeteilt: Erstens findet sich sehr viel «NS-Gut» in den deutschen und österreichischen Bibliotheken, wenn man nur genau schaut. Nicht nur solches, dass direkt Opfern des NS entzogen und in Bibliotheken untergebracht wurden, sondern auch solches, bei dem es mehrere Schritte gab zwischen diesen Opfern und den Bibliotheken, in denen die Bücher jetzt stehen (beispielsweise den Antiquariatsbuchhandel oder auch andere Bibliotheken). Es ist auch klargeworden, dass es nicht eine oder zwei Opfergruppen gibt, von denen Bücher entzogen worden. Es geht nicht nur um Bücher, die Jüd*innen entzogen wurden, sondern auch um solche von, zum Beispiel, Freimauer-Logen, sozialistischen, kommunistischen, sozialdemokratischen und ähnlichen Parteien, Gruppen, Gewerkschaften, oder auch aus Bibliotheken besetzter Länder. Zweitens aber zeigt sich auch, dass eine Provenienz als NS-Gut nicht immer heisst, dass diese Bücher aus dem Bestand der Bibliothek entfernt werden müssen. Eine Anzahl von Erben nehmen die Bücher wieder an sich – was ja auch ihr gutes Recht ist –, aber andere lassen die Bücher in den Bibliotheken stehen, mit einem Verweis in den Büchern und Katalogen. Warum wird unterschiedliche Gründe haben, aber oft wird erwähnt, dass es darum geht, eine Erinnerung an die Opfer an den Orten zu lassen, in denen sie lebten (oder als Organisationen aktiv waren). Oft sind also Einigungen möglich – wenn sich Bibliotheken ihrer Verantwortung stellen.
  • In den letzten Jahren weiten sich auch die Themen aus, über die in der Provenienzforschung gesprochen wird. Schaut man heute auf die Homepage der erwähnten DBV-Kommission, werden neben dem NS auch im Zweiten Weltkrieg «verlagertes Gut», Kolonialismus und DDR-Unrecht erwähnt. Die – im Falle dieser Kommission deutsche – Geschichte ist voller Verbrechen (die man nicht miteinander vergleichen sollte, sie sind alle für sich zu bewerten), in denen es auch oft um Bücher und Wissen ging. Es werden wohl noch einige dazukommen, mit denen sich die Kommission in Zukunft beschäftigen wird.

3. Ist die Schweiz so «schuldig», dass Bibliotheken sich damit beschäftigen müssen?

Wenn ich gerade gesagt habe, dass die deutsche Geschichte noch eine ganze Zahl an Verbrechen oder moralisch schwierige Punkte hat, auf die die bibliothekarische Provenienzforschung auch noch stossen wird, ist das kein Problem für mich. Das ist das Land, aus dem ich stamme (also, auch nicht wirklich – geboren und aufgewachsen in der DDR ist das auch noch mal eine besondere Situation), und ich war nie mit ihm oder seiner Politik zufrieden (auch wenn es immer schlimmer sein könnte). Schwierige Punkte der deutschen Geschichte aufzählen – da kann ich immer mitmachen.

Aber zumindest bislang habe ich die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht. Ein wenig habe ich schon Bedenken, vor allem mit der deutschen Geschichte im Rücken, als jemand daherzukommen und die Bibliotheken hierzulande moralisch zu bewerten. Ich hoffe, dass sie es selber machen. (Im Museumsbereich passiert dies ja.)

Denn, wie schon bei der Bührle-Sammlung zu lernen war, geht es nicht unbedingt um rechtliche Fragen. Es geht auch nicht darum, welche Bibliothek damals «etwas falsch gemacht hat». Fast alle Beteiligten sind – wie hart das auch klingen mag – jetzt tot. Es geht um moralische Fragen, nicht mehr darum, wer für per Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es geht, so wie es Keller (2021) in seinem Buch über die Bührle-Sammlung darstellt, um die Entscheidungen, die heute in der schweizerischen Gesellschaft getroffen werden.

Deshalb möchte ich hier, in diesem Abschnitt, aber etwas anderes fragen, dass nicht gleich als moralischer Vorwurf verstanden werden kann: Wie wahrscheinlich ist denn überhaupt, dass in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut steht?

Ein Argument nämlich, dass – wie man am Beispiel der Bührle-Sammlung lernen kann – vorgebracht werden könnte, ist, dass die Schweiz nicht am NS beteiligt gewesen sei, sondern ein demokratischen Hafen geblieben wäre. Das ist selbstverständlich historisch falsch: Die Schweiz war immer Teil von Netzwerken mit den umgebenden Ländern (Tanner 2015) und die waren, mit Ausnahme Liechtensteins, halt über mehrere Jahre nationalsozialistisch oder faschistisch. Das die Schweiz mit dieser Realität umgehen musste und dabei nicht immer die moralisch richtigsten Entscheidungen getroffen hat, ist eigentlich seit dem Abschlussbericht der Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002) etabliertes Wissen. Nicht zuletzt wurde oben ja schon mit Emil Bührle eine Person angesprochen, die genau von dieser Situation profitierte. (Keller 2021)

Aber es ist richtig: Es wäre überraschend, wenn Bibliotheken in der Schweiz direkt und ohne Umwege zum Beispiel von der Gestapo Bestände, die von Opfern des NS eingezogen wurden, überlassen worden wärem. Das passierte eher in Deutschland in seiner damaligen Ausdehnung. (Ob es wirklich nicht vorkam, das könnte man aber nur mittels historischer Forschung klären.)

Aber indirekt können schweizerische Bibliotheken sehr wohl profitiert haben. Der NS führte auch zu moralischen Problemen, die über ihn hinausgingen. Ein Beispiel, über das Anatole Stebouraka (2019) berichtet: Am Ende des Zweiten Weltkrieges konfizierte die Rote Armee in Deutschland unter anderem Buchbestände und Kunstobjekte in grosser Zahl, die alle in die Sowjetunion verbracht wurden. Die Begründung dafür war, dass diese als Reparationen für die Sammlungen dienen sollten, welche die Nazis aus der Sowjetunion entwendet oder zerstört hatten. Genauso wie das Vorgehen der Nazis war dieses Vorgehen nach internationalem Recht nicht wirklich gedeckt. Die Haager Landkriegsordnung steht dem entgegen. Aber – die moralische Position war für die Rote Armee haltbarer. Die systematische Zerstörung der Bibliotheken in der Sowjetunion war Realität gewesen. Die Idee, dafür Bücher aus deutschen Bibliotheken als Ausgleich zu konfizieren, ist zumindest nachvollziehbarer. Und: Ohne NS wäre es dazu nie gekommen.

Allerdings, das ist der Punkt bei Stebouraka, ist dies moralisch durch die verflossene Geschichte noch schwieriger geworden. Sie arbeitet selber in der belorussischen Nationalbibliothek in Minsk, dort lagern immer noch einige der damals von der Roten Armee konfizierten Bestände. Weissrussland ist ein Nachfolgestaat der Sowjetunion – aber ist es auch der moralische Nachfolger? Und: Die Bestände dort in Minsk sind in Teilen nicht direkt aus Deutschland, sondern offensichtlich zuerst von den Nazis aus französischen Bibliotheken zusammengetragen worden. Die Rote Armee hat also einmal gestohlene Bestände noch einmal gestohlen. Sollten die jetzt nach Frankreich zurückgegeben werden? Sollte dafür dann zum Beispiel von Deutschland oder Österreich eine Reparation eingefordert werden, weil sie ja eigentlich als Ersatz für zerstörte sowjetische Bestände galten? Stebouraka hat keine Antwort darauf. Aber ihre Geschichte zeigt, wie verzweigt die Fragen sein können. Es geht nicht nur um direkte Beziehungen zum NS-Staat.

Nimmt man zusammen, was man zum Beispiel über den Kunstmarkt während des NS, aus der Provenienzforschung in Bibliotheken, aus der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert und halt solche Geschichten wie der eben erzählten weiss, so finden sich mehrere theoretische Möglichkeiten, wie Bibliotheken in der Schweiz von Notlagen, die der NS geschaffen hatte, profitiert haben könnten:

  • Der Buchmarkt in Europa war, durch die ständigen Konfizierungen, «überschwemmt», genauso wie der Kunstmarkt: Der NS-Staat versuchte bekanntlich die Kunst, die er offiziell ablehnte, zu verkaufen, um Mittel für andere Zwecke zu erhalten. Gleichzeitig waren immer mehr Menschen gezwungen, selber Mittel aufzubringen, um vor den Nazis fliehen zu können, und mussten in dieser Notlage nicht nur für ihre Kunstwerke, sondern zum Beispiel auch für ihre Bücher, praktisch jeden Preis annehmen. Bücher, genauso wie Kunst, waren auf einmal in den 1930ern und 1940er Jahren in grosser Zahl und zu geringen Preisen auf dem Buchmarkt zu erhalten. Es wäre erstaunlich, wenn Bibliotheken in der Schweiz diese Möglichkeiten nicht auch genutzt hätten (schon weil die meisten dieser Bücher wohl in Landessprachen der Schweiz geschrieben waren) – zumal sie nicht einmal direkt über deutsche Antiquariate gehen mussten, falls sie moralische Bedenken gehabt haben. Auch, zum Beispiel, in Frankreich profitierte der Kunstmarkt und wohl auch der Buchmarkt. Und selbstverständlich konnte auch der schweizerische Buchhandel als Schnittpunkt agieren. (Keller 2018 deutet dies z.B. gerade für den kommunistischen zürcher Buchhändler Theo Pinkus an.)
  • Bibliotheken in Deutschland erhielten direkt Bücher aus den Konfizierungen oder aber konnten bei Versteigerungen, Verkäufen und so weiter billig an diese gelangen. Ein guter Teil davon werden Dubletten gewesen sein, die dann im normalen Dublettentauschen zwischen Bibliotheken eingesetzt werden konnten. Auch auf diesem Weg konnte NS-Raubgut in schweizerische Bibliotheken gelangen.
  • Einige Menschen konnten dem NS entfliehen und von diesen wieder einige konnten Teile ihres Eigentums mitnehmen. Auch in die Schweiz. Dort waren sie dann darauf angewiesen, ihr Überleben irgendwie zu sichern. Viele taten dies zumindest für eine Zeit, indem sie das veräusserten, was sie hatten. Auch so konnte (das wieder ein Beispiel aus der Bührle-Sammlung (Keller 2021)) zum Beispiel Kunst billig erworben werden – weil Menschen irgendwie überleben mussten. Es ist gut möglich, dass dies auch für Bücher galt. Waren diese Verkäufe, falls es sie gab, rechtlich einwandfrei? Bestimmt. Die Frage wäre aber, waren sie es dann auch moralisch?

4. Wie könnten schweizerische Bibliotheken vorgehen?

Ist das überzeugend? Vielleicht nicht für alle. Aber ist es nicht zumindest so, dass der Verdacht stark ist, dass auch in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut und Bücher, die dort nur wegen der Zwangslagen, die der NS produzierte, stehen, zu finden sind? Zumal grosse Bibliotheken in der Schweiz grosse historische Sammlungen haben, weil sie auch heute noch wenig aus dem Bestand entfernen – also auch Bücher, die in den 1930ern und 1940ern erworben wurden, noch zu grossen Teilen erhalten sind. Mir scheint, der Verdacht wird solange bestehen, solange er nicht untersucht wurde – wohl am Besten mit den Methoden der Provenienzforschung, die jetzt in Deutschland und Österreich etabliert sind. Welche Entscheidungen dann aus den Ergebnissen dieser Forschung gezogen werden, dass wäre dann (nochmal der Verweis auf das unterschiedliche Vorgehen der Kunstmuseen in Zürich, Bern und Basel) eine Aufgabe für die betroffenen Bibliotheken. (Und, ich sehe schon mal voraus, dass sich, falls sich Bestände finden, garantiert auch welche im gemeinsamen Bestand in der Speicherbibliothek in Büron finden werden – was nur noch mehr Fragen aufwerfen wird. Wer darf denn über die entscheiden?)

Aber mir scheint, es gibt auch eine gute Seite: Die schweizerischen Bibliotheken müssten für eine solche Provenienzforschung nichts neu erfinden. Historische Forschungen, die den Kontext für solche Arbeit und dann vielleicht später zu treffende Entscheidungen über aufgefundene Bestände, liefern, wurden schon durchgeführt. Methoden wurden auch schon entwickelt. Bibliotheken müssten dies nur zusammenführen: Man müsste die Kolleg*innen aus Deutschland und Österreich, die ja auch schon in Strukturen organisiert sind, einbeziehen, ebenso die Forschenden, die sich mit der schweizerischen Geschichte dieser Jahre befasst haben.

Wichtig wäre zuerst wohl, einen Überblick zu bekommen, viele Bücher (und vielleicht andere Medien) überhaupt in Betracht kommen für diese Provenienzforschung. Im Verdacht stehen – so war das in deutschen und österreichischen Bibliotheken auch – erstmal alle, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden (aus Italien wohl auch schon früher) und wohl auch einige, bei denen es einige Jahre später passierte. Eine Anzahl davon wird man schneller vom Verdacht befreien können. Aber wie viele, wird wohl nur eine Autopsie am Bestand selber zeigen.

Wer sollte das organisieren, wer finanzieren? In Deutschland und dann Österreich begann es mit kleinen Projekten in einzelnen Bibliotheken, teilweise in der Freizeit von Bibliothekar*innen durchgeführt, teilweise von den Bibliotheken finanziert. Heute ist die Situation etwas besser: Es gibt Fördermöglichkeiten und, wieder mit den erwähnten Strukturen, auch eine gewisse Lobby, um solche Fördermöglichkeit von der Politik oder Forschungsförderung – die in diesen Staaten, im Gegensatz zu Schweiz, eine Tradition der Infrastrukturförderung hat – einzufordern. Es ist aber weiterhin eine Mischsituation: Viel Eigeninitiative, viel Finanzierung durch die Bibliotheken selber, ein wenig Förderung durch den Staat. (Ich wäre nicht erstaunt, wenn Studierende, nicht nur aus Bibliotheksstudiengängen, sondern auch der Geschichtswissenschaft, mittels Praktika, Projekten oder Abschlussarbeiten dafür auch herangezogen werden.)

Wichtig ist, dass mehr und mehr Personen und Strukturen Verantwortung übernehmen und dass mit den Strukturen, Publikationen und Treffen sich über Erfahrungen ausgetauscht wird. So entsteht unter anderem auch ein Überblick dazu, was noch nicht untersucht wurde.

Aber ja: Falls mich jemand fragen würde, wie in der Schweiz vorgegangen werden sollte, wäre das meine Antwort:

  1. Bibliotheken sollten Arbeitszeit dafür bereitstellen.
  2. Es sollte eine Struktur ähnlich der in Deutschland und Österreich gegründet werden (eine Kommission oder Arbeitsgruppe von bibliosuisse würde sich anbieten).
  3. Es sollte sich über diese Strukturen in Deutschland und Österreich darüber informiert werden (das kann auch über die zahlreichen Publikationen geschehen, aber… warum nicht direkt fragen?), wie dort vorgegangen wird und dies dann auf die Schweiz übertragen werden.

Wie würde das ausgehen? Da wage ich keine Vorhersage. Meine Wahrnehmung der Schweizer Geschichte ist, dass dieses Land so vernetzt mit der Geschichte all der umgebenden Länder ist, dass sie an allen Anteil hat. Auch, aber nicht nur, dem Schlechten. Insoweit würde es mich wohl überraschen, wenn sich keine problematischen Bestände fänden. Aber wohl weniger, als in deutschen oder österreichischen Bibliotheken.

Was ich mich traue vorherzusagen, ist, dass sich die Provenienzforschung nicht auf den NS beschränken wird. Nicht nur, weil das in Deutschland schon passiert ist (siehe oben). Sondern, weil es sich aufdrängt: Wenn die Schweiz so vernetzt mit der ganzen europäischen Geschichte (im mindesten) ist, wird es auch eine Reihe weiterer Themen geben, bei denen Bibliotheken in der Schweiz von problematischen Situationen profitiert haben – und einige davon werden moralisch schwierig oder falsch gewesen sein. (Andere wieder vielleicht nicht. Die Schweiz hat immer auch viel von Personen profitiert, die von anderswo flohen und dann hierzulande ihre Kompetenzen einsetzen konnten. Das kann auch zum Beispiel bei Personal in Bibliotheken der Fall gewesen sein.)

Entkommen wird man dem aber nicht. Irgendwann kommen die Themen auch so auf. Weil, wie auch schon gesagt, die Geschichte voll solcher Situationen ist und weil Verdrängtes sich schon immer seinen Weg sucht, wieder aufzutauchen.

Literatur

  • Bödeker, Hans Erich ; Bötte, Gerd-J. (Hrsg.) (2008). NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek: Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. Berlin, Boston: K. G. Saur, 2008
  • Falk, Francesca ; Lüthi, Barbara ; Purtschert, Patricia (2013). Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012
  • Guggisberg, Ernst (2016). Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsverein 1948-1965. Baden: hier + jetzt, 2016
  • Hoffrath, Christiane (2020). Provenienzforschung und Provenienzerschließung in Bibliotheken: ein Rück- und Ausblick. In: Bibliotheksdienst 54 (2020) 10: 820-832, https://doi.org/10.1515/bd-2020-0095
  • Keller, Erich (2021). Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle. Zürich: Rotpunktverlag
  • Keller, Erich (2018). Der totale Buchhändler: Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie, 26 (2018) 2:126-148, https://doi.org/10.7788/ha-2018-260203
  • Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hrsg.) (2007). Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution: Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2007
  • Leuenberger, Marco ; Mani, Lea ; Rudin, Simone ; Seglias, Loretta (2011). „Die Behörde beschliesst“ – Zum Wohl des Kindes?: Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912-1978. Baden: hier + jetzt, 2011
  • Purtschert, Patricia ; Fischer-Tiné, Harald (edit.) (2015). Colonial Switzerland: rethinking colonialism from the margins. Zürich: seismo, 2015
  • Sarr, Felwine ; Savoy, Bénédicte (2018). Restituer le patrimoine african. Paris: Philippe Rey /Seuil, 2018
  • Schär, Bernhard C. (2015). Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015
  • Stebouraka, Anatole (2019). Livres français spoliés dans les collections de la Bibliothèque nationale du Bélarus. In:Poulain, Martine (coor.) (2019). Où sont les bibliothèques françaises spoliées par les nazis ?. Villeurbanne: presses l´enssib, 2019: 81-98, https://books.openedition.org/pressesenssib/7892
  • Tanner, Jakob (2015). Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2015
  • Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (2019). Organisierte Willkür: Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930-1981. (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A) Zürich, Chronos; Neuchâtel, Éditions Alphil; Bellinzona, Edizioni Casagrande, 2019
  • Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002). Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo, 2002

Advocacy für Bibliotheken: Erinnert sich wer?

Aufgabe von Verbänden ist es immer, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, was (auch) heisst, Lobbyarbeit zu betreiben. Für Bibliotheksverbände heisst dies dann, Lobbyarbeit für Bibliotheken zu machen. (Auch wenn einige Verbände dabei zweigespalten sein müssen, weil sie sowohl die Institutionen als auch das Personal vertreten – also in vielen Fällen zwei Seiten zu einer Frage gleichzeitig. Aber das ist ein anderes Thema.) Diese Arbeit bezieht sich oft auf «die Öffentlichkeit» im Allgemeinen und «die Politik» auf nationaler und Landes-/Kantonsebene. Auf lokaler Ebene – also vor allem auf Ebene der Gemeinden – betreiben sowohl Bibliotheken selber als auch manchmal andere Vereinigungen (zum Beispiel Freundeskreise oder im Krisenfall Ad-hoc Bündnisse) solche Arbeit.

Wenn das wie eine selbstverständliche Aussage klingt, dann, weil es so allgemein akzeptiert ist. Es gibt solche Aktivitäten immer wieder und sie werden auch immer wieder neu aufgegleist. Oder anders: Es gibt schon viele Erfahrungen mit unterschiedlicher Lobbyarbeit für Bibliotheken (oder auch vergleichbaren Einrichtungen, Museen sind zum Beispiel auch recht aktiv). Das Erstaunliche ist aber, dass diese Erfahrungen kaum genutzt werden. Schaut man sich an, was Verbände, Bibliotheken und andere Vereinigungen an Lobbyarbeit für Bibliotheken machen, fällt schnell auf, dass immer wieder ähnliche Ideen verfolgt, ähnliche Projekte aufgesetzt und auch, wenn überhaupt, am Ende ähnliche Berichte zu diesen Aktivitäten publiziert werden. Was auch auffällt ist, dass kaum über tatsächliche Erfolge (oder Misserfolge) solcher Aktivitäten berichtet und diskutiert wird. Grundsätzlich ist das vielleicht auch nicht nötig: Das Verbände Lobbyarbeit machen scheint so normal, dass es nicht hinterfragt wird. Aber fraglos wäre es besser, über die Erfolge und Misserfolge dieser Aktivitäten nachzudenken. Das würde potentiell die weitere Arbeit auf diesem Gebiet besser machen (und damit, idealerweise, wohl positive Effekte für Bibliotheken haben). Darum soll es im Folgenden gehen.

Die Krise britischer Bibliotheken – und die Lobbyarbeit für sie

Ausgangspunkt soll dabei das Buch Bibliothèques publiques britanniques contemporaines: autopsie des années de crise sein.1 In diesem geht es grundsätzlich um die Krise, in welcher sich das britische Öffentliche Bibliothekswesen seit mehr als zehn Jahren befindet. Die Autor*innen schildern hier, wie tiefgehend dieser Krise ist, wie sie sich in Zahlen ausdrückt, aber auch, wie sehr sie Ergebnis politischer Entscheidungen war / ist.2 Ihr Fokus liegt auf den Regierungsjahren von David Cameron (2010-2016), aber die Krise ist weitergegangen.

Der zweite und letzte Teil des Buches widmet sich dem, was im Buch als «advocacy» beschrieben wird: Unterschiedliche Formen von Lobbyarbeit für Bibliotheken. Hier werden viele Beispiele von verschiedenen Formen von Protesten, von direkter Lobbyarbeit, vom Eintreten für lokale Bibliotheken oder für Bibliotheken im Allgemeinen – beispielsweise durch Autor*innen – dargestellt. Gerade weil dabei viele Beiträge direkt von Aktiven (ins Französische übersetzt) übernommen wurden, finden sich hier auch viele Argumente, die bei deiser Advocacy für Bibliotheken gesammelt wurden. Auf der einen Seite zeigt dieser Teil des Buches eine beeindruckende Breite an Aktivitäten. Auf der anderen Seite zeigt er auch ein Scheitern an: Die meisten dieser Proteste, dieser Lobbyarbeit und so weiter haben nicht dazu geführt, dass Bibliotheken «gerettet» wurden oder das die Krise des britischen Öffentlichen Bibliothekswesens beendet worden wäre. Die Erfolge all dieser Aktivitäten waren gering. Irritierend ist ein wenig, dass das in diesem Buch nicht einmal thematisiert wird, sondern das es nach der Darstellung endet.

Dabei wird im ersten Teil des Buches dargestellt, dass diese Krise Ergebnis politischer Entscheidungen auf einer anderen Ebene waren, als die der Bibliotheken. Es geht dabei um das spezifische Verständnis von Gesellschaft und den Aufgaben von Staat und Gesellschaft, die von den Regierungen unter David Cameron vertreten wurden. Diese ideologischen Weichenstellungen mögen in der Radikalität, mit der es damals umgesetzt wurden, eine britische Besonderheit sein. Aber was mich hier interessiert, sind zwei Sachen:

  1. Die auffällige Differenz zwischen den politischen Entwicklungen (also vor allem dem Umbau des britischen Sozialstaates und die Etablierung neoliberaler politischer Vorstellungen), welche als Hauptgrund der Krise dargestellt werden und den Aktionen für Bibliotheken, die dann geschildert werden. Die politischen Entwicklungen gingen (so das Buch) dahin, dass sich der Staat aus der Finanzierung der gesellschaftlichen Infrastruktur zurückzieht und der Gesellschaft (in Form von Vereinen und ähnlichen Institutionen) überträgt. Die Argumentationen für Bibliotheken gingen dahin, den gesellschaftlichen Wert der Bibliotheken zu betonen, teilweise zu quantifizieren, und für den Erhalt der vorhandenen Bibliotheken einzutreten. Das sind zwei sehr unterschiedliche, sogar zum Teil widersprüchliche Sachen.
  2. Auf Seiten der Advocacy für Bibliotheken waren die eigentlichen, langfristigen Ziele kaum klar. Es ging oft um den Erhalt des Status Quo, also beispielsweise einer Bibliothek oder des gesamten Netzes von Bibliotheken. Aber dann? Was war das langfristige Ziel? Auch, wenn zum Beispiel mit Versuchen, den Wert von Bibliotheksleistungen für die Gesellschaft zu berechnen, über den lokalen Rahmen hinausgegangen wurde, war nicht klar, was genau das Ziel war. Wenn zum Beispiel Labor wieder (einmal) in Grossbritannien regieren würde, was genau sollte die Regierung dann tun? Über das «rettet die Bibliothek / die Bibliotheken, wie sie gerade ist / sind» ging die ganze Lobbyarbeit kaum hinaus.

Beispiele aus dem DACH-Raum

Das Buch ist aus Frankreich und es handelt von Grossbritannien. Aber es illustriert gut eine Struktur der Lobbyarbeit für Bibliotheken, die sich auch im DACH-Raum findet. Einige Beispiele:

Ökonomischer Wert der Bibliotheken

Vor zehn, fünfzehn Jahren wurden recht viele Arbeiten dazu geschrieben, wie man den «Wert von Bibliotheken» berechnen könnte. Es gab einige Projekte dazu und immer noch findet sich auf dem Bibliotheksportal des Deutschen Bibliotheksverbandes der «Bibliothekswertrechner»,3 bei dem Bibliotheken eingeben können, wie viele Medien sie verliehen haben und so weiter, um dann einen Wert in Euro geliefert zu bekommen, den die Bibliothek «wert» sei. Es gab und gibt andere Formeln, um solche Wert zu errechnen. Zum Beispiel werden in den sozialen Medien immer wieder einmal Bilder von Bibliotheken aus dem Ausland geteilt, auf deren Ausleihquittungen Werte angegeben werden, wie viel Geld die jeweiligen Nutzer*innen mit dieser Ausleihe oder den Ausleihen des letzten Jahren schon gespart hätten. Ebenso gab es ähnliche Ansätze wie «willingness to pay»-Studien, wo versucht wurde, den Wert von Bibliotheken zu messen, indem man fragt, was Leute sonst bereit wären, für bestimmte Angebote zu zahlen.

Die Idee kommt auch immer wieder einmal auf, dass man solche Werte bräuchte, um Werbung für Bibliotheken machen zu können. (Was… manchmal erstaunlich ist.) Auch im oben besprochenen Buch finden sie sich.

Hinter diesem Ansatz stand wohl immer die – manchmal angedeutete, manchmal nicht ausgesprochene – Vorstellung, dass Bibliotheken dann gut abschneiden würden, wenn sie zeigen könnten, dass die Bevölkerung durch sie viel einspart oder mehr Wert «erhält», als sie über die Steuern und / oder Nutzungsgebühren bezahlt hätte. So was in der Art. Aber: Abgesehen davon, dass das selbstverständlich auch andere Einrichtungen behaupten können – und es gab und gibt immer auch willingness zu pay-Studien zu Museen, Parks und so weiter, in denen dann auch gezeigt wird, dass diese Einrichtungen mehr Wert «bringen» als sie kosten – ist zumindest mir nie ein Text untergekommen oder eine Geschichte erzählt worden, wo dies einen positiven Effekt hatte.

Es ist auch nicht klar, wie genau das funktionieren soll: Sagen wir wieder einmal, eine Politikerin kriegt diese Zahlen auf den Tisch – was dann? Was soll sie tun? Selbst wenn diese zum Beispiel mit der Forderung verbunden wären, zum Beispiel in einem Flugblatt, deshalb eine Bibliothek nicht zu schliessen, kann die Politikerin wenig mehr tun, als dann gegen die Schliessung zu stimmen, wenn es zur Abstimmung kommt. Aber wird sie dass wegen solcher Zahlen tun?

Auffällig war eigentlich immer, dass mit solchen Angaben vom «Wert» von Bibliotheken die Überzeugung verbunden war, dass solche Nachweise des eigenen Werts eine Bedeutung in der Politik haben. Aber so funktioniert Politik ja nicht. Es geht um Macht und Verteilung von Macht, um das Identifizieren von Problemen, den Entwurf von Lösungsmöglichkeiten, die Etablierung von Alternativen, die Durchsetzung ideologischer Programme. Das ist Politik. Argumente aller Art, auch solche, die in Geldwerten ausgedrückt werden, sind nur ein kleiner Bestandteil, der nicht von sich aus überzeugt.

Was nötig wäre, wenn man die Idee vertritt, mit solchen Nachweisen Lobbyarbeit zu betreiben, wäre zu sagen, welchen Effekt diese Zahlen haben sollen: Wer soll die glauben? Wer soll durch die von was überzeugt werden? Was genau soll danach geschehen? (Was, wenn andere Einrichtungen ähnliche Zahlen vorlegen können?) Ist die Politik angesprochen? Die Öffentlichkeit? Die Medien? Was soll das bringen? Aber das ist bislang nicht gesagt worden. Stattdessen sind diese Versuche seltener geworden.

«Bibliothek 2007»

In der gleichen Zeit, als diese Versuche der Wertberechnung populär waren – und wohl inhaltlich damit verbunden – gab es von der Bundesvereinigung deutscher Bibliotheksverbände und der damals im Bibliotheksbereich aktiven Bertelsmann Stiftung das Projekt «Bibliothek 2007». Heute ist nicht mehr fiel davon zu finden. Die damals aktiven Homepages sind abgeschaltet.4 Ganz klar war auch da nicht, was eigentlich genau das Ziel war. Es wurden beispielsweise «Best Practice» recherchiert,5 was hiess, eine Anzahl von Öffentlichen Bibliothekswesen vorzustellen (wobei, so überraschend waren die nicht: Skandinavien, Grossbritannien – obwohl es damals schon immer mehr in die Krise schlitterte – und Singapur wurden oft genannt). Es wurden Dokumente erstellt, in denen ein «Reformbedarf» des Deutschen Bibliothekswesens postuliert wurde. Ausserdem wurde das Bild eines Öffentlichen Bibliothekswesen, welches sich auf Bildung und neue Medien fokussieren und als gemeinsames Netz organisiert würde, gezeichnet. Dieses sollte bis 2007 etabliert sein.

Im Rahmen dieses Projektes wurde auch auf Politikberatung gesetzt. Beispielsweise wurde ein Treffen mit Mitgliedern des Bundestages angestrebt.

Was hat dieses Projekt gebracht? Schon der Fakt, dass man heute nach ihm intensiv recherchieren muss und eigentlich nur Konzeptpapiere, aber keine Texte, die über die tatsächlichen Effekte berichten oder nur nachdenken, findet, ist ein Hinweis. (Ich kann zum Beispiel nicht sagen, ob das Treffen im Bundestag nur angestrebt oder auch durchgeführt wurde. Und wenn ja, mit wem? Mit welchem Ergebnis?) Auch hier muss man vermuten, was eigentlich die Erwartungen waren. Sichtbar ist – aber das ist zu erwarten, wenn die Bertelsmann-Stiftung dabei war – die Übernahme von neoliberalen Vorstellungen und Terminologien. Die Bibliotheken wurden als effizient, aber entwicklungsfähig verkauft. Es wurde von Investition in die Zukunft gesprochen. Und so weiter.

Wieder: Wenn eine Politikerin das damals, 2004, auf den Tisch bekommen hat – was genau hätte sie tun sollen? War zum Beispiel die «BibliotheksEntwicklungsAgentur», von der im «Zukunftsbild» gesprochen wurde, ernstgemeint und sollte die Politikerin sie einrichten? (Eine bundesweit agierende Agentur, wenn Kultur und Bildung Landessache sind? Wie soll das gehen?) Oder war sie ein Symbol? Was genau sollte getan werden? Was in den Dokumenten auffällt, ist nicht nur, wie quer zur politischen Struktur Deutschlands die dort beschriebene Zukunft des Bibliothekswesens stand, sondern auch, dass gleichzeitig nicht klar wurde, was genau gefordert wurde.

Und, im Nachhinein, wie schnell von der Kampagne nicht mehr geredet wurde. (Zum Beispiel verschwand sie als Thema ganz schnell aus BuB und Bibliotheksdienst, obwohl dort einige Jahre regelmässig Artikel zu ihr erschienen.)

«Bibliofreak»

2015 bis 2017 gab es in der Schweiz die Kampagne «BiblioFreak». Die Homepage lässt sich noch aufrufen,6 aber der Schlussbericht nicht mehr.7 Sie zielte darauf ab, das Bild von Öffentlichen Bibliotheken zu verbessern – I guess. Ich habe die Kampagne quasi live miterlebt und dennoch nie so richtig verstanden, was das Ziel war. Weiterhin steht auf der Kampagnenseite dazu folgendes:

«BiblioFreak ist eine nationale Imagekampagne für Bibliotheken. Sie will die Bibliotheken stärken, deren öffentliche Wahrnehmung verbessern und ihre Bekanntheit steigern.

BiblioFreak will dazu beitragen, den Kreis der Nutzerinnen und Nutzer der Bibliotheken zu erweitern.

BiblioFreak macht die vielfältigen Leistungen der Bibliotheken sichtbar, bringt Bibliotheken ins Gespräch und hilft so, das nachhaltige Engagement der Träger zu sichern.

BiblioFreak hilft auf unkonventionelle Art, dass über die Bibliotheken gesprochen wird.»8

Was nicht heisst, dass die Kampagne damals nicht beliebt gewesen wäre – bei Bibliotheken. Viele Bibliotheken verlinkten damals auf die Homepage, besorgten sich Kampagnenmaterialien und machten solche Aktionen wie gemeinsames Wandern (mit Shirts der Kampagne), produzierten Flyer und Werbematerialien. Oft war der Eindruck, als ob vor allem Bibliotheken selber sich mit der Kampagne identifizieren konnten und mit ihr eine gewisse «feel good»-Atmosphäre vermittelt wurde. (Was nicht zu unterschätzen ist.)

Das Ergebnis der Kampagne ist nicht klar. Herbert Staub (damals Präsident des damaligen Verbandes Bibliothek Information Schweiz, der praktisch das Gesicht der Kampagne war) hat, als er sie 2017 auf dem Deutschen Bibliothekstag vorstellte – und auch anderswo – selber gesagt, dass die Ergebnis schwierig zu bestimmen sind. Und jetzt wird praktisch nicht mehr über diese Kampagne geredet. Der Verband und Vorstand ist ein anderer und offenbar ist das alles kein Thema mehr.

Fazit

Das sind alles ein paar Beispiele. Selbstverständlich gab es mehr. Aber wir können aus diesen Beispielen schon einiges lernen, denke ich:

  1. Die Ziele solcher Aktivitäten sind oft erstaunlich unklar. Sicherlich gab auch einige anderen Lobbyaktivitäten, die konkreter waren. Ich denke nur an die Versuche, Bibliotheksgesetze zu etablieren, die in einigen deutschen Bundesländern und einem schweizerischen Kanton erfolgreich waren (in anderen nicht). Aber ansonsten gibt es oft erstaunlich ungenaue Angaben dazu, was hier eigentlich von wem erreicht werden soll. Immer wieder geht es darum, Politik und Bevölkerung irgendwie anzusprechen – aber wofür? Immer wieder, wenn ich mir eine Politikerin vorstelle, die von den Kampagnen angesprochen wird, kann ich mir nicht vorstellen, was genau von der erwartet wird. Aber wenn man kein konkretes Ziel hat: Warum macht man es dann überhaupt?
  2. Erstaunlich ist auch, wie selten überhaupt am Ende solcher Aktivitäten über deren Ergebnisse berichtet oder nachgedacht wird. Das es mal einen Abschlussbericht für BiblioFreak gab und auch einige Vorträge dazu, war schon eine Ausnahme. Das hinterlässt – besonders, wenn es immer wieder passiert – schnell den Eindruck, dass es niemand so richtig mit diesen Aktivitäten ernstgemeint hat (was ich nicht glauben kann). Eventuell ist es, wie angedeutet, einfach so, dass jeder Verband Lobbyarbeit macht und von jeweils neuen Vorständen erwartet wird, es auch zu tun (ausser sie haben andere Projekte, die auch als wichtig erscheinen).
  3. Bemerkenswert ist auch, wie schnell diese Kampagnen wieder aus dem «Gedächtnis» der Profession verschwinden, also wie schnell nicht mehr von ihnen gesprochen wird, wenn sie einmal vorbei sind. Hören die «jungen Leute», wenn sie jetzt mit der bibliothekarischen Ausbildung oder dem Studium anfangen, überhaupt noch von «Bibliothek 2007» oder «Bibliofreak»?9 So ist es dann aber auch nicht möglich, aus den schon gesammelten Erfahrungen aus vorhergehenden Kampagnen zu lernen – und wäre es auch nur, dass bestimmte Dinge schon ohne erkennbares Ergebnis probiert wurden.
  4. Was manchmal erstaunt, ist, wie sehr die eigentlichen Kampagnen und die politische Realität nebeneinander stehen. Im oben besprochen Buch war dies auffälliger als bei anderen Beispielen, weil es einfach auch im Buch selber zwei getrennte Teile waren. Die Analyse der politischen Veränderung hatte mit den Aktivitäten, die dann beschrieben wurden, nicht viel zu tun. Wenn die Tories die Idee vertraten, dass die Gesellschaft und nicht der Staat die gesellschaftlichen Einrichtungen tragen soll, die sich wichtig findet (was eine komische Vorstellung davon ist, was eigentlich der Staat ist – aber gut, anderes Thema), war es zum Beispiel nicht sinnvoll, wenn Bibliotheken zeigen, dass sie der Bevölkerung so und so viel Wert seien oder so und so viel einsparen. Aber das war, was gemacht wurde. Wie Politik tatsächlich funktioniert, scheint bei all der Advocacy kaum bedacht zu werden. (Ein anderes Buch aus Frankreich – Des bibliothèques pour Marseille: en finir avec l’indolence – ist da direkter.10 Hier nimmt der Autor direkt die Position ein, dass die Ausgestaltung des Öffentlichen Bibliothekswesen in Marseille das Ergebnis politischer Entscheidungen sei und deshalb auch nur durch Entscheidungen der Politik verändert werden kann. Im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Buch Public Library Governance11beschreiben Edward Abbott-Halpin und Carolynn Rankin das Verhältnis von Bibliothek und Politik deshalb auch als «wicked problem», weil weit mehr Stakeholder als nur Bibliotheken und Politiker*innen an solchen politischen Entscheidungen beteiligt sind und weil die Entscheidungen auch komplex sind. Aber in der Lobbyarbeit für Bibliotheken erscheint es oft nicht so.)

Ich bin niemand, der sich in so grossen Vereinigungen wie Bibliotheksverbänden engagieren kann. Aber wäre ich es, ich würde mir vornehmen, diese Situation zu verändern. Lobbyarbeit ist wohl Teil der Arbeit von Verbänden, aber wenn der Überblick hier etwas gezeigt hat, dann folgendes:

  • Sie sollte klare Ziele haben.
  • Sie sollte sich bemühen zu verstehen, wie Entscheidungen getroffen werden, die dazu führen, dass diese Ziele erreicht werden – und nicht einfach nur um goodwill oder so werben. (Das ist bei Bibliotheken nicht notwendig. Wie viel mehr goodwill wollen sie noch haben?) Es geht um Politik, also sollte man auch verstehen, wie Politik funktioniert und wo angesetzt werden muss, um etwas zu verändern.
  • Alle Lobbyaktivitäten sollten daraufhin überprüft werden, was eigentlich ihre Ergebnisse waren. Das Wissen, welches über Jahre und Jahrzehnte mit solchen Kampagnen gesammelt wurde, sollte nicht einfach wieder verschenkt, sondern aktiv gesammelt werden.

Fussnoten

1 Touitou, Cécile (dir.) (2020). Bibliothèques publiques britanniques contemporaines: autopsie des années de crise. [La Numérique] Villeurbanne: Presses de l’enssib, 2020, https://doi.org/10.4000/books.pressesenssib.11527

2 Ich habe letztens gehört, dass es Berater*innen gibt, die aktuell die Öffentlichen Bibliotheken in Grossbritannien als positives Vorbild für bestimmte Entwicklungen im DACH-Raum darstellen. Aber ich kann nicht glauben, dass das jemand ernst meint oder ernst nimmt. Alle Zahlen in Grossbritannien zeigen kontinuierlich nach unten: Etat, Personal, Anzahl Filialen, Ausleihen, Medien, Veranstaltungsbesuche.

3 https://bibliotheksportal.de/bibliothekswertrechner/.

4 Aber ganz verschwindet so was selbstverständlich nicht. Es gibt die gedruckten Medien noch in Bibliotheken und teilweise digitalisiert: https://core.ac.uk/download/pdf/195393741.pdf.

5 https://media02.culturebase.org/data/docs-bideutschland/Best_Practice_Recherche.pdf.

6 http://bibliofreak.ch.

7 http://bibliofreak.ch/uploads/downloads/Bericht/BiblioFreak_Schlussbericht.pdf.

8 http://bibliofreak.ch/page/hilfe.

9 Und während ich das schreibe fällt mir auf, dass sie es von mir hören könnten – aber haben sie nie. Nie erschien mir das wichtig, ihnen Wissen über diese vergangenen Kampagnen mitzugeben. Ein Fakt, über den ich nochmal nachdenken muss.

10 Rose, José (2020). Des bibliothèques pour Marseille: en finir avec l’indolence. Marseille: Éditions Gaussen, 2020

11 Abbott-Halpin, Edward ; Rankin, Carolynn (edit.) (2020). Public Library Governance: International Perspectives (IFLA Publications, 176). Berlin; Boston: De Gruyter Saur, 2020.

Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik – Wird die Realität in den Schulen pfadabhängig übergangen?

Letztens bin ich fast vom Stuhl gefallen, als eine Nachricht des Deutschen Bibliotheksverbandes über die üblichen Kanäle verbreitet wurde. Die Nachricht: Schulbibliotheken sollen ab demnächst in der Bibliotheksstatistik vertreten sein (https://www.bibliotheksverband.de/dbv/presse/presse-details/archive/2021/january/article/deutsche-bibliotheksstatistik-dbs-erfasst-ab-2021-daten-zu-schulbibliotheken-in-deutschland.html?tx_ttnews%5Bday%5D=15&cHash=84ee7046e7eeef7861ab5ddd1d98e4c6). Das ist so falsch, ich habe erst geglaubt, es wäre ein schlechter Scherz. Aber offenbar ist das ernst gemeint.

Ich möchte hier gerne erklären, warum das keine gute Idee ist. Das Bibliothekswesen in Deutschland ist seit 1970 auf einem falschen Pfad was Schulbibliotheken betrifft.1 Dieser Schritt ist nur ein weiterer auf diesem Pfad, der in den meisten existierenden Schulbibliotheken auch gar nichts verändern wird. Das Erstaunliche ist aber, dass das Bibliothekswesen den immer weiter geht.

Ich habe eine ganze Anzahl von Jahren über Schulbibliotheken in Deutschland geforscht: Angefangen von meiner Magisterarbeit über ein Praxisbuch (nicht alleine geschrieben) bis hin zu einer Langzeitstudie (zehn Jahre) über die Entwicklung der Schulbibliotheken in Berlin. Danach habe ich das Thema aufgegeben, weil alle meine Fragen beantwortet waren. (Und ich zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr in Deutschland, sondern der Schweiz arbeitete; aber auch in der Schweiz bin ich vom Thema Schulbibliotheken nicht unberührt geblieben.)

Es war auch nicht so, dass ich je ein engagierter Vertreter von Schulbibliotheken gewesen wäre. Ich habe das Thema für meine Magisterarbeit gewählt, weil ich einigen Abstand zu ihm hatte. Interessiert hat es mich, weil Schulbibliotheken gerade nicht einfach Bibliotheken sind, sondern Einrichtungen, deren Realität in der jeweiligen Schule selber von verschiedenen Personen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen ausgehandelt werden. Bei vielen Personen, die sich sonst mit Schulbibliotheken beschäftigen, ist das anders. Die meisten Studien werden von Personen durchgeführt, die oft stark in Schulbibliotheken engagiert sind. Ebenso werden meisten Projekte von Engagierten aufgesetzt und auch die meisten Texte von ihnen geschrieben. Eventuell ist das ein Grund, warum ich einen anderen Blick auf die Entscheidung habe, Schulbibliotheken in den Bibliotheksstatistik aufzunehmen als andere, die diese Meldung begeistert retweetet haben. Mir interessiert die Geschichte, die Denkweisen über Schulbibliotheken, die Realität in Schulbibliotheken und die Strukturen hinter diesen. Aber eine Schulbibliothek gründen oder gar Schulbibliotheken sagen, wie sie zu sein hätten, das wollte ich nie. Das ist bei Engagierten anders (mit gutem Grund, sonst wären sie nicht engagiert).

Und eigentlich wollte ich auch gar nichts mehr zu Schulbibliotheken sagen, aber dieses Presseerklärung hat mich doch so erstaunt, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Es ist eine falsche Entwicklung und das Bibliothekswesen sollte endlich aufhören, immer nur diesen Weg weiterzugehen.

Das Bibliothekswesen will bestimmen, was Schulbibliotheken sind

Das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland nimmt für sich in Anspruch, über Schulbibliotheken entscheiden und für Schulbibliotheken sprechen zu können. Es nimmt auch für sich in Anspruch, sagen zu können (und zu wissen), wie Schulbibliotheken sein sollten, also wie sie funktionieren sollten, welche Aufgaben sie übernehmen sollten, welche Wirkungen sie haben würden, wenn sie nur so wären, wie das Bibliothekswesen sich das vorstellt. Aber: Das ist schlicht und ergreifend falsch.

Schulbibliotheken sind keine kleinen, spezialisierten Öffentlichen Bibliotheken. Sie sind nicht Teil des Bibliothekswesens. Die Vorstellungen darüber, wie Schulbibliotheken sein sollen und welche Wirkungen sie haben sollen, die im Bibliothekswesen verbreitet werden, sind weder alternativlos – es gibt immer auch andere Vorstellungen, die in der Praxis in den konkreten Schulen oft eine viel grössere Bedeutung haben als die aus dem Bibliothekswesen – noch sind sie irgendwie besser begründet (oder gar mit empirischen Daten untermauert) als die anderen Vorstellungen. Und dennoch wird im Bibliothekswesen so gehandelt, als wären die Öffentlichen Bibliotheken die Leiteinrichtung für Schulbibliotheken.

Die reale Situation

Wie sieht die reale Situation aus? (Hier verweise ich gerne darauf: Während meiner «aktiven Jahre» zu diesem Thema war ich in ungezählten Schulbibliotheken in Deutschland, habe viele Interviews geführt – die ersten für meine Magisterarbeit – und habe Daten gesammelt, vor allem für meine Langzeitstudie in Berlin. Das Folgende sind also nicht reine Behauptung. Und auch, wenn ich vor einigen Jahren damit aufgehört habe und sich seitdem bestimmt einiges geändert hat: Soviel wird es nicht sein.)

  1. Schulbibliotheken sind deshalb interessante Einrichtungen, weil sie aus Aktionen verschiedener Stakeholder (in Mangel eines besseres Wortes) entstehen. Die wichtigsten sind dabei die Schulen selber, welche Schulbibliotheken unterhalten und in diesen die Personen, die konkret die Schulbibliothek betreiben sowie die Schulleitungen. Wie die sich vorstellen, was die Aufgabe einer Schulbibliothek ist, prägt am meisten, wie die Schulbibliothek dann tatsächlich aussieht. Und das ist in den Schulen sehr, sehr unterschiedlich.2 Oft, aber nicht so oft, wie man vielleicht vermuten würde, sind es Lehrpersonen, die für die Schulbibliotheken zuständig sind. Werden Schulbibliotheken von Ehrenamtlichen (oder manchmal auch geringfügig Beschäftigten) betrieben, sind auch diese Stakeholder, was vor allem dann relevant ist, wenn ihre Vorstellungen nicht – wie bei Lehrpersonen – durch pädagogische Ausbildungen geprägt sind. Da viele Schulbibliotheken von Schulvereinen unterstützt werden, sind auch die Eltern und anderen Engagierten in diesen Vereinen, Stakeholder. Wichtig sind oft, aber nicht immer, die anderen Lehrpersonen einer Schule – es gibt Schulbibliotheken, die so abgetrennt vom Unterricht existieren, dass es egal ist, was die anderen Lehrpersonen denken und solche, die sehr in den Unterricht integriert sind und in denen es dann relevant ist, was diese Lehrpersonen denken. Ob die Schüler*innen selber Stakeholder sind, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In konkreten Schulbibliotheken ist auffällig, dass einige explizit Schüler*innen einbinden (einige Schulbibliotheken werden sogar ganz von Schüler*innen betrieben), andere aber direkt über sie hinweg entscheiden.
  2. Öffentliche Bibliotheken und das Bibliothekswesen im Allgemeinen sind nur der geringste unter diesen Stakeholdern. Um sicherzugehen: Es gibt Schulbibliotheken, die sind als Zweigstellen Teil Öffentlicher Bibliotheken. Es gibt Städte und Gemeinden, in denen Öffentliche Bibliotheken unterschiedliche Infrastrukturen aufgebaut haben, um mit Schulen zusammen Schulbibliotheken zu betreiben oder Schulen beim Betrieb ihrer Bibliotheken zu unterstützen. Für all das gibt es Beispiele. Aber das sind alles Ausnahmen. Und zwar nicht erst seit Öffentliche Bibliotheken durch Sparmassnahmen seit den 1980ern Zweigstellen in Schulen, die einmal (seit den 1970ern) eingerichtet wurden, wieder schlossen, sondern schon weit davor. Die ganze Zeit über waren die Schulbibliotheken, die von Öffentlichen Bibliotheken oder mit Hilfe Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurde, viel weniger als die Schulbibliotheken, die anders und ohne Kontakt mit den Öffentlichen Bibliotheken betrieben wurden. Lokal ist das manchmal anders (wie gesagt: Es gibt Städte, wo in allen Schulen eine Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek zu finden ist oder gut ausfinanzierte und aktive «Schulbibliothekarische Arbeitsstellen»), aber alle breiteren Datensammlungen, die seit den 1970ern durchgeführt wurden, zeigen das gleiche: Die Schulbibliotheken mit irgendeinem feststellbaren Kontakt zu Öffentlichen Bibliotheken sind immer in der krassen Minderzahl.
  3. In vielen Schulbibliotheken interessiert sich deshalb niemand dafür, was für Vorstellungen von Schulbibliotheken (oder anderen Bibliotheken) im Bibliothekswesen vertreten werden. Oft denkt niemand überhaupt daran, dass das Öffentliche Bibliothekswesen überhaupt solche Vorstellungen haben könnte. Vielmehr gibt es immer unterschiedliche andere Vorstellungen in den Schulen. Ich habe einmal fünf unterschiedliche Modelle von Schulbibliotheken aufgestellt, die ich in Berlin real vorgefunden habe (also nicht theoretisch formuliert, sondern aus den Daten, die ich gesammelt hatte, herausgezogen), aber es gibt weitere. Aber auch dabei war auffällig: Die Idee, eine Schulbibliothek müsste wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren, war eine Randerscheinung. Die meisten Schulbibliotheken wollten Orte sein, wo Schüler*innen in Ruhe – oft abgetrennt vom anderen Schulalltag – lesen konnten und auf der Basis dieser Vorstellung waren sie auch aufgebaut. Gerade kein Unterrichtsraum, kein Katalog (auch weil es vor allem um Belletristik ging, die nicht tief erschlossen wurde), kein Ort für Hausaufgaben, sondern Platz, um sich anders zu fühlen als in der restlichen Schule. Was man in Interviews mit den Aktiven in solchen Schulbibliotheken oft feststellt, ist, dass sie ihre Bibliothek auch als eine Einrichtung sehen, die ganz andere Aufgaben hat als eine Öffentliche Bibliothek. Und vor allem, dass die Engagierten vor Ort ihre Bibliothek, so wie sie ist, gut finden. Nicht zuletzt sind auch fast alle diese unterschiedlichen Schulbibliotheken recht gut benutzt – es kann also so falsch nicht sein, was sie machen.
  4. Aber selbst in den Schulbibliotheken, die eine Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken betreiben, bringen immer andere Vorstellungen ein. Sie sehen immer wieder anders aus und haben andere Aufgaben, selbst in Städten, in denen eine starke Schulbibliothekarische Arbeitsstelle existiert und Beratungen anbietet. Auch dort finden sich viele Schulbibliotheken, die sehr an Leseförderung und «ausserschulischen Räumen in der Schule» interessiert sind und andere, die sich als Ort für das selbstständige Lernen der Schüler*innen verstehen. Es ist einfach nie so einheitlich, wie das im Bibliothekswesen typisch ist, wo trotz aller konkreten Unterschiede ähnliche, durch die berufliche Sozialisation erworbene, Vorstellungen davon, was eine Öffentliche Bibliothek für Aufgaben hat und wie sie organisiert sein soll, die Arbeit in den unterschiedlichen Bibliotheken vorgeben.
  5. Auffällig ist auch, dass sich die meisten Schulbibliotheken als Teil ihrer Schule verstehen und auch versuchen, im Rahmen ihrer Schule zu funktionieren. Nur wenige schauen über diesen Bezugsrahmen hinaus, nur wenige organisieren sich mit anderen Schulbibliotheken (und dann bezeichnenderweise oft in «Landesarbeitsgemeinschaften» von Schulbibliotheken, die weder Teil bibliothekarischer noch pädagogischer Verbände sind). Immer wieder gibt es Engagierte, die ein Zusammengehen von Schulbibliotheken anstossen wollen, aber immer wieder stossen diese auch auf Probleme, andere zu diesem Zusammengehen zu motivieren. Die meisten Schulbibliotheken funktionieren gut in ihrer Schule und versuchen gar nicht erst, darüber hinaus zu gehen. Somit bildet sich auch kein gemeinsames Verständnis davon aus, wie solche Einrichtungen funktionieren sollten.
  6. In konkreten Schulbibliotheken – die als solche, um das nochmal zu sagen, in ihrer Schule immer wieder gut und oft auch über längere Zeiträume funktionieren – finden sich auch immer wieder explizite Unterschiede zu Öffentlichen Bibliotheken. Einige Beispiele:
    1. Öffentliche Bibliotheken streben einen inhaltlich breiten Bestand an, da sie auch für unterschiedliche Funktionen genutzt werden wollen. In vielen Schulbibliotheken ist eine inhaltliche Breite (oder eine Breite von Medienformen) gar nicht gewünscht. Das ist auch logisch: Wenn die Aufgabe die Leseförderung ist (nur als Beispiel) ist ein weitergehender Sachbuchbestand nicht nötig.
    2. Öffentliche Bibliotheken, insbesondere wenn sie Zweigbibliotheken in Schulen betreiben, betonen gerne die Funktion, dass sie den Unterricht, Hausaufgaben und das selbstständige Lernen von Schüler*innen unterstützen. In einigen Schulbibliotheken wird das auch als wichtige Funktion angesehen und dann beispielsweise der Bestand darauf ausgerichtet oder der Raum so eingerichtet, dass Unterricht und / oder selbstständiges Lernen möglich ist. Aber in vielen (viel mehr) Schulbibliotheken ist das explizit nicht das Ziel. Das ist in jeder Schulbibliothek anders. [Öffentliche Bibliotheken scheinen einfach davon auszugehen, dass die Bibliothek der perfekte Ort für solche Tätigkeiten ist. Aber selbst das ist nicht klar. Schulen haben immer auch andere Orte geschaffen, in denen das möglich ist.]
    3. Oft ist, wie gesagt, liegt Fokus einer Schulbibliothek auf dem Lesen an sich. Und das wird dann auch als ausreichend angesehen. Das muss noch nicht mal heissen, dass andere mögliche Funktionen von Bibliotheken als irrelevant angesehen werden – aber dann halt oft als Aufgabe der jeweiligen Öffentlichen Bibliothek vor Ort, nicht als Aufgabe der Schulbibliothek.
    4. Wirklich auffällig ist, wie die Katalogisierung in Schulbibliotheken gehandhabt wird. Meistens gar nicht. Bibliotheken versuchen auch seit Jahrzehnten immer wieder entweder Schulbibliotheken beizubringen, wie man richtig katalogisiert oder aber Kataloge für Schulbibliotheken – gerne mit Fernleihfunktion von einer Schulbibliothek in die nächste – aufzubauen. Der Katalog steht sehr oft im Mittelpunkt des Denkens des Öffentlichen Bibliothekswesens über Schulbibliotheken. In konkreten Schulbibliotheken ist das ganz anders: Oft gibt es keinen Katalog, sondern der Bestand ist durch Aufstellung erschlossen. Oft ist der Katalog ein reiner Nachweis, der für die Ausleihverbuchung benutzt wird, aber in dem Medien nicht inhaltlich erschlossen sind. (Oft findet sich der eine Rechner in einer solchen Bibliothek mit dem Katalog auf dem Pult der Bibliothekar*in, ohne das die Schüler*innen diesen je selbst für Recherchen benutzen.) Und auch das ist nachvollziehbar: Wenn der Bestand klein ist (einfach so überblickt werden kann) und der Fokus nicht auf die Vermittlung der Medien, warum sollte sich dann jemand die ganze Arbeit machen, einen Katalog à jour zu halten?
    5. In den meisten Schulbibliotheken ist nichts darüber bekannt, was das Öffentliche Bibliothekswesen über Schulbibliotheken denkt und es besteht auch kein Interesse, dass irgendwie zu wissen. Sie sehen sich als Teil der eigenen Schule und sie funktionieren in der Schule. Sie sehen sich nicht als Teil des Bibliothekswesens.

Bibliothekarische Ansprüche

In der oben angeführten Pressemitteilung des dbv, welcher die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik angekündigt, heisst es:

Das Schulbibliothekswesen in Deutschland ist sehr heterogen. So gibt es die Schulbibliothek als Zweigstelle einer Öffentlichen Bibliothek, als Schulbibliotheks-Verbund mit unterschiedlichen organisierenden Institutionen, als kombinierte Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek, oder als selbständige Schulbibliothek, bei der die Schule die Bibliothek eigenständig betreibt.

Auf den ersten Blick scheint es, als würde hier die Vielgestaltigkeit der Schulbibliotheken akzeptiert, aber genau das passiert nicht. Die Passage erscheint so oder so ähnlich seit Jahrzehnten immer wieder, wenn im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken berichtet wird und sie vermittelt ein Denken, das falsch ist. Interessant ist, dass es – pfadabhängig – immer und immer wieder reproduziert wird, obwohl es – was noch diskutiert wird – immer und immer wieder scheitert.

Was ist falsch an diesem Zitat? Zuerst geht es von einem «Schulbibliothekswesen» aus. Das gibt es nicht. Die Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten so eng zusammen, dass man von einem Bibliothekswesen reden kann. In diesem werden Vorstellungen über die Funktion von Bibliotheken geteilt und diskutiert (über den Bibliotheksverband, die Fachpresse, die Konferenzen, die Gremienarbeit, die Ausbildung und so weiter). Die Wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland arbeiten sogar noch enger zusammen (beispielsweise regelmässig in Projekten) und prägen gemeinsame Vorstellungen aus. Bei ihnen kann man auch gut von einem Bibliothekswesen reden. Schulbibliotheken sind nicht so: Sie arbeiten nicht zusammen. Die meisten Versuche, sie zu organisieren und sie dazu zu bringen, gemeinsame Vorstellungen, Richtlinien und so weiter zu entwickeln, waren seit den 1970er Jahren kurzlebig; meistens blieben sie in der Anfangsphase stecken. (Und selbst die, wie die Landesarbeitsgemeinschaft in Hessen, die lange aktiv blieben, taten dies ausserhalb des Bibliothekswesens.) Schulbibliotheken bilden in Deutschland kein «Schulbibliothekswesen», dass irgendwie gemeinsam handeln würde oder gemeinsame Interessen hätte. Dies zu behaupten, heisst einfach nur, Denken aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen auf Schulbibliotheken übertragen zu wollen.

Schlimmer ist aber, was in dem Zitat – und, wie gesagt, seit Jahrzehnten immer wieder neu – als «heterogen» aufgezählt wird. Im Bibliothekswesen werden Schulbibliotheken seit den 1970er Jahren immer wieder in die gleiche Reihenfolge gebracht, die eine Wertigkeit vermittelt:

  1. Zuerst die «richtigen» Bibliotheken, die als Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken so wie Öffentliche Bibliotheken funktionieren.
  2. Dann die Schulbibliotheken, die zwar von mehreren Einrichtungen betrieben werden, aber die dann – idealtypisch – von Öffentlichen Bibliotheken angeleitet werden. Also Netzwerke, in denen andere Einrichtungen akzeptiert werden – beispielsweise Schulen, die Etat geben und inhaltlich einbringen, welche Medien sie benötigen –, aber die von Öffentlichen Bibliotheken dominiert werden.
  3. Dann die weniger akzeptablen «kombinierten» Schulbibliotheken, wo die jeweiligen Schulen einen grossen Einfluss haben. Nicht in dieser Presseerklärung, aber anderswo oft schon, wird das als Kompromisslösung dargestellt, die eigentlich nur als Übergang zu akzeptieren sei.
  4. Und dann erst die selbstständigen Schulbibliotheken, die gar nicht so richtig als Bibliotheken akzeptiert werden. Deshalb stehen sie immer am Ende dieser Aufzählungen. Gerade in älteren Texten werden sie sogar als Notlösung bezeichnet, die es aufzuheben gälte.

Wie gesagt: Die Reihenfolge ist kein Zufall, sie findet sich immer wieder. Die Realität sieht, wie gesagt, ganz anders aus. Die «selbstständige Schulbibliothek» ist der Normalfall und zwar schon «immer». Sie sind sehr divers, aber im Denken des Bibliothekswesens werden sie immer als eine «Anderes»-Kategorie zusammengefasst, über die nur nicht zu viel nachgedacht wird. In älteren Texten wurde sie auch mit solchen Worten wie «noch» als abzuschaffende Form von Schulbibliotheken bezeichnet, die zu ersetzen sei. Die anderen drei Formen von Schulbibliotheken sind die Ausnahme. Aber das bibliothekarische Denken zu Schulbibliotheken beschäftigt sich eigentlich nur mit diesen drei Formen. Als richtige Schulbibliothek wird immer nur die Bibliothek angesehen, die direkt in das Öffentliche Bibliothekswesen eingebunden ist. Je mehr sie davon entfernt scheint – wenn beispielsweise die Schulen ein grosses eigenes Mitspracherecht nutzen –, je weniger wird sie akzeptiert. Es ist ein absonderlicher Blick, bei dem sich im Bibliothekswesen das Recht und das Wissen zugesprochen wird, über Schulbibliotheken entscheiden zu dürfen und zu können und gleichzeitig den anderen Stakeholdern dieses Wissen und Recht tendenziell abgesprochen wird.

Das erstaunliche ist, dass dies seit 1970 immer wieder passiert und auch Projekte, wie jetzt die Eingliederung von Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik, leitet, die immer wieder scheitern. So, als gäbe es keinen Lerneffekt, sondern immer nur diesen einen Pfad, den das Bibliothekswesen immer weiter geht.

Erfahrungen

Das alles ist nicht erst seit Gestern so, sondern schon lange Jahrzehnte. Und seit langen Jahrzehnten gibt es auch Versuche von Seiten des Bibliothekswesens, das zu ändern. Viele sind schon wieder vergessen worden, aber man sollte nicht denken, dass nicht schon alles mögliche versucht wurde. Einige Beispiele:

  • Am Deutschen Bibliotheksinstitut gab es eine Arbeitsgruppe zu Schulbibliotheken, die – übernommen aus einem Vorgängerprojekt – bis 2000 sogar eine eigene Zeitschrift schulbibliothek aktuell publizierte.
  • In verschiedenen Projekten wurden Schulbibliotheken mit Hilfe von Öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, komplett mit Weiterbildungen für Lehrkräfte, die lernen sollten, wie die Bibliothek zu managen und wie sie zu nutzen seien.
  • Es wurden immer wieder neue Broschüren darüber aufgelegt, wozu Schulbibliotheken genutzt werden können. Mindestens ein Lehrfilm wurde gedreht (aber er scheint verschollen).
  • Es wurden «Lehrbriefe Schulbibliothek» herausgegeben, die im Selbststudium und in Lehrgängen genutzt werden sollten, um Schulbibliothekspersonal auszubilden.
  • Immer wieder wurden politische Vorstösse unternommen, um in Schulen gut ausgestattete Bibliotheken einzurichten. Und nicht erfolglos: Gerade in Schulen, die für irgendwelche Reformen gegründet wurden, wurden diese auch tatsächlich eingerichtet. Und dann meistens wieder irgendwann geschlossen.3 Einen «Leuchtturmeffekt», der sich oft davon erhofft wurde, scheint nirgends eingetreten zu sein.
  • Ungezählt sind auch die Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken, die tatsächlich irgendwann einmal in den letzten Jahrzehnten in deutschen Schulen eingerichtet, dann aber auch wieder geschlossen wurden. Niemand hat die gezählt, aber es ist wirklich nicht ungewöhnlich, in eine Schule zu kommen, in der eine Lehrkraft eine Schulbibliothek betreibt, die irgendwann mal Zweigstelle war, aber jetzt mit anderen Zielen geführt wird.4 Es würde mich nicht wundern, wenn es heute mehr solcher ehemaligen Zweigstellen gibt als aktive Zweigstellen von Öffentlichen Bibliotheken in Schulen.
  • Es ist auch ganz normal, dass Schulbibliotheken zu Schwerpunkten in solchen bibliothekarischen Zeitschriften wie der BuB werden (in zwei Monaten ist das nächste solcher Hefte angekündigt). Es gäbe also eine Ort, wo sich über die Fortentwicklung von Schulbibliotheken Gedanken gemacht werden könnte, aber immer wieder im Bibliothekswesen, nicht im Schulwesen.
  • Auch endlos oft wurden in Öffentlichen Bibliotheken Schulbibliothekarische Arbeitsstellen oder ähnliche Institutionen eingerichtet oder angedacht, solche einzurichten. Die Hinweise darauf sind verstreut, aber es ist nicht ungewöhnlich, beispielsweise in Bibliotheksentwicklungsplänen oder -strategien von solchen Plänen (die dann oft nicht umgesetzt wurden) zu lesen. Was genau diese tun sollten oder sollen ist (wieder) sehr unterschiedlich. Viel öfter aber sind sie, wenn sie je eingerichtet wurden, heute auch schon wieder geschlossen (und oft vergessen) als das sie weiterbestehen.
  • Auch unzählbar sind die Versuche, Personen, die mit Schulbibliotheken zu tun haben, irgendwie zusammenzubringen, ob jetzt unter dem Dach von Öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliothekarischen Arbeitsstellen oder anderswie. Viele diese Versuche haben bestimmt keine sichtbaren Spuren in Dokumenten oder Artikeln hinterlassen. Aber die, es taten, sind über Jahrzehnte verstreut. (Auffällig ist aber, dass die, die über einen längerem Zeitraum bestanden haben, das oft gerade nicht in Verbindung mit dem Öffentlichen Bibliothekswesen taten.)
  • Vollkommen unüberblickbar sind die Abschluss- und Studienarbeiten zum Thema, die an bibliothekarischen Ausbildungsstellen geschrieben wurden, oft mit dem Ziel, zu klären, wie eine gute Schulbibliothek aussehen soll. Hinzu kommen zahllose Seminare im Studium, die manchmal über das Studium hinaus wirkten.

All das ist ohne grössere Probleme zu recherchieren. Die meisten Dokumente dazu liegen mehrfach in Bibliotheken, beispielsweise die gesamte schulbibliothek aktuell. Als Start dieser Entwicklung ist das Jahr 1970 zu nennen, als das Buch «Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchung zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Vorschläge zu ihrer Verbesserung» (Doderer et al.) erschien. Dieses war Teilergebnis eines Projektes – nicht mal im Bibliothekswesens – des Instituts für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Im gleichen Projekt wurde auch die Zeitschrift gegründet, die dann die schulbibliothek aktuell wurde, und die Grundlage für die Arbeitsgruppe gelegt, die dann im Deutschen Bibliotheksinstitut aktiv war. Was das Buch ausmacht, ist, dass hier der Pfad angelegt wurde, auf dem das deutsche Bibliothekswesen bis heute wandelt, wenn es um Schulbibliotheken geht. Die Vorstellung, dass die Schulbibliothek den Konzepten Öffentlicher Bibliotheken folgen soll – und nicht etwa einer eigenen Entwicklung – wurden hier zuerst öffentlich formuliert. Alle Argumente, die seitdem im Bibliothekswesen vorgebracht werden, wenn es darum geht, diese Vorstellung zu untermauern, finden sich in diesem Buch das erste Mal zusammengefasst. Auch die tendenzielle Geringachtung anderer Formen von Schulbibliotheken und die Staffelung von «richtiger» Schulbibliothek (die wie eine Öffentliche Bibliothek funktioniert) bis hinab zu «selbstständigen Schulbibliotheken», die tendenziell abgeschafft werden müssten, ist in diesem Buch angelegt. Das Bibliothekswesen hat seitdem praktisch diesen Pfad immer nur weiter beschritten und ausgetreten, aber die Grundstruktur nicht mehr verlassen. (Zurückgelassen wurde der Kontext der Bildungsreform, in welchem dieses Projekt durchgeführt wurde.)

Im Buch wird zum Beispiel postuliert,

  1. dass die Bibliothek zentral sein soll, das heisst einerseits eine Einrichtung in der Schulen (und nicht verteilt in Klassenräumen) und andererseits ein zentrale Einrichtung in der Schulen, am Besten zentral gelegen.
  2. dass sie eine Einrichtung sein muss, in der Unterricht und selbstständiges Lernen stattfindet und dass sie auf den Unterricht ausgerichtet sein muss.
  3. dass sie von ausgebildetem Personal geleitet werden muss (im Buch heisst es «sachkundig vorgebildeten Schulbibliothekaren»; aber da es diese Ausbildung in Deutschland gar nicht gibt, wurden daraus in der bibliothekarischen Literatur schnell ausgebildete Bibliothekar*innen).
  4. dass der Bestand modern und auf den Unterricht ausgerichtet sein soll (das schliesst dann auch die je aktuellen Medienformen ein) und dass eine Schulbibliothek relevant mehr Medien pro Schüler*in vorhalten müsse als eine Öffentliche Bibliothek pro potentielle*r Nutzer*in.
  5. dass die Katalogisierung und Aufstellung einheitlich sein soll, damit alle Schulbibliotheken ein Netzwerk bilden können.

Das sind alles Argumente, die seit 1970 immer und immer wieder vorgebracht werden, wenn auch manchmal umformuliert. Wenn in der oben angeführten Presseerklärung des dbv die Rede davon ist, dass Schulbibliotheken durch die Eingabe ihrer Daten in die Bibliotheksstatistik «ihr Bildungspotential sichtbar» machen können sollen, ist das nur eine aktuelle Fassung der Idee, dass sie vor allem für Bildung (und im Schulbereich dann Unterricht und Selbstbildung) zuständig seien. Auch die Vorstellung, dass man die Arbeit von Schulbibliotheken durch bibliothekarische Kennzahlen – selbst wenn diese, wie das wohl der Fall sein wird, angepasst werden – ausgedrückt werden kann, ist nur eine Fortschreibung der Idee, dass sei von ausgebildeten Schulbibliothekar*innen auf die immer gleiche Weise geführt werden müssten, um richtige Schulbibliotheken zu sein.

Das ist alles nicht durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte untermauert. (Aber: Auch das ist ein Teil dieses Pfades. Schon im Buch wurden die Aussagen nicht theoretisch oder mit Daten untermauert. Vielmehr wurde gesagt, dass müsste so sein; ausserdem gäbe es andere Ländern, in denen es so wäre und es wäre schlimm, dass in Deutschland nicht so sei.)

  • Eine Erfahrung, die sich durch die ganzen Jahrzehnte zieht, ist, dass das Bibliothekswesen schon in der Lage ist, Bibliotheken nach eigenen Vorstellungen in Schulen einzurichten, solange es die dafür notwendigen Mittel (Etat und Personal) mitbringt. Dann werden sie oft (nicht immer) in Schulen akzeptiert. Aber wenn diese Mittel nicht mehr da sind (weil das Projekt zu Ende ist oder wenn der Etat der Bibliotheken gekürzt wird), dann führen die Schulen die Bibliotheken nicht so weiter, wie das Öffentliche Bibliotheken machen. In vielen Schulen werden die Bibliotheken dann geschlossen, was bedauert wird, aber nicht so sehr, dass sich so eingesetzt wird, dass sie doch irgendwie weiterlaufen. (Das passiert auch: Bibliothekar*innen sind mehrfach aus dem Bibliothekswesen ausgeschieden und vollständig aus einem Schuletat finanziert worden, um Bibliotheken fortführen zu können. Aber immer nur in Ausnahmefällen.) In anderen Schulen werden die Schulbibliotheken weitergeführt, aber verändert. Kataloge werden nicht weitergeführt, der Bestand wird verändert (oder nicht verändert, sondern über Jahre einfach weitergenutzt, aber nicht ergänzt).
  • Alle Beratung durch das Bibliothekswesen, alle Projekte und so weiter führen nicht dazu, dass Schulen ihre Bibliotheken einfach so nach den Vorstellungen des Bibliothekswesens umgestalten. So oft auch Bibliotheken davon schreiben, dass Bibliotheken Unterrichtsort werden oder Plätze für Hausaufgaben und selbstgesteuertes Lernen einrichten sollen, so oft wird das von Schulen nicht wahrgenommen oder wahrgenommen, aber ablehnt. Der einzige überzeugende Weg ist in den letzten Jahrzehnten immer nur der gewesen, dass das Bibliothekswesen selber Mittel zum Betrieb einer Schulbibliothek zur Verfügung stellt.
  • Die Behauptungen über Schulbibliotheken, die im Bibliothekswesen gemacht werden, wandeln sich kaum. Sie werden immer wieder einmal neu formuliert (und der Aspekt der Demokratisierung, welcher im genannten Buch von 1970 wichtig war, wurde fallengelassen). Aber es bleibt immer bei diesen Behauptungen. Zu erwarten wäre, dass das Bibliothekswesen losgeht und die Zusammenhänge, die es behauptet – beispielsweise das gut ausgestattete Schulbibliotheken zu besserem Lernen führen würden – untersucht (und dann aus diesen Untersuchungen lernt). Aber das passiert nicht. Stattdessen werden die gleichen Argumente, die schon vorher keinen Erfolg hatten, wiederholt. Das sie offenbar nicht überzeugen (was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie nicht stimmen), ändert dies nicht.5 Stattdessen werden neue Projekte aufgelegt, um Schulen dazu zu bringen, ihre Bibliotheken nach bibliothekarischen Vorstellungen zu gestalten.
  • Immer weiter findet das meisten «Leben» von Schulbibliotheken ausserhalb des Bibliothekswesens in den Schulen selber statt. Aber – das eine weitere Erfahrung über die letzten Jahrzehnte – die Erfahrungen aus diesen Schulbibliotheken werden gar nicht erst gesucht, auch das Wissen aus Schulen interessiert im Bibliothekswesen nicht.6 Die Erfahrung ist, dass das Bibliothekswesen die anderen Stakeholder immer wieder disqualifiziert oder ganz ignoriert.

Die Bibliotheksstatistik als weiterer Schritt auf dem gleichen Pfad

Die Entscheidung, Schulbibliotheken in der Bibliotheksstatistik aufzunehmen, ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Pfad. Wieder wird so getan, als sei es die Aufgabe des Bibliothekswesens – des kleinsten und unerfolgreichsten Stakeholder – über die Schulbibliotheken zu bestimmen und ihre Entwicklung vorzugeben. Die bibliothekarische Wertigkeit – eine richtige Schulbibliothek ist nur eine, die bibliothekarischen Vorstellungen folgt, alle anderen sind Kompromisse – wird so wieder einmal hergestellt.

Weil, was wird wohl passieren? Ersteinmal sind die Schulbibliotheken, die Zweigstellen Öffentlicher Bibliotheken sind, schon in der Bibliotheksstatistik enthalten. Für die ist dieser Schritt nichts. Die anderen Schulbibliotheken, die sich die Arbeit machen werden, sich in die Bibliotheksstatistik einzutragen, werden die sein, die ansonsten sehr nahe an der Öffentlichen Bibliothek sind – vielleicht einige der «aufgegebenen» Zweigbibliotheken, die vollständig von Schulen übernommen wurden.

Aber die anderen Bibliotheken? Mal abgesehen davon, dass die mit hoher Wahrscheinlichkeit nie von dieser Statistik hören werden, würden sie gar nichts davon haben, sich diese Arbeit zu machen. Öffentliche Bibliotheken, die ihre Daten an die Bibliotheksstatistik abliefern, haben den Vorteil, dass sie so in ihrer Identität als Öffentliche Bibliothek bestätigt werden (und theoretisch die Daten nutzen können, um sich zu vergleichen und so weiter, aber ob das passiert, ist eine andere Frage) – eine richtige Öffentliche Bibliothek führt eine Statistik und nimmt an der Bibliotheksstatistik teil. Doch Schulbibliotheken, die gar nicht der Vorstellung folgen, dass sie wie eine kleine Öffentliche Bibliothek funktionieren sollten, würden ihre Realität gar nicht in einer solchen Statistik abbilden können – und selber wenn, gar keinen Mehrwert daraus ziehen können. Müssen sie auch nicht, weil sie gar nicht Teil eines «Schulbibliothekswesens» sind, das über solche gemeinsamen, geteilten Strukturen zusammengehalten wird.

Man darf nicht glauben, dass das diesmal anders gemacht wurde, als bei den anderen Projekten der letzten Jahrzehnte: Wieder wurde vom Bibliothekswesen aus definiert, was eine Schulbibliothek sein soll und damit auch, was sie nicht sein darf. Man muss in der Presseerklärung des dbv nur nach den Vertreter*innen suchen, die eine andere Position hätten einbringen können, beispielsweise solche aus Schulen oder Landesarbeitsgemeinschaften:

An der Arbeitsgruppe der dbv-Kommission Bibliothek & Schule zur Einrichtung der entsprechenden statistischen Abfrage waren beteiligt: Irene Säckel von der Stadtbücherei Frankfurt am Main, Frank Raumel vom Medien- und Informationszentrum Biberach, Ira Foltin, Gaby Heugen-Ecker und Therese Nap von der DBS-Redaktion des Hochschulbibliothekszentrums des Landes NRW sowie Dr. Ulla Wimmer von der Humboldt Universität zu Berlin.

Es gab sie nicht – wieder einmal. Hier haben wieder einmal Bibliothekar*innen, eine Bibliothekswissenschaftlerin und Vertreter*innen das Anbieters der Bibliotheksstatistik über Einrichtungen entschieden, die zumeist gar keinen Kontakt zum Bibliothekswesen haben. Deshalb werden in der Statistik bestimmt Werte abgefragt, die im Alltag der Schulbibliothek gar keine Rolle spielen. (Das Beispiel mit dem Katalog weiter oben ist da nur das sichtbarste. Die Anzahl der Medien ist beispielsweise für eine Schulbibliothek nicht unbedingt wichtig, wenn ihr Hauptfokus der ist, dass die Schüler*innen sich aus dem Schulalltag zurückziehen können. Aber die Statistik wird verlangen, dass die vorhandenen Medien gezählt werden, nicht wie viele Schüler*innen sich in den Raum Schulbibliothek zurückziehen.)

Wieder wird versucht, der Realität ein bibliothekarisches Verständnis von Schulbibliotheken überzustülpen. Das wird genauso wenig funktionieren, wie alle anderen dieser Versuche. Was mich verwundert ist, dass es immer noch passiert. Das Bibliothekswesen betrügt sich einfach selbst und tut so, als könnte es über Schulbibliotheken bestimmen, während die Schulen weiter an ihm vorbei handeln werden. (Was heisst, es ist eher ein Problem des Bibliothekswesens und man könnte es dabei belassen. Wäre es nicht gleichzeitig so unverschämt gegenüber all den Aktiven in den Schulbibliotheken, die vom Bibliothekswesen als «nicht so richtig schulbibliothekarisch arbeitend» disqualifiziert werden.)

Ein besserer Pfad

Ich hatte oben gesagt, dass ich das Thema Schulbibliotheken hinter mir gelassen habe. Nie wollte ich Schulbibliotheken oder anderen Personen sagen, was sie zu tun haben (ausser sie fragen), sondern ich wollte diese wunderbar amorphe Einrichtung «Schulbibliothek» verstehen. Aber wenn ich schon so geschockt bin, dass ich doch nochmal auf das Thema zurückkomme, vielleicht doch einige Worte. Das Bibliothekswesen könnte anders handeln und sollte es auch. Ansonsten wird es nur noch weiter Projekte dieser Art aufsetzen, die es dann nur weiter bestätigen werden, dass «auch mal was für die Schulbibliotheken getan werden muss».7

  1. Das Bibliothekswesen muss endlich von seinem hohen Ross absteigen (und den eingetretenen Pfad verlassen): Schulbibliotheken sind nicht Teil des Bibliothekswesens, sondern eine eigene Form von Einrichtungen, über deren Aufgaben, Arbeit und Entwicklung nicht das Bibliothekswesen entscheiden kann. Sie sind keine kleinen Öffentlichen Bibliotheken, ausser dann, wenn das Bibliothekswesen die dafür notwendigen Ressourcen stellt. Anstatt die Schulbibliotheken zwanghaft in das Bibliothekswesen integrieren zu wollen, sollten sie als eigene Bibliotheksform verstanden und behandelt werden. (Öffentliche Bibliotheken wollen ja auch den Gefängnisbibliotheken, Museumsbibliotheken, Gerichtsbibliotheken und so weiter nicht vorschreiben, was ihre Aufgaben sein sollen. So müsste es auch mit Schulbibliotheken sein.)
  2. Das Bibliothekswesen weiss nicht, was eine richtige und funktionierende Schulbibliothek ist. Es weiss noch nicht mal, ob und wie die Schulbibliotheken, die es selber betreibt, eigentlich wirklich funktionieren. Das sollte akzeptiert und dann davon aus weitergegangen werden. Auf der einen Seite wäre es sinnvoll, die ganzen Argumente, die immer wieder gemacht werden, ernsthaft zu untersuchen: Sind diese kleinen Öffentlichen Bibliotheken in Schulen wirklich für einen besseren Unterricht, selbstgesteuertes Lernen, Hausaufgaben und so weiter relevant? Wie soll das funktionieren? Welche Daten gibt es dazu (Daten, nicht Behauptungen oder hübsche Bilder)? Oder übernehmen sie ganz andere Aufgaben? Das wäre die einfache Seite. Die schwierige wäre für das Bibliothekswesen wohl zu akzeptieren, dass in den meisten Schulen mit Bibliotheken diese Schulbibliotheken andere Aufgaben haben, als sich die Öffentlichen Bibliotheken vorstellen und das sie deshalb auf diese Aufgaben ausgerichtet arbeiten – und das das okay ist. (Eine Kleinigkeit, die mich auch früher schon immer irritiert hat, und die man leicht ändern könnte: Das die Kommission im dbv «Bibliothek & Schule» heisst, also die Bibliothek nach vorne stellt, obwohl Schulbibliotheken viel eher von Schulen bestimmt werden und das in ihr überhaupt keine Vertreter*innen aus Schulen zu finden sind. Wäre ich Schulleiter, ich würde das nicht ernst nehmen können. Der Namen sollte geändert und der ständige Kontakt zu Vertreter*innen von Schulen gesucht werden.)
  3. Das Bibliothekswesen muss akzeptieren, dass es nur ein Stakeholder – und dann auch noch nicht der wichtigste – ist, wenn es um Schulbibliotheken geht. Insbesondere dann, wenn es (wie in den meisten Fällen) gar keine Ressourcen für Schulbibliotheken mitbringt. Es mag sein, dass man das ändern will, weil man gehört hat, dass dies in anderen Ländern anders wäre8 – aber das wäre eine Entscheidung auf Ebene der Bildungspolitik und lässt sich nicht erwirken, indem man immer so tut, als wäre man selber wichtiger als die anderen Stakeholder.
  4. Das Bibliothekswesen sollte aus den vergangenen Projekten lernen: Schulen sind nicht mit den immer gleichen Argumenten zu überzeugen, Bibliotheken nach Vorstellungen des Bibliothekswesens einzurichten. Die Bildungspolitik ist so auch nicht zu überzeugen, dass Schulwesen so zu ändern, dass Schulbibliotheken in jeder Schule notwendig werden. (Die lokale Politik manchmal schon.) Die Engagierten in den Schulbibliotheken sind so auch nicht zu überzeugen.
  5. Was auch auffällt, weil immer nur der gleiche Pfad weitergegangen wird, ist, dass bei den ganzen Texten, Vorträgen und so weiter im Bibliothekswesen über Schulbibliotheken die konkreten Schulen und die Entwicklungen, die in ihnen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, praktisch nicht auftauchen. Es ist eine von der schulischen Praxis (und der Erziehungswissenschaft) oft ganz losgelöste Debatte. Das sollte aufhören. Schulen haben sich verändert und es ist – nur ein Beispiel – heute normal, das Unterricht als Arbeit in Laboren und Projekten stattfindet. Es gibt in vielen Schulhäusern zahlreiche Lernorte, an denen Schüler*innen selbstbestimmt arbeiten, inklusive der Umstellung des Unterrichts von Wissensvermittlung zu Kompetenzentwicklung. Aber man wüsste es nicht, wenn man bibliothekarische Texte über Schulbibliotheken liest. Da sieht es so aus, als wäre die Schulbibliothek der einzige Ort, wo selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Das muss sich ändern, so oder so. Das Bibliothekswesen muss wahrnehmen, wie Schulen heute funktionieren, wenn es irgendwelche Aussagen über Schulbibliotheken machen will.

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Fussnoten

1 Ich sage hier Deutschland, um es abzukürzen. Aber historisch ist es selbstverständlich so: Von 1970 bis 1990 meint das die BRD, danach tendenziell Deutschland inklusive der «neuen Bundesländer», obwohl es immer auch Traditionen aus der DDR gab, die länger vorhielten, auch im Bibliothekswesen. Anderswo habe ich auch dargestellt, wie die Vorstellungen über Schulbibliotheken aus der BRD einige Jahre später in der Schweiz rezipiert wurden. Aber dort sind sie wieder auf andere Traditionen und Realitäten getroffen, hatten dann auch eine andere Wirkung. Wie immer bei der Entwicklung von Bibliothekswesens gilt auch hier: Es gibt gegenseitige Beeinflussungen, aber grundsätzlich ist die Entwicklung doch je Land unterschiedlich. Insoweit geht es in diesem Beitrag nicht um den DACH-Raum, sondern um Deutschland.

2 Es gibt, wie ich in der Schweiz gelernt habe, auch Traditionen dabei, was als Aufgaben einer Schulbibliothek angesehen wird, die lange existieren können.

3 Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch, dass in alle Oberstufenzentren, die in den späten 1970ern in Berlin gegründet wurden, eine Bibliothek inklusive Personalstelle eingerichtet wurde und dann, als ich 2005/2006 meine Magisterarbeit schrieb, gerade noch die letzte Bibliothekarin in der letzten dieser Bibliotheken «erwischte», die gerade in Rente ging und deren Bibliothek dann, als letzte, auch geschlossen wurde.

4 Solche Bibliotheken haben dann oft noch Bibliothekstechnik aus den Jahren, in denen sie zuletzt Teil der Öffentliche Bibliothek waren, in der Ecke stehen. Sie wird dann nicht mehr benutzt, aber weggeworfen wird sie auch nicht.

5 Eine Zeit lang wurden auch in der deutschen bibliothekarischen Literatur sogenannte «school library impact studies» aus den USA zitiert, in den angeblich gezeigt worden wäre, dass Schulbibliotheken eine positive Wirkung auf die Noten der Schüler*innen in den jeweiligen Schulen hätten. Aber einerseits stimmte das so nie – nicht nur ist das Schulwesen in den USA anders als in Deutschland, auch nannten die meisten Studien für gut ausgestattete Schulbibliotheken Minimalwerte, die in Deutschland nirgends erreicht werden und waren die Studien selber nicht frei von Bias – und überzeugte auch nicht gross ausserhalb des Bibliothekswesens. Andererseits ist das verstummt, jetzt, wo es auch in den USA immer mehr Schulen ohne Schulbibliothek und ohne Schulbibliothekspersonal gibt (obwohl es die Studien weiterhin gibt).

6 Immer wieder kann man von Engagierten aus Schulbibliotheken und Landesarbeitsgemeinschaften Geschichten hören, wie sie von Vertreter*innen des Bibliothekswesens von Beratungen ausgeschlossen oder so behandelt wurden, als hätten sie keine Ahnung von Schulbibliotheken – nicht immer und von allen, aber doch regelmässig. Erstaunlich ist auch, dass die schulbibliothek aktuell zwar in der Vorgängerzeitschrift der heutigen kjl&m aufgegangen ist, die bis heute deshalb den Untertitel forschung.schule.bibliothek führt, aber das es keinen Kontakt mehr zwischen der Redaktion dieser Zeitschrift und den Vertreter*innen im dbv gibt, welche die Eingliederung der Schulbibliotheken in die Bibliotheksstatistik vorangetrieben haben.

7 Ein Satz, den ich so oft in meiner «aktiven» Zeit gehört habe: Immer wieder wird sich im Bibliothekswesen – auch von Kolleg*innen, die schon lange dabei sind – vorgestellt, man würde am Anfang einer Entwicklung von Schulbibliotheken stehen, man hätte mit dem Projekt XYZ Neuland betreten, obwohl es immer wieder die gleiche Geschichte ist und immer wieder das gleiche Ergebnis schon zu Beginn angelegt ist. So, als hätte es die ganzen Projekte seit 1970 nicht gegeben.

8 Wobei das oft auch so nicht stimmt, wenn man genau schaut. In meiner aktiven Zeit habe ich oft gehört, in den USA wären die Schulbibliotheken Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens – aber, plot twist, in der Realität bilden sie dort ein eigenes (schrumpfendes) Schulbibliothekswesen mit eigener Ausbildung, eigenen Medien, eigenen Verbänden und Strukturen. Sie arbeiten mit den Öffentlichen Bibliotheken zusammen, aber Teil des Öffentlichen Bibliothekswesens sind sie gerade nicht.

Urban Gardens und Community vergleichbar mit Bibliotheken und Community?

Urban Gardening hat einen guten Ruf. Es wird sich von diesen Gärten, und den Aktivitäten um sie herum, sehr viel versprochen: Sie sollen die soziale Kohärenz verstärken, Natur in die Stadt holen, zur Nahrungsmittelsicherheit beitragen, Prozesse von Partizipation und Demokratie erfahrbar machen, den jeweiligen Ort wohnbarer machen (oder aufwerten), soziale oder räumliche Gerechtigkeit befördern und vieles mehr. Es gibt hier und da die Vermutung, dass die Aufwertung auch zur Gentrifizierung beiträgt (Eizenberg 2019), aber ansonsten ist die Kritik am Urban Gardening und Urban Gardens gering.

Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice (Certomà, Noori & Sondermann 2019) versammelt Artikel aus einem Netzwerk von Forschenden, welche in Europa zu Erfahrungen mit Urban Gardens gearbeitet haben. Es ist einigermassen durchwachsen, auch weil pro Artikel immer wieder mit neuen theoretischen Ansätzen und Fragen an das Thema herangegangen wird und auch, weil die Definition, was als Urban Gardening zählt, sehr weit ist, somit auch sehr unterschiedliches (beispielsweise von staatlicher Seite angelegte, legale, selbstorganisierte, nicht angemeldete und «versteckte Gärten») untersucht wird.1 Es enthält auch viele, wieder sehr unterschiedlich angegangene, Case Studies.

Urban Garden, Berlin, 2017

Welche Communities?

Was mich interessiert, ist das sich durch die ganzen Texte ziehende Thema der «Community». Urban Gardens sollen immer «die Community» ansprechen, zusammenbringen, verstärken und so weiter. Deshalb werden sie von unterschiedlichsten Akteur*innen (im Buch: staatliche Agenturen, Gemeinden, selber zusammengefundene Gruppen, Anarchist*innen) überhaupt eingerichtet und unterhalten. Das erinnert selbstverständlich stark an den Diskurs um «Communities», welche in Öffentlichen Bibliotheken im DACH-Raum zumindest bis zur aktuellen Pandemie geführt wurde: Auch in Bibliotheken wird sich von unterschiedlichen Aktivitäten versprochen, «die Community» anzusprechen, zusammenzubringen, zu verstärken, auf sie zu reagieren. Egal, ob mit Makerspaces oder «partizipativen Methoden» bei der Planung von Neubauten. Und gleichzeitig ist nicht immer klar, was damit in Bibliotheken gemeint ist (Burch 2019) oder genau angestrebt wird. Insoweit werden Bibliotheken wohl auch davon lernen können, was die Forschenden in diesem Buch über «Communities» und Urban Gardens festhalten.

Wenig konkrete Wirkungen

Wie gesagt, es wird im genannten Buch mehrfach festgehalten, dass die Erwartungen an die Wirkung von Urban Gardens auf die jeweilige lokale Community gross ist. (Certomà, Sondermann & Noori 2019) Ein Thema, dass sich durch die Texte zieht, ist aber, dass diese Erwartungen nicht erfüllt werden. In mehreren Fällen gehen die Forschenden praktisch aus dem Garten heraus und fragen dort Leute nach ihrer Wahrnehmung der jeweiligen Gärten. (U.a. Aliperit & Sarti 2019; Hardmann et al. 2019) Das Ergebnis ist immer wieder ähnlich: Grundsätzlich gibt es von vielen, aber nicht allen, eine positive Haltung gegenüber den Gärten, aber keine grössere Erwartung. Es ist eher so, dass von Ferne okay gefunden wird, dass jemand diese Gärten betreibt. Aber beteiligen möchte sich auch kaum jemand, ausser denen, die schon dabei sind. (Wright & Young 2019) Es bedient sich zum Beispiel auch niemand an den Früchten, die extra dafür gepflanzt werden, dass sich alle an ihnen bedienen können. (Hardmann et al. 2019) Die Veranstaltungen, die in vielen Urban Gardens angeboten werden, werden auch nur manchmal und ohne grössere Konsequenzen (also ohne zum Beispiel neue Netzwerke zu bilden oder sich später selber in den Gärten zu engagieren) besucht. Oft sind die Gärten oder die Strukturen dahinter (Wer macht das? Wozu? und so weiter) gar nicht bekannt. Wenn die Community mit den Gärten angesprochen werden soll, um «zur Natur» zu finden, Zugang zu frischem Obst und Gemüse zu erhalten und zusammenzukommen, um die soziale Kohärenz zu verstärken, dann scheitern die Gärten oft.

In einigen Fällen kommt es durch die Gärten auch zur Verdrängung anderer Gruppen. Beispielsweise wurden durch Gärten, die eine staatliche Agentur in Kopenhagen angelegt haben, um Migrant*innen eine Möglichkeit zu bieten, aus den eigenen, zu kleinen Wohnung herauszukommen (was in diesem Fall tatsächlich passiert), Flächen umgenutzt, die zuvor von Obdachlosen benutzt wurden, um wild zu campieren. (Roy 2019) Der Gewinn ist hier nicht gleich verteilt.

Ein Text in diesem Buch beschäftigt sich mit der Frage, welche Community eigentlich durch die Urban Gardens angesprochen wird. (Pitt 2019) Die Autorin stellt fest, dass die Gärten dabei scheitern, eine Community, die sich vor Ort findet, anzusprechen. Oder anders: Es wird immer wieder angenommen, dass es schon eine Community gäbe, die mit solchen Gärten «aktiviert» werden könnte. Das findet nicht statt. Gleichzeitig schaffen es die Gärten aber, andere Communities herzustellen, nämlich «Communities of Practice» aus den Leuten, die sich in den Gärten engagieren. Oft sind es dabei Menschen, die gar nicht wirklich lokal wohnen, sondern erst zu den Gärten fahren müssen. Auch übersetzen sich diese Netzwerke kaum in andere Ebenen, sondern beschränken sich auf die Gärten und die dortige Arbeit selber. Thema der Gespräche seien auch immer die Arbeit in den Gärten, nicht weiterführende Thema. Letztlich bilden diese «Communities of Practice» also neue Strukturen, die sich nicht in andere Strukturen übertragen.

Übertragungen ins Bibliothekswesen

Kann man aus diesen Ergebnissen etwas für Bibliotheken lernen? Ich denke schon: Die Voraussetzungen und damit wohl auch die Ergebnisse sind ähnlich. Auch, wenn Bibliotheken über Communities reden, steckt dahinter oft die Vorstellung, dass es diese schon lokal gäbe und man die irgendwie ansprechen, aktivieren und so weiter müsste. All die Veranstaltungen, Angebote oder auch partizipativen Projekte zielen darauf, in dieser jeweiligen Community etwas zu bewirken: Sie mehr zum Lesen zu führen, zu Innovation, als Lernort für Demokrat und Partizipation zu wirken. Die Erwartungen, wenn man die ganzen Texte dazu ernst nimmt, sind bei Bibliotheken nicht weniger hoch als bei Urban Gardens – nur, dass es nicht um Natur und Essen geht, sondern eher um Lesen, Literatur, andere Medien. (Und ja, selbstverständlich sind auch Bibliotheken bei Urban Gardens aktiv, was die Erwartungen nur zusammenführt. Siehe zum Beispiel Schumann (2016) und Scott Banks & Mediavilla (2019))

Aber wen erreichen Bibliotheken überhaupt mit den Veranstaltungen und so weiter wirklich? Ist es nicht eher so, dass auch sie «Communities of Practices» herstellen, die sich dann nicht in weitere Funktionen über die jeweilige Veranstaltungen / Angebote übertragen? Ist die Situation, dass Personen zwar eine grundsätzlich positive Position dazu haben, dass es Gärten gibt, aber auch nicht viel mehr damit in Kontakt kommen wollen, nicht auch für Öffentliche Bibliotheken gegeben? Und ist es nicht so, dass es in Bibliotheken immer schon eine gewisse Gruppe von Menschen gibt, welche diese (intensiv) nutzen, die eher herausgedrängt und eben nicht integriert werden, wenn Bibliotheken neue Angebote – sagen wir nochmal einem neuen Makerspace – einrichten?

Das scheint alles sehr ähnlich: Die grossen Erwartungen lassen sich nicht erreichen. Was genau mit Community gemeint ist, wird kaum geklärt. Dafür entstehen neue Communities, die sich aber um spezifischen Angebote gruppieren und auch (nur) die zum Thema haben. Wenn das in Urban Gardens so ist, wäre es nicht unerwartet, wenn das in Bibliotheken auch zu wäre? (Aber es gibt kein Netzwerk, dass einmal diese Frage angeht, insoweit bleibt es leichter unthematisiert.)

***

Sowohl bei Urban Gardens als auch bei Öffentlichen Bibliotheken heisst das nicht, dass das per se schlecht ist. Auch wenn Urban Gardens nicht dazu beitragen, dass zum Beispiel die Nahrungsmittelsicherheit besser wird oder die lokale Community aktiviert wird, ist es ja trotzdem so, dass sich in ihnen Menschen zusammenfinden, gemeinsam Entscheidungen treffen, etwas anbauen, gemeinsam Tage verbringen und so weiter. Ebenso mag es in Bibliotheken so sein, dass nicht die «lokale Community» eingebunden wird, wenn mit Design Thinking neue Bibliotheksräume geplant werden oder Makerspaces eingerichtet werden, aber trotzdem kommen am Ende Pläne für Räume raus oder haben Leute Spass beim rumprogrammieren an Robotern. Es ist nur so, dass die Erwartungen falsch sind, was zu schnell übersehen werden kann: Wenn ein «erfolgreicher» Urban Garden, im Sinne von Menschen kommen, gärtnern und ernten am Ende, nicht heisst, dass die lokale Community aktiviert wird, merkt man das vielleicht eher dann, wenn man spezifisch danach fragt. Ansonsten sieht das alles doch sehr belebt und erfolgreich aus. Ähnlich bei Bibliotheken: Nur weil der Makerspace benutzt wird, heisst das nicht, dass die lokale Community erreicht wird, aber auch das merkt man erst, wenn man nachschaut.

Es ist wohl eher so, dass sich in der Praxis gefragt werden sollte, welche Erwartungen erfüllt werden, welche man erfüllen will und vielleicht auch, welche Konsequenzen auf den ersten Blick als positiv wahrgenommene Angebote haben. Vielleicht ist es ausreichend, Communities of Practices zu bilden – aber man sollte sich dann klar sein, dass das andere Probleme nicht löst, schon gar keine Grossen.

Literatur

Aliperti, Giuseppe; Sarti, Silvia (2019). Urban gardening and spacial justice from a mid-size city perspective: the case of Ortobello Urban Garden.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 74-90

Burch, Carina (2019). Community – eine Untersuchung was es im Kontext von allgemein-öffentlichen Bibliotheken bedeutet. (Churer Schriften zur Informationswissenschaft, 100) Chur: HTW Chur, https://www.fhgr.ch/fileadmin/fhgr/angewandte_zukunftstechnologien/SII/churer_schriften/sii-churer_schriften_100-Community.pdf

Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019

Certomà, Chiara; Sondermann, Martin; Noori, Susan (2019). Urban gardening and the quest for just uses of space in Europe.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 1-21

Eizenberg, Efrat (2019).The foreseen future of urban gardening.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 154-165

Hardmann, Michael; Adams, Mags; Barker, Melissa; Beesley, Luke (2019). Food for all? Critically evaluating the role of the Incredible Edible movement in the UK.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 139-153

Nikolaidou, Sofia (2019). Temporary urban landscapes and urban gardening: re-inventing open space in Greece and Switzerland.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 59-73

Pitt, Hannah (2019). Limits to growth? Why gardening has limited success growing inclusive communities.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 91-107

Roy, Parama (2019). Community gardening for integrated urban renewal in Copenhagen: securing or denying minorities‘ right to the city?.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 91-107

Schumann, Tim (2016). Urban Gardening und Öffentliche Bibliotheken: Konzeption einer Veranstaltungsreihe in der Stadtbibliothek Bad Oldesloe. In: Informationspraxis 2 (2016) 1, https://doi.org/10.11588/ip.2016.1.23822

Scott Banks, Carrie ; Medivilla, Cindy (2019). Libraries and Gardens: Growing Together. Chicago: ALA editions, 2019

Wright, Lucy Rose; Young, Ross Fraser (2019). Community gardening for integrated urban renewal in Copenhagen: securing or denying minorities‘ right to the city?.In: Certomà, Chiara; Noori, Susan; Sondermann, Martin (edit.) (2019). Urban Gardening and the Struggle for Social and Spatial Justice. Manchester: Manchester University Press, 2019: 22-37

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Fussnote

1 Dies hat auch mit der Finanzierung des Netzwerks als EU-COST-Action zu tun, bei der «nur» die Zusammenarbeit in Konferenzen und Treffen, aber nicht die eigentliche Forschung finanziert wird; diese also von den beteiligten Forschenden jeweils aus anderen Quellen und damit in unterschiedlichen Höhe, mit unterschiedlichen Fragestellungen et cetera finanziert werden müssen. In so einem Netzwerk ist es dann zum Beispiel schwer, sich auf gemeinsame theoretische Grundsätze zu einigen. (Aber als jemand, der auch für jedes noch so kleine Forschungsprojekt nach Drittmitteln suchen muss, habe ich fraglos grosses Verständnis dafür, dass am die Chance ergreift, wenn es möglich ist, solch eine Finanzierung zu nutzen.)

Eine Sammlung, was man im Feld der Bibliotheken nach der Pandemie untersuchen / besprechen könnte

Wir befinden uns jetzt also unbestreitbar in der (in Europa) zweiten Welle der COVID-19-Pandemie. Sicherlich: Alle haben dadurch wieder zu tun. Und dennoch scheint es mir, es wäre auch eine gute Zeit, um einmal festzuhalten, was sich Bibliothek oder die Bibliothekswissenschaft im Anschluss an diese Pandemie fragen könnten und sollten.

  • Die Extremsituation hat – wie alle Extremsituationen – Strukturen und Vorstellungen getestet. Haben die Infrastrukturen gehalten? Wenn nicht, wie kann man sie verbessern? Aber auch: Haben die Vorstellungen der Bibliotheken davon, was Bibliotheken sind, wofür sie genutzt und geschätzt werden, gehalten? Antworten auf solche Fragen würden nach der Pandemie helfen, Bibliotheken weiterzuentwickeln.
  • Gleichzeitig hatten wir jetzt schon einmal eine Phase, in der Bibliotheken geschlossen wurden und eine, in der Bibliotheken «wiedereröffnet» wurden. Auch wenn die Situation jetzt teilweise anders ist als während der ersten Welle, wird es (mindestens) wieder eine Phase der Wiedereröffnung geben, wohl irgendwann im Frühling / Sommer 2021. Für diese wäre es selbstverständlich gut, aus der ersten Phase zu lernen, um dann diesen Prozess zielgerichteter organisieren zu können.
  • Nicht so sehr aktuell, aber in den ersten Monaten der Pandemie wurde immer wieder die Erwartung geäussert, dass sich durch diese viel ändern wird: Beispielsweise würden mehr elektronische Medien genutzt werden, weil die Menschen im März, April, Mai so viele nutzten. Oder die Arbeit im «Home-Office» würde sich (noch mehr) etablieren. Es wäre Zeit, auch aus den Erfahrungen im Sommer 2020, als an vielen Orten eine gewisse Normalität eingekehrte, zu lernen, ob diese Voraussagen immer noch haltbar sind – und wenn ja, was das für die Zukunft nach der Pandemie heisst. Wenn nein, warum nicht.

Hier eine erste Zusammenstellung von mir über die Fragen, die man in diesem Zusammenhang bearbeiten / diskutieren könnte. Es gibt Liste für diese keine richtige Basis ausser meine eigenen Beobachtungen und Überlegungen. Insoweit bin ich mir sicher, dass es noch viele andere Themen gäbe und das einige Themen von anderen als nicht wichtig erachtet werden. Ich unterbreite sie hier einfach als ersten Vorschlag und freue mich, wenn sie jemand aufgreift / ergänzt / überarbeitet (und wenn es dann erst nach der Pandemie ist, die hoffentlich irgendwann vorbei sein wird). Es soll vor allem eine Erinnerung daran sein, dass man aus dieser Krise etwas lernen kann und nicht einfach so schnell als möglich zur Normalität übergehen sollte.

Direkt die Bibliothek betreffend (Ebene 1)

Eine erste Liste von Fragen betrifft die Bibliothek als Einrichtung selber (ich nenne das hier Ebene 1, im Gegensatz zum Blick auf die Bibliothek von anderen Einrichtungen, die ich weiter unten Ebene 2 nenne).

  • Was und wann wurde während der ersten Welle in der Bibliothek gemacht? Nicht nur wann wurden die Räume geschlossen, sondern auch wann wurden Dienste eingestellt, wieder eingeführt oder ganz neu aufgesetzt? Hier zum Beispiel wäre es schon hilfreich, wenn möglichst viele Bibliotheken eine Chronologie der Ereignisse liefern würden, welche man dann miteinander vergleichen könnte. Einige haben das schon in ersten Artikeln gemacht, aber man könnte das beispielsweise in einer Abschlussarbeit auch systematisieren. Dann könnte man schauen, ob es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gab und warum. Das würde vielleicht etwas darüber sagen, wie sehr Bibliotheken vernetzt oder nicht vernetzt sind, wie sehr oder wenig sie von Entscheidungen anderer abhängig sind und so weiter.
  • Warum wurde es so gemacht? Hier wäre es interessant, Gründe zu erfahren: Warum haben einige Bibliotheken ganz geschlossen, andere Lieferdienste eingerichtet, andere trotz Homeoffice-Empfehlung viel im Backoffice arbeiten lassen? Wer hat diese Entscheidung getroffen? Auf der Basis welcher Überlegungen?
  • Mit welchem Ergebnis? Wie waren zum Beispiel die Ausleihzahlen? Hier wäre es wirklich interessant, Zahlen zu erhalten. Beispielsweise haben sehr viele Bibliothek im April angefangen, entweder Medien per Post zu verschicken oder die Abholung von Medien zu ermöglichen. Interessant wäre, wie das genutzt wurde – die Zahlen, die man hier und da hört, sind eher gering, aber das muss ja nicht überall so gewesen sein – und wie es wahrgenommen wurde. Interessant wäre zum Beispiel auch, ob diese Dienste über die Bibliothekskreise und die der engen Stammnutzer*innen hinaus bekannt wurden. Wurde das zum Beispiel in der Presse oder der lokale relevanten Social Media-Kanälen aufgegriffen?
  • Was ist jetzt mit den elektronischen Medien? Eine besondere Frage wäre, wie sich die Nutzung der elektronischen Medien tatsächlich entwickelt hat. Zu Beginn der Pandemie, im März, April, wurde viel davon geschrieben, dass Bibliotheken den Zugang zu elektronischen Medien vereinfacht und zum Beispiel die Anmeldung für die Bibliotheksnutzung online ermöglicht hätten. Zudem wurde davon berichtet, dass die Nutzungszahlen explodieren würden und daraus unter anderem abgeleitet, dass dies der Beginn es längerfristigen Trends wäre. Aber jetzt, einige Monate später, stellt die Frage, wie sich die Zahlen entwickelt haben: War das ein kurzfristiges Hoch oder tatsächlich ein Trend? Wie waren / sind die Zahlen? Auch hier hört man hier und da, dass sie während des Sommers wieder massiv zurückgegangen wären, aber eine systematische Sammlung wäre selbstverständlich aussagekräftiger.
  • Gab es Rückmeldungen zu den Schliessungen, Angeboten und so weiter der Bibliotheken? Wenn ja, von wem und welche? Hier wäre es interessant zu erfahren, ob und wenn ja wer wahrgenommen hat, was Bibliotheken während der ersten Welle getan haben. Bibliotheken haben immer wieder die Angst, dass sie übersehen werden und teilen gleichzeitig über interne Kanäle immer wieder, wenn sich jemand über sie äussert: Aber wie war es den während der Pandemie? Und vor allem: Kann man aus diesen Rückmeldungen, egal ob direkt an Bibliotheken gemacht, beispielsweise in Kommentaren, oder über Bibliotheken, beispielsweise in Berichten, etwas lernen?
  • Gab es Kooperationen oder andere Formen von Zusammenarbeit während der Pandemie (zwischen Bibliotheken, zwischen Bibliothek und anderen Einrichtungen)? Extremsituationen zu meistern ist oft einfacher, wenn man dies in Zusammenarbeit mit anderen tut. Zudem streben eigentlich alle Bibliotheken, nimmt man die ganzen Strategiepapiere der letzten Jahre ernst, Kooperationen mit anderen Einrichtungen an. Interessant wäre, welche Kooperationen Bibliotheken während der Pandemie eingegangen sind und wofür. Wurden zum Beispiel soziale Stiftungen angesprochen, um über sie Medien an Nutzer*innen zu liefern? Zudem relevant in diesem Zusammenhang wäre es zu wissen, ob dabei auf bestehende Kooperationen zurückgegriffen oder neue aufgebaut wurden. Lohnte sich die Arbeit in die Kontakte, die in den Jahren zuvor geleistet wurden? Und auch, wenn Bibliotheken gerade keine Kooperationen eingegangen sind, sondern eher alleine agiert haben: Was würde das heissen?
  • Wie wurde über «Wiedereröffnung» entschieden? Was genau hiess «Wiedereröffnung»? Was waren die Erfahrungen? Wie wurden die Angebote genutzt? Gab es Trends / Veränderungen über den Sommer? Wie haben sich die Nutzungszahlen entwickelt? Gab es Rückmeldungen von Nutzer*innen? Die Frage ist schon deshalb relevant, weil es zwar vielleicht (hoffentlich) keine neue Welle geben wird, aber wieder eine Phase der «richtigen» Wiedereröffnung.

Interne Ebene

Nicht unbedingt im Bibliothekswesen, aber anderswo schon wurden sich schon während der ersten Welle viele Gedanken dazu gemacht, welche Auswirkungen diese auf die zukünftige Arbeit haben würden: Wird sich das Homeoffice durchsetzen? Wenn ja, was wird das für Arbeit, Zufriedenheit, Infrastruktur bedeuten? Von anderer Seite wurde aber auch gefragt, wie mit dem Personal während der Krise umgegangen wird und wie sich das für die Zeit nach der Krise auswirken wird. Beispielsweise gab es Hinweise darauf, dass Personal, dass gegen den eigenen Willen entweder zum Arbeiten vor Ort oder zum Arbeiten daheim genötigt wurde, vielleicht nach der Pandemie daran gehen wird, sich andere Arbeitsstellen zu suchen. Zudem wurden Vermutungen angestellt, wer überhaupt zum Beispiel darüber entscheiden kann, wo sie*er arbeitet oder wer nicht.

Die Personalebene in Bibliotheken wird selten besprochen, ebenso die Frage, wie die Arbeit in Bibliotheken überhaupt genau organisiert ist. Dennoch gäbe es auch hier einige relevante Fragen.

  • Erfahrungen des Remote Work: Welches, wie, mit welchen Ergebnissen und Erkenntnissen? Wie hat sich das Personal dabei gefühlt? Insbesondere für viele Öffentliche Bibliotheken und Spezialbibliotheken scheint, wenn man dem was man hier und da hört Glauben schenken kann, die Umstellung auf die Arbeit im «Homeoffice» ein neuer, teilweise schwieriger Schritt gewesen zu sein. Aber auch nicht für alle. In Wissenschaftlichen Bibliotheken war dies eher schon verbreitet, aber auch nicht für alles Personal oder in allen Bibliotheken. Und einige Bibliotheken sind offenbar so schnell wieder zur Arbeit vor Ort zurückgekehrt, dass es eigentlich keine Arbeit im Homeoffice für sie gab. Und dennoch: Es wäre interessant zu erfahren, wie genau Bibliotheken mit dem Homeoffice umgegangen sind. Nicht nur, ob sie es getan haben, sondern auch, wie sie die Arbeit umgestellt haben, wie das Personal damit umgegangen ist, wie die allgemeinen Erfahrungen sind und so weiter. Dies ist ja schon für die Frage wichtig, ob es jetzt wirklich eine Hinwendung zum Homeoffice geben wird oder nicht – und ob Bibliotheken sich darauf einstellen müssen.
  • Gab es Lernprozesse? Wie wurden die organisiert? Die erste Krisenzeit und dann die ersten Entspannungen im Sommer wären eine gute Zeit dafür gewesen, intern Lernprozesse zu gestalten, also vielleicht gemeinsam zu reflektieren, welche Erfahrungen gesammelt wurde und wie sie in Zukunft benutzt werden. Sicherlich: Solche Prozesse zu organisieren und zu managen sollte in jeder Organisation zu jeder Zeit geschehen und das passiert ja auch in vielen Bibliotheken. Aber es wäre interessant systematischer zu sehen, was Bibliotheken wann gelernt haben, auch zum Beispiel, ob sie irgendwann zu Einschätzungen gelangten, die sie dann in den nächsten Monaten / Wochen wieder verwarfen.
  • Wurde etwas am Bestandsmanagement geändert? Weiterhin ist der Bestand (inklusive der Zugänge, die über Bibliotheken organisiert werden) der Hauptteil bibliothekarischer Arbeit. Zudem war in der ersten Welle die Arbeit mit und am Bestand der Teil bibliothekarischer Arbeit, welcher noch durchgeführt werden konnte, während zum Beispiel Veranstaltungsarbeit vor Ort oder das Angebot von Lern- und Leseplätzen nicht möglich war. Aber hat sich bei der Arbeit am und mit dem Bestand mittel- und kurzfristig etwas verändert? Wird jetzt zum Beispiel anders ausgewählt, eingekauft, lizenziert, katalogisiert, Zugang geschaffen? Wurden Bestandsstrategien überarbeitet? Wie? Hat sich die Nutzung elektronischer Medien in den ersten Monaten der Pandemie in der Bestandsarbeit niedergeschlagen?
  • Wie wurde mit dem Personal umgegangen? Das ist vielleicht eine gewerkschaftliche Frage: Aber während der ersten Welle waren immer wieder Stimmen zu vernehmen, bei denen sich Personal darüber beschwerte, was von ihm erwartet würde; dass nicht auch auf die Gesundheit des Personals geachtet wurde; dass erwartet wurde, dass es einfach wie immer «funktioniert»; dass ihm Aufgaben übertragen wurden, die es nicht übernehmen wollte / kann (und wenn es nach der Wiedereröffnung «nur» die Durchsetzung der Hygieneregel sind). Die Stimmen waren recht viele, gefühlt mehr als sonst. Aber das heisst nicht, dass es überall so gewesen sein muss. Es gab auch Personal, dass sich positiv geäussert hat. Insoweit wäre die Frage schon, wie das Personal die Situation erlebt hat – und ob sich daraus etwas für die Bibliotheken ergibt. Wird es jetzt zum Beispiel nach der Pandemie schwieriger werden, Personal zu halten oder zu gewinnen, wenn negative Erfahrungen überwogen haben? Oder andersherum einfacher? Was sagt es über Bibliotheken, wenn sich (einiges?) Personal so negativ äussert? Was unterscheidet vielleicht diese Bibliotheken von anderen Bibliotheken? [Diese Fragenkomplex wäre wohl wirklich was für die Gewerkschaften. Ich habe gelernt: Sie einfach so zu stellen ist gefährlich. Manche Menschen wollen sie nicht hören.]
  • Gab es eine Krisenplanung? Hat die geholfen? Wobei? Gibt es jetzt eine Krisenplanung? Krisen lassen sich besser durchstehen, wenn man auf sie vorbereitet ist und zum Beispiel weiss, wohin man sich um Unterstützung wenden kann. Gab es solche Planung in Bibliotheken? Wie sahen die aus und welchen Effekt hatten sie? Und: Wird jetzt vielleicht an neuen Krisenplanungen gearbeitet? (Zu vermuten, dass diese Pandemie die einzige Krise ist, die uns in den nächsten Jahren / Jahrzehnten treffen wird, ist ja illusorisch. Nicht nur ist die Chance auf die nächste Pandemie immer da, solange sich die Strukturen, welche die Verbreitung des Virus ermöglicht haben, nicht verändern. Aber die Klimakatastrophe und deren Auswirkungen ist auch immer noch da.)

Indirekt die Bibliothek betreffend (Ebene 2)

Bibliotheken beobachten nicht nur sich selbst, sondern sie werden auch von anderen Institutionen beobachtet, nicht zuletzt von ihren Trägern. Zudem gab die Krise auch einen guten Einblick darin, was Bibliotheken selber darüber denken, was an ihnen wichtig ist, warum sie (gerne) genutzt werden, was die Nutzer*innen von ihnen wollen und wie wichtig sie im Vergleich mit anderen Einrichtungen sind – den Bibliotheken schrieben mehr darüber, als sonst, wenn sie zum Beispiel Lobbyarbeit dafür betrieben, öffnen zu dürfen oder sich bei der jeweiligen «Wiedereröffnung» präsentierten. Und gleichzeitig gab die Krise auch eine Gelegenheit zu schauen, wie andere Institutionen – beispielsweise die Kantone und Bundesländer – oder die Nutzer*innen darauf reagierten.

Auf diese Ebene wäre eine systematische Sammlung und Auswertung solcher Äusserungen von Bibliotheken und der Reaktion darauf erhellend und würden eine Basis dafür liefern, dass Bibliotheken darüber nachdenken können, welche Bedeutung sie sich selber zuschreiben, warum sie das tun und wie die Nutzer*innen und die Öffentlichkeit darauf reagiert.

  • Was vermuteten / behaupteten Bibliotheken über sich selbst? (Verlautbarungen et cetera)
  • Wurden diese Vermutungen bestätigt / widerlegt / widersprochen? Was heisst das?
  • Welchen Aufgaben schrieben sich Bibliotheken zu? Welche wurden ihnen zugeschrieben (zum Beispiel durch die konkrete Nutzung, durch andere Stellen)?

Sind Bibliotheken einer der wenigen Orte ohne Konsumzwang – und was soll das eigentlich heissen?

Die Bibliothek ist in vielen Gemeinden der einzige Ort ohne Konsumzwang […]‟ (Bibliosuisse 2020: 7) teilen die schweizerischen Richtlinien für Öffentliche Bibliotheken mit. Damit sind sie nicht alleine, vielmehr hört man diese Aussage so regelmässig von Bibliotheken, auch an ganz unerwarteten Stellen, dass man sie als Standardargument ansehen kann. Ein bisschen, als wäre es Teil der bibliothekarischen Folklore.

Beim vBib20 wurde dies beispielsweise bei einem Vortrag zur Nachhaltigkeit von Bibliotheken erwähnt. Neben diesem Vortrag wurde in einem Pad (anonym) diskutiert und diese Aussage dort kritisiert – worauf jemand anders schrieb, vielleicht betriebsblind zu sein, aber nicht zu wissen, welche Einrichtung sich in diesem Punkt mit Öffentlichen Bibliotheken vergleichen liesse. Ich sah diesem Austausch (der noch weiter ging) zu, überrascht: Hätte man mich gefragt, ich hätte mir nicht vorstellen können, dass jemand diese Aussage über den „Ort ohne Konsumzwang‟ im 21. Jahrhundert mit Ernst vorbringen würde und nicht mit Ironie. Aber selbstverständlich: Sie würde nicht so oft gemacht werden, wenn Kolleg*innen sie nicht auch glauben würden. Ich hätte gesagt, es wird vielleicht in der Hoffnung benutzt, andere (die Politik?, die Öffentlichkeit?) davon zu überzeugen, das Bibliotheken etwas Gutes sind (und ich habe die Aussage auch tatsächlich schon von Politiker*innen gehört), ohne das selber zu glauben. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall.

Ich hatte mit dieser Aussage immer Bachschmerzen, die mit den Jahren nur schlimmer geworden sind. In diesem Blogpost würde ich gerne kurz aufdröseln, warum. Vielleicht wird dadurch verständlich, warum die Aussage für mich bestenfalls ironisch klingt.

Ist die Bibliothek wirklich so einzigartig?

Der erste Punkt, der bei dieser Aussage auffällt, ist die Behauptung, dass die Bibliothek mit der angeblichen Konsumfreiheit eine Besonderheit in der Gesellschaft darstellt. Das ist, um es kurz zu sagen, nicht richtig. Nur ein wenig Nachdenken kann andere Einrichtungen anführen, die das auch sind: Parks und Wälder, Jugendclubs, Senior*innenclubs, Spielplätze, staatliche Galerien (und in einigen Ländern auch Museen), Gedenkstätten, freie Badezonen, Wanderwege, Lehrwege, Naturhäuser, viele kleinere Zoos, Märkte und Marktplätze (über die man ja gerade auch wandern kann, ohne etwas kaufen zu wollen), immer mehr Stadt-, Kunst-, Lichtfestivals, Friedhöfe (die ja nicht nur zum Gedenken da sind, sondern auch als interessantes Ausflugsziel – looking at you, Wien).1 Diese Liste wird schnell lang und länger. Und wenn man dann auch noch konkret fragt, was „Konsumzwang‟ genau heisst (also, , um es hier einfach zu machen, ob man wirklich etwas kaufen muss), wächst sie sogar noch mehr. Starbucks betont auch immer und immer wieder, dass man nichts kaufen muss. In Stammkneipen konnte man immer auch so rumhängen, wenn man „dazugehörte‟. Viele Bahnhöfe mögen jetzt zwar umgebaut worden sein, um dort mehr zu konsumieren – aber immer widersetzen sich dem Leute und hängen dort eher rum. Kurz: Nein, die Bibliothek ist nicht so einzigartig darin, dass man dort nichts kaufen muss. So einfach gefasst hat dieses Argument noch nie gestimmt.

Und wenn man es genau nimmt, stimmte es ja auch nie, dass in der Bibliothek kein Geld fliesst. Sicherlich: Ausser der Jahresgebühr (und die nicht überall) muss kein Geld fliessen, um eine Bibliothek zu nutzen. Aber es fliesst trotzdem ständig, beispielsweise für besondere Leistungen. Nicht umsonst haben Bibliotheken Gebührenordnungen. Und seit Bibliotheken Cafés einrichten und sich vorstellen (und es ermöglichen, zum Beispiel indem am Arbeitsplatz getrunken werden darf) das Menschen lange Stunden in ihnen verbringen und sich dann in diesen Cafés versorgen, fliesst noch mehr Geld. Sicherlich: Man darf auch in die Bibliothek ohne das jeweilige Café zu nutzen. Aber genau das darf man im Starbucks auch.

Insoweit ist das Argument faktisch nicht richtig. Aber das muss es noch nicht ganz falsch machen. Nehmen wir an, „ohne Konsumzwang‟ wäre etwas Positives: Dann wäre es ja auch gut, wenn es mehr als eine Einrichtung gibt, wo das gilt. Man sollte dann vielleicht nur nicht mehr davon reden, dass die Bibliothek das als Besonderheit hat.

Was soll das sein, „ohne Konsumzwang‟?

Ein weiteres Problem mit dem Statement ist allerdings, dass nicht so richtig klar ist, was genau damit eigentlich gesagt werden soll. Es wird im Allgemeinen gebracht, als wäre es selbsterklärend und wird also nicht weiter erklärt. Es scheint sehr klar, dass es etwas Positives sein soll. Aber wie genau, dass muss man raten. Vielleicht soll es ja heissen, dass die Bibliothek offen für alle ist, weil sie keinen Eintritt nimmt und weil man niemanden zwingt, etwas zu kaufen? Ich könnte mir vorstellen, dass das oft der Hintergrund dieser Aussage sein soll.

Was spricht im Kapitalismus für Bibliotheken gegen Konsum?

Aber das ist nicht per se logisch: Wir leben im Kapitalismus (egal, ob man jetzt denkt, dass es gut ist das wir das tun), also einer Gesellschaft, in der soziale Beziehungen über Geld vermittelt sind. Sicherlich kann man sagen, dass sollte nicht so sein; Menschen sollten direkte Beziehungen untereinander aufbauen und so weiter. Aber gleichzeitig ist das auch illusorisch, solange man nicht die ganze Gesellschaft verändern will. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Beziehungen oft gut funktionieren über den Tausch von Geld – das ist zum Beispiel einer der Punkte, an dem schon Weber und Marx einer Meinung waren (und beide zeigten auch, dass das erst die Ausweitung der Tauschbeziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft, inklusive der Freiheiten, die dadurch trotz allem entstehen, ermöglicht). Bei einem Angebot praktisch zu sagen, dass es nichts kostet, heisst erstmal also noch nichts per se Positives.

Auffällig ist dieser Widerspruch aktuell noch mehr, wenn diese Aussage vom fehlenden Konsumzwang in den gleichen Texten auftaucht, in denen sich auf Ray Oldenburg und sein Konzept des 3. Ortes bezogen wird. Ich weiss, das Konzept wird auch zitiert, ohne Oldenburg gelesen zu haben. Aber er hat in seinem Buch (Oldenburg 1989), aus dem das Konzept stammt, explizit eine gegenteilige Position bezogen. Geld vermittelt bei ihm soziale Beziehungen, deshalb ist die Möglichkeit, für etwas zu bezahlen, inklusiv: Wer Geld gibt, stellt Beziehung zur restlichen Gesellschaft her und nimmt an ihr teil. Deshalb betont er, dass es wichtig sei für „3. Orte‟, dass sie so billig wären, dass alle sie sich leisten können – und gerade nicht umsonst sein sollen. Das englische Pub lobt er, weil man dort für Pennies (naja, irgendwann mal) ein Bier trinken kann, während andere Personen gleichzeitig in anderen Räumen für mehr Geld mit der Familien essen können: Alle haben Zugang, weil alle bezahlen können. Dinge, die man nicht bezahlt, würden diese Integration nicht leisten.

Sicherlich kann man Oldenburg hier widersprechen. Es ist vielleicht (bestimmt sogar) eine rein ökonomische Sichtweise, die ignoriert, dass Menschen auch auf andere Weise integriert werden können, beispielsweise durch die sichtbare Zugehörigkeit zu einem Staat, der – aus Steuern finanziert – Angebote für alle macht (aber das gilt dann wieder für das fünfhunderste Festival of Lights genauso wie für eine Bibliothek). Aber darauf kann man sich so einfach nicht zurückziehen, wenn man schon selber mit dem Begriff „Konsumzwang‟ argumentiert, also die ökonomische Sphäre hereinbringt.

Ist es vielleicht der Zwang, der stört?

„Ohne Konsumzwang‟ könnte auch heissen sollen, dass Bibliotheken nicht das Ziel hätten, Menschen zum Kauf oder zur Annahme von etwas zu verleiten, während andere Einrichtungen – sagen wir einmal Einkaufzentren – dies zum Ziel hätten.

Auch diese Vorstellung lässt sich eigentlich nicht halten. Zum einen haben Bibliotheken selbstverständlich Ziele, die sie aber anders ausdrücken: Literatur vermitteln, Menschen zum Lesen verführen, Informationskompetenz vermitteln. Hierzu werden ja immer wieder Strategien entworfen und Wege gesucht. (Was nicht heisst, dass sie immer erfolgreich sind, aber das gilt ja auch bei Einrichtungen des Konsums – die können ja auch nicht alles verkaufen, was sie sich erhoffen.) Das nicht direkt zu erzwingen, sondern beispielsweise eher anzuregen (so, dass die Menschen das selber wählen zum Beispiel) ist auch nichts spezifisch nicht-kommerzielles. Die gerade – ich gebe zu, für dieses Argument – eingeführten Einkaufszentren agieren auch so. Auch dort werden immer wieder indirekt Dinge ein- und aufgebaut, die nicht direkt zu mehr Konsum führen, aber offenbar indirekt doch mehr Konsum erreichen wollen: Sitzgelegenheiten, Ausstellungen, Foodcorner, die man auch frei nutzen kann (in Grenzen, solange man sich benimmt, aber das gilt für Bibliotheken auch), aktuell auch offenbar gerne Spendenboxen, um soziale Verantwortung zu zeigen (die man glauben kann oder auch nicht). Kein Zwang, sondern eher Nudging – auch das ist nichts spezifisch Besonderes oder Gutes, das nur für Bibliotheken gilt.

Des bibliothèques pour le socialisme / néo-anarchisme ?

Und nicht zuletzt fällt an dem Begriff ja auch auf, dass Bibliotheken ja gerade keine Einrichtungen sind, die irgendwie in Opposition zu der Gesellschaft stehen, in der Beziehungen über Geld vermittelt sind. Sie wollen keine sozialistische Gesellschaft aufbauen oder Verhaltensweisen einer solchen Gesellschaft einprobieren lassen. (Redecker 2018) Überhaupt: „ohne Konsumzwang‟. Was ist das eigentlich für ein Wort? Wer sagt so was im 21. Jahrhundert? Klingt es nicht auch etwas aus der Zeit gefallen?

Es gibt im Francophonen eine gewisse politische Strömung, die aktive Kapitalismuskritik vor allem darin versteht, weniger zu Produzieren, weniger zu Verbrauchen, lokaler zu Handeln. In der Westschweiz gibt die Zeitschrift „Moins!‟ („Weniger!‟, http://www.achetezmoins.ch), die das vertritt. Im Verlag Éditions La Découverte (https://editionsladecouverte.fr) erschienen einige Bücher, die man der Strömung zuordnen kann (aber viele auch nicht, der Verlag hat einen extrem hohen Output). Oder in Grossbritannien eine Anzahl der Autor*innen, die bei PlutoPress (https://www.plutobooks.com) publizieren. Eigentlich viele Personen, die sich irgendwie auf Ivan Illich beziehen. (Im DACH-Raum vielleicht die Zeitschrift graswurzelrevolution, https://www.graswurzel.net/gwr/.) In Ermangelung einer klaren Bezeichnung dieser Strömung nenne ich sie mal „Neo-Anarchismus‟.2 Wenn Personen aus diesem Umfeld „Konsumzwang‟ sagen, dann hat das eine Verbindung zu ihrer Gesellschaftkritik und ihrer politischen Praxis. In der „Moins!‟ werden zum Beispiel kontinuierlich irgendwelche selbstverwalteten Initiativen, Kommunen, Fahrrad-Werkstätten, Bauernhöfe vorgestellt, dies sich irgendwie mit dieser Strömung in Verbindung bringen lassen. Wenn die Leute dort sagen, dass sie „ohne Konsumzwang‟ leben wollen, dann passt das Wort dort. (Ob es funktioniert, das ist eine andere Frage.)

Aber bei Bibliotheken, die ja nicht diesen neo-anarchistischen Kreisen zugehören, klingt das Wort halt auch kontextlos. Die oben zitierten schweizerischen Richtlinien für Öffentliche Bibliotheken führen sonst eher Begriff aus anderen Zusammenhängen an, beispielsweise solche Sätze: „Die Optimierung der Betriebsabläufe und der Angebote steht im Dienst der Kundschaft. Effektives und effizientes Handeln sowie marktorientiertes Denken sind Konstanten der Betriebsführung. Bibliotheken setzen sich Ziele und kontrollieren permanent deren Umsetzung, sie überprüfen periodisch ihre Organisation sowie die Arbeitsabläufe. Mit gezielter Lobbyarbeit stärken sie ein positives Image.‟ (bibliosuisse 2020: 6)3 Das Argument mit dem fehlenden „Konsumzwang‟ ist auch deshalb wenig glaubwürdig, weil es nicht in den sonstigen Diskurs von Bibliotheken über sich selber passt. Es scheint entweder aus einem anderen Kontext oder aus einer anderen Zeit (oder beidem) zu stammen.

Was hiess „ohne Konsumzwang‟ früher?

Mir scheint eine andere Erklärung für dieses Argument viel passender, als die Vermutung, dass Bibliotheken sich in Wirklichkeit hinter der Suche nach Best Cases, Professionalisierung, Bestimmung von Kennzahlen und so weiter nur verstecken, um ihre eigentliche neo-anarchistische Zielsetzung zu verschleiern. Viel überzeugender ist für mich die Vermutung, dass es aus einer anderen Zeit stammt, aber im bibliothekarischen Diskurs kontinuierlich reproduziert wird. (Ich gebe zu, dieses Argument wiederholt sich bei mir mit einige Themen und die folgende Geschichte habe ich jetzt auch schon ein paar mal erzählt.)

Bibliothekarische Polemiken, Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert

Die Geschichte der Einrichtungen, die wir heute als Öffentliche Bibliotheken kennen, beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, Pi mal Daumen mit der Industrialisierung beziehungsweise in deren Schlepptau: Als die Städte urbanisiert waren, die Arbeiter*innen als eigene Schicht (oder Klasse) auftraten (sich selbst organisierten, aber gleichzeitig den Rest der Gesellschaft so auch dazu brachten, darüber nachzudenken, wie man auf diese neue Schicht reagieren sollte), als die Alphabetisierung weit genug verbreitet war und die Druckindustrie technisch und organisatorisch in der Lage war, billig Massenauflagen zu produzieren, beginnt die eigentliche Geschichte der Öffentlichen Bibliothek.4

Was wichtig zu erinnern ist, ist Folgendes: Wie die Öffentliche Bibliothek aussehen, was ihre Aufgaben sind und von wem sie getragen werden sollte (finanziell, aber auch politisch) war damals keine ausgemachte Sache. Es gab verschiedene Formen von Bibliotheken, nicht eine Öffentliche Bibliothek. Es gab teils heftige Auseinandersetzungen und Polemiken zwischen Aktiven in diesen unterschiedlichen Bibliotheksformen. Genauso, wie die entstehende moderne Gesellschaft massive Friktionen durchlief, galt dies auch für das Bibliothekswesen. Als wichtige Bibliotheksformen der damaligen Zeit sind zu erwähnen:

  • die Lesehallen (die sich als unpolitische Einrichtungen verstanden, die einen liberale Zugangspolitik pflegten, der Volksbildung – wir kommen gleich dazu – dienen sollten und die forderten, von den Gemeinden finanziert zu werden)
  • die Arbeiterbibliotheken (die der sozialistischen Bewegung – und ihrer Spaltungen – verpflichtet waren, sich als Bildungseinrichtungen für das Proletariat verstanden, die das politischen Ziel einer sozialistischen Gesellschaft hatten und die finanziert wurden von der Bewegung selber, also durch Partei, Gewerkschaften, proletarischen Bildungsvereine (siehe auch: Schuldt 2019))
  • die katholischen Bibliotheken (die vom politisch organisierten Katholizismus getragen wurden, der insbesondere während des „Kulturkampfes‟ Ende des 19. Jahrhunderts entstand – mit der Zentrumspartei im Mittelpunkt, aber tausenden von weiteren Vereinigungen, die um die Kirche herum organisiert waren – um sich gegen den Zugriff des Staates zur Wehr zu setzen, die Mitgliedern der Gemeinden offen standen, die die Ziele des politisch organisierten Katholizismus unterstützten und die von den Kirchgemeinden getragen wurden)
  • Leihbibliotheken, in der Folgezeit (von den anderen Bibliotheken) auch „kommerzielle Leihbibliotheken‟ genannt (Unternehmen, oft mit genau einer Filiale, in denen Bücher und Broschüren verliehen wurden wie später Videos in Videotheken – auf ökonomischer Grundlage, dafür auch durch dieses Geschäft selber finanziert)

Das sind lange nicht alle Formen von Bibliotheken, die es Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts gab, aber die wichtigsten.5 Wichtig ist auch zu erinnern, dass das keine monolithischen Bewegungen waren: Teilweise waren die Grenzen fliessend, oft gab es Auseinandersetzungen innerhalb der einzelnen Bibliotheksformen.6 Für das eigentliche Thema dieses Blogposts, der Frage wo die Aussage, Bibliotheken wären Orte „ohne Konsumzwang‟, herkommt, werde ich mich hier auf die Lesehallen fokussieren. Aber wenn man die Zeit hat, kann man das selbstverständlich noch weiter auffächern.

„Konsumzwang‟ als polemisches Argument

Fast alle diese Bibliotheken grenzten sich voneinander ab, insbesondere die, die sich als Bewegung (oder Teil einer Bewegung) verstanden und dafür auf eigene Medien zurückgreifen konnten. Die Leihbibliotheken sahen sich nicht wirklich als gemeinsame Bewegung (mit Ausnahmen) und äusserten sich praktisch kaum zu den Angriffen auf sie. (Auch wenn es einige Publikationen gab wie „Der Leih-Bibliothekar‟, 1885-1891.) Dafür waren sie verbreitet und existierten entgegen aller Angriffe bis in die 1950er, 1960er Jahre hinein.

Lesehallen hingegen wussten sich zu äussern: In Zeitschriften (eigenen, wie den „Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen‟, 1900-1919 oder den „Eckart: ein deutsches Literaturblatt‟, 1906-1915 oder inhaltlich nahen wie den „Comenius-Blättern für Volkserziehung‟), in Broschüren, Büchern, Eingaben, Artikeln und anderen Formen. Wir wissen also recht viel darüber, was zumindest in den Leitungen der Lesehallen gedacht wurde.

Lesehallen verstanden sich, wie oben gesagt, als unpolitisch. Aber selbstverständlich waren sie das nicht. Unpolitisch im Deutschen und Österreich-Ungarischen Kaiserreich und dann vor allem anschliessend in der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik hiess, eine bestimmte politische Position einzunehmen, die allerdings als über der Politik verstanden wurde: Geteilt wurden hier Vorstellungen von Volk, Gesellschaft, Autorität, Kaiser und später Demokratie, die heute eindeutig rechts einzuordnen wären. Die Vorstellung, dass es eine geistige Elite gäbe, die das Volk führen müsste; dass es Werte gäbe, die in jeder Regierungsform gelten, auch, dass diese Autorität nicht erklärt werden müsse, sondern – wenn man nur richtig schaut – für sich selbst verständlich würde, war Teil dieser Idee des „Unpolitischen‟. Jede Einführung in die Geschichte der Weimarer Republik, der Ersten Republik oder auch der Gesellschaft der beiden Kaiserreiche schildert diese bürgerliche Elite, die sich der Mitarbeit an der Demokratie mindestens verweigert, teilweise auch an ihrer Abschaffung mittat und das immer mit dem Verständnis, grössere Zeitzusammenhänge zu verstehen als „die Massen‟. Sie war einer Form von Romantik verpflichtet, die angeblich fühlend geistige Wahrheiten erkennen würde, die nicht rational zu erfassen wären.

Teil dieses „unpolitisch sein‟ war ein gewisses Verständnis davon, was „Volksbildung‟ heissen sollte – auf das sich die Lesehallen explizit bezogen. Diese wurde als ästhetische Bildung verstanden, in welcher das Volk – hier: die Massen, die nicht zu Elite gehörten, aber auch schon mit genügend Anklängen an das „völkische‟ – die ihm innewohnenden Eigenheiten erkennen und entwickeln sollte und sich damit gegen „Vermassung‟ und andere Charakteristika der Moderne wehren sollten. Das ging schnell vom Individuum über zu angeblich natürlichen Gemeinschaften, die mit „Volksbildung‟ ihr wahres Wesen erkennen lernen würden. Volksbildung hiess ein gefühlsmässig verstandene und vermittelte Ästhetik in Kultur, Literatur und anderen Bereichen zu vermitteln, die immer gegen „Vermassung‟ stehen sollte. Verband man das mit sozialem Anspruch landete man vielleicht bei Arts and Crafts-Bewegung, der Lebensreformbewegung oder den Wiener Werkstätten, aber wohl öfter bei solchen ästhetischen Programmen wie denen im George-Kreis oder solchen Vereinigungen wie den „Vereinigten Prüfungsausschüssen‟, die in ihrer Zeitschrift „Jugendschriften-Warte‟, 1893-1933, auf der Basis solcher ästhetischen Urteile, die vor allem aus sich selbst heraus erklärt wurden, Literatur bewerten und solche, die sie als „Schmutz und Schund‟ bezeichneten bekämpfen wollten.7

Das waren alles vor allem Abwehrbewegungen gegen die Moderne, wie Kaspar Maase (2012) vollkommen richtig gezeigt hat: Die Eliten hatten Angst vor den Massen, die sie eigentlich erst mit der Industrialisierung geschaffen hatten. Einige fühlten sich den Massen überlegen und wollten, dass dies so bliebe. Andere sahen eine neue Gesellschaft herankommen, in denen die Massen sich durchsetzen würden, und wollten die Massen auf dem Weg dorthin erziehen, damit sie eine bessere Gesellschaft einrichten würden. Immer ging es um irrationale Ängste.

Und aus dieser Zeit und diesem Denken stammen die Lesehallen: Der Literatur wurde ein Wert zugeschrieben, weil sie zur Bildung des Volkes da sein sollte. Wie genau das funktionieren sollte, was Volk genau hiess und wie gute und schlechte Literatur aussehen: Das war immer offen für Diskussionen und Interpretationen, gerade weil das alles immer politische Frage sind, auch wenn behauptet wurde, dass sie nicht politisch wären. Eine der Einrichtungen, die für die Lesehallenbewegung als Einrichtung dieser Vermassung galt, weil sie „Massenliteratur‟, „Schund und Schmutz‟ verbreiten würden, waren die „kommerziellen Leihbibliotheken‟.

Das „Problem‟ war immer da: Volksbildungsbewegung, Lesehallen, Verbände von Lehrpersonen und Bibliothekar*innen, auch oft die Politik und Polizei versuchten gegen die „schlechte‟ Massenliteratur vorzugehen – und trotzdem gab es sie immer weiter, wurde sie immer weiter gelesen. Irgendwer musste daran Schuld sein. Heute würden wir sagen, das war halt das, was die Leute lesen wollten. (Und wir würden auch darauf verweisen, dass die ganze Einteilung in Schund und Schmutz auf der einen und guter Literatur auf der anderen Seite immer Unsinn war; vor allem, dass die Literatur, die dabei als schlecht verworfen wurde, viel differenzierter war, als in der Polemiken gegen sie dargestellt.) Aber von den Grundthesen der Volksbildungsbewegung her kann das nicht sein, sondern jemand musste diese Literatur verbreiten, um die Massen zu, well, „Vermassen‟.

Leihbibliotheken wurde vorgeworfen, dass sie aus kommerziellen Interessen Literatur anschaffen und verbreiten würden. Literatur, die „niedere Instinkte ansprechen‟ würde, nicht kunstvoll gestaltet sei, sondern grob. Inhaltlich schlecht: Action, Romanze, Erotik, schnelle Geschichten, die vor allem Sinne reizen, aber nicht zur Ausbildung eines Individuums beitragen würden. Literatur, die schnell weggelesen und Appetit auf noch mehr davon machen würde. Eine Droge, die die Massen dumm halten würde – Schund halt. („Opium für das Volk‟ hätte man in der Lesehalle nicht gesagt, dass Zitat wäre damals zu geladen gewesen – aber ungefähr so war es gemeint.) Dies alles würde sich daraus ergeben, dass die Leihbibliothek eine kommerzielle sei – eine, die immer auf das Geschäft schauen müsste.

Und hier kommen wir dazu, woher die Aussage, Bibliotheken (eigentlich Lesehallen) seien Einrichtungen „ohne Konsumzwang‟, wohl stammt: Aus der Polemik der Lesehallen gegen die „kommerziellen Leihbibliotheken‟. Es war eine Abgrenzung: Leihbibliotheken müssten Geschäfte machen, Lesehallen würden sich der Volksbildung zuwenden. Leihbibliotheken würden Schmutz und Schund verbreiten (müssen), die Lesehalle gerade nicht. Leihbibliotheken würden die „Vermassung‟ vorantreiben, Lesehallen hingegen Volksbildung betreiben. „Ohne Konsumzwang‟ hiess in diesem Zusammenhang nicht, dass individuell in der Bibliothek nichts bezahlten werden müsse, sondern dass sie gegen die als Problem wahrgenommen Entwicklungen der modernen Gesellschaft stehen würde: Konsum als instinkthaftes Handeln der ungebildeten Masse (im Gegensatz zum kulturellen Konsum der Gebildeten).

In diesem Zusammenhang macht das Argument auch mehr Sinn, weil es einen Kontext hat (so, wie es heute im neo-anarchistischen Diskurs einen Kontext hat, wenn auch einen sehr anderen). Man kann diesen Kontext (mit guten Gründen) falsch finden, aber es ist immerhin in gewisser Weise folgerichtig. Es passt von der Sprache auch viel mehr in diese Zeit und diese Denkweise als in die Sprache, die heute von Bibliotheken genutzt wird. Die Aussage war keine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, sondern eine Abwehr von spezifischen Entwicklungen der Moderne – unter anderem dem, dass immer weitere Teile der Bevölkerung ein Surplus an Einkommen hatten, die sie zur Entwicklung einer eigenständigen Kultur einsetzen konnten und das ein Markt für literarische Erzeugnisse (und andere, die Entwicklung des Kinos und die Reaktionen von Bibliotheken darauf sind zum Beispiel nochmal eine eigene Geschichte) entstand, der auf diese Surplus-Einkommen ausgerichtet war, also eher billige Massenprodukte, von denen viele verkauft werden mussten, um einen Gewinn zu produzieren, publizierte als teure Sonderdrucke.

Hat die Geschichte Relevanz?

Eine der Grundfragen bei solchen historischen Herleitungen ist immer, ob diese Geschichte heute eine Relevanz hat: Die Gesellschaft hat sich offensichtlich verändert, die Bibliotheken auch (um nur die auffälligste Veränderung zu unterstreichen: Es gibt jetzt nur noch eine Form Öffentlicher Bibliotheken, nicht mehrere). Und trotzdem wird diese Aussage – aber andere nicht mehr – laufend immer wieder gebracht. Hat sich vielleicht den Inhalt verändert und meint jetzt einfach etwas ganz anderes? Lohnt sich die Suche in der Geschichte dann überhaupt?

Ja, auf jeden Fall. Begriffe, Argumente, Dinge, „die man so daher sagt‟ (gerade die, weil halt ohne grosse Reflexion) schleppen immer die Bedeutung mit, die sich in ihrer Geschichte gebildet hat. Sie haben Bedeutung, weil sie oft ein Denken verlängern, selbst wenn sich die Situation vollkommen geändert hat, aus der dieses Denken stammt, und die aufgerufen werden, auch wenn die, die sie aufrufen, sich nicht darüber im Klaren sind (oder, schlimmer, sich weigern, sich darüber klar zu werden). Das gilt auch für die auf den ersten Blick vielleicht unschuldige Aussage, Bibliotheken seien Orte „ohne Konsumzwang‟. Diese stammt aus einer Zeit, in der sich diejenigen, welche Lesehallen forderten, als Elite verstanden, welche das Recht hätten, „die Massen‟ davon abzuhalten, eine eigene Kultur inklusive einer eigenen Mediennutzung auszuprägen und stattdessen sie auf Ideal zu verpflichten, welches die Eliten für richtig und natürlich ansahen.8 Hat die Aussage diese Geschichte wirklich verloren? Sagt man mit ihm nicht auch weiterhin, die Kultur, die da zum Beispiele Jugendliche beim Cornern im Einkaufszentrum ausprägen oder die Kultur, die in der Stammkneipe entsteht, sei Konsum: Irgendwie falsch, zumindest nicht richtig gut. Nicht verboten, aber auch nicht richtig. Erhebt man die Bibliothek durch das Argument nicht auch weiterhin zu einer Einrichtung, die irgendwie ausserhalb der Gesellschaft steht?

Fazit: Aussagen bedenken

Also: Sollten man die Aussage weiter als Argument verwenden? Nein, sie ist faktisch einfach nicht richtig. Sie ist inhaltlich nicht genügend geklärt, um zu überzeugen. Und sie hat eine Geschichte, die man beenden, nicht verlängern sollte.

Aber das scheint mir gar nicht das Wichtigste zu sein. Interessanter finde ich festzustellen, dass offenbar eine ganze Anzahl von Kolleg*innen immer weiter Argumente und Behauptungen als richtig und sinnvoll ansieht, die ich – und andere – eigentlich immer nur als ironische Aussage verstehen können. Das habe ich beim Nachdenken über dieses Argument gelernt. Warum ist das so? Was finden Kolleg*innen an solchen Aussagen und Argumenten richtig? Ich muss zugeben, dass ich daran immer noch knabbere: Ich hoffe, dass an diesem Beispiel hier sichtbar geworden ist, dass es eigentlich nicht viel Arbeit bedeutet, zu zeigen, dass die Aussage nicht stimmen kann. Das ist mit anderen Argumenten, die oft für Bibliotheken gebracht werden, nicht anders. (Vor nicht zu langer Zeit habe ich das zu dem Argument, Bibliotheken würden „Armut beim Zugang zu Medien ausgleichen‟ auch schon mal diskutiert.) Was aber ist dann ihre Funktion? Verlängern sie veraltete Vorstellungen? Bieten sie Orientierung? Gibt es einfach keine besseren Argumente mehr? Darüber sollten wir alle mehr nachdenken.

Gleichzeitig ist das hier selbstverständlich ein Plädoyer dafür, Begriffe und Argumente nicht einfach zu übernehmen, sondern gerade dann, wenn man sie selber als für sich selbst-erklärend und richtig versteht, stehenzubleiben und erst einmal die Begriffe zu klären: Was sagen sie eigentlich? Sind sie faktisch richtig? Überzeugen sie auch andere? Wo kommen sie her und welche Geschichte schleppen sie mit? Ist man dann immer noch überzeugt, kann man sie wohl verwenden. Aber in vielen Fällen, so bin ich überzeugt, werden sie das dann nicht mehr sein. (Was nur die Argumente, die man dann doch macht, besser machen wird.)

 

 

Literatur

Bibliosuisse (2020). Richtlinien Öffentliche Bibliotheken 2020: Grundlagen und Empfehlungen zu Personal, Infrastruktur, Angeboten und Leistungen, Qualitätsmanagement. Aarau: Bibliosuisse, 2020, https://bibliosuisse.ch/Dokumente/Angebote/Downloads/Richtlinien-Öffentliche-Bibliotheken

Maase, Kaspar (2012). Die Kinder der Massenkultur : Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus, 2012

Oldenburg, Ray (1989). The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York: Paragon House, 1989

Redecker, Eva von (2018). Praxis und Revolution: Eine Sozialtheorie radikalen Wandels. Frankfurt, New York: Campus, 2018

Schuldt, Karsten (2019). Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: LIBREAS 35 (2019), http://dx.doi.org/10.18452/20324

Vodosek, Peter (Hg.) (1978). Vorformen der öffentlichen Bibliothek (Beiträge zum Büchereiwesen. Reihe B, Quellen und Texte ; 6). Wiesbaden : Harrassowitz, 1978

 

Fussnoten

1 Der Zufall will es, dass ich das in einem solchen Café auf einem Friedhof schreibe, keine fünf Minuten von so einem Marktplatz und so einem Zoo ohne Eintritt – aber auch keine fünf Minuten von einer Bibliothek – und vielleicht zehn Minuten von der nächsten staatlichen Galerie ohne Eintritt entfernt schreibe. Sicherlich: Inmitten einer Grossstadt, aber so schwer ist es wirklich nicht, solche „Orte ohne Konsumzwang‟ zu finden.

2 Anarchismus als politische Strömung, die eine Gesellschaft die auf gemeinsamen Absprachen und Assoziationen freier Individuen errichten möchte, nicht Anarchismus als „Chaos‟. Ich hoffe, der Unterschied ist bekannt. Man tue mich auch bitte nicht in diese Strömung, nur weil ich sie kenne. Ich habe sie des Arguments wegen ausgesucht, weil sie halt die sind, in der ich einen Begriff wie „kein Konsumzwang‟ heutzutage besser aufgehoben sehe als in Bibliotheken.

3 Auch hier gebe ich gerne zu, dass ich die Richtlinien wegen dieser Argumentes ausgewählt habe. Aber das macht das Argument nicht falsch – in ihnen (auch weil sie so konzis geschrieben sind) zeigt sich der Widerspruch einfach sehr gut.

4 Selbstverständlich gab es Vorformen, siehe Vodosek (1978).

5 Selbstverständlich gab es zum Beispiel auch Bibliotheken, die von evangelischen Gemeinden getragen wurden, aber diese Kirche war nicht Angriffes des Staates ausgesetzt, wie die katholische und entwickelte deshalb auch keine eigene Bewegung (prägte aber Parteien). Und: Das gilt auch nicht für alle Denominationen. Beim Judentum traue ich mir keine übergeifende Aussage zu, aber selbstverständlich unterhielten die jüdisch-sozialistischen Parteien Bibliotheken, mehr oder minder – wie diese Parteien selber mehr oder minder in der Arbeitebwegung – eingebunden waren in die Arbeiterbibliotheken. Zionistische Vereinigungen unterhielten auch Bibliotheken, wie hätte man sonst für die Alija lernen sollen? Für andere Teil des Judentums weiss ich es bislang nicht. Daneben gründeten auch viele Vereinigungen von Angestellten, auch die, die sich nicht als Teil der Arbeiterbewegung verstanden, Bibliotheken für ihre Mitglieder. Es war eine sehr offene Situation für die gesellschaftliche Entwicklung und so auch für Bibliotheken.

6 Die innerhalb der Lesehallen in den 1910ern und 1920ern ist als „Richtungsstreit‟ bekannt; die innerhalb der Arbeiterbewegung folgten der Ausdifferenzierung der Arbeiterbewegung: Welche politische bewusste Anarchistin hätte sich 1912 schon in einer sozialdemokratischen Bibliothek blicken lassen? Welcher Kommunist in einer anarchosyndikalistischen? Eben.

7 Schund sei Literatur, die „inhaltlich wertlos‟ sei, Schmutz sei solche, die sich „mit niederen Themen‟ beschäftigen, was fast immer hiess mit Sex (Gewalt war nicht so negativ angesehen, vor allem nicht in der militarisierten Gesellschaften der beiden Kaiserreiche).

8 Wie ich in Schuldt (2019) auch dargestellt habe, unterschieden sich Arbeiterbibliotheken in diesem Punkt nicht so sehr von Lesehallen, aber mit einer gewichtigen Differenz: Anstatt das Volk von der „Vermassung‟ abhalten zu wollen, bewerteten sie Literatur aus ihrer Aufgabe heraus, eine bessere Gesellschaft einrichten zu helfen.

Soll man einfach so zum Status quo ante zurückkehren?

So, Bibliotheken sperren langsam auf. Nicht überall, immer mit Einschränkungen, unterschiedlichen Lösungen und Zeithorizonten (und vielleicht auch nur erstmal, falls „die zweite Welle‟ kommt). Dazu hätte ich mal eine Frage: Ist das Ziel jetzt am Ende des Prozesses alles wieder so zu haben, wie es – sagen wir mal – im Januar 2020 war? Soll neue Normalität heissen vor allem irgendwie die alte Normalität, wenn auch in Schritten, wieder zu erreichen?

Weil, zumindest das was man hört und sieht, wenn man vor allem weiter daheim bleibt und Online arbeitet, scheint darauf hinzudeuten. Das muss nicht heissen, dass es überall so ist. Vieles was in einzelnen Bibliotheken lokal geschieht, gerade internes, sieht man so ja nicht. Aber wenn dieser Eindruck stimmt, würde ich doch etwas einwerfen wollen: Das muss überhaupt nicht das Ziel sein und es wird viel Unzufriedenheit hervorrufen. Es wäre falsch. Ich würde hierbei vor allem, aber nicht nur, vom Personal sprechen.

Was gelernt wurde

Während der Pandemie ist in den letzten Monaten unter anderem in Bibliotheken klar worden, (a) was in den einzelnen Bibliotheken auch anders möglich wäre, (b) was von den Nutzenden als wichtig angesehen und genutzt wird oder nicht, (c) was für Vorstellungen Bibliotheken über sich und ihre Funktion haben und wie sehr sich das mit der Realität (also dem, was wirklich benutzt oder wertgeschätzt wird) deckt, (d) was für interne Strukturen vielleicht gar nicht nötig sind, zumindest aber nicht in der hergebrachten Form. Nur ein paar Punkte:

  • Das ganze Arbeiten Online und vielleicht mit weniger direkter Kontrolle durch ständigen Kontakt in der Bibliothek / im Büro hat gezeigt, wie gut oder schlecht das wirklich funktioniert. Etwas überrascht (weil, zugegeben, ich als Forschender eigentlich schon immer so arbeite) konnte man in den letzten Wochen ja feststellen, dass einige Einrichtungen und Personen jetzt, 2020, erst damit wirlich Erfahrungen sammeln. Und diese Erfahrungen sind selbstverständlich ganz unterschiedlich (das hätten Leute wie ich, die schon so arbeiten, auch sagen können, hätte man mal gefragt). Viele kamen damit nicht gut klar, bei vielen auch wegen dem Betreuungsaufwand, den sie auf einmal zusätzlich hatten. Aber bei vielen auch, weil sie die Organisation auf diese Weise nicht gewohnt waren. Andere kamen gut klar und konnten besser und effektiver, vielleicht auch zufriedener arbeiten. Gleichzeitig wurden viele Annahmen über die Leitung von Bibliotheken und das Management von Personal auf die Probe gestellt. So viele Leitungen und Personen mit Personalverantwortung, welche die Überzeugung hatten, Führung ginge nur über direkten Kontakt in Sitzungen und Gesprächen vor Ort (ansonsten würde niemand arbeiten?) waren jetzt gezwungen, das anders zu organisieren. Bestimmt wieder mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Aber mit realen Erfahrungen.

  • Das Personal in vielen Bibliotheken musste und konnte in diesen Wochen die eigene Arbeit anders organisieren als in der Bibliothek / im Büro. Auch hier: Einige werden damit Schwierigkeiten gehabt haben, andere werden gut damit zurecht gekommen sein und eine Anzahl wird so viel besser als sonst gearbeitet haben. Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben viele auch selber erlebt (und werden vielleicht in den nächsten Tagen beim vBIB20 noch erleben), das Weiterbildung auch Online gut möglich ist, und wenn es einfach nur die Zeit ist, die man sich nimmt, um einen Vortrag zu schauen, anstatt extra dafür hunderte Kilometer zu fahren und dann da mit Leuten kommunizieren zu müssen. (Das ist ja auch ein Lernprozess.)

  • Es scheint auch so, als wäre das eigentliche Empfinden des Personals – also sowohl die, die in dieser Krise belastet waren, beispielsweise mit mehr Ängsten, depressivem Phasen, Stress, Unsicherheiten als auch denen, die positivere Erfahrungen hatten, beispielsweise freier arbeiten konnten oder konzentrierter – kaum Thema von Diskussionen. Das kann täuschen, es ist schwer in die internen Prozesse der einzelnen Bibliotheken zu schauen. Aber – wie auch in der breiten Öffentlichkeit, wo mehr über die Sorgen vermögender Firmen und Restaurants-Lobbygruppen geredet wurde, als über die Belastungen für Menschen mit wenig Geld oder mehr Ängsten – scheint auch im bibliothekarischen Diskurs vor allem eher über institutionelle Dinge geredet worden zu sein. Das zeigt auch eine gewisse Wertigkeit (die, wie gesagt, vor Ort anders aussehen kann).

  • Viele Bibliotheken, vor allem Öffentliche, gingen in den Anfangswochen dieser Krise davon aus, dass es einen grossen Bedarf daran gäbe, irgendwie Bücher bereitzustellen. Wir haben das alle irgendwo gelesen: Lieferdienste per Post oder direktem Vorbeibringen, Anrufen in der Bibliothek und vor der Bibliothek abholen und alle anderen möglichen Lösungen. Mehr Onleihe, Filmfriend und so weiter sowie die Möglichkeit, sich online einzuschreiben. Es wäre jetzt möglich, mal zu schauen, wie sehr diese These stimmte. Wie waren den die Zahlen? Hat sich der Aufwand gelohnt? Und selbst wenn die Zahlen nicht gut waren (die wenigen, die bislang durchgedrungen sind, klangen nicht überragend; aber das kann ja wieder anderswo anders gewesen sein1), fand es vielleicht die Öffentlichkeit, die Träger und so weiter gut, dass es das Angebot gab? Oder war das eine verkehrte Annahme der Bibliotheken davon, was Nutzende (in dieser Situation) wichtig finden?

Wie immer wird die Antwort nicht einfach Ja oder Nein, Gut oder Schlecht sein. Nicht zum Beispiel: „Ja, ab jetzt nur noch Online arbeiten‟ oder „Nein, nur noch vor Ort‟. Aber was wohl klar sein sollte: Alle haben in dieser Krise Erfahrungen gesammelt (und sammeln sie weiter, auch beim jetzigen „Öffnungsprozess‟; die Krise ist ja noch nicht um). Viele haben erlebt, dass Dinge wirklich nicht so sein müssen, wie sie sind.

Was man tun könnte

Mein Argument wäre: Einfach anstreben, die Bibliothek im, sagen wir mal, Oktober, wieder so zu haben, wie sie im, sagen wir mal, Januar war, wäre ein Fehler. Das wird Teile des Personals (und damit meine ich auch Leitungen selber) und vielleicht auch der Öffentlichkeit enttäuschen. Menschen haben jetzt nicht einfach als denkbare Möglichkeit, sondern in der Realität, gelernt, dass es anders sein kann. Das heisst nicht, dass alle wollen, dass es so anders bleibt. Aber viele werden sehen wollen, dass ihre Bibliothek aus diesen Erfahrungen lernt. Die einfache, undiskutierte Rückkehr zum Status quo ante wird den Eindruck vermitteln, dass man die Erfahrungen des Personals – gute, schlechte und die dazwischen – nicht relevant findet und nur an der Aufrechterhaltung vorhandenen Strukturen und Prozesse interessiert ist, egal was deren – auch wieder guten, schlechten und dazwischen – Effekte sind. (Das wird Auswirkungen auf die Motivation von Teilen des Personals haben und vielleicht auch dessen Wunsch, sich anderswo um Karrieren umzusehen.)

Was könnten Bibliotheken praktisch tun?

  1. Bibliotheken sollten nicht einfach davon ausgehen, dass alle den Wunsch und das Ziel haben, ungefragt und unbedacht wieder zum Zustand vom Januar 2020 zurückzukehren und die Frage einfach nur wäre, wie und über welchen Zeitraum. Das wäre schlicht eine falsche Annahme. (Ungefähr so, wie wenn die Leitung alleine das Leitbild schreibt und dann davon ausgeht und plant, als wenn das von allen in der Einrichtung geteilt wird.)

  2. Bibliotheken sollten zeitnah einen Prozess aufsetzen, in dem sich alle in der Bibliothek gemeinsam darüber Gedanken machen können, was jetzt eigentlich in der Krise passiert ist, wie sie das erlebt haben, was sie gelernt haben und so weiter. Der Prozess kann ganz unterschiedlich aussehen, wie solche Prozesse in den Bibliotheken halt aussehen: Ein grosses Treffen (online?), ein strukturierter Prozess in mehreren Phasen mit verschiedenen Formen der Rückmeldung. Die Managementliteratur ist voll mit Vorschlägen für solche Abstimmungsprozesse, man kann da einen auswählen. (Bibliotheken, die Prozesse etabliert haben, in dem das Personal sich wirkmächtig – also so, dass auch tatsächlich etwas passiert und ohne Angst haben zu müssen, dass es für sie negative Auswirkungen hat, wenn sie sich äussern – äussern können, sind dabei im Vorteil. Solche, die bislang solche internen Prozesse nicht haben und eher hierarchisch organisiert entscheiden oder bislang dem Personal keinen realen Einfluss auf Entscheidungen gewährt haben, werden damit weiter Probleme haben. Aber das liegt dann gerade an der internen Struktur über die gerade reale Erfahrungen gesammelt wurden.) Verschiebt man diesen Prozess auf irgendwann nach der Krise oder geht ihn gar nicht an, sendet man an das Personal die Nachricht, dass deren Erfahrungen irrelevant sind im Gegensatz zur Aufrechterhaltung des Bestehenden.

  3. Was in einem solchen Prozess geklärt werden sollte, ist nicht nur, welche Erfahrungen die Einzelnen in den letzten Monaten hatten (wobei dabei wichtig wäre zu merken, wie unterschiedliche diese Erfahrungen wohl waren und nicht die Erfahrungen einzelner zum normalen Empfinden stilisiert werden sollten). Es sollte thematisiert werden, was funktioniert hat und was nicht (wobei hier klar sein sollte, dass nicht alles gut funktionieren kann und vor allem die tatsächlichen Anstrengungen wertgeschätzt werden sollten), was an „alten Strukturen‟ und vielleicht auch Denkweisen (oben schon erwähnt die Annahme, Leitung müssen in Sitzungen und Gesprächen vor Ort durchgeführt werden) dem Funktionieren im Weg stand, was an Vorstellungen davon, was die Bibliothek ist und soll, sich bestätigt oder nicht bestätigt hat.

  4. Geklärt werden sollte auch gemeinsam, was das Ziel für die Normalität nach der Krise sein soll. Wie gesagt, gerade scheint mir, dass an vielen Stellen einfach vorausgesetzt wird, dass alle zum Status quo ante zurückkehren wollen würden. Aber: So, wie es Januar 2020 war, war es vielleicht gar nicht bestmöglich. Vielleicht haben sich durch die Erfahrungen der letzten Monate alternative Vorstellungen davon, wie die jeweilige Bibliothek sein soll, wie die internen Strukturen sein sollen, wie die Arbeit sein soll, entwickelt. Vielleicht haben sich Lockerungen ergeben. Vielleicht hat sich erst durch die neuen Erfahrungen gezeigt, wie die Strukturen eigentlich sind. Oder vielleicht wollen wirklich alle in der Bibliothek wieder zum gleichen Stand zurück und die gleichen Angebote machen. Das wäre in einem solchen Prozess zu klären. Aber es einfach vorauszusetzen, hiesse nur, die Erfahrungen des Personals überhaupt nicht ernstzunehmen.

Keine dummen Sprüche

Auch wenn es vielleicht nicht so anfühlt, weil wir vor allem daheim geblieben sind: Für diejenigen von uns, die bislang ihr ganzes Leben im DACH-Raum verbracht haben und nicht etwa aus Bürgerkriegs-/Kriegsgebieten eingewandert sind, war dies (beziehungsweise ist dies weiterhin) die grösste Katastrophe, die wir (bislang) erlebt haben: Die mit der grössten Anzahl Toter und den meisten bleibenden Schäden. (In der Presse ist vor allem von Schäden für die Wirtschaft die Rede, aber nachdem ich den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft erlebt habe, kann ich nur sagen, dass uns das nicht schocken sollte. Wirtschaft jammert immer, redet dabei nicht von den Menschen und erholt sich am Ende zumeist innerhalb kurzer Zeit wieder. Aber die Gesundheitsschäden und die Schäden an der conditio humana, die machen mir Sorgen.) Deswegen finde ich es auch unangebracht, wenn jetzt schon wieder Marketingsprüche von „der Krise als Chance‟ die Runde machen oder leichter Hand irgendwelche Voraussagen dazu gemacht werden, wie „uns‟ die Krise verändert haben wird, wie das in den Kommentarspalten vieler Zeitungen gerade passiert. Vielleicht ist mein moralischer Kompass falsch, aber das ruft bei mir Verachtung hervor. Weder muss man den Ernst der Lage mit motivierenden Sprüchen überdecken, noch muss man mit Tunnelblick eine Entwicklungsrichtung (und wenn es die von „alles soll werden wie vorher‟) vorgeben. Die so vorhergesagten Veränderungen treten eh nie ein. Das will nicht machen, weil ich es auch nicht besser weiss.
Eine Krise ist keine Chance, die man nur nutzen muss, um das durchzusetzen, was man gerne hätte (wie das in der Marketingliteratur gerne vorgeschlagen wird). Sie ist vielmehr immer ein Zeitpunkt, an dem der Status quo, die Annahmen davon, wie etwas ist und wirkt sowie die Strukturen, so wie sie sind, belastet werden. Einige brechen, einige biegen sich, einige halten oder beweisen eine grössere Stärke als angenommen. Das ist jetzt auch in den Bibliotheken passiert. (Ich würde vermuten, dass sich die Vorstellungen, Leute würde sich in Krisen auf Bücher stürzen und in grosser Zahl Liefer- und Onlineangebote nutzen, nicht bestätigt hat, aber das der Willen des Personal zu arbeiten, auch wenn es nicht eng geführt wird, sich als viel stärker bewiesen hat, als viele Leitungen Angst hatten – aber das nur meine Vermutungen.) Diese Belastungsproben jetzt nicht zu nutzen, um zumindest zu schauen, ob man etwas anders machen sollte, würde nur den Eindruck vermitteln – nach innen und nach aussen – dass Bibliotheken gar kein Interesse daran haben, sich zu verändern oder auch nur zu fragen, ob etwas anders sein könnte. Aber das wird, da sich – egal ob Krise oder nicht – immer etwas ändert, nicht funktionieren.
Ich bin mir sicher, dass in vielen Bibliotheken auch jetzt wieder das Argument vorgebracht wird (weil es so oft vorgebracht wird), dass man jetzt gerade keine Zeit hätte, sich damit zu beschäftigen, darüber nachzudenken, ob man zurück zur gleichen Normalität möchte, die es schon mal gab, oder zu einer anderen oder was passiert ist und so weiter. Aber das ist immer ein schlechtes Argument, auch jetzt. Wenn man es jetzt nicht zeitnah angeht, wird man es nie angehen und wohl eher negative Effekte haben, weil das Nicht-Behandeln (wie oben gesagt) sich zumindest auf Teile des Personals negativ auswirken wird. Zudem ist die Verteilung von Ressourcen, also auch der Arbeitszeit, die für interne Prozesse, wie den hier angemahnten, aufgebracht wird oder nicht aufgebracht wird und dafür, was als wichtig wertgeschätzt wird oder nicht, immer eine politische Entscheidung, auch innerhalb einer Bibliothek. Ressourcen wie Zeit nur dafür einzusetzen, ungefragt ein Ziel (den Status qua ante) anzustreben, sagt halt auch etwas über die jeweilige Bibliothek.

[Zumal: Wir sollten auch wenn diese Krise irgendwann durchgestanden ist, nicht davon ausgehen, dass es dann einfach „weitergeht‟. Wir – nicht die Bibliotheken, die Menschen – haben die Erde umgestaltet. Es ist wirklich das Anthropozän. Wir haben dabei Bedingungen für vieles geschaffen, aber eben auch dafür, dass es immer schneller und öfter Epidemien und Pandemien geben wird, neben den ganzen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die auch – ich erinnere nur an den warmen April dieses Jahr – auf uns zukommen werden. Es wird mehr solche Krisen geben. Vielleicht werden wir als Gesellschaft auf die nächste Pandemie schneller reagieren. Aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das „Herunterfahren der Gesellschaft‟ in den letzten Monaten etwas einmaliges war. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die aus dieser Krise lernen, werden besser darauf vorbereitet sein, wenn es wieder soweit kommt. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die nur den Status quo ante anstreben, werden dann wieder vor den gleichen Problemen stehen.]

 

Fussnoten

1 Es ist aber erstaunlich, wie wenig man von diesen Angeboten, jetzt, wo man sie auswerten könnte, hört. Mag unterschiedliche Gründe haben, aber man könnte erwarten, dass sie pro-aktiv nach aussen dargestellt würden, wenn sie sehr erfolgreich gewesen wären.

Vortrag „Grenzen der Partizipation.‟ [Würzburg, 19.08.2019]

Skript zum Vortrag „Grenzen der Partizipation. Was können Bibliotheken für ihre partizipativen Projekte aus den Erfahrungen mit Partizipation in Ethnologie, Stadtplanung und Kunst lernen? Können sie schon bekannte Herausforderungen solcher Projekte angehen?‟ gehalten beim Workshop „Partizipation: Impulse für Öffentliche Bibliotheken‟ der „hochdrei Stadtbibliotheken verändern‟-Werkstatt der Kulturstiftung des Bundes, 19.08.2019, in Würzburg. (Der Text entspricht nicht genau dem, was Gesagt wurde. In ihn wurde die folgende Diskussion miteinbezogen und bestimmte Dinge wurden, hoffentlich, hier klarer dargestellt als in der freien Rede.)

Chur, 02.09.2019

Allegra,

ich bin eingeladen worden, um eine kritische Position zum Thema „Partizipation und Bibliotheken‟ zu bieten. Was ich hier tun will. Grund der Einladung war, dass ich schon einen ähnlichen Vortrag auf dem Bibliothekstag in Leipzig gehalten habe. Wir hatten das Thema aber auch schon als Seminarthema bei uns im Unterricht an der HTW Chur. Dabei haben die Studierenden und wir uns schon die Zähne ausgebissen am Konzept „Partizipation‟; die Studierenden dann aber auch daran, ihre partizipativen Projekte in Bibliotheken umzusetzen – und zwar nicht so sehr, dass kann ich Ihnen schon einmal sagen, weil die Bibliotheken nicht gewollt hätten oder weil den Studierenden nichts eingefallen wäre, sondern vor allem, weil die Nutzerinnen und Nutzer oft kein Interesse hatten, mitzumachen.

Okay, hier meine Agenda. Ich möchte sehr kurz am Anfang etwas zum Begriff „Partizipation‟ selber sagen. Sie werden da schon merken, dass es gerade nicht einfach ist. Der wichtigere Punkt sind aber die Beispiele aus anderen Felder. Es gibt zwei Sachen, die ich ihnen wirklich vermitteln will – und eine davon ist das, dass es schon viele, viele Erfahrungen in vielen anderen Feldern gibt. Deswegen ist das auch der längste und wichtigste Teil des Vortrags. Den Abschluss bieten dann Take-Aways für Bibliotheken und, vielleicht auch als Diskussionsgrundlage, Lernmöglichkeiten. Aber das ganz am Schluss.

Zum Begriff: Partizipation ist ein Containerbegriff. Das heisst, er umfasst viel und nicht alles ist passend. Solche Begriffe haben Vorteile, weil sie zum Beispiel Kommunikation überhaupt ersteinmal ermöglichen. So können Menschen den gleichen Begriff nennen, damit etwas anderes meinen – aber da sie den gleichen Begriff verwenden, zumeist eine Weile miteinander drüber kommunizieren. So lässt sich auch manchmal weiterdenken, neue Inhalte besser einführen, Strukturen erkennen und benennen und so weiter. Aber gleichzeitig, dass sollte klar sein, sind solche Containerbegriffe auch schwierig: Wenn sie vieles heissen können, worüber redet man dann gerade? Es ist auch oft nötig, die Begriffe genauer zu klären.

Solche Containerbegriffe sind für das Bibliothekswesen auch nicht ungewöhnlich. Vielmehr wird oft mit ihnen hantiert. Vor zehn-fünfzehn Jahren war das „Bildung‟, aktuell gibt es auch andere. Das ist per se nichts für das Thema Partizipation besonderes.

Was kann Partizipation also alles umfassen? Erstens werden alle Aktivitäten, bei denen Entscheidungsprozesse für (potentiell) Beteiligte geöffnet werden, als partizipativ beschrieben. Diese Beteiligung, dass werden wir noch sehen, kann sehr unterschiedlich sein. Aber das ist nur der eine Bereich: Beteiligung. Zweitens wird in vielen Bereichen unter partizipativ heute auch schon verstanden, wenn Menschen miteinander kommunizieren. Man schafft Räume, Orte, Situationen, wo Menschen miteinander reden können sollen. Das sind zwei unterschiedliche Sachen, aber beides wird unter dem gleichen Containerbegriff zusammengefasst.

Sie können selbstverständliche immer eine genauere Definition vornehmen, wenn Sie über Partizipation nachdenken wollen. Aber das führt wenig weit, wenn Sie darüber nachdenken, was im Bibliotheksbereich unter dem Begriff diskutiert wird: Da ist es nämlich alles auf einmal.

Wir haben heute auch eine starke Verbindung von Demokratie und Partizipation. Spätestens seit den späten 1960ern wird vermutet, dass eine stärkere Partizipation zu mehr Demokratie führen würde. Manchmal ist das besser begründet, manchmal wird der Zusammenhang eher behauptet. Aber diese Verbindung ist wohl auch ein Grund dafür, dass Partizipation heute sehr, sehr positiv besetzt ist. Nicht nur im Bibliotheksbereich: Alle – okay fast alle, wir wissen, es gibt aktuell in Deutschland und auch schon länger in der Schweiz oder Österreich politische Strömungen, die dagegen sind, aber hier im Raum zumindest und in unseren Kreise und dem grössten Teil unserer Gesellschaften – sind erstmal für Partizipation. Dafür gibt es Pluspunkte und Fördergelder. Der Workshop hier ist ja nur ein Beispiel dafür. Das es sich um einen sehr weiten Containerbegriff handelt, hilft gewiss dabei.

Ich hatte das schon gesagt, wiederhole es aber nochmal gerne: Bibliotheken (in Deutschland) sind mit ihrem aktuellen Interesse an Partizipation eigentlich sehr spät dran. Ganz auf der ersten Folie haben Sie ein Buch aus den 1980er Jahren, dass sich schon intensiv mit dem Thema befasst, nur halt für Kanada. Es geht da um den spezifischen Fall Toronto und wie Menschen in die Bibliotheksentwicklung eingegriffen haben – erfolgreich, so dass es heute noch 100 Bibliotheken in Toronto gibt, die fast alle eher lokal orientiert sind. Aber das Buch bespricht eigentlich auch alle anderen interessanten Fragen, die sich in diesem Feld stellen. Nehmen Sie das ruhig als Lesetipp.

Eine interessante Frage wäre, warum Bibliotheken in Deutschland gerade jetzt auf dieses Thema kommen. Gibt es gesellschaftliche Entwicklungen, die Bibliotheken dazu drängen? Entwicklungen in Bibliotheken? Aber darum soll es mir hier nicht gehen.

Ich möchte in diesem Vortrag auf etwas anderes heraus: Dadurch, dass Bibliotheken spät zu diesem Thema kommen, gibt es schon viele Erfahrungen und auch theoretischen Arbeiten zu Partizipation, auf die wir zurückgreifen können. Spät heisst nicht, dass es falsch ist; aber es heisst, dass wir wirklich nicht nochmal das Gleiche durchdenken und erleben müssen, was schon in anderen Felder passierte. Wir können auf dieses Wissen aufbauen. Das möchte ich in diesem Vortrag machen.

Ich möchte dazu in drei Felder schauen, die Sie hier sehen: Stadtplanung, Ethnologie und Kunst – wobei Ethnologie eigentlich zwei Themen sind.

Ein Feld, dass ich gerade nicht besprechen möchte, obwohl es sich praktisch immer und immer wieder selber aufdrängt, ist das Design. Das hat einen guten Grund: Sie haben seit Jahrzehnten im Design Versuche, partizipativ oder sozial zu designen – die Veröffentlichungen dazu sind unzählbar. Ich habe Ihnen hier zwei herausgesucht, aber eher zufällig. Das rechte ist dann auch gleich noch zu einer Ausstellung im Museum für Gestaltung, Zürich, erschienen – selbstverständlich sehr schön layoutet, wie man das bei so einem Museum erwarten kann. Aber es wiederholt sich: Immer wieder werden in solchen Ausstellungen und Publikationen zum Beispiel solche Kioske vorgestellt, wie auf dem Cover dieses Buches, wo halt Leute sich treffen sollen. Oder andere Orte, wo sich Leute direkt treffen können. Das gilt dann als social design oder als partizipativ. Was Sie im Design aber gerade nicht haben, ist eine Theoretisierung. Es geht ums Bauen und Gestalten, aber wenig ums Nachdenken über die tatsächliche Wirkung dieser Bauten und Designs, weniger ums Strukturen erkennen und Lernen aus vergangenen Versuchen. Sie haben oft sehr einfache Behauptungen darüber, was partizipativ oder sozial sein – und dann immer wieder ähnliche Vorschläge. Und vor allem haben Sie immer und immer wieder neue Anfänge: Es gibt zwar manchmal Reminiszenzen an ältere Versuche, aber dann wird immer wieder so getan, als wäre das, was gemacht wird, ganz neu und ganz anders und vorher nie gedacht – obwohl es sich immer wieder gleicht. Vielleicht ist das ein notwendige Haltung, wenn man designt oder baut, aber für Bibliotheken kann man daraus meiner Meinung nach wenig Konkretes lernen.

In den drei Feldern, die ich gewählt habe (die auch nicht alle möglichen sind), können wir meiner Meinung nach viel, viel mehr Lernen; auch wenn es nicht immer so schön designt aussieht.

Okay, Stadtplanung. In der Stadtplanung haben Sie seit den späten 1960ern / frühen 1970ern intensive Versuche, die Bevölkerung bei Planungen einzubeziehen, zu einigen Zeiten konkreter als zu anderen. Von diesen Versuchen ging mit der Zeit sehr viel wieder vergessen, aber gerade in den ersten Jahren – die ja in der gesamten Gesellschaft, zumindest in West-Deutschland, Schweiz und Österreich mit massiven Veränderungen verbunden waren – finden Sie unzählige praktische Versuche, Überlegungen, Reflexionen, Auseinandersetzungen. Und zwar durch die ganze Gesellschaft, nicht nur in marxistischen und anarchistischen und ähnlichen Gruppen, sondern bis tief in die etablierten Parteien und die Verwaltungen hinein.

Wenn Sie dieses Buch hier auf der Folien nehmen: Das ist ein Brocken, A4, fast 500 Seiten, kleine Schrift, immer in zwei Spalten gesetzt. Und was in dem Buch gemacht wird, ist, Texte, die sich mit Partizipation in der Stadtplanung auseinandersetzen, darzustellen. Immer kurz verschlagwortet, dann beschrieben, vielleicht 6-8 Texte pro Seite. Eine Fachbibliographie würden wir hier dazu sagen. Das sind selbstverständlich ganz unterschiedliche Texte: Berichte, Planungen, Überlegungen, Broschüren, wissenschaftliche Abhandlungen. Was aber klar wird, ist, dass das Thema damals massiv verbreitet war und Wissen angesammelt wurde, auf das wir zurückgreifen können.

Begründet wurden diese Versuche mit den wahrgenommen gesellschaftlichen Veränderungen: Bislang hätten die Verwaltungen in Deutschland, durch die unterschiedlichen politischen Systeme hindurch, wie in einem Obrigkeitsstaat gehandelt und gedacht. Aber jetzt würden immer mehr Menschen ihre Stimme erheben, dadurch würde die Gesellschaft komplexer. Zudem würde die Verwaltung sich immer mehr als direkt von der Bevölkerung und nicht dem Staat beauftragt sehen. Daraus würde sich zum Beispiel ergeben, dass auch die Personen einbezogen werden müssten, die sich sonst wenig hörbar machen würden. Möglich sei das alles nur durch Beteiligung der Bevölkerung.

Die Begründung für die ganzen Versuche ergab sich also aus den gesellschaftlichen Veränderungen. Das ist nicht erstaunlich, wenn Sie an die damalige Zeit denken. Die interessantere Frage ist vielleicht, wie ich schon gesagt habe, warum sich gerade jetzt Bibliotheken in Deutschland für dieses Thema (wieder) zu interessieren scheinen. Gibt es aktuell gesellschaftliche Veränderungen, die das antreiben? Warum gerade jetzt? Das könnten wir diskutieren.

Für diesen Vortrag wichtig scheinen mir die Erkenntnisse aus diesen Versuchen, weil wir aus diesen viel lernen können.

Der erste Punkt, der sich immer und immer wieder zeigte, war, dass das Interesse von Bevölkerungsgruppen, sich zu beteiligen, sozial sehr unterschiedlich verteilt ist. Auch die tatsächlichen Möglichkeiten, Interessen zu formulieren und durchzusetzen, sind sozial unterschiedlich verteilt. Hier in dem Buch auf der Folie wurde das recht marxistisch analysiert – da ist das ganz logisch: Die ökonomisch bestimmenden Schichten setzen ihre Interessen auch gesamtgesellschaftlich durch, egal wie die Gesellschaft strukturiert ist, solange da nicht explizit gegen agiert wird. Aber zu dem gleichen Ergebnis kamen auch Untersuchen und Versuche aus ganz anderen Denktraditionen. Im selben Buch wird zum Beispiel diskutiert, wie man diese Ungleichheit angehen kann und auf die Praxis in den USA verwiesen, Firmen bei Entscheidungen in der Stadtplanung einzubeziehen, welche in diesen als „Agenten‟ die Interessen sozial benachteiligter Schichten zu vertreten hatten. Im Buch wird das als Lösung eher abgelehnt, aber es hat nicht so schlecht funktioniert, wie man erwarten könnte, weil die Firmen das nicht rein zynisch betrieben haben.

Wichtig finde ich aber vor allem diesen Punkt: Es reicht nicht aus, eine Veranstaltung, ein Projekt und so weiter einfach als „für alle gleich offen‟ zu deklarieren oder sich vorzustellen, dass alle gleichberechtigt miteinander interagieren würden, wenn man nur den Raum dafür schafft. So werden soziale Strukturen nur reproduziert und verstärkt.

Der zweite Punkt ist ebenso relevant: Auch wenn man oft die Vorstellung hatte, dass man Entscheidungsprozesse so partizipativ gestalten könnte, dass in ihnen ein Konsens entstehen könnte – wenn also nur alle wirklich miteinander reden würden, würde man auf ein gemeinsam geteiltes Ergebnis kommen – hat sich das nicht bewahrheitet. Partizipation ist immer konfliktträchtig, die Interessen sind fast immer unterschiedlich verteilt und nicht immer gibt es Lösungen, die alle Interessen tragen. Wieder von Vorteil ist man da mit marxistischem Denken, da geht man eh davon aus, dass es einen unhintergehbaren Antagonismus zwischen den Klassen gibt und – klar, dann zeigt der sich auch bei der Partizipation. Aber die Konflikte zeigen sich auch, wenn man mit anderen Denktraditionen herangeht. Allerdings, so zumindest der Tenor der Zeit: Das ist für Demokratien normal und wünschenswert. Eine Demokratie ist kein Obrigkeitsstaat oder Ständestaat oder so, in welchem alle Menschen ihre gesellschaftliche Position haben, die sich nie verändern dürfe. Vielmehr ist eine Demokratie immer durch unterschiedliche Interessen gekennzeichnet, die ausgehalten, sichtbar gemacht und ausgehandelt werden müssen. Deshalb ist sie auch nie fertig.

Die Hoffnung also, das, wenn nur alle „an einem Strang ziehen‟ oder „auf Augenhöhe miteinander reden würden‟, ist Illusion, sogar gefährlich, wenn Sie Unterschiede einebnet oder wenn man beginnt, Leuten, die weiterhin Konflikte thematisieren, das vorzuwerfen – weil sie sich nicht in das Bild der schönen konsensualen Lösung einfügen.

Und wichtig war ein weiterer Punkt: Mit Partizipation verändern sich auch Verwaltungen. Das lässt sich auf andere Institutionen übertragen: Dadurch, dass in den Entscheidungsprozessen durch Partizipation unterschiedliche Interessen sichtbar und Aushandlungsprozesse nötig werden, müssen auch Institutionen anders denken und handeln. Partizipation ist nicht folgenlos, wenn sie tatsächlich ernstgemeint ermöglicht wird.

In diesen Jahren hat man in der Praxis der Stadtplanung Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach auch ohne theoretische Reflexion für Bibliotheken relevant sind.

Eine bestimmt ärgerliche Erkenntnis ist, dass Methoden Ergebnisse produzieren, die deshalb aber nicht unbedingt richtig sein müssen. Also: Sie können zum Beispiel eine Zukunftswerkstatt durchführen oder eine Umfrage – und wenn nicht irgendetwas gänzlich Gegenteiliges passiert, haben Sie am Ende immer Umfrageergebnisse oder gebaute Modelle oder gezeichnete Pläne für Orte. Nur, wenn jemand ganz die Werkstatt aufhält, weil er oder sie etwas ganz anderes macht, als vorgesehen oder wenn wirklich niemand auf eine Umfrage antwortet, haben Sie kein Ergebnis. Aber das passiert selten. Eher gegen Leute aus der Werkstatt oder kommen erst gar nicht, eher antworten Menschen weniger ehrlich bei Umfrage, als das sie diese stören. Aber die Ergebnisse sind dann nicht unbedingt, wie man sich das erhofft: repräsentativ oder „wahr‟ oder so. Sie sind da, weil die Methoden so strukturiert sind, dass Ergebnisse herauskommen. Und selbstverständlich benötigen Sie Methoden, um neues Wissen hervorzubringen, auf dessen Basis Sie dann Entscheidungen treffen können. Aber, das können Sie aus der Erfahrung der Stadtplanung lernen, Sie müssen immer nochmal fragen, wie sinnvoll diese Ergebnisse sind. (Und das gilt für heute, wo in Bibliotheken immer wieder ähnliche Methoden genutzt werden, besonders.)

Gleichzeitig wurde klar, das bestimmte Methoden immer wieder die gleichen Personen oder Personenkreise ansprechen und integrieren, wohl auch weil sie die Lebenserfahrungen dieser Kreise ansprechen – und die anderer Gruppen nicht. Methoden sind nicht gleich offen. Daraus können wir schon lernen, dass die Frage, welche Methoden bei partizipativen Prozessen genutzt werden und welche nicht, relevant ist.

Auch etwas enttäuschend, zumindest für die, die sich das erhofft hatten, war die Erkenntnis, dass, nur weil etwas partizipativ erarbeitet wird, es nicht heisst, dass diese Entscheidungen mehr akzeptiert würden. Auch solche Projekte, Umbauten und so weiter können wieder von Teilen der Bevölkerung abgelehnt, ignoriert werden; es kann wieder zu Protesten gegen sie kommen. Partizipation führt nicht per se zu besseren Lösungen, sondern vor allem dazu, dass die getroffenen Entscheidungen von einer grösseren Anzahl von Menschen getroffen werden. Falsch können sie trotzdem sein.

Wichtig auch, dass sich in der Bevölkerung Erfahrungen mit Partizipation ansammeln. Menschen machen solche Prozesse mit oder kriegen zumindest von ihnen mit und lernen daraus. Und immer, wenn ein neuer partizipativer Prozess stattfindet, bringen Sie diese Erfahrungen mit – solche über Methoden, über positive oder negative Erfahrungen. Da kommt man nicht heraus, damit muss man umgehen.

Wenn Sie sich mit Stadtplanung und Partizipation beschäftigen, kommen Sie immer und immer und immer und immer wieder auf diesen einen Text, der bis heute zitiert und benutzt wird. Oft falsch. Es geht oft um diese Graphik auf der Folie, die es auch in verschiedenen Formen gibt. Ich habe Ihnen die, meines Wissens, erste deutschsprachige Übersetzung mitgebracht; aus dem Buch, das ich Ihnen vorhin schon gezeigt habe. Hier heisst es „Stufen der Beteiligung‟. Im Original heisst der Texte „Lader of citizien participation‟, da ist die Graphik auch eine Leiter mit acht Stufen. Es gibt Sie auch als Pyramide, oft im Design, wo dann manchmal noch oben eine Stufe draufgesetzt wird – „Co-Design‟ oder so – die es logisch gar nicht geben kann. Solche Texte kann man gleich weglegen, die haben den Originaltext nicht rezipiert.

Aber es überzeugt offenbar auch, sonst würde der Text, oder zumindest die Graphik, nicht so weiterhin zitiert werden. Auch ich finde es immer noch sinnvoll, um darüber nachzudenken, was eigentlich gemeint wird, wenn man von Partizipation redet. Deshalb kurz zu dem Text.

Zeitlich ist der vor allem in die Versuche der Johnson-Regierung einzuordnen, die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung in den USA einigermassen umzusetzen – also vor allem nach der Abschaffung der Jim Crow-Gesetze durch Beteiligung zu einer faireren Gesellschaft zu kommen. Dazu wurde auch in der Stadtplanung oft versucht, partizipativer vorzugehen. Was Sherry R. Arnstein im Text tut, ist, diese Projekte zusammenzufassen und in eine Struktur zu bringen. Es war offensichtlich, dass es sehr unterschiedliche Bedeutungen von Partizipation und Erfahrungen mit diesen Projekten gab. Sie wollte klären, wie die zusammenhängen.

Arnstein strukturierte sie dann danach, welche Macht überhaupt von den Institutionen, Verwaltungen und so weiter an die direkt Beteiligten abgegeben wird und wie ernsthaft die Idee der Beteiligung verfolgt wird. Dafür gab es gute Gründe. In mehreren Fällen wurde „Beteiligung‟ als das genutzt, was sie als Manipulation bezeichnet. Es gab Beispiele, wo durch mehrheitlich „black communities‟ Autobahnen gebaut werden sollten, dann dort die Bevölkerung gefragt wurde, ob sie das wolle – was sie nicht wollte – und dann trotzdem die Autobahn gebaut wurde und die Community mit der Zeit verschwand. Aber gleichzeitig gab es auch ernsthafte Versuche von Beteiligung und viele Projekte, die irgendwo dazwischen angesiedelt werden können.

Wichtig ist, dass es auch bei Arnstein nicht darum geht, zu sagen, dass alle partizipativen Prozesse unbedingt in Stufe 8 passen müssen. Es ist manchmal auch notwendig oder sinnvoll, wenn die Projekte nicht so viel Macht abgegeben. Mit dieser Abstufung kann man aber besser darüber reden, was für eine Form von Partizipation das ist, die durchgeführt wird und was wirklich entschieden werden kann.

Wir an der HTW Chur haben in einem Text zu unserem schon genannten Seminar zu Partizipation und Bibliotheken auch diese Leiter benutzt und die Beispiele aus Bibliotheken, die wir gefunden haben, eingeordnet. Die waren für uns alle bei 4 oder 5 – also nicht manipulativ, aber auch nicht so hoch, wie das Beispiel aus Toronto, wo tatsächlich Teile der Bevölkerung Entscheidungen über die Bibliotheksentwicklung trafen.

Wichtig zumindest: Das ist der Originaltext. Wenn ihnen jemand mit einer solchen Graphik kommt, lesen Sie den nochmal. Der ist hilfreich. Und glauben Sie niemandem, der oder die eine neunte Stufe oben drauf setzen will.

Okay. Soviel zur Städteplanung. Jetzt zur Ethnologie, also der Wissenschaft davon, wie Gemeinschaften entstehen, sich erhalten, wie sie reproduziert werden, sich verändern. Die hat teilweise andere Namen und interne Differenzierung, aber darum geht es mir hier nicht. Sie hat eine Geschichte von Rassismus und Kolonialismus – weisse, gut situierte Männer, die in Gruppen quasi-militärische Expeditionen bei „den Wilden‟ durchführen und so weiter –, aber deswegen auch heute eine Geschichte der intensiveren Auseinandersetzung mit eben dieser eigenen Geschichte.

In der Ethnologie wurde sich damit auseinandergesetzt, was man da eigentlich tut, wenn man Gemeinschaften erforscht, welche Stellung der Forschenden selber haben – in der Gemeinschaft, aber auch der Theoriebildung oder der Auswahl und Wertung von Fakten, Methoden, Ergebnissen – und wie man überhaupt zu sinnvollen Ergebnissen gelangen kann. Zudem gab es auch Wandlungen der Fragestellungen von Forschung: Heute wird nicht mehr vermutet, dass es unterschiedlich wertige und entwickelte Gemeinschaften gäbe, die alle die gleiche Entwicklung durchlaufen würden und wo man in „alten Gemeinschaften‟ einen alten Stand dieser Entwicklung untersuchen könnte; stattdessen gelten alle Communities als eigenständig und sich entwickelnd. Damit verändert sich aber selbstverständlich (und richtigerweise) die Position der Forschenden selber.

Als Ziel wird heute oft angestrebt, dass die Beforschten an den Forschung selber partizipieren können. Das wird erprobt, darüber wird nachgedacht. Die Forschung soll denen, über die geforscht wird, auch direkt etwas bringen. Was genau das ist, können und sollen sie mitbestimmen. Nur so kann man offenbar überhaupt zu sinnvollen Ergebnissen gelangen.

Das dreht die Begründung für Forschungsprojekte um. Vor allem die Forschenden selber müssen sich fragen, was sie da gerade machen, welchen Zielen sie folgen, welchen Vorstellungen, Annahmen, Hoffnungen. Dafür haben sie auch Zeit, weil weiterhin das Ideal gilt, sich möglichst lange „im Feld‟ aufzuhalten; weiterhin mindestens ein Jahr – egal, ob man Fussballfankulturen untersucht oder Communities ganz weit weg. Mindestens ein Jahr an Forschung, Nachdenken, Miterleben, besser mehr, sollten es schon sein, bevor man Ergebnisse publiziert. (In anderen nationalen Forschungstraditionen offenbar auch länger, dafür aber mit mehreren Besuchen, also lieber zehn Jahre immer wieder einmal einige Monate direkte Forschung „im gleichen Feld‟.)

Partizipation, das können wir hier lernen, verändert also Forschungsstrukturen. Das wird auch für andere Felder gelten.

Was wir aus dem Nachdenken der Ethnologie über sich selbst auch lernen können, sind Grenzen der Partizipation. Es kommt immer wieder auf ähnliche Fragen zurück; die Wichtigsten habe ich Ihnen hier mitgebracht. Ich denke, die lassen sich auch gut auf partizipatorische Projekte anderer Art übertragen.

Die wichtigste Frage ist, warum jemand überhaupt an solchen Forschungen oder Projekten teilnehmen soll. Und wenn, mit welcher Motivation. Es ist nicht möglich davon auszugehen, dass Menschen einfach so mitmachen oder das alle das gleiche Interesse hätten, bei allen Projekten etwas beizutragen. Aber wenn nicht, warum machen die es, die doch mitmachen? Erhoffen sie sich etwas davon? Vermuten sie einen Gewinn? Wollen sie einfach nett sein? Haben sie eigene Vorstellungen, die sie einbringen, vielleicht unbewusst? In der Ethnologie gibt es mehrere Beispiele dafür, dass Menschen Forschung zugearbeitet haben, um dann später diese Forschung für eigene Zwecke zu nutzen; beispielsweise die Hoffnung haben, das es durch diese Forschung möglich wird, spezifische Traditionen einer Gemeinschaft wiederzubeleben. Den Forschenden wurde in diesem Zusammenhang eine Aufgabe zugeschrieben, die diese vielleicht gar nicht haben wollten – aber die Reflexion darüber hat dazu geführt, dass im Forschungsprozess immer wieder solche Fragen gestellt werden. Und ich denke, dass sie auch für Bibliotheken sinnvoll sind. Weil halt Menschen auch nicht einfach so bei Projekten von Bibliotheken mitmachen wollen.

Relevant finde ich auch die Frage nach dem Vertrauen. Es ist klar, dass in der ethnologischen Forschung über Dinge geforscht wird, die sehr persönlich oder relevant für Gemeinschaften sein können. Sie können nicht davon ausgehen, dass sie alles erfahren, dass Ihnen als Forschenden sofort – oder jemals – zugetraut wird, mit sensitivem Material oder Wissen umzugehen. Deshalb wird auch diskutiert, ob das überhaupt ausreicht, ein Jahr im Feld zu sein. Ist das überhaupt genug Zeit, um Vertrauen aufzubauen? Ganz abgesehen davon, dass die Forschenden in vielen Forschungen ja auch direkt oder indirekt Institutionen, Mehrheitsgesellschaften, gesellschaftliche Schichten repräsentieren, die gerade für die untersuchten Gemeinschaften negativ konnotiert sein können. Aber wenn schon ein Jahr nicht reicht, wieso könnten dann Bibliotheken erwarten, das ihnen vertraut wird, wenn Sie partizipativ vorgehen? Weil sie nicht so tiefgehende Fragen stellen? Es sollte zumindest bedacht werden.

Wichtig ist auch, dass sich die Forschenden selber reflektieren: Sie kommen nicht als neutrale Personen ohne Hintergedanken in solche Forschungen – sondern immer mit Vorannahmen, Zielen, Vorstellungen, Infrastrukturen im Hintergrund. Es hat sich immer und immer wieder gezeigt, dass es nicht hilfreich ist, das zu ignorieren; sondern das diese „Dinge im Hintergrund‟ tatsächlich prägen, was geforscht wird, wie geforscht wird, wie entschieden wird, was als relevant gilt und was nicht. Das bezieht sich dann auch darauf, dass geklärt werden muss, wer eigentlich bestimmt, was als Ergebnis gilt und was nicht – kurz, was am Ende als „Wahrheit‟ gilt. Deshalb haben sie heute viele Forschungen, in denen Beforschte und Forschende gemeinsam darüber entscheiden, was als Ergebnis gilt – aber auch das ist nicht so einfach. Abgesehen davon, dass nicht alle Erforschten ein Interesse daran haben, mitzuentscheiden, haben auch die, die mitmachen, ihre eigenen Vorstellungen. Wenn zum Beispiel zu einem Forschungsprojekt beigetragen wird, in der Hoffnung, damit Traditionen einer Gemeinschaft wiederzubeleben, haben die, die das tun ihre eigene Agenda – was selbstverständlich ihr gutes Recht ist, aber was ist mit anderen Angehörigen der Gemeinschaft, die daran vielleicht kein oder ein anderes Interesse haben? Das ist für Bibliotheken anders, aber so anders auch nicht.

Ich habe Ihnen auch noch ein Modell mitgebracht, in dem versucht wird, darüber nachzudenken, wie ethnologische Forschung partizipativ gestaltet werden kann. Bei diesem hier geht es um „vulnerable groups‟, vor allem Kinder. Das ist aber nur ein Beispiel. In der Literatur finden Sie unzählige solcher Modelle. Hinter diesen steht oft die Idee, dass Forschung partizipativer ist, je mehr sie zu sozialer Veränderung führt. Ich wollte ihnen das zeigen, um (a) darauf hinzuweisen, dass das Modell von Arnstein wirklich nur das bekannteste, aber nicht das einzige Modell ist, wenn es um Partizipation geht, (b) um nochmal zu betonen, dass auch Wissenschaften, die sich lange und intensiv mit Fragen der Partizipation auseinandersetzen, zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen sind, sondern weiterdiskutieren und (c) daraus zu schliessen, dass auch Bibliotheken nicht so schnell zu einem einheitlichen Verständnis von Partizipation kommen werden, aber vom schon getätigten Denken gerade in der Ethnologie profitieren können.

Neben dem Nachdenken über die eigene Forschungspraxis gibt es in der Ethnologie eine ganze Reihe von Forschungen über partizipative Prozesse selber. Zumeist geht es darum, dass in vielen Bereichen Partizipation schon länger etabliert ist, aber die Wirkungen nicht so sind, wie man das erwarten würde. Die Frage ist dann, wieso das so ist.

Hier nur zwei Bücher dazu. Das erste ist ein Sammelband, bei dem es darum geht, dass in vielen Regionen der Welt versucht wird, unterschiedliche Nutzung von Anbauflächen partizipativ zu organisieren. Denken Sie an Regionen, in denen Landwirtschaft betrieben, aber auch gleichzeitig für den Weltmarkt Kaffee oder Soja angebaut wird. Die Beteiligten haben da sehr unterschiedliche Zielsetzungen, die Idee ist oft, dass man im organisierten Gespräch bessere Lösungen finden könnte, die allen irgendwie gerecht werden. Aber in der Realität zeigt sich immer wieder, dass das nicht funktioniert. Die betroffene Bevölkerung darf zwar oft etwas sagen, gemacht wird dann aber vor allem anderes, eher auf den Weltmarkt orientiertes.

Bei dem anderen Buch geht es um Brasilien und die dortigen First Nations. Noch unter einer anderen Regierung, die jetzige hat bekanntlich kein Interesse, mit First Nations irgendetwas einvernehmlich zu regeln, sondern hätte gerne, dass es keine First Nations gäbe. Aber die Regierung zuvor hatte ein Interesse, die Interessen von First Nations und anderer Bevölkerung beziehungsweise dem Staat selber, auszugleichen. Grundsätzlich ging es darum, dass – ähnlich wie wir das beim Gender Mainstreaming kennen – bei allen Entscheidungen, die sich auf die Gebiete, in denen First Nations leben oder die von ihnen genutzt werden, diese angehört werden müssen. Deren Perspektive musste in die Entscheidungen integriert werden. Auch das hat nicht ganz geklappt, obwohl wirklich Einiges versucht wurde. Die Untersuchung zeigt zum Beispiel, dass eine Schwierigkeit darin besteht, dass politische Entscheidungsstrukturen in der Hauptstadt Brasília konzentriert sind, dass also die Vertreterinnen und Vertreter der First Nations immer zwischen ihren Heimatorten und Brasília hin- und herreisen mussten, während die, die die Entscheidungen trafen, in Brasília verbleiben und dort auch viel kürzere Wege zu anderen Personen haben, die Entscheidungen treffen.

Was diese Forschungen immer und immer wieder zeigen, ist, dass Mitbestimmung alleine nichts an den vorhandenen Machtstrukturen ändert. Wobei Sie bei Macht nicht nur an politische Mach denken müssen, im Sinne von sagen zu können, das und das gilt jetzt oder das und das gilt nicht. Auch nicht gleich an Gewalt. Es geht auch, wie schon gesagt, darum, wer bestimmt, was relevant ist und was nicht; was von dem, was gesagt wurde, in einer Entscheidung einbezogen wird und was „nur als Smalltalk‟ gilt. Oder auch wer festlegen kann, worüber überhaupt geredet oder entschieden wird. Menschen haben unterschiedliche Voraussetzung und Möglichkeiten, auch bei partizipativen Prozessen. Das ist an sich selbstverständlich – unsere marxistischen Freundinnen und Freunde aus der Stadtplanung würde sagen: Wie soll es auch anders sein, wenn die Gesellschaft so aufgebaut ist, wie sie es ist? – aber es wird oft so getan, als ob alle die gleichen Möglichkeiten hätten. Nicht einmal immer, weil jemand versuchen würde, zu manipulieren. Oft auch, weil die, die Macht haben, sich das nicht eingestehen oder nicht sehen (wollen). Aber wie immer: In einer Welt mit sozialen Unterschieden, werden diese nur reproduziert oder gar verstärkt, wenn man so tut, als wären die nicht vorhanden.

Machtstrukturen, dass zeigen die Arbeiten, ändern sich dann, wenn sie benannt und angegangen werden – und auch dann nicht vollständig, wie das Beispiel aus Brasilien zeigt.

Das ist alles noch sehr konkret. Ich würde gerne mit Ihnen noch in die Kunst gehen – und zwar, wie geschrieben, als Zumutung. Wie Kunst halt oft etwas ist, dem man sich aussetzen muss, die dann aber auch eine Wirkung hat, würde ich Ihnen hier gerne drei rabiate Beispiele vorzeigen.

Erstmal: Wenn Sie sich mit Partizipation und Kunst auseinandersetzen, kommen Sie immer wieder auf dieses Buch – und auch zurecht. Claire Bishop postuliert in diesem, dass es seit einigen Jahrzehnten eine Tendenz gäbe, Partizipation in der Kunst anzustreben und das als positiv, demokratisierend, progressiv zu verstehen. Das ist auch etwas, wofür Sie heute Förderung erhalten können – participatory art, Ausstellungen mit Partizipation, social impact. Bishop kritisiert das aus mehreren Richtungen, zum Beispiel zeigt sie, dass auch diese Kunst immer wieder „Miteinander reden‟ und Partizipation gleichsetzt oder auch, dass sie Ziele anstrebt, obwohl die Wirkung von Kunst eigentlich offen ist. Und – das wird Ihnen als Argument bekannt vorkommen –, dass es eigentlich eine lange Geschichte von Partizipation und Kunst gibt, die oft daraufhin deutet, dass die erhofften Wirkungen dieser partizipativen Kunst vor allem das sind: Hoffnungen, die eher nicht eintreten.

Ich finde übrigens schon das Cover ganz grossartig, weil Sie hier auch etwas Einfaches über Partizipation lernen können: Dass ist eine Performance – ich glaube im Tate Modern, London – wo Sie einen Polizisten in die Ausstellung reiten sehen. Das sollte Beteiligung auslösen, Leute sollten miteinander reden, sich verhalten und so weiter. Aber schauen Sie hier rechts vorne die Leute – da gibt es keine Reaktion. Den Grossteil interessiert nicht, was da passiert. Die Aufforderung zur Partizipation wird ignoriert – was sehr, sehr oft passiert.

Ich stelle Ihnen zwei Beispiele aus dem Buch vor, die vielleicht etwas Holzhammer-mässig wirken und die im Anschluss an das Buch auch schon sehr oft besprochen wurden. Aber sie sind, meiner Meinung nach, weiterhin sehr berechtigt.

Das erste Beispiel sind die italienischen Futuristen (praktisch nur Männer) der 1920er Jahre. Der Futurismus als Kunstrichtung war, nach dem ersten Weltkrieg, fasziniert von der Moderne und waren gleichzeitig von der Idee besessen, die als untätig, langsam, sterbend wahrgenommen Kultur radikal zu ändern. Es sollten die Werte umgewertet werden, damit waren sie dem Dadaismus, Expressionismus, Kubismus und so weiter nahe – halt all die Kunstrichtungen, der Zeit, die sich als Avantgarde verstanden. Aber ihnen ging es vor allem um Geschwindigkeit, Härte, Gewalt, Krieg, „Männlichkeit‟. Die Kunst sollte eine neue Gesellschaft hervorbringen, diese Gesellschaft sollte durch ständige Veränderung, Bewegung, Speed gekennzeichnet sein. Es gab zum Beispiel eine Faszination mit Autos. Oder auch einer Architektur, die sie zum Teil noch heute in Italien finden, die so Bewegung symbolisieren, hervorbringen sollte.

Eine Form von künstlerischer Aktivität, auf die Bishop eingeht, waren die „Futuristischen Happenings‟. Das waren praktisch Theatervorstellungen, bei denen die Futuristen von der Bühne herab das Publikum beschimpften. Es ging darum, das Publikum anzuregen, mitzumachen. Es war eingebunden. Ziel war es, Gegenreaktionen auszulösen. Menschen sollten sich aufregen, äussern, schimpfen. Erfolgreich waren Happenings, bei denen das Publikum Tomaten auf die Bühne warf. Es sollte aktiv werden, nicht passiv eine Vorführung geniesen. Das wurde als Vorbereitung für den Kampf, die Veränderung der Gesellschaft verstanden: Menschen sollten in den Happenings lernen, aktiv und rabiat zu sein und dass dann im Alltag auch sein.

Der Holzhammer ist jetzt, dass viele – nicht alle – Futuristen später den italienischen Faschismus unterstützten. Die Verbindung ist auch nicht schwer zu sehen.

Aber das gehört zur Geschichte von Partizipation und Kunst: Heute verstehen wir Partizipation als demokratisch, öffnend, progressiv. Das ist nicht per se gegeben. Das Ziel ist wichtig, Partizipation lässt sich für viele, viele Ziele nutzen. Sie muss auch nicht als Vervielfältigung der Stimmen verstanden werden, sondern kann, wie in diesem Beispiel, als Mittel genutzt werden, Menschen in einer Richtung auszurichten.

Es zweites Beispiel aus dem gleichen Buch. Spätestens seit Bishop darüber geschrieben hat, ist diese Aktion auch immer und immer wieder besprochen worden. Die Bilder der Aktion wurden, wenn ich das richtig erinnere, auf einer Documenta nochmal gezeigt und dutzende Texte dazu geschrieben. Auch, weil nicht klar ist, was genau das Ergebnis aussagt.

Aber: Die Situation. Argentinien 1968. Die Welt an sich in Veränderungen begriffen. Gleichzeitig gibt es in Argentinien selber seit zwei Jahren eine Militär-Junta, die Proteste dagegen wachsen, es gibt auch erste gewalttätige Auseinandersetzungen. In dieser Situation führte die Künstlerin Graciela Carnevale diese Aktion durch, die offenbar – ich bringe gleich meine Interpretation – Beteiligung, Kommunikation, Solidarität hervorbringen soll. Oder zumindest testen.

Sie lud zu einer Ausstellungseröffnung in diesen Raum, den Sie im Bild sehen: Ein Schaufenster, eine Glastür, sonst keine Ausgang, nichts. Dann verschloss sie die Tür und ging. Die Frage war, was jetzt passieren würde, wie sich die Menschen verhalten würden. Das war keine ungefährliche oder komfortable Situation. Die Lösung sehen sie: Erst passierte lange nichts. Dann wurde ein Passant dazu gebracht, das Fenster mit einem Stein einzuwerfen. Auf dem Bild sehen Sie eine junge Dame die Galerie durch dieses Fenster verlassen.

Die Frage, die auch lange ohne eindeutiges Ergebnis diskutiert wurde, ist nun, was dieses Ergebnis heisst. Haben sich Menschen in Solidarität vereinigt? Haben sie eine gemeinsame Lösung gefunden? Oder gerade nicht? Sie sehen ja, rausgekommen sind alle, aber eigentlich nur durch Hilfe von aussen. Benötigt man Hilfe von aussen, um solche Situationen zu verlassen, nicht Solidarität im Inneren? Gibt es irgendetwas, dass die Menschen in der Galerie aus dieser Situation heraus zusammengebracht hat oder hat sich das alles nach dem Ende der Situation aufgelöst? (Und was sagte das über das Leben unter der Militär-Junta aus?)

Es gibt bestimmte keine klare Antwort, aber auch das ist Teil der Geschichte von Partizipation und Kunst. Oder Partizipation allgemein. Partizipation und Ergebnisse partizipativer Prozesse sind nicht eindeutig. Nicht einmal in Extremsituationen wie bei diesem Experiment von Carnevale.

Ein drittes Beispiel aus der Kunst. Graffiti, also das Anmalen von Zügen, Mauern, Bahnhöfen. Es gibt aktuell zwei Bewegungen: Einerseits wird seit sehr langer Zeit in der Kunsttheorie über Graffiti diskutiert. Andererseits gibt es seit einigen Jahren mehr und mehr eine Praxis legaler Street-Art, gerne für grosse Objekte – Murals an Wänden von Mietshäusern und solche Grössen –, für die es auch zunehmend Geld gibt. In Berlin gibt es zum Beispiel seit einiger Zeit das Street-Art Museum Urban Nation, dass Graffiti ausstellt, aber gleichzeitig immer wieder Murals in Auftrag gibt.

Diese beiden Bewegungen sind immer aufeinander bezogen. Beispielsweise gab es Anfang dieses Jahres ein Heft der Zeitschrift „Kunstforum‟ [#260: Graffiti NOW. Ästhetik des Illegalen], in der Sie das gut nachvollziehen konnten: Graffiti wird als partizipative Kunstform par excellence wahrgenommen: Alle können einfach so mitmachen, Dosen kaufen, etwas anmalen. Selbstgewählt und selbstbestimmt, ohne Zugangsbarrieren. (Zumindest in der Theorie, in der Praxis entwickeln sich auch im Graffiti soziale Regeln, die sich mit der Zeit auch ändern. Aber bleiben wir bei der Theorie.) Gleichzeitig wird Graffiti über ihre Illegalität definiert. Das können Sie im genannten Heft genauer nachvollziehen.

Street-Art hingegen, die mehr und mehr beauftragt wird, ist gerade nicht illegal, dafür mehr in den Kunstbetrieb eingebunden. Es ist klar, wer die Künstlerinnen, die Künstler sind. Es gibt abgesteckte Rahmen und Aufträge. Die Feststellung ist nun, dass in diesem Fall Partizipation, also Beteiligung, an Illegalität gebunden wird und zumindest vermutet wird, dass diese gerade dann abnimmt, ja weniger illegal Graffiti oder Street-Art ist; dass die Kunst dafür aber vielleicht auch akzeptierter wird, je weniger illegal sie ist. Und selbstverständlich immer mit Übergängen; Personen, die sich zwischen den „Welten‟ Graffiti und Street-Art bewegen oder die einst Graffiti machten und jetzt im Atelier arbeiten und so weiter.

Ich habe Ihnen diese Zeitschrift hier, „GraffitiArt‟, mitgebracht, weil die das ganz gut abbildet. Es ist eine französische Zeitschrift, die Sie Frankreich wirklich in Buchhandlungen und zumindest in grossen Bahnhöfen kaufen können – obwohl es in ihr auch um das Anmalen von Zügen geht. Aber was Sie in den Ausgaben der letzten Jahre sehen, ist oft diese Zweigleisigkeit: Die Werbung bezieht sich immer wieder direkt auf Graffiti. Das eine Bild ist eine Galerie in Zürich, die wohl in jeder Ausgabe ein neues Bild von einem angemalten Zug benutzt – meist schweizerische Züge, aber der hier ist ein deutscher. Oder die andere Werbung ist ganz blatant direkte Werbung für eine Marke von Farbdosen: „25 years supporting graffiti‟. Da gibt es also einen klaren Bezug zum Illegalen. Aber die Artikel in der Zeitschrift handeln fast alle nur von Murals und grossen, legalen Bildern. Mit ähnlicher Ästhetik, aber immer mit der Künstlerin, dem Künstler im Mittelpunkt. Hier, bei dem Artikel auf der Folie, gab es sogar Beteiligung, wie Sie sehen. Menschen durften mitmalen und wohl auch über die Farben entscheiden. Aber das ist wirklich eine Ausnahme.

Für die Kunst ist das einfacher: Wir sagen vielleicht „das ist doch verboten‟. Aber Kunst kann sich dann immer darauf zurückziehen: „Well… it‛s art.‟ Bibliotheken können das nicht, die bewegen sich immer im Legalen. Aber was wir lernen können, ist, dass uns Partizipation immer auch in Bereiche führt, in die wir vielleicht gar nicht wollen oder uns gar nicht trauen. Und Situationen, in denen weniger Partizipation oder nur bestimmte Formen von Partizipation erst eine Zugänglichkeit ermöglichen. (Was zum Beispiel bei Street-Art zum Teil argumentiert wird: Das durch diese legale Kunst der Zugang für die „normale Bevölkerung‟ grösser ist als durch die illegalen Formen.)

Wieder: Keine klare Antwort, sondern ein Beispiel, mit dem Sie sich, wie bei guter Kunst, selber konfrontieren können.

Zuletzt noch zwei Folien darüber, was Bibliotheken jetzt aus der Geschichte der Partizipation und partizipativer Projekte lernen können. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass ich denke, wir sollten die ganzen Erfahrungen aus anderen Bereichen ernstnehmen und benutzen. Es ist nicht schlecht, dass Bibliotheken (in Deutschland) bei diesem Thema spät sind. (Beziehungsweise es gerade wieder entdecken). Dadurch kann man auf vorhandenes Wissen zurückgreifen. Schlecht wäre, so zu tun, als wäre das etwas Neues.

Also, was kann gelernt werden?

Zuerst, dass Partizipation für sich alleine keine Lösung ist, sondern das es immer auf die Ziele ankommt. Und dies können sehr unterschiedliche Ziele sind. Dabei lässt sich auch nicht „möglichst viel Partizipation‟ mit „bestmögliche Ergebnisse‟ gleichsetzen. Zudem wichtig: Machtstrukturen bleiben in partizipativen Prozessen bestehen. Wie gesagt heisst Macht nicht nur, Anweisungen erteilen zu können, sondern auch bestimmen zu können, was gemacht wird, worüber geredet und nicht geredet werden kann, was oder wer ernst genommen wird und was oder wer nicht. Die müssen beachtet werden. Einfach anzunehmen, dass sie (schon) überwunden seien, reproduziert und verstärkt sie nur. Für Bibliotheken, die oft nicht das Selbstbild haben, viel Macht zu haben, mag das eine ungewöhnliche Situation sein. Aber damit muss man umgehen lernen, dass man in bestimmten Situationen auch Macht hat, obwohl man sie anderswo vielleicht weniger hat.

Zu lernen ist auch, dass Menschen – dadurch, dass es kein neues Thema ist – schon viele Erfahrungen mit partizipativen Prozessen gemacht haben, die sie mitbringen. Nicht nur Erfahrungen, auch Erwartungen, Annahmen, Interpretationen. Und gerade, wenn die schlecht waren, muss erst daran gearbeitet werden, sie zu verändern. Man kann das aber auch als Anforderung nehmen, einfach mal selber an anderen partizipativen Prozessen – beispielsweise da, wo man wohnt – teilzunehmen, als Bürgerin, als Bürger, bevor man selber in der eigenen Bibliothek partizipative Prozesse plant. Um dann aus diesen Erfahrungen heraus besser zu verstehen, wie partizipative Prozesse auf Menschen wirken.

Und wichtig finde ich auch, sich immer und immer wieder klarzumachen, das nicht alle Menschen an Partizipation interessiert sind. Und selbst wenn, dann nicht gleich. Das kann man bei der Planung, bei der Analyse und so weiter, nicht voraussetzen. Daraus ergibt sich auch nochmal, dass Partizipation immer ein langer Prozess ist, kein schnell abzuschliessendes Projekt.

Und hier nochmal, vielleicht auch für die Diskussion, die wichtigsten Take-aways.

Partizipation und Machtstrukturen – dass ist das Zweite, was ich Ihnen unbedingt vermitteln wollte, neben der Geschichte. Auch wichtig, dass es ein Lernprozess ist, der nicht fertig wird, zumindest wenn Partizipation als mit der Demokratie verbunden verstanden wird – was ja, wie wir gesehen haben, nicht immer der Fall sein muss.

Partizipation enthält keine Garantie, weder für mehr Demokratie noch für bessere Ergebnisse. Man kann gerne politisch die Meinung beziehen, dass die Gesellschaft besser wäre, wenn sie partizipativer wäre: Mehr unterschiedliche Stimmen machen eine bessere Gesellschaft möglich und so weiter. Als politische Position ist das okay. Aber von sich alleine produziert Partizipation das nicht. Das muss erst hergestellt werden, langfristig und auch institutionell.

Und, was ich Ihnen unbedingt noch mitgeben möchte, ist diese Erkenntnis, dass Methoden Ergebnisse produzieren, aber damit die Ergebnisse noch nicht sofort gut oder richtig werden. In der Ethnologie sind das Bücher, die am Ende geschrieben werden; in der Stadtplanung Bebauungspläne, die am Ende fertig sind. Für Bibliotheken können Sie selber Beispiele einsetzen.

 

Vielen Dank

Vom Unbehagen mit „den Bibliotheken‟ von Aat Vos

Hier ein Geständnis von mir (vielleicht ist es auch keines): Die neu eröffneten Bibliotheken, welche gerade durch die bibliothekarische Presse gereicht werden und bei denen in den Begleittexten oft in den Vordergrund gestellt wird, dass Aat Vos an ihrer Gestaltung beteiligt war – ich finde sie alle abstossend. Hässlich ist das falsche Wort – aber weder einladend noch gemütlich (wie sie immer wieder genannt werden), sondern auf Effizienz und genaue Aufgaben hin durchgeplant; ausgestattet wie diese Co-Working-Spaces, die auf Firmen ausgerichtet sind und den Vibe ausstrahlen, dass man in ihnen einerseits so tun muss, als wäre man gerade heftig entspannt kreativ und entspannt, bei denen aber andererseits fühlbar ein „travail travail travail‟ über allem geschrieben steht. Wie eine unbelebte Bühne, wo alles zu sauber, neu, ungebraucht dasteht, aber einen cooles Café darstellen soll. Halt wie Räume, die auf Effizienz, Arbeitssamkeit und korrekte Manieren hin geplant wurden. Aber selbstverständlich könnte das ein rein subjektives Empfinden sein. Das Leute Dinge mögen, die ich nicht ausstehen kann – das ist mein Leben.

Doch mir scheint, es ist komplizierter, als das man es einfach auf subjektive Eindrücke reduzieren könnte. Die Bibliotheken, welche in den betreffenden Texten begeistert beschrieben und in den Bildern dargestellt werden, scheinen mir erstaunlich klar einen eindeutigen Habitus auszustrahlen. Während andere („alte‟) Bibliotheken mit ihren offenen Flächen zwar auch bestimmte Dinge zu „fordern‟ scheinen, scheinen sie mir doch immer offener zu sein als die Bibliotheken „von Aat Vos‟. Oder anders: Letztgenannte, „neue‟ Bibliotheken scheinen mir – entgegen ihrem Anspruch – viel einschränkender zu sein, als die heute im Bibliothekswesen offenbar als langweilig wahrgenommenen Bibliotheken des letzten Jahrzehnts. Und gleichzeitig auch entgegen dem eigenen Anspruch eben nicht „alle‟ ansprechend, sondern sehr klar vor allem gutsituierte Personen. Sozial Schwache, so scheint es mir, werden aus diesen „neuen‟ Bibliotheken eher draussen gehalten werden – obwohl selbstverständlich der Anspruch ist, das sie auch die Bibliothek nutzen sollen – wie sie halt praktisch aus den höherpreisigen Coffeeshops und Co-Workingspaces herausgehalten werden, die so aussehen, wie diese Bibliotheken.

Wie diesen Vibe fassen? Wo kommt dieses Feeling, dieses Unbehagen her? Wie es über den subjektiven Eindruck hinausheben, der alleine ja nichts sagt und allgemein auch als nicht zu diskutieren gilt? Das denke ich langsam zu wissen und möchte er gerne hier zeigen. [Und, dass ist mir wichtig: Es geht mir nicht darum die Person Aat Vos zu kritisieren. Das hier ist keine Polemik und kein persönlicher Angriff. Er wird nur immer und immer wieder als Designer erwähnt, deshalb erwähne ich ihn. Wie so oft geht es mir um strukturelle Fragen. Es ist ja zum Beispiel nicht nur Vos, seine Beratung und seine Arbeit anbietet, sondern es sind auch immer Bibliotheken, die diese annehmen.]

Soziologie, Ethnologie

Bourdieu und Lefebvre – beziehungsweise die Arbeiten dieser beiden Soziologen scheint mir eine gute Grundlage, um das Unbehagen besser zu fassen und auch das Nachdenken (und dann das Verändern, wenn das gewünscht ist) dieser Situation zu ermöglichen. [Und ja, es fällt auf, dass dieser Text durchgehend von Männern spricht; offensichtlich gäbe es sowohl bei der Kritik als auch der Gestaltung von Bibliotheken andere Bezugspersonen, die gewiss das Design vielfältiger und die Kritik inhaltlich besser machen würden.]

Zu Bourdieu: Was gemütlich ist, ist schichtspezifisch

Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft‟ (Original: „La distiction. Critique sociale du jugement‟, 1979) ist (bekanntlich?) eine empirische Studie zum Zusammenhang von sozialer Position und ästhetischen Urteilen; also grundsätzlich der Frage, ob das, was als schön, sinnvoll, gemütlich et cetera angesehen wird ein individuelles Charakteristikum ist – oder aber in einem Zusammenhang mit der sozialen Position steht, die eine Person einnimmt. Oder noch anders: Ob Reiche, Arme und die Menschen dazwischen jeweils einen eigenen Stil haben (in der Wohnungseinrichtung, dem Bezug zur Kunst, dem, was sie schön oder hässlich finden…), oder ob das zufällig verteilt ist. Die Daten dazu sind heute alt (erhoben in den 1960er und 1970er Jahren) und aus Frankreich, aber die Ergebnisse wurden grundsätzlich immer wieder auch in anderen Zusammenhängen bestätigt. Die Struktur scheint zu stimmen, nur die Ausprägung ändert sich.

Und die Ergebnisse waren (bekanntlich?), dass: Ja, die ästhetischen Urteile und die soziale Lage eng miteinander verknüpft sind. Was in der einen Sozialschicht als schön, gut et cetera galt, gilt in anderen Sozialschichten nicht auch als gut, schön und so weiter. Teilweise, aber nicht immer, gilt es explizit als hässlich, als Ausdruck eines schlechten Geschmacks, eines falschen Lebens. Diese Geschmacksurteile, die als subjektiv gelten (siehe oben, die Vermutung, dass meine Wahrnehmung der genannten Bibliotheken rein subjektiv sein könnte), sind sehr sehr eng daran gebunden, welcher sozialen Schicht wir entstammen oder welcher wir zugehören. Deshalb lässt sich auch nicht so einfach etwas finden, was „alle‟ schön, gemütlich oder zumindest okay finden (ausser, die sozialen Schichten sind nicht weit voneinander entfernt, aber unsere Gesellschaft strebt ja eher auseinander als aufeinander zu).

Bei Bourdieu geht es dann auch darum, wie sich diese Geschmacksurteile in die Körper einschreiben und dazu führen, dass sich Angehörigen einer Sozialschicht „erkennen‟. Aber schon in der originalen Datenaufnahme – im Buch dargestellt – geht es darum, wie Menschen aus unterschiedlichen Schichten ihre Wohnungen einrichten. Dabei wird sichtbar, dass dies selbstverständlich auch damit zu tun hat, wie viel Geld jemand für die Einrichtung einer Wohnung investieren kann, aber nicht nur. Menschen bezeichnen unterschiedliche Stile als schön, gemütlich und nannten auch ganz andere Kriterien, nach denen sie ihre Wohnungen bewerten würden. Die Wohnungen von Menschen mit wenig Geld sehen nicht aus wie billige Kopien der Wohnungen von Menschen mit viel Geld – sondern wirklich anders. (Im Buch neigen Menschen mit wenig Geld zum Beispiel zu einem „praktischen Stil‟, also dazu, dass als schön angesehen wird, was auch praktisch ist – aber das kann sich geändert haben.) Das heisst nicht, dass die soziale Schicht den Geschmack, den Stil und so weiter vollständig determiniert. Es gibt immer persönliche Unterschiede und Ausnahmen. Aber was Bourdieu et al. zeigten, war, dass der Zusammenhang sehr, sehr eng ist.

Mir scheint, dass lässt sich selbstverständlich auch auf Räume wie Bibliotheken übertragen. Bibliotheken behaupten gerne – und wieder einmal in den Texten, welche die hier thematisierten neu gebauten / eingerichteten Bibliotheken beschreiben – Orte sein zu wollen, die für alle offen sind. Aber wie baut man Räume, die „für alle offen sind‟, wenn sich das, was als schön, gemütlich und so weiter gilt, je nach sozialer Schicht unterscheidet? Vielleicht, indem man sie sehr einfach und funktional macht. Zumindest aber nicht, indem man einfach behauptet, dass es eine spezifisch „gemütlichen‟ Stil gäbe, der die meisten Menschen ansprechen würde. Und schon gar nicht so, wie das in diesen Bibliotheken gemacht wird: mit Möbeln aus dem höherpreisigen Design-Möbelgeschäften, vollgestellten Räume, überall Designelemente und so Pseudo-verspielte-Garten-Farben. Wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass die soziale Schicht auch den Stil mitbestimmt, und dann auf diese Räume blickt, dann fällt schnell auf, dass die vor allem für den Geschmack einer gut-situierten Schicht gebaut scheinen; einer Schicht, die einen Stil (vielleicht) gemütlich findet, der Arbeit und Freizeit nicht wirklich voneinander trennt. Wie halt, wie oben schon gesagt, Co-Working-Spaces, die Gemütlichkeit eher simulieren und eher zum Arbeiten auffordern, zum etwas-machen, zum aktiv sein auffordern. Andere soziale Schichten trennen aber zum Beispiel Arbeit und Freizeit ganz explizit.

Zu Lefebvre: Was der Raum ist, bestimmt nicht das Design allein

Noch etwas irritiert mich bei den ganzen positiven Darstellungen dieser neuen Bibliotheken immer wieder: Es wird über das Design berichtet, auch über die Prozesse, wie über die Umbauten / Neubauten entschieden wurde und es werden Bilder aus den Räumen publiziert. Aber das ist das schon der Raum Bibliothek?

Hier kommen mir immer und immer wieder die Arbeiten von Henri Lefebvre darüber in den Sinn, wie Städte „funktionieren‟. (Vor allem, aber nicht nur „Das Recht auf Stadt‟, Original „Le droit à la ville‟, 1968.) Hauptthese bei ihm – die auch wieder nicht aus der Luft gegriffen, sondern theoretisch und empirisch untermauert und bis heute immer wieder genutzt und bestätigt wird – ist, dass das „Funktionieren‟ von Städten und Räumen sich nur verstehen lässt aus dem Zusammenspiel von Gebautem Raum (Infrastruktur) – Wahrgenommenen Raum (Was soll er? Was sind die „sozialen Regeln‟ des Raumes? Was „gehört‟ sich und was nicht?) – Gelebten Raum (Wie wird sich verhalten? Wie wird der Raum „bewohnt‟). Ein Raum, seine Struktur, seine Ausstattung hat immer einen mehr oder minder klaren Aufforderungscharakter: Was in ihm passieren soll. Dazu hat jeder Raum aber auch seine eigenen Regeln, die sich sozial ergeben. Nicht nur, was erlaubt oder verboten ist, sondern auch was sozial erwünscht ist und was nicht, was als schicklich gilt oder nicht. Und daneben gibt es das, was im Raum wirklich passiert.

Ohne das gleich empirisch zu fassen, lässt sich das ganz gut nachvollziehen, wenn man nur ähnliche Räume in unterschiedlichen Gesellschaften oder auch nur Städten / Gemeinden besucht und dann jeweils eine Zeit lang in ihnen aufhält. Jetzt gerade sitze ich zum Beispiel in einem Café in Basel, dass so leicht alternativ ist, mit intellektuelleren Zeitschriften und eher linken bis mitte-linken Zeitungen in der Auslage, WLAN, kleinen Speisen, gutem Kaffee etc. Es könnte sich so auch gut in Berlin, Wien, Lausanne befinden, mit dem gleichen Aufbau, dem gleichen Fokus und so weiter. Aber es würde sich anders anfühlen. In Berlin oder Lausanne zum Beispiel nicht so arbeitssam, auch nicht so „zur Stadt passend‟. Wieso, wenn die Möbel und die Infrastruktur die gleichen sein könnten? Weil der „wahrgenommene Raum‟ und der „gelebte Raum‟ nicht der gleiche ist. Die sozialen Regeln sind in schweizerischen Grosststädten halt etwas anders als in deutschen oder österreichischen Metropolen und in der Deutschschweiz auch anders als in der Romandie. Sie sind schwieriger (aber bei genau Zeit auch nicht unmöglich) zu fassen, als einfache Auszählungen von Nutzer*innen. Auch das Leben ist leicht anders. Sonst wären die Städte ja alle gleich – was sie bekanntlich nicht sind. [Man kann das aber auch selber an anderen Beispielen überprüfen, wenn man Cafés nicht mag. Ich war in den letzten Wochen zum Beispiel auch in Öffentlichen Bibliotheken mehrerer Städte, die alle mit dem Möbeln des gleichen Bibliotheksausstatters gestaltet wurden und deshalb auch in vielem gleich waren – aber doch gänzlich unterschiedlich laut, benutzt und so weiter. Ich bin der Überzeugung: Hätte ich etwas mehr Zeit in ihnen verbracht und nicht nur einen kurzen Blick in sie geworfen, wären mir mehr Unterschiede aufgefallen. – Das Experiment kann jede und jeder auch selber einmal durchführen, wenn sie oder er mir das nicht glaubt.]

Aber, bezogen darauf, wie die neu gestalteten Bibliotheken dargestellt werden, scheint das überhaupt nicht thematisiert zu werden. Hier scheint eher die Überzeugung vertreten zu werden, dass es praktisch nur auf das Design der Räume ankäme, um sie zu verändern. Das scheint mir leicht absurd: Was ist den mit denen anderen Bereichen? Wie soll man den etwas über die Wirkung der Bibliotheken sagen können, wenn man nur über Design redet und Bilder der Räume (meiste ohne Menschen drin) zeigt? Mir scheint, wenn man einmal mit Lefebvre den Blickwinkel einnimmt, dass Räume nicht einfach nur durch den gebauten und designten Raum funktionieren, stellt sich schnell die Frage, was alles in der Planung und Darstellung fehlt (beziehungsweise zu fehlen scheint): Neben der Frage nach dem sozialen Charakter der Räume, die da gebaut werden (siehe oben), auch die Frage nach den sozialen Regeln, die mit den Räumen aufgerufen werden und denen, die tatsächlich etabliert und dann gelebt werden.

Kurz noch Habermas, Oldenburg

Gleichzeitig wird in den Texten zu diesen Bibliotheken immer wieder behauptet, dass sie gebaut würden, um eine Ort herzustellen, in dem sich alle zusammenfinden sollen und so Gesellschaft entsteht. Es wird auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und darauf, dass „heute‟ Bibliotheken als Ort wichtig würden, an denen Vertrauen geschaffen wird und so weiter. Die immer gleichen Schlagworte und immer wieder genutzten Formulierungen sind wohl bekannt.

Aber nochmal: Am Ende wird in den Texten vor allem von Design und Planungsprozessen geredet; nicht vom sozialen Leben. Mir scheint, dass oft eine sehr einfache Überlegung im Hintergrund steht: Nähe von Personen wird mit Kommunikation über soziale und andere Grenzen hinweg gleichgesetzt. Oder anders: Weil die Räume gemütlich wären, würden sich hier viele unterschiedliche Menschen einfinden und dann beginnen, miteinander zu reden. Der Raum scheint dafür oft als genügend anregend zu gelten. Abgesehen davon, dass der Stil meiner Meinung nach eher zu einer Verengung der sozialen Schichten, welche diese Bibliotheken gerne nutzen, führen wird: So funktioniert Gesellschaft selbstverständlich überhaupt nicht.

Mir scheint hier ein ganz vereinfachtes – so einfach, dass es falsch ist – Verständnis von öffentlichen Raum vorzuliegen. Das wird gerne mit Habermas und seinen Arbeiten zum Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft durch Kommunikation in Verbindung gebracht, aber selbstverständlich ist das nicht das, was bei Habermas drin steht. Bei ihm geht es auch um soziale Unterschiede, um Kommunikationsbarrieren, um Themensetzungen und so weiter.

Bei den Texten zu den neuen Bibliotheken scheint es aber die Vorstellung zu geben, dass man einfach Räume bauen könne, in denen soziale Unterschiede, Unterschiede in Verständnis, Wahrnehmung, Interpretation von sozialen Regeln, Erwartungen und so weiter verschwinden – und dadurch dann schon Leute miteinander reden und deshalb Gesellschaft herstellen. Das müsste man aber nachweisen (und meiner Meinung nach kann man das nicht nachweisen, weil es so nicht passiert). Wenn man Räume baut, in denen Menschen miteinander reden sollen (ganz abgesehen davon, dass nicht klar ist, ob das überhaupt schon Gesellschaft ausmacht), dann muss man über die Funktion dieser Räume nachdenken – und das funktioniert nicht durch Infrastruktur oder Design, sondern durch aktives Tun: Irgendetwas oder irgendwer muss die Kommunikation erst motivieren oft auch am Laufen halten.

Sicherlich kann man Räume bauen, die praktisch Kommunikation verhindern – deshalb ist es ganz gut, wenn man darüber nachdenkt, wie man das gerade nicht tut. Aber einfach gemütliche Räume bauen und dann hoffen, dass das schon ausreicht – – – das funktioniert selbstverständlich nicht. Das führt nur dazu, dass Menschen, die sich schon kennen, miteinander reden und die anderen daneben vor sich hinarbeiten / hinleben. (Auch das kann man in den Cafés, auf die sich implizit ja bei den ganzen „gemütlichen Bibliotheken‟ bezogen wird, beachten. Wenn es keinen Grund gibt, miteinander zu reden, sitzen die Menschen auch da getrennt voneinander. Auch hier: Jetzt sitze ich seit vier Stunden in diesem gemütlichen, kleinen, hellen Café in Basel und habe genau mit den beiden Herren am Tresen gesprochen, sonst niemand. So wie andere auch. Die Idee, dass es in solchen Räumen zu Kommunikation kommen würde, scheinen mir oft Menschen zu haben, die sich praktisch nie in solchen aufhalten. – – – Auch hier mein Hinweis: Wer es nicht glaubt, kann ja mal ein paar Stunden in solchen Cafés verbringen und sich das selber anschauen.)

Dabei: Allgemein wird bei solchen Bibliotheken ja auf den „Dritten Ort‟ verwiesen und das wiederum könnte auf das Buch von Ray Oldenburg („The Great Good Place‟, 1989) zurückverweisen, in dem er diesen Begriff „Dritter Ort‟ geprägt hat. Ich weiss, das wird gerne ignoriert und der Begriff eher gefühlt als begründet. Aber ist doch auffällig, dass Oldenburg bei der Prägung des Begriffes immer und immer wieder darauf verweist, dass die Orte, die er als „Dritter Ort‟ beschreibt, „plain‟ sein: Einfach, ohne notwendig grossen Schnick-schnack, ohne grosses Design. Sehr offen in der Nutzung. Nur so könnten sie funktionieren (und dazu würden sie noch einige andere Dinge brauchen, beispielsweise „anregende Getränke‟ und „Kommunikation als Hauptzweck‟ und „Stammnutzer*innen‟, welche erst die sozialen Regeln etablieren und leben). Das „gemütlich‟, von dem Oldenburg spricht – und im Buch anhand von Bildern illustriert – ist etwas anderes als das, was in den neuen Bibliotheken gebaut wird und auch etwas anderes als das, was Bibliotheken unter „erhöhter Aufenthaltsqualität‟ zu verstehen scheinen. Oldenburg ist schlecht im Begründen seiner Thesen, aber ich denke, was er andeutet ist, dass „Dritte Orte‟ vor allem so sein müssen, dass sie weniger dem Stil einer sozialen Schicht folgen, sondern offen genug sind, damit sie zumindest nicht den bevorzugten Stilen mehrerer sozialer Schichten widersprechen. (Oder die unterschiedlichen Stile verbinden. Deswegen ist er so begeistert von englischen Pubs, in denen so unterschiedliche Räume nebeneinander untergebracht sind.) Vielleicht gilt das ja viel eher für Bibliotheksräume, die als „langweilig‟ bezeichnet werden, als für die neu gebauten? Zumindest ist es schon erstaunlich, wie weit eigentlich diese „neuen‟ Bibliotheksräume von den Thesen sind, auf die sie sich vorgeblich – durch die Verwendung des Schlagworts „Dritter Ort‟ – beziehen.

Nicht zuletzt bin ich auch deshalb über das Fehlen von allen Aussagen dazu, wie diese Räume „funktionieren‟ (sollen) bei gleichzeitiger Behauptung, sie wäre für die Herstellung von Gesellschaft geschaffen, so irritiert, weil es selbstverständlich eine ganze Wissenschaftsdisziplin gibt, die sich damit beschäftigt, wie Gesellschaft auf der Ebene von Individuen und Gruppen hergestellt wird: Der Ethnologie. In ihr geht es um gelebte soziale Regeln, Erwartungen, Rituale, Verhaltensweisen und so weiter. Wie kann man diese ganze Disziplin ignorieren? (Klar, wie ich schon sagte: Indem man behauptet, die Bereitstellung des richtig gestalteten Raumes sein schon ausreichend. Aber das ist doch erstaunlich, wenn man aus der Ethnologie eigentlich lernen könnte, wie viel Arbeit erst von Menschen dareingesteckt wird, Gesellschaft auf lokaler Ebene herzustellen. Wäre es so einfach, dass man dafür einfach nur den richtigen Raum bereitstellen müsste, dann bräuchte es diese ganze Disziplin überhaupt nicht.)

Wieso ist das so?

Zusammengefasst: Ich habe ein grossen Unbehagen mit den neu gebauten Bibliotheken, die aktuell durch die bibliothekarischen Publikationen als neu und zukunftsweisend gereicht werden. Und mit etwas Theorie scheint mir das Unbehagen mehr als eine rein subjektive Abneigung. Mir scheint sogar, ungewollt aber doch real, hat man hier Räume gebaut, die noch mehr ausgrenzen, als man das schon von „langweiligen Bibliotheksräumen‟ vermutet hat. Stimmt das? Das müsste empirisch überprüft werden. (Aber man kann es erst überprüfen, wenn man den Verdacht äussert und zeigt, wieso es so sein könnte – was ich hier versuche.)

Aber wieso ist das so? Es ist ja nicht so, dass Bibliotheken Räume bauen wollen, die ausgrenzen. Ganz im Gegenteil. Und auch Aat Vos würde ich so was nicht unterstellen. Grundsätzlich kann man bei allen Beteiligten von good wil ausgehen. Nur: good wil alleine führt noch nicht zu guten Ergebnissen – „nur‟ zu gut gemeinten.

Ich denke, es sind zwei Dinge, die hier hineinspielen.

Zuerst, da es in den Texten auch immer um Aat Vos geht, soll es hier auch um Aat Vos gehen: Der ist Designer (und „Kreativ-Coach‟, ich weiss aber nicht, was ein Kreativ-Coach macht; aber was Designer*innen machen weiss ich ein bisschen). Als solcher muss er wohl davon überzeugt sein, dass vor allem Design die Welt retten oder zumindest besser machen wird. Es gibt im Design und der Architektur (bekanntlich?) eine lange, lange Tradition, sich gerade nicht an „the man‟ verkaufen und nur für Reiche irgendetwas Hübsches designen oder bauen zu wollen – sondern etwas, was besser ist für alle Menschen. Mit sozialem Anspruch Designen und Bauen. Wir haben gerade noch „100 Jahre Bauhaus‟, da sollte so eine Aussage nicht irritieren. Aber immer und immer wieder wurden Dinge designt, Gebäude gebaut, Plätze und Städte geplant, damit es allen besser geht und die Gesellschaft besser funktioniert – immer wieder auf der Basis von spezifischen Überzeugungen der Personen, die Designen oder Planen, was gut für die Gesellschaft wäre, wie die Gesellschaft funktioniert und so weiter. (Auch da ist das Bauhaus ein gutes Beispiel für.) Einiges hat zu einem besseren Leben beigetragen, vieles ist eher gescheitert (die „New Towns‟ in GB, die Banlieus in Frankreich, die sozialistischen Kollektivhäuser in der frühen Sowjetunion), noch mehr wurde anders genutzt, als geplant (zum Beispiel die ganzen Bauhaus-Wohnungen, die dann von Bewohner*innen doch nicht spartanisch und funktional durchgeplant belassen, sondern vollgestellt wurden). Diese Tradition ist da – und selbstverständlich ist es sympathischer, wenn mit so einem Anspruch geplant und designt wird. Aber sie wird auch fast „nur‟ mit Mitteln des Designs und der Architektur reflektiert und interpretiert, also eher mit einem Ansatz der Untersuchung von Beispielen mit ästhetisch und anderen Kriterien, aber zum Beispiel wenig soziologischem Verständnis. In einem solchen Denken kann es als ausreichend gelten, die funktionierende Gesellschaft auf lokaler Eben als eine zu verstehen, in der Menschen miteinander reden und dann nach Design-Lösungen zu suchen, die das ermöglichen würden.

Nachvollziehbar. Aber nur, weil Designer*innen davon überzeugt sind, dass Design die Welt besser machen würde, müssen Bibliotheken das nicht gleich glauben. Schon die Geschichte all der gescheiterten Interventionen durch Design sollte zeigen, dass diese eher Scheitern als Funktionieren. Darum scheint mir die Soziologie (und Ethnologie) weit besser zu erklären als das Design. Mich erstaunt deshalb, wie umstandslos Behauptungen aus dem Design in bibliothekarische Texte (und wohl auch bibliothekarisches Denken) übernommen zu werden scheinen.

Das dies so einfach übernommen wird scheint mir – das ist der zweite Punkt – ein Ergebnis der Untertheoretisierung von Bibliotheksbau und Raumplanung (und der tatsächlichen Funktion von Bibliotheken) zu sein. Eigentlich haben wir, wie oben gezeigt, genügend Wissen darüber, worauf und wohin wir zumindest schauen müssten, wenn wir darüber nachdenken, Bibliotheken umzubauen oder neu zu bauen. Aber weil das Bibliothekswesen eher schlecht darin ist, wirklich öffentlich und nachvollziehbar darüber nachzudenken, scheint es manchmal, als könnte einfach jemand etwas über die Wirkung von Räumen behaupten – und wenn das nur selbstbewusst und oft genug gemacht wird, dann wird das übernommen.

Das ist nicht perfekt, weil es nicht per se gute Räume baut (sondern auch zu solchen führen kann, die vielleicht eher ausschliessen). Sicherlich: Ich könnte es zu meiner Mission machen, auch selbstbewusst und oft etwas über Räume und Bibliotheksbau zu behaupten. Aber das kann ja nicht die Lösung sein. Sinnvoller wäre es wohl, Design und Architektur als das zu sehen, was sie sind: Design und Architektur. Und die Aussagen und das Nachdenken über Gesellschaft und Wirkung von Bibliotheksräumen nicht diesen zu überlassen, sondern eher auf die Disziplinen zurückzugreifen, die das Wissen dazu systematisch erwerben. Das ist halt vor allem die Soziologie.

Sinnvoll als Praxis wäre es wohl auch, regelmässig mit einem soziologischen Blick Bibliotheksräume zu interpretieren. Übung macht dabei auch die Anwendung soziologischer Modelle besser. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass diese Theorien nicht „einfach dahergesagt‟ sind, so wie Berater*innen einfach vieles auf der Basis ihrer eigenen Überzeugung dahersagen, sondern auf Empirie, Theoretisierung und wiederholter Anwendung / Testung beruhen. Sie erklären auch etwas – und mehr, als doch eher einfache Annahmen über die Funktion von Räumen und Gesellschaft, welche aktuell das Nachdenken über Bibliotheksräume zu prägen scheint.

Aber irgendetwas muss man ja bauen…

Sicherlich: Bibliotheken werden ständig um- oder neugebaut. Deshalb müssen auch immer wieder Entscheidungen darüber getroffen werden, was gebaut / in den Raum gestellt wird und wie. Das kann nicht einfach unentschieden gelassen werden, bis die best-mögliche Lösung erarbeitet ist. Irgendwas muss halt doch gebaut werden. Und es ist auch richtig, dass dafür bestimmte Methoden verwendet werden müssen. Und grundsätzlich wäre es wohl richtig zu sagen, dass alle Methoden erst mal sinnvoll sein können, wenn sie nur je zum zu lösenden Problem oder den gestellten Fragen passen.

Bei den „neuen Bibliotheken‟ ist es aber auffällig, wie oft diese – am Ende ja doch immer wieder ähnlich aussehenden – Bibliotheken mit vor allem einer Methode, nämlich Design Thinking verbunden werden. Wenn etwas zum eigentlichen Entscheidungsprozess für diese Neu- und Umbauten in den betreffenden Texten mitgeteilt wird, dann, dass es diese Methode war. Und, wie gesagt, die Bibliotheken scheinen mir gerade viel geschlossener und nicht offener zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Methode doch etwas damit zu tun hat, das die Bibliotheken am Ende immer wieder so werden, wie sie werden. Es wäre deshalb sinnvoll, sich diese doch noch einmal genauer anzuschauen, bevor sie weiter einfach immer wieder als vorgeblich zeitgemässe, innovatives Vorgehensweise genutzt wird. Mir scheint, dass zumindest Teile der Methode dafür verantwortlich sind, dass ständig einer offenbar stark verkürzte Vorstellung davon, wie Gesellschaft und Räume funktionieren, gefolgt wird und das immer wieder diese, meiner Meinung nach, ausschliessenden Räume gebaut werden. [Drei Vermutungen: Das „Kritikverbot‟, welches oft am Anfang der Methode eingeführt wird, führt dazu, dass offensichtliche Widersprüche nicht genannt werden. Der Fokus auf „Tun‟ (Making, Rapid-Prototyping etc.) verengt den Blick und das, worüber man nachdenken soll / kann auf Design-Lösungen. Der vorgeblich kreative, spielerische Ansatz zieht Personen aus bestimmten Sozialschichten – die Arbeit und Freizeit beziehungsweise Arbeit und Spiel nicht wirklich voneinander trennen – an und stösst andere eher ab. Aber das nur erste Vermutungen.]

Was sein könnte

Grundsätzlich aber scheint mir, dass gerade diese neuen Bibliotheken eine Aufforderung darstellen, mehr über die tatsächliche Nutzung und Wirkung von Bibliotheksräumen nachzudenken; dabei nicht nur einer Erzählung über „kreative Räume‟ und so weiter zu glauben, sondern auch das einzubeziehen, was als einigermassen gesicherter Wissensbestand über Gesellschaft, Stil, Wahrnehmung bekannt ist. Und es wäre sinnvoll, vielleicht wieder andere Methoden mit zu benutzten – und nicht eine, die so eindeutig aus dem Design kommt, ungefragt zu übernehmen. Was dabei rauskommen wird? Keine Ahnung, das wäre ein (gemeinsamer) Prozess.

Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass am Ende klar wird, dass das, was als „langweiliger Raum‟ beschrieben wird (nicht als schlechter, lauter, billiger; sondern als langweilig und bland) sich als sinnvoller Raum herausstellen kann, wenn man wirklich dem Ziel folgen will, Räume „für alle‟ zu bauen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass man dahin kommt, Planung von neuen Bibliotheken gar nicht erst rein als Design- und Architekturprojekt zu verstehen und zu präsentieren, sondern als umfassender: Mit Raum und Infrastruktur, aber auch Angeboten, Regeln, die man durchsetzen möchte, Dingen, die man ermöglichen möchte (und wie) und so weiter. Und vor allem kann ich mir vorstellen, dass man nicht mehr einzelne BeraterInnen als Wissensquelle benutzt und deren Thesen einfach zu übernehmen scheint.

Was sich aus so einem Nachdenken wie hier meiner Meinung nach auch ergibt, sind zahlreiche Forschungsfragen, die mal angegangen werden könnte – und sei es, um meine Wahrnehmungen zu widerlegen (anstatt einfach zu behaupten, dass sie nicht stimmen). Beispielsweise, wie Menschen aus verschiedenen Sozialschichten diese (und andere) Bibliotheken wahrnehmen und nutzen. Oder wie und ob die erhofften (und in vielen Texten zu den neuen Bibliotheken ja explizit erwähnten) Kommunikationen zwischen Nutzer*innen überhaupt stattfinden. Oder ob andere Methoden, bezogen auf die gleichen Aufgaben, bessere Ergebnisse hervorbringen und es tatsächlich eine Methodenfrage ist. (So funktioniert Theorie, wenn sie angewandt wird: Sie lenkt den Blick darauf, was zu beobachten sein müsste.) Aber das nur als Aufforderung.