Zur Differenz zwischen Zielen bibliothekarischer Angebote und dem Bewerten derselben

Öffentliche Bibliotheken sind erstaunlicherweise wenig gut in der Lage, zu zeigen, wie ihre Angebote wirken, also vor allem, welche Veränderungen sie bei ihren Nutzer*innen hervorrufen. Sicherlich sollen gar nicht alle Angebote Veränderungen herbeiführen, beispielsweise sollen Medien aus der Bibliothek auch einfach dafür benutzt werden, um aus Spass an der Freude, aus Jux und Dollerei gelesen zu werden. Aber eine ganze Anzahl von Angeboten zielt zumindest diskursiv darauf, etwas zu verändern: Leseförderung soll die Begeisterung für das Lesen, die Regelmässigkeit des Lesens, den Aufbau von Lesekompetenz und so weiter fördern. Andere Angebote beispielsweise demokratisches Handeln oder den kritischen Umgang mit Fake-News. Bibliotheken sollen auch «mehr und mehr» Teil des Stadtraumes werden oder soziale Orte. Diese Aufzählung lässt sich ergänzen.

Und all dieses «Fördern», «mehr und mehr», «verstärkt» impliziert, dass es jeweils Veränderungen gibt. Menschen nehmen an Demokratieworkshops teil und können nachher demokratischer argumentieren und Dinge aushandeln. Kinder und Jugendliche durchlaufen Leseförderprogramme einer Bibliothek und haben nachher mehr Lesekompetenz als vorher. Oder sie haben mehr Spass am Lesen als vor dem Programm. So ungefähr.

Die Praxis sieht aber so aus, dass es immer wieder eine erstaunliche Differenz zwischen den angegebenen oder zu vermutenden Zielen von bibliothekarischen Angeboten auf der einen Seite und den dann durchgeführten Messungen dieser Ziel auf der anderen Seite gibt. Das war mir schon aufgefallen, als ich meine Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken schrieb – die auch deshalb nicht bestimmt werden konnten, weil keine Daten zu diesen Veränderungen vorliegen. Desletztens betreute ich aber auch einige Bachelorarbeiten, die mich wieder an dieses Phänomen erinnerten. Das war die Motivation, dieses Phänomen nochmal zu besuchen und zu fragen: Warum ist das eigentlich so?

Mir geht es dabei nicht um die Evaluation von einzelnen Projekten – die kann man auch von «ausserhalb» (Berater*innen, Hochschulen und so weiter) einkaufen, was ja auch getan wird, aber dann ist es halt nicht die Arbeit der Bibliothek selber. Mir geht es darum, dass meistens die Ziele von Angeboten gar nicht nachgewiesen zu werden scheinen, beispielsweise dass in Jahresberichten steht, warum man bestimmte Angebote wie Leseförderung macht, aber nicht, ob dieses Ziele erreicht worden sind. Oder dass wenn Angaben zu den Erfolgen von solchen Angeboten gemacht werden, diese zumeist nicht wirklich in Zusammenhang mit den Zielen stehen. Beispielsweise wieder in vielen Jahresberichten findet man oft Angaben dazu, wie viele Kinder und Jugendliche oder Schulklassen bestimmte Leseförderangebote im letzten Jahr besucht haben, manchmal auch Hinweise dazu, dass die Teilnahme wieder gestiegen ist oder die Zusammenarbeit mit den Schulen weiter funktioniert. Und in einigen Fällen finden sich auch Bilder davon, wie Kinder und Jugendliche begeistert an den Leseförderangeboten teilnehmen. Aber… das Ziel der Leseförderangebote – Lesen und Begeisterung für das Lesen fördern, den Aufbau von Lesekompetenzen zu unterstützen und so weiter – ist ja nicht, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche die Angebote irgendwie durchlaufen oder das sie dabei Spass haben. Um diese Differenz geht es mir.

Vorbild Schule / Kita

Vielleicht, so habe ich mehr als einmal überlegt, fällt mir diese Differenz deshalb auf, weil ich damals bei meiner Promotion (und dann nachher, als ich in der Bildungsforschung arbeitete) auch gesehen habe, wie es in Schulen und – damals recht neu – Kindertagesstätten gemacht wird. Mir ging es ja damals darum, herauszukriegen, welche Bildungseffekte Bibliotheken haben – und wer ist besser darin, Bildungseffekte zu bestimmen, als Schulen? (Die Kindertagesstätten kamen dazu, weil es damals relativ neu Bildungspläne für diese gab und sie anfingen, systematisch in der alltäglichen Praxis die Entwicklung der Kompetenzen von Kindern zu dokumentieren und zu reflektieren.)

Sicherlich: Zur Schule gehört auch immer die Kritik an dieser Beobachtung der Bildungsentwicklung von Kindern und vor allem die Messung mittels Noten – spätestens wohl seit die Staaten Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts die Aufsicht über die Schulen übernahmen. Aber auch diese Tradition der Kritik existiert schon so lange, weil es halt zum Beruf von Lehrpersonen gehört, zu beobachten und zu messen, wie sich das Wissen, die Fähigkeiten, die Kompetenzen der Schüler*innen verändern. Es gehört zur professionellen Arbeit einer Lehrperson, dies regelmässig zu machen, egal ob als Notengebung von Klassenarbeiten oder als Schreiben von individuellen Lernreports für Schüler*innen oder noch anders. Das findet nicht einfach so statt, sondern um die eigene Arbeit als Lehrperson zu reflektieren und auch zu verändern, wenn das notwendig ist. (Es gibt auch weitere Gegebenheiten, für die dieses Messen genutzt wird. Beispielsweise, was ich auch quasi live in der pädagogischen Literatur beobachten konnte, als ich die für die Promotion las, immer mehr Berichte für schulsozialarbeiterische Interventionen oder indirekt für die Evaluation ganzer Schulen.)

Es ist kein Zufall, dass Lehrpersonen so gut darin sind, Aussagen zu den Lernfortschritten «ihrer» Schüler*innen zu machen: Sie sind explizit dafür ausgebildet, es ist Teil der Arbeit, die von ihnen erwartet wird (und für die es dann auch Arbeitszeit gibt), es ist notwendiger Teil für andere Teile ihrer Arbeit, beispielsweise die Unterrichtsplanung selber.

Kindergärten, zumindest in den Deutschland, waren damals (vor fast fünfzehn Jahren) ein weiteres gutes Beispiel: Durch die ersten Bildungsplänen für diese Einrichtungen, die in einigen Bundesländern erlassen wurden, wurde der Wandel von «der Bewahreinrichtung zur Bildungseinrichtung», der eh seit Jahrzehnten im Gang war, weitergetrieben. Von Kindergärtner*innen wurde damals neu erwartet, die Entwicklung der Kinder zu beobachten, zu dokumentieren und auch die Unterstützung weiteren Lernens zu planen. Es gab damals eine Welle der Professionalisierung, die sich in Debatten in der Fachliteratur und der Forschung niederschlug, aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Kindergärten sichtbar wurde. Es war also offenbar möglich, so eine Praxis zu etablieren – wenn es gewollt wurde.

Bibliotheken

In Bibliotheken ist dieses Beobachten von Lernentwicklungen nicht Teil professioneller Arbeit. Auch nicht das Beobachten von anderen Entwicklungen, beispielsweise ob Menschen mehr demokratisch handeln oder sozialer werden.

Das wird klarer, wenn man es mit dem Beispiel Lehrperson vergleicht. Lehrpersonen lernen das Bewerten, das Notengeben, auch das Beobachten und das Einbeziehen all der Daten, die so zustande kommen, in die weitere eigene Arbeit (wieder vor allem die Unterrichtsplanung) in der Ausbildung. In der Entwicklung der Profession von Lehrpersonen wurden immer mehr Formen dieser Beobachtungen und Bewertungen angedacht, ausprobiert, kritisiert, selber bewertet, weiterentwickelt und so weiter. Und sie wurden so sehr Teil der Arbeit, dass sie Teil der Arbeitszeit und der Anforderungen an Lehrpersonen sind: Ein*e Lehrer*in vergibt Noten, dass ist Teil der Arbeit – auch wenn die Lehrperson das alles kritisch sieht.

In Bibliotheken ist das nicht so. Das Bewerten von Angeboten über einfach zu erhebende Daten (die, die eh im Bibliothekssystem erhoben werden oder solchen, die leicht ausgezählt werden könne, wie die Anzahl von Teilnehmenden) ist weder Teil der Ausbildung noch Teil der professionellen Arbeit selber. Es gibt weder eine Diskussion im Bibliothekswesen über die Möglichkeiten und Grenzen von Erhebungsinstrumenten noch gibt es überhaupt etablierte Erhebungsinstrumente. In Schulen werden die meisten Lehrpersonen sich kritisch zu Schulnoten äussern – aber es gibt Schulnoten und sie sind etabliert.

Dadurch, dass solche Messungen nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit sind, fehlt in Bibliotheken zum Beispiel auch Arbeitszeit, um diese Messungen überhaupt durchzuführen oder die Ergebnisse regelmässig zu reflektieren. (Deshalb vielleicht immer wieder neue Versuche in Projekten, in denen man Zeit dafür einplanen kann, die aber nicht in die kontinuierliche Arbeit übernommen werden.)

Und selbstverständlich: Wenn es nicht gemacht wird, wird es auch nicht geübt und kann auch nicht zu einem so normalen Teil der Arbeit werden, wie es das Benoten für Lehrpersonen oder das Anlegen von Lerndossiers für Kindergärtner*innen ist.

Warum ist das so?

Warum ist das so? Warum wird des Messen der Effekte von Angeboten von Bibliotheken nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit? Warum gibt es zum Beispiel gerade keine bekannten Projekte, Messinstrumente dafür zu entwickeln, wie Leseförderaktivitäten bei den potentiellen Lesenden wirken? Sicherlich kann man einige naheliegende Gründe finden, warum es in Schulen einfacher ist, zu benoten oder Lernentwicklungen zu beobachten, als in Bibliotheken. Beispielsweise die Freiwilligkeit der Teilnahme an bibliothekarischen Angeboten (ausser gerade dann, wenn sie im Rahmen von Schulen oder Kindergärten stattfindet), die vielfältigen Aufgaben von Bibliotheken, der Fakt, dass Lehrpersonen die von ihnen betreuten Schüler*innen über Jahre regelmässig treffen, Bibliothekar*innen hingegen nur selten. Aber das wären alles Herausforderungen, keine unüberwindlichen Hindernisse.

Der Grund scheint mir ein anderer zu sein: Es ist einfach nicht notwendig, diese Arbeit zu leisten. Zwar gibt es immer wieder die Behauptung, Bibliotheken müssten (immer mehr, gerade jetzt et cetera) nachweisen, was sie machen und das sie damit erfolgreich sind. Aber… das stimmt ja nicht. Oder zumindest zumeist nicht. Weder die Träger noch die allgemeine Politik noch die Gesellschaft an sich wollen so genau wissen, welche Effekte die Arbeit von Bibliotheken haben. Was gerade die Träger immer wieder interessiert ist, dass Bibliotheken den Eindruck vermitteln, sich zu entwickeln und gleichzeitig zu wissen, was sie tun. Das gilt auch oft für Kooperationspartner. Aktive Bibliotheken sind gefragt, solche die zeigen, dass sie sich entwickeln. Aber keine Schule wird erst von der Bibliotheken einen Nachweis der Wirksamkeit von Leseförderangeboten und so weiter verlangen, bevor sie sich für oder gegen eine Zusammenarbeit entscheidet.

Vielleicht kann mir jemand Gegenbeispiele nennen, aber in all meinem Jahren, in denen ich auch Bibliotheken bei Strategieentwicklungen und so weiter unterstütze, ist mir noch nie ein Fall untergekommen, wo wirklich gefragt wurde, ob zum Beispiel die Leseförderung der Bibliothek wirklich dazu führt, dass die Kinder und Jugendlichen mehr oder besser und lieber lesen oder nicht. Was mir begegnet ist die immer wieder Überzeugung von Trägern, dass Bibliotheken (zum Beispiel) Leseföderung machen und das sie sich gleichzeitig entwickeln sollen. Aber wie genau – das bleibt immer wieder den Bibliotheken selber überlassen.

Gleichzeitig ist es nicht Teil bibliothekarischer Arbeit, die Ergebnisse (zum Beispiel) von Leseförderung so zu reflektieren, dass sie mehr förderlich werden können. Vielmehr wird immer wieder gefragt, was sich die Kolleg*innen zutrauen, woran Kinder und Jugendliche Spass haben, was die Schulen und Kindergärten von der Bibliothek erwarten. Aber wenn das die Kriterien sind, nach denen Leseförderung bewertet und entwickelt wird, dann ist es auch nicht notwendig, nach den tatsächlichen Effekten zu fragen.

Und nicht notwendig heisst auch, dass es nicht zum Teil der professionellen Arbeit wird und dann zum Beispiel auch nicht Arbeitszeit dafür genutzt werden kann. (Es heisst nicht, dass nicht einzelne Kolleg*innen es trotzdem immer wieder einmal versuchen oder zumindest andenken. Ein wenig scheint das parallel zu gehen damit, dass im Schulwesen kontinuierlich das Notengeben kritisiert wird – genauso wird immer wieder einmal im Bibliothekswesen angemerkt, dass man eigentlich nicht richtig weiss, ob die Leseförderung wirklich das Lesen fördert.)

Was das auch heisst, ist selbstverständlich, dass es nicht ein Fehler, gar ein Fehler von bestimmten Kolleg*innen, wäre, dass es ständig diese Differenz zwischen Zielen von bibliothekarischen Angeboten und dem Messen der Effekte derselben gibt. Wenn es ein Sinn im System Bibliothek hätte, würde es dieses Messen schon geben. Aber solange es diesen Sinn nicht gibt – weil die Entwicklung und Weiterentwicklung von Angeboten nicht beinhaltet, ob die Ziele überhaupt erreicht wurden, und wenn es auch von aussen kein wirkliches Interesse daran gibt, dass zu wissen – wird das strukturell nicht Teil der professionellen Arbeit von Bibliotheken werden. (Wird es weiter immer wieder Kolleg*innen irritieren? Ja. Aber, wie gesagt, gehört das wohl auch zu dieser Struktur.)

Warum es doch gut wäre

Kann sich diese Situation ändern? Ja, selbstverständlich. Die oben geschilderte Entwicklung in den Kindergärten vor einigen Jahren ist da ein Beispiel für.

Aber es muss einen Grund geben, warum diese Änderung stattfinden sollte. Ansonsten bleibt es bei vereinzelten Versuchen, Kolleg*innen, die irritiert über die Situation sind und Behauptungen darüber, dass es notwendig wäre, solche Nachweise der Wirksamkeit einzuführen. Bei den Kindergärten war es vor allem, aber nicht nur, die Politik, welche diese Entwicklung vorantrieb. Kindergärten wurden in das Bildungssystem integriert und somit wurde von ihnen auch erwartet, mehr wie andere Bildungseinrichtungen zu funktionieren. Sicherlich: Die konkrete Umsetzung fand dann in den Einrichtungen selber statt und wurden zum Beispiel von der Erziehungswissenschaft unterstützt. Aber die Erwartung von aussen war Triebfeder für die Veränderung selber.

Das kann auch im Bibliothekswesen passieren. Falls die Bildungspolitik einmal die immer wieder von Bibliotheken und Bibliotheksverbänden vorgebrachte Argumentation, sie seien auch Bildungseinrichtungen, ernst nimmt, wird das wohl auch heissen, dass innerhalb recht kurzer Zeit Öffentliche Bibliotheken mehr wie die anderen Bildungseinrichtungen werden und es schnell zum Teil professioneller bibliothekarischer Arbeit werden, Lernentwicklungen zu beobachten und zu dokumentieren. Auch wenn jetzt noch nicht klar ist, wie das genau aussehen könnte. (Und keine Angst: Wenn es tatsächlich ein Interesse daran gibt, gibt es auch mehr Personalmittel, um diese Anforderung umzusetzen – so, wie es bei den Kindergärten passierte.)

Aber dieser Druck von aussen ist nicht die einzige Möglichkeit. Professionen können sich aus sich selber heraus verändern, wenn es eine Neubewertung davon gibt, was für die Profession relevant ist. Dann beginnen sich Professionen auch Gedanken darum zu machen, wie die dann neuen Ziele erreicht und in die normale Arbeit integriert werden können.

Eine solche Veränderung wäre zum Beispiel, wenn es im Bibliothekswesen als relevant angesehen wird, nicht Angebote zu machen, von denen man hofft oder annimmt, dass sie das Lesen fördern, sondern wenn man es als notwendig ansehen würde, nur Angebote zu machen, die dies auch wirklich tun. Wenn also die tatsächlichen Entwicklungen der Lesemotivation, der Lesefähigkeiten, der Lesekompetenzen und so weiter der potentiellen Lesenden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt würden. Das würde dann einiges verändern. Nicht nur würde dann ein Interesse daran erwachsen, den jeweiligen Stand dieser Fähigkeiten und so weiter vor, während und nach Leseförderungsaktivitäten zu bestimmen, sondern auch daran, überhaupt zu verstehen, wie der Aufbau derselben vonstatten geht, wie Aktivitäten mithilfe solcher Daten weiterentwickelt werden könnten und so weiter. Das würde dann gewiss auch die Leseförderung in Bibliotheken konkret verändern, bestimmte Formen würden weniger gemacht, andere mehr. Bestimmte Vorstellungen über die Wirksamkeit von Leseförderung, die in Bibliotheken oder bei einzelnen Bibliothekar*innen existieren, würden dann hinterfragt werden. (Einige Kolleg*innen würden dann aus dem Bibliothekswesen ausscheiden, weil sie das alles nicht mittragen wollen oder können; andere würden dafür dazu kommen – das ist in Kindergärten genauso passiert wie damals, als Ende des 19. Jahrhunderts die Schulen professionalisiert wurden.)

Wäre das besser? In bin versucht zu sagen, für die potentiellen Lesenden wäre es tatsächlich besser. Aber es wäre halt eine Veränderung, die von innen heraus, aus dem (Öffentlichen) Bibliothekswesen kommen müsste.

Warum es falsch ist, wenn in Bibliotheken alles durch die Leitungen überprüft wird, bevor es publiziert wird

In diesem Post werde ich ein Thema ansprechen, dass mir wichtig, aber kaum greifbar erscheint. Kaum greifbar, weil es strukturell (wohl) so funktioniert, dass es kaum nachzuweisen ist. Es ist auf viele Vermutungen, Indizien, Geschichten, die unter der Hand erzählt werden (davon aber viele) angewiesen. Und vielleicht deute ich mal wieder vieles negativer, als es ist.

Das Schweigen nach den Calls (for Papers)

Wir in der LIBREAS-Redaktion gehen bei neuen Aufgaben immer gleich vor: (1) Wir einigen uns intern auf ein Thema, von dem wir hoffen, dass es interessant genug ist, um ausreichend viele Beiträge für eine Ausgabe einzuwerben. (2) Wir schreiben einen Call for Papers, der zu Einreichungen aufruft, inklusive offenen Fragen, an denen man anschliessen könnte und dem Angebot, mit der Redaktion über Ideen für Beiträge zu diskutieren. (3) Wir werben direkt Artikel ein, aber eigentlich warten wir auf Einreichungen von Kolleginnen und Kollegen, die wir nicht schon kennen. Aber nur ein ganz kleiner Teil der Beiträge, die bei uns erscheinen, sind direkt eingereicht. Das ist, wie wir feststellen konnten, bei fast allen deutschsprachigen Zeitschriften im Bibliotheksbereich ebenso, auch den lange etablierten. Von bibliothekarischen Konferenzen und Tagungen wird ähnliches berichtet. Sicher, der Bibliothekstag hat immer zu viele Einreichungen (zumindest für Vorträge und Workshops, aber für Poster und Clips scheint es auch anders auszusehen), aber andere Konferenzen sind oft darauf angewiesen, Sprecherinnen und Sprecher direkt einzuladen.

Es gibt nach den meisten Calls for Papers (oder ähnlichem) im Bibliotheksbereich vor allem eines: Ein grosses Schweigen. Egal zu welchem Thema, egal zu welchen Formen von Beiträgen, egal in welcher Form die Calls jeweils gestaltet sind.

Warum ist das so?

Neben all den Vorschlägen, wie man die Calls ändern könnte oder die Konferenzen ändern könnte oder die Form der Beiträge in Zeitschriften ändern könnte oder ähnlichem, hört man immer wieder eine Variation folgender Antwort: Wir dürfen nicht. Oder: Es ist schwierig, alles muss erst mit der Chefetage abgesprochen und von denen abgenickt werden.

Es scheint, als gäbe es in vielen (nicht allen!) Bibliotheken Strukturen, Vorschriften und Arbeitskulturen, die jede Äusserung nach aussen extrem eng kontrollieren und steuern wollen. (Und das macht es selbstverständlich schwer überprüfbar, weil: Wie soll das wer bestätigen oder zeigen, wenn auch diese Aussage erst durch die Ebenen kontrolliert werden müsste?)

Man sollte sich aber keine Illusionen machen: Das sind keine Einzelfälle, sondern das hört man oft von kleinen Bibliotheken und von riesig grossen, von gut etablierten und von gänzlich unbekannten, aus Öffentlichen Bibliotheken und aus Wissenschaftlichen.1

Ein Effekt dieser Strukturen scheint zu sein, dass viele Kolleginnen und Kollegen zu demotiviert sind, Beiträge zu verfassen (oder Vorträge, Workshops etc. bei Konferenzen einzureichen). Es mag andere Effekte geben, ich würde hier aber gerne über diese Demotivation nachdenken, denn sie hält meiner Meinung nach die offene Diskussion über die tatsächlichen Entwicklungen, Probleme und Lösungen im Bibliothekswesen auf.

Zum einen ist es eine Hürde für die, die etwas publizieren könnten; eine weitere Hürde zu all den anderen. Man kann dann nicht einfach eine Idee für einen Beitrag haben und die angehen, sondern muss von einer Idee erst überzeugt genug sein, um überhaupt dafür diese Hürde anzugehen. Je höher sie ist, umso eher wird sie nicht angegangen werden. Je öfter man an ihr scheitert (weil die Zustimmung ganz verweigert wird oder weil zu sehr in Beiträge eingegriffen wird, so dass vielleicht der Eindruck entsteht, dass man bestimmte Ideen, Diskussionen etc. eh “nicht durchbringt”) umso eher wird sie nicht (mehr) angegangen. Sicherlicher: Die ein oder andere Person ist überzeugt genug, um es doch zu tun. Aber es ist eine Einschränkung. Zum anderen ist es eine Hürde dafür, ehrlich über Ideen, Vorstellungen, Probleme zu diskutieren, wenn man den Eindruck hat, dass die Direktion oder die Marketingabteilung oder jemand anders die Beiträge, die publiziert werden dürfen, eh immer in eine bestimmte Richtung lenkt: Sei es, dass die Bibliothek nach aussen gut dasteht, sei es in Richtung der Lieblingsthemen der Direktion.2

Sicher: Das sind alles Annahmen, aber mir scheint, es sind keine an den Haaren herbeigezogenen Annahmen. Wichtig ist hier: Auch kleine Hürden sind Hürden, die nicht alle immer abhalten, aber viele immer wieder mal.3

Wenn dies aber nicht nur in einigen Bibliotheken der Fall ist (denen, von denen unter der Hand immer berichtet wird, dass sie eine schreckliche Arbeitskultur hätten), sondern ein weit verbreitetes Phänomen ist, dann hätte dies auch Auswirkungen darauf, wie sinnvoll eigentlich z.B. die bibliothekarische Literatur für eine gemeinsame Diskussion an bibliothekarischen Themen ist. Wenn da eh nur eine kleine Anzahl von Personen sich traut, zu publizieren (die, die über diese Hürden springen, weil sie überzeugt von Ihrem Beitrag sind; die, die in Einrichtungen arbeiten, wo sie nicht abgehalten werden oder wo Publikationen gar gefördert werden; die, die im Auftrag oder Sinn der Direktionen und Marketingabteilungen schreiben.), dann scheint das eine sehr enge Auswahl zu sein, die eben keine repräsentativen Bereich des Bibliothekswesens abdeckt.

Was könnten Gründe für diese Haltung sein?

Ich denke nicht, dass Bibliotheksdirektionen absichtlich Diskussionen verunmöglichen oder ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter demotivieren wollen. Aber das heisst nur, dass es andere Gründe für diese Strukturen geben muss. Welche könnten das sein?

  • Die erste Vermutung ist wohl immer wieder die, dass die Direktionen oder Marketingabteilungen Angst vor einem “Gesichtsverlust” haben. Irgendetwas könnte ein unerwünschtes Bild von der Bibliothek vermitteln: Das sie nicht (nur) innovativ ist; das nicht alle in ihr einer Meinung sind; das auch mal was schief geht; was auch immer sonst für Ängste vorherrschen. Das ist selbstverständlich vollkommen aussichtslos: Irgendeine Meinung bilden sich die anderen Bibliotheken immer, deswegen wird ja so viel unter der Hand besprochen und gelästert auf den Tagungen, Weiterbildungen, anderen Treffen. Die Träger hingegen nehmen die bibliothekarische Literatur eh kaum wahr. Warum auch? Sie sehen es wohl eher als gegeben an, dass die Bibliotheken untereinander diskutieren und sich gemeinsam entwickeln. Wenn die Vermutung stimmt, dann würden Diskussionen im Bibliothekswesen nur auf einer Ebene verhindert (mit welchem Aufwand?), um unter der Hand doch aufzutauchen. Vor wem soll dann hier eine “Gesichtsverlust” verhindert werden? Vor wem will man – und wieso – eigentlich “gut dastehen”? Den anderen Bibliotheken? Was soll das bringen? Eventuell könnte man es noch einer Marketingabteilung nachsehen, dass Sie denkt, immer für ein gutes Aussenbild sorgen zu müssen. Irgendwie ist das ihre Aufgabe. Man müsste ihr aber trotzdem untersagen, in Fachdiskussionen einzugreifen, weil das doch eine Überinterpretation ihrer Aufgabe ist.
  • Eine andere Vermutung könnte sein, dass es eine gewisse Angst vor den eigenen Angestellten gibt. Wäre so etwas möglich? Will man die Meiungen und Gedanken des eigene Personals gar nicht hören? Unter der Hand – wieder: vor allem unter der Hand – wird auch solches aus Bibliotheken berichtet. Nur wieso nicht? Traut man dem Personal nicht zu, Aussagen über bibliothekarische Themen zu machen? Hat man Angst, dass der eigenen Direktion widerspricht? Wäre das wirklich so schlimm? Vielleicht, wenn man als Direktion eine autoritären Stil pflegt, wo die oben nachdenken und dann sagen, was zu tun ist, während die unten schweigen und ausführen. Aber das ist ja kein sinnvolles Vorgehen, egal welche Einrichtung man leitet, schon gar nicht, wenn die so viel mit eigenem Denken und Handeln zu tun hat, wie Bibliotheken.
  • Menschen, die (viel) schreiben, sind meist auch Menschen, die viel lesen. Irgendwie muss man ja zu der Überzeugung gelangen, dass es sinnvoll ist, sich an Diskussionen etc. zu beteiligen; wirkliche Beteiligung gibt es nur, wenn man die anderen Stimmen (ergo Texte) auch wahrnimmt. Insoweit könnten die Barrieren auch heissen, dass man (als Direktion) gar nicht davon ausgeht, dass das Personal an bibliothekarischen Diskussionen teilnehmen soll. (Sondern nur die Direktionen?) Das kann natürlich zusammenhängen: Wenn man eh davon ausgeht, dass nur die Direktionen nachdenken und Entscheidungen treffen sollen, das restliche Personal nur ausführen darf, dann wäre es auch folgerichtig, dass nur die Direktionen die bibliothekarische Literatur lesen und dann an Debatten partizipieren sollten. Aber wie will man eine Bibliothek sinnvoll steuern, wenn das Personal die bibliothekarische Literatur gar nicht wahrnehmen soll?
  • Damit zusammenhängend könnten Direktionen die bibliothekarische Literatur und Diskussion auch geringschätzen und nicht wahrnehmen wollen. Teilweise ist dies der Eindruck, wenn man sieht, wie wenig von dem, was in bibliothekarischen Medien publiziert wird, jemals wieder zitiert oder irgendwie anders als Teil einer Diskussion wahrgenommen wird. Wenn in einigen Zeitschriften viele Beiträge sich wie Presseerklärungen lesen, dann scheint es manchmal, dass hier vor allem aneinander vorbei geredet wird. (Was nicht heisst, dass die Beiträge nicht irgendwie anders wahrgenommen und genutzt werden.) Eine solche Geringschätzung würde aber Potentiale eine lebendigen Diskussion verschenken, gleichzeitig aber auch erklären, warum man Barrieren aufbaut. Dann wäre es vielleicht gar nicht gewünscht, dass das Personal gar noch Arbeitszeit für die Beteiligung an diesen Diskussionen nutzt.
  • Vielleicht aber ist den Direktionen auch gar nicht bekannt, dass eine Anzahl ihres Personals – sicher nicht alle, ich habe auch schon Kolleginnen und Kollegen getroffen, die explizit nicht in die Wissenschaft, sondern in die Bibliothek gegangen sind, um nicht publizieren zu müssen – tatsächlich gerne an Debatten teilnehmen oder zumindest etwas publizieren würde. Eventuell wollen Direktionen hier ihr Personal schützen, obwohl es selber für sich alleine gut klarkommen würde. Weitergedacht könnte da auch viel Diskussionspotential in Bibliotheken vorhanden sein, dass mit etwas Förderung genutzt werden könnte.
  • Und ein Zusammenspiel dieser Faktoren wäre auch immer möglich: Vielleicht wollen gerade Personen in Leitungsfunktionen nicht publizieren oder sehen das als schwer an und können deshalb gar nicht richtig reagieren, wenn ihr Personal da anders funktioniert und publizieren will? Vielleicht sehen sie die bibliothekarische Literatur als unwichtig an, weil sie sie als reine Darstellung von positiven Presseberichten wahrnehmen und halten deshalb mehr oder minder ihr Personal ab, etwas zu publizieren (obwohl sie vielleicht etwas ganz anderes publizieren würden)?

Wie wirkt so etwas nach innen?

Wie gesagt: Ob die Situation wirklich so ist, wie sie erscheint, ist nicht ganz zu klären. Es scheint aber so. Warum sie eventuell so ist, kann noch mehr nur vermutet werden. Man kann aber sogar noch einen Schritt weitergehen und Vermutungen darüber anstellen, wie diese Situation sich in Bibliotheken selber manifestiert: Wie fühlt es sich an, in einer solchen Bibliothek tätig zu sein?

Mir scheint, so hat der Post ja begonnen, mit einer grossen Demotivation des Personals, gewiss nicht des gesamten, aber schon einer ganzen Anzahl von Personen. Sonst würde man solche Klagen nicht immer wieder hören. Es wäre auch verständlich: In Bibliotheken arbeitet eine ganze Anzahl von Personen, die sehr gut ausgebildet sind (egal, ob sie direkt über Ausbildung oder Studium ins Bibliothekswesen gekommen sind oder ob sie erst anderes studierten und dann über das Referendariat einstiegen) und die deshalb oft ein Interesse haben werden, ihre Fähigkeiten einzusetzen oder auch einmal etwas Neues, Interessantes zu machen. Wenn diesen Personen Barrieren in den Weg gestellt werden (und es ist ja zu vermuten, dass, wenn es Barrieren zur Publikation gibt, es auch andere Barrieren gibt, z.B. bei der Beteiligung an internen Projekten), selbst dann, wenn sie diese immer wieder einmal “überspringen” können, führt dies wohl zu Demotivationen. Es kann gut sein, dass das Personal Vertrauen in einige seiner Fähigkeiten (z.B. zu Argumentieren, wenn Argumente eh nicht geäussert werden können, oder die Übersicht zu einem Thema zu haben, wenn das ausreichende Lesen bibliothekarischer Literatur eh nicht gewünscht ist) verliert. Gesteigert werden kann dies, wenn die Barrieren beinhaltet, dass alles, was publiziert werden soll, auch noch von verschiedenen Stellen abgesegnet werden muss. Dann kann man sich gut vorstellen, wie der Eindruck entsteht – auch wenn er nicht gewollt ist –, dass man beim Publizieren überwacht wird, was freie Kommunikation ebenfalls einschränkt.

Aber es wird nicht nur auf das Personal selber wirken. Die Bibliotheksleitungen erzeugen mit einem solchen Verhalten gegenüber ihrem Personal vielleicht den Eindruck, Angst vor Diskussionen und Publikationen zu haben. Vielleicht auch Angst vor mehr, vor kompetentem Widerspruch aus der eigentlich Praxis? Vor Störungen in der eigenen Strategie? Vor inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem Personal selber? (Und noch weiter: Vielleicht auch vor Auseinandersetzungen mit anderen Bibliotheken? Vielleicht ist die Leitung dann noch nicht mal in der Lage, ihre Strategien mit dem Wissen anderer Bibliotheken abzustimmen, sondern nur in der Lage, ihren eigenen Vorstellungen zu folgen, ohne diese z.B. mit Erfahrungen aus anderen Einrichtungen abzugleichen?) So oder so: Eher schwach, nicht kompetent.

Wie wirkt so etwas nach aussen?

Die geschilderte Situation ist nicht nur für die Zeitschriften und Teams, die Konferenzen veranstalten, ärgerlich. Es leidet auch das gesamte Bibliothekswesen darunter. Wenn keine ordentliche Diskussion zustande kommt, weil Texte entschärft, nicht publiziert oder gar nicht erst geschrieben bzw. angedacht werden, dann verbleiben die Diskussionen bestenfalls an der Oberfläche. Es werden dann nur noch schöne, fertig Lösungen präsentiert, ohne so richtig fragen zu können, wie die Lösungen zustande kommen, ob es wirklich die besten Lösungen sind, ob die Probleme, die gelöst werden, überhaupt wirklich die relevanten Probleme sind. Und man kann vor allem gar nicht aus Fehlern lernen, nicht nur nicht der anderen, sondern auch der eigenen; wenn immer gleich daraufhin gezielt wird, Positives darzustellen. Damit entfernt sich dann die bibliothekarische Literatur auch von der – bekanntlich nicht so einfach in richtig oder falsch, präsentierbar oder Fehler – Realität. Sie wäre dann tatsächlich kaum noch ein Ort für die Funktion, die sie eigentlich haben sollte, nämlich ein Ort für Debatten.

Es gibt dann auch gar keinen Ort, an dem Theoriearbeit stattfindet. Man kann so überhaupt nicht durchdenken, was sich z.B. im Bibliothekswesen wieso ändert, sondern man muss darauf vertrauen, dass das schon irgendwie von irgendwem erkannt wird. Aber diskutieren kann man darüber nirgends.

Letztlich würde dann auch methodische Arbeit an Herausforderungen gar nicht mehr gemeinsam, also innerhalb des Bibliothekswesens, stattfinden können, sondern nur noch in den Bibliotheken selber. Sicherlich gibt es auch andere Wege solche methodische Arbeit zu organisieren, durch Kooperationen und Arbeitsgruppen und so weiter. Aber auch das verhindert wohl nicht die, im besten Fall, entstehende Doppel- und Dreifacharbeit.

Wie es auch sein könnte

Wie gesagt, vielleicht schätze ich das alles falsch ein und es gibt z.B. andere Gründe dafür, dass es schwer ist, Bibliothekarinnen und Bibliothekare zu finden, die publizieren oder auf Konferenzen auftreten wollen. Vielleicht ist es ein Zeichen der Zeit.

Und dennoch kann ich mir ein anderes Bibliothekswesen vorstellen: Es sollte eigentlich das Ziel von Bibliotheken sein, eine funktionierende bibliothekarische Diskussion zu etablieren, in der auch offen methodische und theoretischen Arbeit geleistet werden kann und in der auch Probleme, potentielle Fehlentwicklung etc. diskutiert werden können. Das heisst nicht, dass nicht auch Lösungen präsentiert und Erfolge gefeiert werden könnten, aber gerade nicht nur und nicht immer wieder in diesem Pressemitteilungsstil. Und auch nicht immer wieder so auf eine Bibliothek bezogen, sondern kontextualisiert in einer gemeinsamen bibliothekarischen Diskussion. Schon, weil es für alle Beteiligten zu einer besseren bibliothekarischen Praxis (okay, zu einer besser informierten bibliothekarischen Praxis zumindest) führen sollte.

Dafür müssten Fachkräfte als das wahrgenommen werden, was sie sind: Fachkräfte mit spezifischen Kompetenzen und Interessen; in der Lage, sich selber Gedanken zu machen und sich zu äussern; oft auch mit einer akademischen Ausbildung. Es sollte das Ziel sein, auf dieser Fachkompetenzen zurückzugreifen. Sonst wäre die ganze Ausbildung eigentlich unnötig und auch das Einstellen von Fachpersonal. In der Bibliothek sollte es das Ziel der Direktionen sein, dass das Personal seine Arbeit gut machen kann – und das kann es oft, wenn es den Eindruck hat, nicht ständig kontrolliert zu werden und wenn es die Möglichkeit hat, sich auszutauschen. Direktionen sollten darauf abzielen, dies zu ermöglichen.

Das heisst nicht, dass ein Review von Publikationen immer falsch wäre. Wenn eine Bibliothek Personal und Zeit dafür hat und wenn das Review darauf abzielt, eine Publikationen oder einen Vortrag etc. besser zu machen (z.B. inhaltlich zu glätten) und nicht darauf abzielt, den Ruf der Bibliothek zu sichern, dann kann es sinnvoll sein. Aber nur dann. Personal sollte dazu motiviert werden, sich zu äussern. Wer publiziert liest nicht nur oft mehr, sondern nimmt sich auch beim Schreiben die Zeit für Reflexion und Darstellung von Problemen, Angeboten, Lösungsansätzen etc. Schreiben oder Vortragen führt zum Nachdenken über die bibliothekarische Praxis – was wiederum der Praxis selber hilft. Die Motivation muss nicht regellos erfolgen. Es ist schon okay darauf zu bestehen, dass bestimmte Regeln eingehalten werden (aber sinnvolle Regeln, so sollte keine Kritik verboten, aber vielleicht potentialorientierte Kritik eingefordert werden). Wenn die Gründe für bestimmte Regeln genannt werden, ist schon zu erwarten, dass sie eingehalten werden – wie gesagt arbeitet in Bibliotheken Fachpersonal, meist hoch engagiert. Da kann man erwarten, das guten Gründe überzeugen.

Marketing und bibliothekarische Fachpublikationen sollten strikt getrennt werden. Es bringt nichts, wenn eine Bibliothek sich gesondert gut in der bibliothekarischen Literatur darstellt. Was sollte dadurch auch gewonnen werden? (Gutes Personal? Das gewinnt mal wohl eher, wenn man den begründeten Eindruck vermittelt, dass das Personal auch ernstgenommen wird.4)

Sicherlich: Das ist ein Vorschlag, wie es sein könnte; nicht mehr. Aber mir scheint, über das Problem (Phänomen) sollten wir schon mal reden, und das nicht nur in Redaktionen und Organisations-Teams, sondern auch im gesamten Bibliothekswesen.

 

Fussnoten

Es gibt unter der Hand auch immer wieder Bemerkungen über Bibliotheken, die “immer auf dem Bibliothekstag sind” oder “immer schreiben”, unterfüttert mit der Vermutung, dass diese sich unnötig stark in den Vordergrund drängen würden. Aber vielleicht sind es auch einfach Bibliotheken, in denen nicht solch eine Arbeitskultur herrscht? Das bekannteste Beispiel ist wohl die Stadtbibliothek Köln, die (also deren Chefin und andere Kolleginnen und Kollegen) ständig irgendwo auftauchen. Was die vortragen oder publizieren ist schon manchmal kritikwürdig, aber niemals hat man den Eindruck, hier würde wer kontrolliert und müsste Beiträge erst lange absprechen. Eher im Gegenteil. Mir scheint aber, dass das vor allem auffällt, weil es in anderen Einrichtungen nicht so verbreitet ist.

Hier sei nur auf die Darstellungen verwiesen, die offiziell von der ZLB in Berlin publiziert werden und die, welche der Personalrat der ZLB publiziert. Durch den Personalrat und seine gesicherte Stellung gibt es in dieser Bibliothek immerhin eine Möglichkeit, anders zu publizieren als über die Direktion. In anderen Bibliotheken ist das nicht möglich.

Bei der Diskussion im staatliche Zensur hat sich der Begriff “Chilling Effects” eingebürgert, um diese Wirkungen zu beschreiben. Er würde inhaltlich hier schon passen, aber selbstverständlich geht es nicht um Zensur in diesem Ausmass.

Zumindest persönlich: Ich habe schon Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen nicht geschrieben, wenn mein Eindruck war, dass das Personal in diesen Einrichtungen nicht ernstgenommen wird. Dafür habe ich mich auch schon in Bibliotheken beworben, an denen ich anderes auszusetzen hatte – vor allem, wofür sie nichts können, dass sie nicht “in und bei Berlin” liegen –, aber wo mein Eindruck war, dass dort Fachpersonal auch als solches akzeptiert ist. Ich kann mir nicht vorstellen, der Einzige zu sein, der oder die das so handhabt.

Was ist eigentlich die Aufgabe der Bibliothekswissenschaft für Bibliotheken? Doch Kritik und Überprüfung von Annahmen, oder?

Problem: Woher soll ich das eigentlich wissen? Bloss, weil ich als Wissenschaftler bezahlt werde?

Letztens sass ich bei der Jahrestagung der bibliothekarischen Fachstellenkonferenzen (der Deutschen, ich hoffe, dass ist jetzt der richtige Name), in Saarbrücken auf dem Podium. Thema war die Leseförderung. Mein Beitrag, der bei solchen Diskussionsrunden ja immer kurz sein muss, bezog sich darauf, dass “wir” im Bibliothekswesen eigentlich gar nicht (mehr) wissen, warum Leseförderung gemacht wird, also wozu die Menschen (Jugendlichen, es geht ja meist um die) was lesen sollen, was Ihnen das bringt / bringen soll etc. Das liesse sich immer nur ganz allgemein beantworten (Lesefreude und soziales Fortkommen), aber dann bleibt es allgemein und es ergibt sich nicht, was genau das mit Bibliotheken zu tun hat. Oder man versucht es ganz weit runterzubrechen, auf bestimmte Personengruppen in bestimmten Situationen, dann wird es schnell klar, dass “wir” gar nicht so ein klares Verständnis davon haben, wozu die was Lesen sollen ‒ und dann stellt sich die Frage, was die bibliothekarische Leseförderung eigentlich genau will.

Wo ich mich zurückgehalten habe, was ich im Nachhinein aber doch lieber klar gesagt hätte ‒ aber man will sich ja auf einem Podium auch nicht zu streiten sehr ‒ ist, dass die Diskussionen, Angebote, Studien um die Leseförderung eigentlich nicht mehr von der Gesellschaft reden; “sozial abstinent” habe ich später als Begriff gelesen, der das gut ausdrückt. Es wird in der Forschung ‒ und wurde auch auf dieser spezifischen Konferenz – nicht mehr von Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen ausgegangen, sondern davon, dass alle die gleiche Form des Lesens und der Lesestoffs benötigen würden, egal aus welcher Schicht, mit welchem Hintergrund etc. Alle das gleiche. Das wirft schnell die Vermutung auf, dass man z.B. von Armut nicht reden will und lieber eine mittelständisches Verständnis von “gutes Leben”, “vorankommen”, “Karriere” und “Lesen” reproduziert. Gefragt wird dann vor allem, wie “die anderen” dazu gebracht werden können, diesem mittelständischen Verständnis zu folgen; wie man sie dazu “verführen” könnte, dass in der Bibliothek zu tun. (Ausnahme, auch auf dieser Konferenz, und wie ich schon anderswo betont habe bestimmt eine der Sternstunden des deutschen Bibliothekswesens, ist das massive Engagement der Bibliotheken für Geflüchtete. Das soll man nicht verschweigen, aber auch das scheint oft davon auszugehen, dass es eine deutsche Gesellschaft gäbe, die quasi im Bezug auf das Lesen immer gleich funktioniert, mit den gleichen Ziele, ohne Unterschiede in den sozialen Schichte etc. ‒ und die man für die Geflüchteten öffnen will.)

Ich dachte, ich hätte zumindest Ersteres (wir wissen nicht genau, was eigentlich das Ziel von Leseförderung in Bibliotheken sein soll und deshalb können wir auch gar nicht so richtig sagen, wie in welche Richtung vorgegangen werden kann) klar gesagt. Vielleicht war das nur mein Eindruck. Eine Kollegin aus einer der Fachstellen fragte in der offenen Runde dann nämlich direkt mich (nicht die anderen auf dem Podium), was sie jetzt “ihren Bibliotheken” sagen sollte, die sie immer fragten, was sie tun sollen. Ich muss ehrlich sagen, dass mich dies überrascht hat. Wieso soll ich das wissen?1

Jetzt, nach einigen Wochen drüber nachdenken, habe ich den Eindruck, dass es bei dieser Frage und meinem Erstaunen darüber auch um das Verständnis davon geht, was Bibliothekswissenschaft für Bibliotheken leisten können sollte. Obwohl ich mich selber nicht als Experte für viele andere Dinge ansehen würde, als für das Generieren und Aggregieren von Texten, werde ich teilweise wirklich als Wissenschaftler wahrgenommen (Dafür werde ich ja auch bezahlt, als “Wissenschaftlicher Mitarbeiter”, aber damit bin ich wirklich nicht allein.), wenn auch anders, als ich das tun würde. Das ist mir nicht das erste Mal begegnet.

Was die Bibliothekswissenschaft tun soll, 1

Ein Beispiel ist die Erwartung, gerade die Bibliothekswissenschaft müsse innovativ und immer vorneweg bei allen Zukunftsvisionen sein. Das wird direkt und indirekt immer wieder geäussert. Teilweise nimmt das absurde Blüten an, wenn Menschen aus der Praxis sich stark in einem Thema oder Projekt engagieren und das dann als innovativ verstehen. Sie selber sehen sich als innovativ, also sind ihre Projekte auch innovativ. Und sie erwarten, dass die Forschung, als hier die Bibliothekswissenschaft, sich auch in die Richtung, die sie richtig finden, engagiert. Absurd wird dies, wenn man als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler ‒ Fokus: Texte, also auch Erfahrungen, Berichte aggregieren ‒ eher Zweifel an bestimmten Behauptungen entwickelt hat, z.B. bemerkt, dass die Behauptungen, die von den Engagierten darüber gemacht werden, was demnächst kommen wird, jetzt gleich und man müsse sich darauf vorbereiteten ‒ wenn diese Behauptungen schon eine lange Zeit gemacht werden, ohne das sie bislang eintraten. Aber manchmal scheinen die Engagierten so überzeugt von ihrem Engagement, dass sie auch gegen vorgebrachte Gründe die Sache so interpretieren, dass die Wissenschaft sie unterstützen müsste ‒ oder nicht innovativ sei und damit keine richtige Wissenschaft.2

Aber das sind nur einige Fälle. Eher scheint es das allgemeine Gefühl zu geben, die Wissenschaft müsse Innovation hervorbringen. Nicht: Die Wissenschaft macht etwas und am Ende kommt daraus auch etwas Innovatives, sondern: das Ziel der Wissenschaft müsse die Innovation sein. Mir scheint, dass dann Wissenschaft als “Erfindungen machen” verstanden wird. So: im Labor stehen, an Dinge rumschrauben, Heureka schreien. Frank Seeliger ‒ der sich da nicht missrepräsentiert sehen wird, aber der mich darauf brachte, dass es da einen Unterschied zwischen meinem Verständnis von Wissenschaft und seinem Verständnis gibt ‒ vertritt ein solches Verständnis, wie ich persönlich erfahren durfte (obwohl er selber und sein Team in Wildau eher so Innovations-getrieben agieren und dafür nicht wirklich die Bibliothekswissenschaft brauchen würden). Mich irritiert dieses Verständnis, weil mir nicht klar ist, wie viel dieses Ausprobieren, Rumschrauben etc. wirklich Wissenschaft im Sinne von “neues Wissen schaffen” ist. Klar, wenn es funktioniert, kommen neue Dinge raus, die man anwenden kann. Schön und gut. Aber machen das nicht auch Bibliotheken (Stichwort: Wildau) selber ‒ und viel besser? Und Firmen? Sollten nicht gerade Firmen das machen? Ich dachte, dass wäre ein Argument, warum wir so viele Sachen an Firmen abgeben, dass die immer so risikobereit und auf Marktvorteil durch Innovation aus sind. Habe ich das missverstanden? Ich habe gar nichts gegen das Rumschrauben per se, wir machen das zum Teil in Chur auch, aber eben immer in Projekten, wo wir Thesen testen und neues Wissen produzieren wollen.

Daneben gibt es noch das Verständnis, dass die Kollegin in Saarbrücken zu äussern schien: das die Bibliothekswissenschaft so etwas wie eine Beratungsstelle sein solle, die zu konkreten Alltagsproblemen der Bibliotheken Lösungen anbietet. Das ist mir auch nicht das erste Mal begegnet.3 Angesichts dessen, dass Kolleginnen und Kollegen aus Hochschulen immer wieder in Weiterbildungen zu allen möglichen Themen eingebunden werden, ist das vielleicht sogar eine naheliegende Vermutung. Aber ich finde sie doch komisch: Die Bibliothekswissenschaft ist doch keine Beratungseinrichtung. Wie sollte sie das sein? Auf welcher Wissensbasis sollte sie das auch tun?

Was die Bibliothekswissenschaft, jede Wissenschaft an Fachhochschulen heutzutage, eigentlich macht

Mir scheint, dass diese Vorstellungen auch daher stammen könnten, dass man (a) aus der eigenen Praxis heraus interpretiert, wie die Wissenschaft arbeiten würde und (b) nicht genau weiss, wie heute die Hochschulen strukturiert sind. (Wobei sich a und b ergänzen.)

Das Bild von den Forschenden, die angestellt sind, um frei rumzuforschen, sich in Laboren zu verkriechen, um dann mit einer Welterfindung und wirren Haaren wieder hervorzutreten oder die in Elfenbeintürmen hocken und nur denken, im Stillen Bücher schreiben und dann mit wirren Haaren aus diesen Türmen heraustreten würden ‒ falls diese Bilder je gestimmt haben, heute stimmen sie nicht mehr. Vielmehr sind alle an den Hochschulen eingebunden in bürokratische Prozesse, die vielleicht anderswo nicht weniger sind, aber doch nervig und ständig wachsend, in die Lehre ‒ die sie nur noch zu einem ganz geringen Teil selber entscheiden, d.h. gar nicht wirklich an die eigene Forschung zurückbinden können ‒ und immer auf der Suche danach, mit Mitteln von ausserhalb irgendwelche Projekte zu machen. Bei einigen Hochschulen ist das noch besser, als bei anderen. Aber zum Beispiel bei uns in Chur (und eigentlich in der ganzen Schweiz) findet die Wissensproduktion in Fachhochschulen nur in diesen Projekten statt, die fast immer von aussen finanziert werden. Und diese Projekte verbieten eigentlich auch ‒ strukturell, weil sie Projekte sind ‒ das weitergehende Denken: Sie müssen ein klares Ziel haben (ein “Produkt” wie es oft heisst), sie müssen sehr oft möglichst eine Lösung für irgendwas anbieten (zumindest behaupten, dass es können, im Vorfeld, was ganz absurd ist, weil… vorher soll man die Lösung im Vorfeld kennen?), oft auch mit möglichst vielen hippen Schlagworten ausgestattet sein. Am Ende müssen den Interessen der geldgebenden Einrichtungen (und das können auch gutmeinende Stiftungen, Sozialunternehmen oder staatliche Strukturen sein, man muss da nicht gleich an die Pharmaindustrie denken ‒ aber auch gutmeinde Stiftungen haben immer einen eigenen Fokus) entsprechen; nicht den Interessen der Forschenden oder der Gesellschaft oder der Bibliotheken.4 Das das nicht lange gut gehen wird und die Gesellschaft so nur immer dümmer wird, wenn Forschende nur noch Projekten hinterlaufen, ist richtig. Mal schauen, wann sich das wieder ändert, irgendwann muss es das. Bis dahin aber wird Wissen eigentlich nur noch “heimlich”, “irregulär” produziert: Wenn es sich irgendwie im Rahmen der Projekte am Rand realisieren lässt, wenn es sich irgendwie anderswo abknapsen lässt (ich sag nur: Lehre) oder am Abend/Wochenende/Urlaub/Freien Tagen (also unbezahlt). Es ist nicht so, dass man Projekte machen würde und dann Zeit hätte, nach den Projekten Wissen zu produzieren. Nach den Projekten sind einfach nur noch mehr Projekte.

All das zeigt, dass die Vorstellungen davon, was die Bibliothekswissenschaft (oder irgendeine andere an Fachhochschulen angegliederte Wissenschaft) tun soll ‒ Projekte von Engagierten unterstützen, Innovativ im Sinne von “Rumbasteln im Labor”, Beratung für alle möglichen praktischen Fragen ‒, nicht funktionieren kann. Wenn, müsste man von aussen Projekte finanzieren, die das irgendwie zum Ziel haben. (D.h. wenn die Fachstellen wirklich Beratung von der Bibliothekswissenschaft haben wollen, müssten sie das bezahlen. Was nicht an der Bibliothekswissenschaft oder den Forschenden liegt, sondern daran, dass wir als Gesellschaften es zugelassen haben, dass die Fachhochschulen so widersinnig konstruiert sind, dass sie strukturell von Steuergeldern finanziert werden, aber nicht der Gesellschaft, sondern den Institutionen mit eh schon viel Geld zugute kommen. Das kommt halt davon, wenn man der Bildungs- und Forschungspolitik als Gesellschaft nicht auf die Finger schaut.)

Was die Bibliothekswissenschaft tun soll, 2

Aber das ist noch nicht alles, was mich irritiert. Bislang kann man vielleicht von Missverständnissen sprechen, Missverständnisse darüber, was im Rahmen der heutigen Fachhochschulstrukturen überhaupt zu leisten ist. Was mich mehr irritiert ist, dass diese Vorstellungen wenig mit meinem Verständnis davon, was Bibliothekswissenschaft tun kann und sollte (und wie sie rezipiert werden könnte) zu tun hat. Ich kann von den drei genannten Perspektiven die mit dem “Rumbasteln im Labor” noch einigermassen nachvollziehen. Die ist sympathisch,5 aber ‒ wie schon gesagt ‒ finde ich oft, dass das die Bibliotheken (also jetzt nicht alle, aber doch im Ganzen gesehen) das viel besser machen als z.B. ich es könnte.6

Für mich ist Wissenschaft, und hier rede ich jetzt vor allem von Geisteswissenschaft ‒ aber als solche verstehe ich die Bibliothekswissenschaft ‒, vor allem eines: kritisch. Bei Wissenschaft geht es kurz gesagt darum, mehr, besseres, genaueres Wissen zu schaffen. Besseres, nicht per se “praktischeres” oder politisch für die eigene Meinung zu verwendendes. Wie oben gesagt: Texte ‒ und damit Überlegungen, Berichte, Analysen ‒ aggregieren und neue Texte produzieren. Das ist nicht Selbstzweck, sondern soll dazu dienen, die Welt, in der wir alle leben (und die wir mit geschaffen haben bzw. immer weiter schaffen) immer besser zu verstehen. Die Hoffnung dahinter bleibt, dass eine besser verstandene Welt eine ist, die wir (also wir alle) besser so gestalten können, das sie am Ende für alle Menschen besser wird. Aufklärung, Humanität, all das. (Und immer eingedenk allem, was mit dieser Hoffnung schon schief gegangen ist. Dialektik der Aufklärung und so weiter. Kurz gesagt: Die Hoffnung, dass sich eine reflektierte Aufklärung immer noch dazu nutzen lässt, die Welt besser zu machen. Besser, nicht unbedingt effektiver.)

Dafür stehen der Wissenschaft verschiedene Methoden zur Verfügung: Thesenbildung, Hypothesenbildung, Theoriebildung, Modellbildung, Prototypen und die Überprüfung, Widerlegung, Testung derselben etc. pp.. Aber grundsätzlich zusammengefasst geht es mir darum, bezogen auf die Bibliothekswissenschaft und ihren Untersuchungsgegenstand Bibliotheken, die tatsächliche Praxis zu überprüfen und vor allem die hinter dieser Praxis stehende Annahmen und Vorstellungen erst sichtbar zu machen und dann auch zu testen. Gehen wir zurück auf die am Anfang dieses Beitrags stehende Leseförderung in Bibliotheken, heisst das zum Beispiel klar zu machen, dass ein Verständnis und damit eine Diskussion darüber fehlt, was das Ziele der Leseförderung sind.7 Das aufzuzeigen ist selbstverständlich kritisch, weil es zeigt, dass die Praxis vielleicht deshalb sich fragt, was sie tun soll, weil sie nicht ausspricht oder durchdenkt, was sie eigentlich will. Das ist eigentlich kein grosser Wurf, keine neue Sozialtheorie oder so. Aber es ist das, was Wissenschaft eigentlich gut kann: Zeigen, wann die Praxis ins Leere läuft oder wann Überzeugungen ‒ hier: eine “eigentlich wissen doch alle, wofür Leseförderung da ist”-Haltung ‒ sich nicht halten lassen (aber es gibt noch mehr Thesen, gerade im Bereich Open Access und Digital Humanities, auf der die strategische Planung von Bibliotheken basiert, die einer genauen Überprüfungen meiner Meinung nach nicht standhalten).

Ist das zu wenig? Nur weil es nicht ein total neues Programm für die Leseförderung vorschlägt (Woher sollte das kommen? Aus den Büchern über gut funktionierende Leseförderung, die auch die Bibliothekarinnen und Bibliothekare selber lesen könnten?), dass dann alle jungen Menschen zum Lesen in die Bibliothek bringt?

Sicherlich: In der Wissenschaft kann man so weit gehen, Wissen zu produzieren und Dinge aufzuzeigen, die diskutiert, geklärt, vielleicht auch verändert werden müssten. Wobei in der Bibliothekswissenschaft vor allem, da es sich bei der Bibliothek am Ende vor allem um eine soziale, also über Kommunikation funktionierende Einrichtung handelt, aufzeigen der Notwendigkeiten zu Diskussionen und Entscheidungen, die gemeinsam im Rahmen des Bibliothekswesens getroffen werden müssten. Selber diese Diskussionen führen kann sie nicht. Das muss die Praxis, die dann selbstverständlich auf die Einwürfe der Wissenschaft reagieren müsste.

Dabei ist das selbstverständlich eine fragile Hoffnung. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass irgendeine Praxis, die “eine eigene Wissenschaft” hat, auf diese, “ihre” Wissenschaft reagieren würde – insbesondere wenn sie kritisch wird. Da hilft auch alles Gerede von “evidence based” nix. Die Beziehung von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik ist besser untersucht,8 aber grundsätzlich gilt das wohl auch für die Bibliothekswissenschaft. Die kritischen Einwürfe der Wissenschaft, die sie macht, wenn sie Texte, Gedanken, Erfahrungen aggregiert und eventuell auch auf eine abstraktere Ebene packt, müsste die Praxis wahrnehmen und darauf reagieren. Aber das passiert eher ausgesucht, uminterpretiert, d.h. die Praxis nimmt das, was sie als sinnvoll findet. Prototypen werden als Innovation verstanden, als Produkte, ohne die getesteten Thesen wahrzunehmen; die Anmerkungen werden vor allem wahrgenommen, wenn sie “passen” und als Bestätigung für die eigene Position Engagierter eingebaut, aber die Anmerkungen, das bestimmte Überzeugungen vielleicht nicht stimmen und besser nochmal überprüft werden sollten, werden ignoriert. Die Forschenden werden als Beraterinnen und Berater “missverstanden”, die nicht “liefern”, weil sie entweder nicht konkrete Vorschläge machen, sondern zum Überdenken anregen, oder aber (was mich ehrlich gesagt viel mehr irritiert), weil ihre publizierten Toolkits etc., die so gestalten sind, dass sie in der Praxis direkt eingesetzt werden können, dann doch nicht wahrgenommen werden.

Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass Wissenschaft vor allem über Texte kommuniziert wird, aber in der Praxis zum Teil diese Texte nicht wahrgenommen werden. So einen Gegensatz kenne ich als die Aussage, dass es nicht möglich wäre, im Alltag 50 Seiten zu lesen (warum nicht?) oder einen Text in Englisch wahrzunehmen (warum nicht?). Sicherlich ist diese Aussage nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber sie irritiert mich: Wie kann man erwarten, dass die Wissenschaft der Praxis etwas liefert, wenn man sie nicht wahrnimmt? Ist es so schwer? Ich fahre ja auch “in die Praxis” und schaue die mir an?

Aber das lässt sich wohl nicht so einfach klären und spricht eigentlich gegen meine Hoffnung, dass Wissenschaft irgendetwas in Bibliotheken weiterbringen würde. Gleichzeitig gibt es auch genügend Gegenbeispiele, wo Anmerkungen von Seiten der Bibliothekswissenschaft dazu führten, dass Bibliotheken sich Gedanken machten (nicht immer die, die ich erwartet hätte, aber das ist okay; Wissenschaft, die “ihrem” Untersuchungsgegenstand vorgeben will, wie dieser zu sein hätte, ist schon so oft falsch gelaufen).

Grundsätzlich: Wissenschaft ist Denken und soll Denken anregen. Eine kluge Gesellschaft (oder ein kluges Bibliothekswesen), die sich nicht hinter “das muss so” oder “im Alltag gibt es andere Probleme” versteckt, sondern wahrnimmt, dass es immer eine Differenz zwischen Denken und Handeln geben wird, dass aber ein Handeln alleine oder ein Denken in immer den gleichen “Problemen” und mit den immer gleich ungetesteten Überzeugungen im Besten Falle die Reproduktion des Immer-Gleichen, im Schlimmsten die Verstärkung der negativen Seiten dieses Handelns und Denkens ist ‒ und das deshalb das Testen der eigenen Überzeugungen und das Ernstnehmen von Hinweisen auf Leerstellen sinnvoll ist ‒ würde eine bessere Gesellschaft für alle sein. Ich bin da am Ende positiv gesinnt, dass das funktionieren kann. (Das ist die Bedeutung von Kritik, im guten Sinne: Das falsche Schlechte im Bestehenden aufzeigen. Eine Gesellschaft, die sich selbst regelmässig fair kritisiert und damit ihrer Grundlagen klarer ist, wird deshalb besser, eine Gesellschaft, die das nicht tut, wird tendenziell schlechter. Und für “die Gesellschaft” lassen sich immer gesellschaftliche Teilsysteme, wie das Bibliothekswesen, in diesen Satz einsetzen.) Die Rolle als kritische Instanz ist es, in der ich die Bibliothekswissenschaft sehe. Alles andere machen die Bibliotheken schon selber.

 

Fussnoten

1 Grundsätzlich, wenn ich schon etwas dazu sagen soll: Wenn ich schon einen Tipp geben soll, sollten sich die Bibliotheken klar werden, was sie eigentlich wollen, dass die Menschen mit dem “Lesen” tun, was die daraus ziehen sollen und nicht einfach nur Leseförderung mit dem Ziel “alle sollen viel lesen” machen. Sie müssen das wohl für sich selbst bestimmen, weil das Bibliothekswesen als Ganzes es nicht tun. Und von dieser Bestimmung aus sollten sie ihre Leseförderung konzipieren. Gleichzeitig sollten sie sich klar werden, dass sie wohl “Lesen” aus einer sehr spezifischen Schicht heraus bewerten und verstehen, das aber die Gesellschaft nicht aus dieser Schicht alleine besteht und nicht einfach dieses Verständnis für alle Menschen aus allen Schichten vorausgesetzt werden kann. Eher sollte man zuhören, wie Menschen aus unterschiedlichen Schichten Lesen verstehen und angehen ‒ und dann darauf aufbauen, sie dabei zu unterstützen, Lesen wie sie es jeweils als sinnvoll oder gehaltvoll ansehen umzusetzen. Aber nicht andersrum ihnen das vorschreiben.

2 Zu prüfen wäre auch, welche Formen von Zukunftsvision die Wissenschaft eigentlich formulieren darf, ohne das ihr die Ernsthaftigkeit abgesprochen würde. Ich würde z.B. gerne darüber nachdenken, wie ein Bibliothekswesen in einer sozial gerechten Gesellschaft aussehen würde. Aber dürfte ich das, besonders wenn ich davon ausginge, dass einen sozial gerechte Gesellschaft halt eine sein würde, in der die BWL als Scharlatanerie (mit egomanischen Strukturen) verstanden und die Wirtschaft ganz anders organisiert und dem gesellschaftlichen Willen unterworfen wäre? Oder wäre das zu weit? Könnte ich zumindest über ein Bibliothekssystem in einer Gesellschaft nachdenken, die nachhaltig wirtschaftet? Oder wäre auch das zu weit? Mir scheint immer wieder, dass “Innovation” heutzutage nur Innovation in bestimmten Richtungen sein darf.

3 Allerdings auch schon in absurderen Zusammenhängen, wenn an Kolleginnen, Kollegen oder mich Fragen gestellt wurden, die schon längst “gelöst” waren, also zum Beispiel Probleme angesprochen wurden, für die schon mehrere Handbücher, Toolkits und so weiter existieren, teilweise geschrieben von diesen Kolleginnen und Kollegen, die gefragt wurden, oft in Zusammenarbeit oder mit Rückmeldungen aus “Bibliotheken aus der Praxis”. Als wäre es ‒ für Bibliothekarinnen und Bibliothekare nota bene ‒ schwer vorstellbar, einfach mal nach denen zu recherchieren. Aber es ist auch so oft passiert, dass es mir strukturell vorkommt; so als wären es Bibliotheken zum Teil einfach gewohnt, dass es immer Beraterinnen und Berater gibt, die rumkommen und sagen, wie es richtig geht. Das aber nur eine Vermutung.

4 Theoretisch gibt es den Schweizerischen Nationalfonds (oder ähnliche Einrichtungen in anderen Staaten) als Einrichtung, die Forschung von den Interessen der Forschenden geleitet finanziert. Aber wer sich nur die Statistiken zur Mittelvergabe anschaut wird merken, dass die jetzige Funktion des Nationlfonds eigentlich ist, Geld an die Unis und den ETH-Bereich zu verteilen und von den Fachhochschulen fernzuhalten. Zumal die Fachhochschulen mit ihren an der Wirtschaft orientierten Jahresrhytmus für Projekte gar nicht auf die SNF-Struktur mit dem mehrmaligen Zurückweisen und Wiedereinreichen von Anträgen nach Überarbeitung vereinbar ist. Aber das ist ein anderes Thema. Praktisch ist er als finanzielle Quelle für Fachhochschulen verschlossen, ohne dass das wirklich thematisiert wird.

5 “Verrückte” Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser Art haben auch immer was vom utopischen Potential eines “anderen Lebens”, dass möglich ist, so wie Popstars. Dieses “verrückt-sein” ist ja auch immer ein Ver-rücktsein, ein gewisses Ent-rücktsein aus den gesellschaftlichen Strukturen und Anforderungen, die uns sonst alle betreffen.

6 Es ist halt oft nur nicht so bekannt, was schon gemacht wird. Aber ich würde immer raten, mal in Wildau nachzufragen. Die haben offenbar oft schon das gebaut, was man sich so als “könnte mal wer machen” ausdenken kann.

7 Was noch sichtbarer wird, wenn man darauf verweist, dass zumindest grosse Teile der Bibliotheken das vor hundert Jahren wussten, wenn wir auch die damaligen Ziele ‒ gegen “Schund” und dagegen, dass die Jugend durch die falschen Bücher sozialdemokratisch, gar kommunistisch wird oder, bei den Bibliotheken der Arbeiterbewegung, gegen “Schund” und für Klassenbewusstsein, nicht mehr teilen.

8 Z.B. Rürup, Matthias (Hrsg.): Innovationen im Bildungswesen : analytische Zugänge und empirische Befunde (Educational Governance). Wiesbaden: Springer, 2013; Bosche, Anne: Schulreformen steuern: Die Einführung neuer Lehrmittel und Schulfächer an der Volksschule (Kanton Zürich, 1960er- bis 1980er-Jahre). Bern: Hep, 2013; Bosche, Anne: The back office of school reform: educational planning units in German-speaking Switzerland (1960s and 1970s). In: Paedagogica Historica 52 (2016) 4: 380-394.

Interpretieren Bibliotheken gesellschaftliche Konzepte erst um, bevor sie diese integrieren?

These: Bibliotheken passen / interpretieren alle nicht-bibliothekarischen Konzepte bei der Übernahme in den bibliothekarischen Diskurs erst an die Institution Bibliothek an, bevor sie diese in die bibliothekarische Arbeit einbinden.

 

Ich würde gerne einmal die oben genannte These testen beziehungsweise zumindest etwas näher begründen. Je länger ich mich mit Bibliotheken befasse (und vor allem Öffentlichen Bibliotheken), um sehr scheint mir diese These zu stimmen und auch vieles zu erklären. Ich denke das, wenn sie stimmt, darauf reagiert werden könnte.

Wie gesagt, ich würde das gerne kurz ausführen. Zuerst, wie ich zu dieser These komme, dann, was sie erklären könnte und zuletzt, was daraus für die Bibliothekswissenschaft und die Bibliothekspraxis zu folgern wäre. Und wie eine These so ist: das ist ein Vorschlag zur Diskussion. Ich finde, sie stimmt; aber das muss ja nicht bei allen zu sein.Vielleicht gibt es Argumente dagegen, die ich nur nicht sehe.

Konzept ≠ bibliothekarisches Konzept

Neben wirklich spezifisch bibliothekarischen Fragen wie dem Bestandsmanagement oder der bibliothekarischen Katalogisierung wird in den bibliothekarischen Medien und Veranstaltungen auch über zahlreiche andere Konzepte diskutiert. Ich hatte schon einmal geschrieben, dass mir nicht ganz klar ist, wie diese Konzepte „ausgesucht“ werden, also warum bestimmte prominent werden und andere, die auch passen würden, nicht.1 Aber grundsätzlich kann man festhalten, dass sich eine ganze Reihe von Konzepten in den bibliothekarischen Diskussionen finden und auch immer wieder einmal neue vorgeschlagen werden. Einige dieser Vorschläge – beispielsweise „Gaming“ – kommen an, andere – beispielsweise „Pivoting“ – nicht.

Es geht mir hier nicht darum, zu untersuchen, welche „stimmen“ und welche „nicht stimmen“, sondern um ein weiteres Phänomen: Mir scheint im ersten Schritt als Gemeinsamkeit der Konzepte, die übernommen werden, dass sie, wenn man sie genauer betrachtet, nicht das bedeuten, was sie ausserhalb des Bibliothekswesens bedeuten. Zumeist ist es nicht einfach, festzustellen, was Bibliotheken beziehungsweise die Akteurinnen und Akteure im bibliothekarischen Diskurs unter diesen Konzepten genau verstehen; trotzdem teilweise Definitionen gegeben werden, werden diese selten durchgehalten. Gleichzeitig scheint es für diese Konzepte oft, als gäbe es jeweils einen gewissen gemeinsamen Kern, der den Beteiligten mehr oder minder bekannt ist, wenn sie über diese Konzepte im bibliothekarischen Zusammenhang reden. In einem weiteren Schritt ist es aber auch so, dass diese Konzepte offenbar eine Funktion haben und es niemals darum gehen kann, die „Rückkehr“ zum „eigentlichen Begriff“ (also dem ausserhalb des Bibliothekswesens genutzten) oder eine definitorischen „Reinheit“ zu fordern. Das ist kein sinnvolles Ziel. Aber es ist doch zu fragen, was denn die Funktion dieser Begriffe sein kann und eine Vermutung ist, dass diese Gründe eher im Bibliothekswesen zu suchen sind, als ausserhalb.

Ein paar Beispiele.

(1) Das erste Mal bin ich mit dem Unterschied zwischen dem „Konzept ausserhalb des Bibliothekswesens“ und dem „Konzept innerhalb des Bibliothekswesens“ bei meiner Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken konfrontiert gewesen. Ein wenig auch schon vorher, als ich zum Stand der Schulbibliotheken in Berlin geforscht habe. Es war auffällig, dass sich das Bibliothekspersonal immer wieder miteinander (d.h in bibliothekarischen Zeitschriften oder auf Konferenzen) über Themen, die sie der Bildung zuschreiben, unterhalten; während die Bezüge zu anderen Diskursen, die sich mit Bildung befassen, im besten Falle prekär sind. Im Bibliotheksbereich wurde damals (2006-2009) zum Beispiel der Begriff „Kompetenz“ wild durch die Gegend geworfen, ohne das so richtig klar wurde, was er bedeuten soll. In diesen (und den darauf folgenden) Jahren gab es zwar immer wieder Versuche, den Begriff „Informationskompetenz“ in Modellen genauer zu fassen, aber (a) scheint es nicht so, als ob diese Modelle von anderen aufgegriffen wurden und (b) war auffällig, dass diese Modelle ausgehende von der Bibliothek und der Benutzung von Informationsquellen, wie die Bibliothek sie definiert (z.B. Genauigkeit und Qualität, nicht Sinnhaftigkeit oder Pragmatik), formuliert wurden. Die Diskussionen in den pädagogischen Wissenschaften wurden in diesem Diskurs gar nicht aufgegriffen. (Dabei gab es z.B. in der Berufspädagogik zeitgleich Diskussionen darum, was dieses Konzept „Kompetenz“ eigentlich sein soll.)

Eine ähnliche Ungenauigkeit war die Verwendung der PISA-Studien im bibliothekarischen Diskurs. Offensichtlich war, dass in den Jahren zuvor (so ungefähr 2001-2005) die PISA-Studien im bibliothekarischen Diskurs gerade daraufhin gelesen wurden, ob sie die bibliothekarische Arbeit argumentativ unterstützen könnten, nicht daraufhin, was in ihnen tatsächlich steht. So wurde eigentlich nie tiefer auf die Ergebnisse eingegangen (die im den 400+ Seiten der Berichte wirklich differenzierter dargestellt sind, als in den paar Tabellen, die immer wieder angeführt wurden – das muss man zugegeben, egal, was man von den Studien selber hält) und auch nicht darauf, was die Studien eigentlich wirklich, wie untersucht hatten.

Einerseits verwunderte mich das damals, vielleicht ärgerte es mich auch ein paar Mal, aber ich hätte das, wenn man mich gefragt hätte, wohl der fehlenden Zeit der Kolleginnen und Kollegen in der alltäglichen Bibliotheksarbeit, um sich (auch noch) mit den pädagogischen Debatten, den PISA-Studien, den anderen Leistungsvergleichsstudien etc. zu befassen, zugeschrieben; vielleicht auch einem Missverständnis, nämlich das erziehungswissenschaftliche Texte schwierig seien und nur von ausgebildeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wirklich „verstanden“ werden könnten. Letzteres stimmt wirklich nicht, die PISA-Studien machen es z.B. immer sehr einfach, zu verstehen, was passiert. Man muss sie nur lesen. (Deshalb wären sie eigentlich auch gut aus bibliothekarischer Sicht zu kritisieren gewesen. Aber das ist eine andere Frage.)

Andererseits ist es einfach, darauf zu verweisen, dass beim Thema Bildung dieser nicht so genaue Bezug nicht erstaunlich ist. Das machen „alle“, beziehungsweise ist es einfach, zu merken, das auch in anderen Bereichen nicht wirklich auf die Erziehungswissenschaft und deren Expertise eingegangen, sondern einigermassen wild ruminterpretiert wird (so zumindest der erste Eindruck), um das Konzept Bildung (und seine „Unterkonzepte“) in andere Debatten einzuspeissen. Insbesondere die Bildungspolitik nach den ersten PISA-Studien (und das waren die Texte, die ich damals las) hat das zur Genüge getan und für alle möglichen, auch widersprüchlichen bildungspolitischen Entscheidungen die PISA-Studien angeführt. Es ist war also einfach, dass als typisch für den Umgang mit dem Thema Bildung zu verstehen, nicht als Besonderheit des Umgangs von Bibliotheken mit dem Thema.

 

(2) Das Konzept „Dritter Ort“. Auch dazu habe ich – zusammen mit anderen – publiziert, gesprochen und unsere Studierenden in Chur forschen lassen.2 Es ist ziemlich einfach zu sehen, dass das, was die Bibliotheken als „Dritter Ort“ bezeichnen wenig mit dem Originalwerk, auf das kontinuierlich verwiesen wird, zu tun hat. Bei Ray Oldenburg (dem Autor des Originalwerks – mehr dazu im verlinkten Text in der Fussnote) geht es um die angeblich auseinanderfallende US-amerikanische Gesellschaft, die Orte bräuchte, an denen sie quasi klassenlos und ohne von anderen Identitätsprofilen abgehalten zu werden, lernen kann, sozial zu sein und die Kohärenz der Gesellschaft – also den civic discourse – wiederherzustellen. Und das würde halt in sozialen Orten, in denen alle (auch ökonomisch) eingebunden werden und erstmal interessenslos Rumhängen können, passieren. Das Konzept hat Geschichte, es ist eigentlich die Wiederbelebung eines in der US-amerikanischen Soziologie immer wieder auftauchenden Themas. Aber das ist für Bibliotheken irrelevant, sie haben sich ein anderes Konzept vom „Dritten Ort“ zurechtgelegt, ein Konzept, dass zwar behauptet, modern zu sein, aber irgendwie theoretisch und empirisch an nix gebunden ist (das war ein Ergebnis von den Untersuchungen, die die Studierenden durchgeführt haben: Die Nutzenden sind jetzt nicht vollkommen daran interessiert, „Dritte Orte“ zu bekommen, aber auch nicht dagegen.)

Es ist aber nicht so einfach, rauszukriegen, was genau gemeint ist, wenn Bibliotheken „Dritter Ort“ sagen. Es scheint einen Kern zu geben, den irgendwie alle kennen oder zumindest zu kennen glauben.3 Wir (der Kollege Mumenthaler und ich) haben gerade einen Bachelorarbeit zu dieser Frage schreiben lassen: „Was meinen Bibliotheken, wenn sie vom Dritter Ort reden?“4 Der Studierende – aber der ist auch selber Bibliothekar – war am Ende, nachdem er mehrere Bibliotheken in der Schweiz untersucht hat, der Meinung, Bibliotheken würde schon ungefähr das gleiche meinen (Gemütlich, Offen, orientiert an den Nutzerinnen und Nutzern) und das wäre auch ungefähr das, was Oldenburg meinte. Ich bin gerade vom letzten nicht überzeugt, aber nach einigem Nachdenken scheint folgende Interpretation für mich nachvollziehbar: Die Bibliotheken (und der Studierende) haben sich aus Oldenburg eine Liste „gezogen“, die da eher versteckt im gesamten Buch ausgebreitet (und im Buch auch viel länger) ist und zudem in einem Kontext steht. Mit dieser Liste gehen Bibliotheken nicht auf die Argumente von Oldenburg ein und setzem sich z.B. auch gar nicht mehr mit Fragen der Sozialen Kohärenz auseinander, sondern die Punkte sind so gewählt, das sie in Bibliotheken umsetzbar scheinen. Unbewusst scheint all das, was eine grössere Veränderung im bibliothekarischen Denken bedeuten könnte – also z.B. dass Bibliotheken über die Frage nachdenken würden, wie die Gesellschaft „zusammenhält“ – ausgegliedert worden zu sein und dafür das, was relativ einfach umsetzbar ist, ohne die Bibliotheken gross zu verändern, beibehalten. Weil, selber wenn man Bibliothekscafés und flexible, gemütliche Ecken in der Bibliothek als total neu begreift (was sie ja eigentlich auch nicht sind), sind das doch Dinge, die man noch relativ gut mit der vorherigen bibliothekarischen Praxis verbinden kann.

Wenn aber so eine Liste (oder Listen, aber ich denke, bei den „Dritten Orten“ kann man zumindest im deutschsprachigen Bibliothekswesen auf die eine, gerne wiederholte und leicht umgestellte Liste von Robert Barth verweisen) schon im Vorfeld auf Bibliotheken „zugerichtet“ wird, indem nur das hineinkommt, was auch umsetzbar oder anschlussfähig ist, ist es kein Wunder, wenn (a) die Bibliotheken sie annehmen können und (b) die Originalquelle „vergessen“ wird. (Eine Frage ist dann, warum die Originalquelle überhaupt noch zitiert wird, weil eine kurzer Blick in die zeigt, dass die oft gar nicht gelesen wurde… ich sag nur: Informationskompetenz.)

 

(3) Eine andere Bachelorarbeit, ebenso gerade abgenommen, ebenso mit dem Kollegen Mumenthaler: Das Thema war Integration und ob Bibliotheken zur Integration beitragen.5 Die Arbeit war, für eine Bachelorarbeit, erstaunlich umfangreich, untersuchte sowohl Interkulturelle Bibliotheken, Berufsschulmediotheken als auch Öffentliche Bibliotheken, alle im Kanton Bern und verblieb auch nicht bei der Beschreibung deren Arbeit, sondern versuchte zu untersuchen, ob sie den auch einen Effekt haben. Wie gesagt, eine umfangreiche und gute Arbeit.

Eine These im Abschlussgespräch war, dass die Interkulturellen Bibliotheken (die in der Schweiz zumeist von Vereinen ausserhalb des Öffentlichen Bibliothekswesens geführt werden6) aktuell ihre Funktion verlieren würden, weil sie als Einrichtungen ausserhalb des Bibliothekswesens gegründet und mit spezifischen Strukturen und Arbeitsweisen (z.B. Zettelkatalogen) geführt würden, während ihre Aufgabe jetzt mehr und mehr von Öffentlichen Bibliotheken übernommen wird. Unsere Diskussion zeigte, dass sich Öffentliche Bibliotheken (im Kanton Bern) tatsächlich mehr und mehr interkulturelle Arbeit als Teil ihres Profils ansehen, gleichzeitig aber darunter leicht anderes verstehen, als die Interkulturellen Bibliotheken. Die Interkulturellen nehmen (tendenziell) ihren Medienbestand als Ausgangspunkt ihrer Arbeit, die z.B. zahllose Veranstaltungen, welche direkt aus und mit den „Communities“ gestaltetet werden (und nicht nur Lesungen sind), die Unterstützung von Communities bei, well, Community-Aufgaben und dem „Ankommen“ in der schweizerischen Gesellschaft (was immer das genau heisst) etc. besteht. Die Öffentlichen Bibliotheken „schneiden“ einen Teil dieser Bedeutung ab und interpretieren interkulturelle Arbeit vor allem als (a) Bestand in unterschiedlichen Sprachen und z.T. zweisprachig, auf verschiedenen Niveaus und (b) vor allem Vorleseveranstaltungen für Familien. Und das, gerade die Bestandsarbeit, können sie wohl tatsächlich professioneller organisieren, als hauptsächlich ehrenamtlich geführte Interkulturelle Bibliotheken.

Aber es ist auch sichtbar, dass dies zwei unterschiedliche Konzepte sind, die zwar viele Gemeinsamkeiten haben, aber doch nicht gleich sind. (Ich habe auch an die Unterschiede zwischen den Asylotheken und den Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland gedacht; wo in ersteren mehr Fokus auf Beratung und Unterstützung gelegt zu werden scheint, während die Öffentlichen Bibliotheken eher auf dem eigenen Bestand aufbauen – aber auch da gibt es fliessende Übergänge und unterschiedliche Lösungen, um nur auf den bekannten Sprachraum in Köln zu verweisen.)

Für mich hat sich bei dieser Entwicklung, die zumindest im Kanton Bern sichtbar ist (hier wurden schon Interkulturelle Bibliotheken geschlossen, anderswo aber wurden neue gegründet), die Frage gestellt, was da passiert ist. Meine Interpretation: „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ wurde in gewisser Weise erst so umgedeutet, dass sie besser auf Öffentliche Bibliotheken passt (Bestand als Hauptthema), dabei wurden andere Punkte nicht beachtet (ohne das das bösartig gemeint ist; ich denke, das hat mit der Institution Bibliothek zu tun, nicht damit, dass Bibliotheken Teile der Arbeit der Interkulturellen Bibliotheken negieren wollten) – und diese Version „interkultureller Bibliotheksarbeit“ hat es dann in der aktuellen Phase der Bibliotheksstrategien in die Bibliotheken geschafft. (Was auch seine gute Seite hat, unbestritten. Das so viele Bibliotheken in der Schweiz sich Interkulturelle Bibliotheksarbeit als ein Thema setzen, scheint mir ein Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in den Ergebnissen bei Wahlen und Abstimmungsergebnissen manifestiert – Bibliotheken als Stronghold humaner und rationaler Werte ist auch mal ein gutes Bild.)

 

(4) Noch ein Thema, die Makerspaces. Im Rahmen eines Projektes habe ich den letzten Monaten zahllose Texte zu Makerspaces gelesen.7 Dabei gibt es eigentlich zwei Varianten: Texte, die grosse Versprechungen machen und Texte, die aus der Praxis berichten. Was es kaum gibt, sind Texte, die die Realität genauer untersuchen und z.B. die ganzen Versprechen einmal überprüfen.

Und, wenn man einmal aus den Bibliotheken hinausgeht, wird es schnell erstaunlich, was Makerspaces alles tun soll: den Kapitalismus retten (indem sie ermöglichen, das die kreativen Erfinderinnen und Erfinder ihre Erfindungen gleich selber bauen und an den Markt bringen können, ohne sie an grosse Firmen verkaufen zu müssen, die erst Marktzugang haben – und damit mehr und mehr direkt Erfindungen in den Markt einspeissen können, ohne grosse Geldsummen zu investieren und weil gleichzeitig „Scheitern“ nicht gleich im Bankrott enden muss8), die gesellschaftliche Kreativität erhöhen, die Bildung ganz umbauen, die Bildung zum Teil umbauen (Ein Widerspruch? Jup. Aber beides kommt vor.), soziale ungleich verteilte Chancen ausgleichen (weil: Die Bildung umgebaut ist, d.h. davon abhängen soll, wie sehr sich Menschen „reinknien“ und „Begeisterung zeigen“, anstatt nach Bildungsgängen zu fragen), das technische Wissen der Gesellschaft erhöhen (weil wir lernen, Dinge zu hacken) und so weiter. Spass soll es auch noch machen. Hui-ui-ui. Selbstverständlich wird das nicht eintreten. Egal was es ist, wenn sich die Vorhersagen sich so stappeln, ist klar, dass es weniger um das Objekt / Ding / Idee / Institution selber geht, sondern eher um Wünsche, Utopien und Ängste.

Aber trotzdem: Bibliotheken haben sich entschieden, zumindest aktuell, dass Makerspaces gut sind und eingerichtet werden sollten. Enter another Bachelorarbeit dieses Jahr, wieder mit den gleichen Referenten.9 Teil dieser Arbeit war es, zu klären, welche pädagogischen Effekte Makerspaces in Bibliotheken haben sollen. Das ist nicht weit hergeholt: Die Literatur, gerade auch die bibliothekarische zu Makerspaces, ist voll von Verweisen darauf, dass diese Räume „eines neues Lernen ermöglichen werden“ (oder so ähnlich – wobei, das, was dann als neu bezeichnet wird eigentlich nur die Wiederholung von pädagogischen Ideen ist, die seit 150 Jahren immer wieder mal auftauchen, but anyway). Das Ergebnis der Arbeit ist aber, dass die meisten Bibliotheken, die Makerspaces einrichten, keine pädagogischen Ziele angeben können. Die meisten haben so ungefähre „wir schauen mal, was passiert“-Strategien. Das würde man nicht erwarten, wenn man die Texte dazu in den bibliothekarischen Medien liesst, da scheint es immer weit mehr strategische Entscheidungen für Makerspaces zu geben.

Was ist passiert? Auch hier drängt sich für mich der Eindruck auf, dass das – ehedem sehr fluide – Konzept „Makerspace“ erst so uminterpretiert wurde, dass es „bibliotheksfähig“ wurde (also zum Beispiel ohne den ganzen „mehr Erfindungen direkt für den Markt“ und mit noch offeneren und unkonkreteren Aussagen zur Bildung als in den Schulmakerspaces etc. selber) und dann auch in den Bibliotheksbetrieb integriert werden konnte. Das würde auch erklären, warum das Konzept trotz allen immer wieder mal auftauchenden Rückfragen („Was soll das bringen?“, „Ist das Aufgabe der Bibliothek?“, „Ist das nicht nur ein weitere Hype, um bloss nix mehr mit Büchern machen zu müssen?“) so beliebt ist – bei Bibliotheken.

 

Dies einfach ein paar Beispiele, die mir in letzter Zeit untergekommen sind. Mir scheint, dass diese alle darauf hindeuten, dass die Übernahme von Konzepten, die ausserhalb der Bibliotheken formuliert werden, in die Bibliotheken, immer wieder auf ähnliche Weise erfolgt:

  1. Ein Konzept wird quasi so gefasst, dass es an den bibliothekarischen Alltag und die bibliothekarische Diskussion angeschlossen werden kann. Dabei kommt es notwendig zu Veränderungen des Konzeptes und zum Fortlassen des Kontextes, des oft kritischen Potentials (im Sinne von Fragen / Fakten, die die Bibliotheken radikal verändern könnten), einer ganzen Reihe von Teilaspekten.
  2. Diese Sichtweise etabliert sich im Bibliothekswesen als „das Konzept“, obgleich es eine zugeschnittene Interpretation ist. Ein Merkmal dieser Konzepte ist, dass sie, selbst wenn sie Definitionen liefern, recht offen gehalten sind und das sie am Ende genau auf das Abzielen, was Bibliotheken an sich bieten, z.B. auf einen spezifischen Medienbestand oder auf Veranstaltungen, die in die Bibliothek „passen“.
  3. Bibliotheken nutzen diese „Überarbeitungen“, um sie strategisch umzusetzen. Dabei interpretieren sie diese zwar auch nochmal lokal um, aber am Ende passen sie oft erstaunlich gut in die schon gegebene Bibliothek und deren Möglichkeiten hinein. Von aussen sieht das immer wieder mal so aus, als würde die Bibliothek sich gar nicht richtig ändern, sondern „nur noch das und das auch noch machen“ oder „am Rande mitmachen“ oder gar „einfach Angebote umbenennen“; für die Bibliothek ist die Änderung aber manchmal sehr tiefgreifend – allerdings nie so tiefgreifend, als das sie die Identität als Bibliothek oder Bibliothekspersonal erschüttern würde.
  4. Für die jeweiligen Bibliotheken ist am Ende des Prozesses klar, dass sie sich verändert und neue Konzepte umgesetzt haben. Zumindest aus ihrer Sicht. Aus der Sicht der Felder, aus denen bestimmte Konzepte stammen kann man dies aber nicht immer sagen. Mehrere Konzepte sind am Ende so weit von ihrem „Original“ (das, wenn wir schon über Diskurs reden, natürlich, wie wir im postmodernen Denken gelernt haben, kein „Original“ ist, sondern ebenso in ständiger Entwicklung und eine „Kopie ohne Original“) entfernt, dass sie nicht wirklich mehr als „das Gleiche“ erkennbar sind.

Bibliotheken sind Institutionen

Es ist jetzt doch schon eine Weile, dass ich über Bibliotheken nachdenke. Ich werde ja auch älter. Hätte man mich kurz nach meiner Promotion gefragt, wieso es so einen Unterschied zwischen dem bibliothekarischen Verständnis von Bildung und dem Verständnis in den Erziehungswissenschaften gibt, ich hätte darauf verwiesen, dass den Bibliotheken offenbar nicht klar ist, das sie anders reden und etwas anderes meinen, als „das Bildungsfeld“. Und ich hätte vermutet, dass dem mit mehr Information an die Bibliotheken abgeholfen werden kann (und dann z.B. Bibliotheken und Schulen viel sinnvoller zusammenarbeiten könnten). Heute bin ich mir da nicht so sicher.

Mehr und mehr neige ich dazu, das Bibliothekswesen als ein System zu begreifen, wie es bei Niklas Luhmann beschrieben sind.10 Oder auch so, wie Schulen in der Bildungsforschung (School governance) als Institutionen beschrieben werden.11 So oder so: Als Felder mit einer Eigenlogik, die nicht einfach „aufgebrochen“ werden kann, sondern die notwendig ist, um Bibliotheken als Institutionen zu erhalten. Solche Felder haben immer ihre eigene Logik, ihre eigenen Zielsetzungen, Interpretationen der Welt (also der Gesellschaft), ihre eigenen Bewertungsmassstäbe etc. Sie können gar nicht einfach Konzepte aus einem anderen Feld übernehmen, sondern müssen es erst immer so uminterpretieren, dass sie es „verstehen“ können.

Dabei haben sich Felder (oder Institutionen) im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenziert und entwickeln sich auch immer mit dieser Entwicklung weiter – aber nach einer eigenen Logik, die dafür sorgt, dass sie bei allen Veränderungen „erhalten“ bleiben. Wer „im System“ drin ist, „versteht“ es auch ohne grössere Erklärung, weil er/sie inkorporiert ist, z.B. die Eigenlogiken des Systems mit übernimmt. [Und ja, ich will hier keine luhmannsche Systemanalyse durchführen, drücke mich also z.B. sehr explizit darum, zu klären, was der „Code“ des Bibliothekssystems sein soll. Mir geht es eher um diese Eigenlogiken. Ich umgehe also, für das Argument, einiges.]

Aus dieser Affinität zu Luhmann scheint mir aber die oben genannte These mehr und mehr richtig: Bibliotheken setzen keine Konzepte direkt um, sondern interpretieren sie „bibliotheksfertig“ und setzen sie dann um. Konzept X ist dann also erst X1. (Wobei Konzept X sich auch fortentwickelt, also eigentlich gar nicht X ist, sondern selber X2 und eventuell auch X3 bis Xn; und das „reine X“ ein vorgestellter, nie zu erreichender Ursprung ist. Egal, das geht jetzt in einer andere Richtung.) Das heisst aber auch, dass es sinnlos ist, die „Rückkehr“ zu Konzept X mit all seinen Facetten zu fordern. Vielmehr wäre es nötig, zu verstehen, was Bibliotheken zu Konzepten addieren, was sie streichen und was sie (wie) uminterpretieren, bevor sie in die bibliothekarische Diskussion aufgenommen werden. Erschwert wird dies dadurch, dass der bibliothekarische Diskurs selbstverständlich nicht einfach direkt ist, sondern untergründig (d.h. teilweise ausserhalb der Literatur und vor allem recht indirekt) stattfindet. (Ausser vielleicht gerade der um den „Dritten Ort“, der scheint mir sehr direkt über Robert Barth zu laufen, zumindest in der Schweiz.)

Stimmt die These, wäre dies keine Spezifika für Bibliotheken. Im Schulbereich gibt es ähnliches. In einer Untersuchung dazu, wie ein Makerspace in einer australischen Primary School tatsächlich wirkt und wie er Veränderungen in Lehre und Pädagogik herruft,12 verweisen Selena Nemorin und Neil Selwyn auf ein Schlagwort, dass in der Forschung zu Technik im Schulunterricht in den letzten Jahrzehnten aufgekommen ist: „Computer enters classroom – classroom wins“. Sie selber wenden das auf den untersuchten Makerspace an („3D-Printer enters classroom – classroom wins“). Die Aussage ist die, dass bei allen Versprechen, die unterschiedliche pädagogische Techniken (und Makerspaces sind ja nur der aktuell letzte Ausläufer dieser Techniken) machen, am Ende die Technik selber für die pädagogische Wirkung in der Schule fast egal ist. Was relevant ist, ist die Struktur der Institution Schule, die vorgibt, wie und was überhaupt gelernt werden kann und wird (z.B. die Vorgabe, das am Ende etwas benotet werden muss; dass entgegen aller Versprechen, dass in Makerspaces aus Fehlern mehr gelernt wird, als aus perfekten Projekten, in der Schule eine Kultur der Fehlervermeidung vorherrscht und die Schülerinnen und Schüler auch lieber keine Fehler machen wollen; das jedes Projekt in einen Stundenplan gehört etc.). Wieder und wieder hat sich dies bestätigt. (Und wer jetzt denkt: Dann muss man die Institution verändern – sollte nachdenken, ob die Institution wirklich einfach und vor allem radikal schnell geändert werden kann und sollte.)

Diskurse, und damit auch die „bibliothekarisierten Konzepte“ grenzen selbstverständlich ein, was eigentlich gesagt, gedacht und gemacht werden kann, z.B. wenn interkulturelle Bibliotheksarbeit immer auf den Bestand bezogen wird und ohne diesen nicht gedacht werden kann. Gleichzeitig – jetzt eine foucault’sche Standardaussage – sind Diskurse immer auch produktiv: Durch ihre „Eingrenzung“ bringen sie erst etwas hervor, über das in einem gemeinsamen Diskurs geredet, verhandelt und gestritten werden kann, z.B. das „Konzept interkulturelle Bibliotheksarbeit“ als Gegenstand von Auseinandersetzungen, als Thema von Planungen und Interpretationen der Bibliotheksarbeit. Eventuell wären also Diskussionen innerhalb des Bibliothekswesens nicht möglich, wenn Konzepte nicht zuvor „bibliothekarisiert“ würden.

Einige Schlussfolgerungen

Nehmen wir einmal an, die oben genannte These stimmt. Was ergäbe sich daraus?

  • Der Verweise auf Konzepte ausserhalb des Bibliothekswesens wäre immer prekär. Wenn Konzepte im Bibliothekswesen umgesetzt werden, sind sie dann schon „uminterpretiert“, d.h. stimmen nicht mehr oder nur zum Teil mit dem überein, was ausserhalb der Bibliotheken (im, wenn Luhmann Recht hat, weiteren Sozialen Systemen) unter diesem Konzept verstanden wird. Dies wäre aber normal. Akzeptiert man dies, wäre es einfacher z.B. mit anderen Einrichtungen, die „interkulturelle Arbeit“ machen, zu diskutieren und zusammenzuarbeiten, wenn man davon ausgeht, dass am Anfang geklärt werden muss, was alle beteiligten Institutionen darunter verstehen. Dabei würde es (zumindest erstmal) nicht darum gehen, dass eine Interpretation als richtig anerkannt und die andere(n) verworfen wird/werden. Vielmehr sind die Differenzen zu akzeptieren. (Gerade bei diesem Thema wird man z.B. auf Einrichtungen stossen, dies es weit politischer definieren und angehen; etwas, wovor Bibliotheken Angst zu haben scheinen.) Hier kann man wieder auf Luhmann verweisen, für den sich auch die Frage stellte, wie Systeme überhaupt untereinander „kommunizieren“. Für ihn war – theorie-immanent – klar, dass dies nur durch „Übersetzungen“ an den Ränder der Systeme geschehen kann, wobei die Stellen, wo Kommunikation stattfindet, immer Übersetzungen aus dem System heraus und in das System hinein übernehmen, d.h. Interpretationsleistungen übernehmen, die dazu führen, dass diese Übersetzungen weder mit dem Diskurs in einem anderen System noch gänzlich mit dem im „eigenen“ Feld übereinstimmen.
  • Es kann, wie gesagt, nicht darum gehen, definitorische „Reinheit“ des Konzeptes herzustellen, d.h. die Bibliotheken zu „zwingen“, den gesamten Inhalt von Konzepten „anzuerkennen“. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass jedes Konzept interpretiert wird. Davon ausgehend kann man aber immer fragen (a) was das jeweilige Konzept für Bibliotheken bedeutet (nicht unbedingt, was es bedeuten sollte, wenn man „vom Original“ ausgeht) und (b) wie viel vom „originalen Konzept“ noch im „bibliothekarisierten“ steckt. Gerade bei Konzepten, die man persönlich nicht mag und die eine oft schrecklich Stossrichtung haben („Kunde/Kundin“, „Stakeholder“, „Strategie“, „Innovation“, „Dritter Ort“) sollte man sich nicht einfach dazu hinreissen lassen, den Bibliotheken zu unterstellen, dass sie ungesehen alles übernommen haben, was dieser Begriff in anderen Zusammenhängen bedeutet. Oft steckt viel von dem, was abzulehnen wäre, noch in den Konzepten, aber man muss anhand dessen, wie die Bibliotheken agieren und reden, klären, was genau.
  • Die Bibliothekswissenschaft könnte die These akzeptieren und dann eine Aufgabe darin sehen, zu verstehen, was Bibliotheken unter bestimmten Konzepten verstehen und wo die Differenzen zu „den gleichen Konzepten“ in anderen Feldern liegt. Die Differenzen aufzuzeigen kann schon helfen, kritische Potentiale von Konzepten herauszuarbeiten. Was mit dieser These nicht mehr tragbar wäre, wäre davon auszugehen, dass man einfach Konzepte aus anderen Feld übertragen könnte. Es wäre auch nicht möglich, eine Terminologie aus der Geschichte eines Konzeptes aus einem anderen Feld aufzuzählen und dann dieses einfach für Bibliotheken vorzuschlagen („Philosophin Y hat 1923 den Begriff das erste mal gebraucht, Informatikerin Z 1965 dann übersetzt und ich verwende den jetzt so auf Bibliotheken“, „Im Silcon Valley wird das Konzept ABC so und so gebraucht, genau das übertrage ich jetzt auf Bibliotheken“ etc.). Diese Argumentationen schienen immer schon recht einfach und unterkomplex; akzeptiert man aber, dass Bibliotheken jedes Konzept uminterpretieren, muss man dies aber auch als unvollständig kritisieren. Dies zwänge dann auch dazu, erst einmal das Konzept darzustellen (also nicht z.B. nur aufzuzählen, wer es mal entworfen hat, sondern tatsächlich zu erklären, was es im Original beinhaltet), um dann seine Transformation beschreiben zu können.
  • Bei Fragen nach der Wirkung irgendeines Konzeptes ist zu unterteilen in „Wirkung nach ausserhalb der Gesellschaft“ und „Wirkung in die/für die Bibliotheken“. Dies sollte nicht einfach in eins fallen, aber es ist klar: Wenn ein Konzept erst „übersetzt“ wird, bevor es in Bibliotheken „ankommt“, hat seine Umsetzung auch immer eine Bedeutung für die Bibliotheken als Institutionen. Beispielsweise – jetzt einfach so entworfen, ohne empirische Prüfung – könnte ein Makerspace keine sichtbare Wirkung nach aussen haben, d.h. das Lernen überhaupt nicht verändern, aber nach innen, d.h. für die Bibliotheken, die einen Makerspace haben, als Ausweis der Zukunftsgewandtheit und als Einrichtung, welche die Arbeit in Bibliotheken interessanter macht, wirken.
  • Daran anschliessend wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft jeweils zu klären, welche Funktion die unterschiedlichen Konzepte für Bibliotheken haben. Dabei darf man sich nicht zu sehr von den Diskursen der Bibliotheken selber blenden lassen. Nur, weil die behaupten, dass sie mit irgendwas auf bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen reagieren, muss das nicht stimmen. Wenn, dann werden sie auf die „bibliothekarisierte“ Interpretation einer gesellschaftlichen Herausforderung reagieren, nicht direkt auf die Herausforderung. Aber es ist nie so einfach zu klären, warum gerade diese Herausforderung (Warum z.B. auf den angeblichen Trend zu gemütlichen sozialen Orten reagieren, aber nicht auf den Trend zum lokalen und gesunden Essen?) gewählt werden und wie diese Voraussetzungen die Identität der Bibliotheken beeinflussen. Denn, dass ist auch klar: Bibliotheken interpretieren Konzepte nicht um, um praktisch nur neue Begründungen für die gleichen Angebote zu finden (auch wenn dies manchmal den Eindruck hinterlassen kann), sondern sie verändern sich tatsächlich. Nie so radikal, wie angekündigt, aber doch schon langsam. Es wäre eine weitere Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese tatsächliche Veränderung zu untersuchen.

2 Corinna Haas, Rudolf Mumenthaler, Karsten Schuldt: Ist die Bibliothek ein Dritter Ort? Ein Seminarbericht. Informationspraxis 1 (2015) 2, https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/ip/article/view/23763

3 Was ja für einen Diskurs immer auch gut ist: Unklare Begriffe nutzen, unter denen viele sich unterschiedliches vorstellen, ohne aber die Differenzen klären zu müssen. Das erhöht… die soziale Kohärenz von Kommunikation.

4 Johannes Reitze: Was meinen Bibliotheken, wenn sie vom Dritten Ort reden? (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

5 Sandro Lorenzo: Bibliotheken und Integration (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

9 Marcel Hanselmann: LittleBits im Makerspace (Bachelorarbeit). Chur: HTW Chur, 2016

10 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 666). 14. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2010

11 Herbert Altrichter; Katharina Maag Merki (Hrsg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (Educational Governance, 7). 2. Auflage. Wiesbaden: Springer, 2016

12 Selena Nemorin: The frustrations of digital fabrication: an auto/ethnographic exploration of ‚3D Making‘ in school». In: International Journal of Technology and Design Education, 2016. ; Selena Nemorin und Neil Selwyn: Making the best of it? Exploring the realities of 3D printing in school. In: Research Papers in Education, 2016.

Neo-70er. Oder: Bibliotheken werden nicht getrieben, sie erfinden nur ständig die 1970er neu. [Vortragsskript, 13. InetBib-Tagung, Stuttgart, 12.02.2016]

Vorbemerkung: Im Folgenden ein Skript meines Vortrags auf der diesjährigen, 13. InetBib-Tagung in Stuttgart. Der Vortrag war auf die Tagung und deren Motto – „Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?“ – zugeschnitten, also auf ein Treffen, auf der Bibliotheken vor allem darüber sprechen, wie sie an auf die Zukunft gerichteten Projekten arbeiten, verbunden mit einem Motto, dass in gewisser Weise eine unterschwellige Angst ausdrückt, von Entwicklungen ausserhalb der Bibliotheken „überholt“ zu werden. Er präsentierte eine These, mit der ich mich schon länger rumschlage und die zu dieser Tagung gewollt etwas quer stand. Diese These ist ein Diskussionsangebot, allerdings sind Tagung nicht der perfekte Ort für Diskussionen (ein grosser Saal, vorne die Vortragenden, alle anderen im Hörsaal schauen nach unten). Trotzdem rief der Vortrag einige Reaktionen hervor, die ich so von anderen Vorträgen nicht kenne. Ein ganzer Teil der Kolleginnen und Kollegen, vor allem auf den hinteren Reihen ganz oben (die man aber von der Position des oder der Vortragenden halt am Besten sieht) schienen nicht einverstanden zu sein, sondern sehr vor sich hinzugrummeln. Warum genau weiss ich selbstverständlich nicht. Aber es schien mir schon mehr Widerspruch als sonst. Gleichzeitig kamen nach dem Vortrag aber auch viel mehr Anwesende, als sonst, die etwas zu meinen Thesen zu sagen hatten. Auch das eher kurz, weil selbstverständlich auf einer Tagung auch die Kaffeepausen eher kurz sind. Aber offenbar haben meine Ausführungen ein paar Punkte getroffen, die zumindest Reaktionen auslösten.

Da nicht alle Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart anwesend waren und weil ich tatsächlich die These als Diskussionsangebot unterbreite möchte, bei der ich selber noch nicht sicher bin, was genau sie bedeuten (könnte), aber gleichzeitig überzeugt bin, dass die Beobachtungen, die ich im Vortrag darlegte, für die bibliothekarischen Debatten relevant sind, liefere ich hier einen über die Folien (hier) hinausgehenden Beitrag nach. Er ist als Skript geschrieben, das heisst, er folgt den Folien, die ich verwendete. Gleichzeitig ist es erst nach der Tagung geschrieben worden, insoweit stimmt es nicht mit dem gesprochenen Wort – dass sich auch auf die Tagung und die heftigen Diskussionen um einen kurz vorher publizierten Artikels eines gar nicht Anwesenden bezog – überein, aber mit dem, was ich sagen wollte.

 

Folie 1

Erinnerung

Die Frage der Konferenz ist: Treiben wir [die Bibliotheken] oder werden wir getrieben?

Gegenthese:

  • Bibliotheken haben das Gefühl getrieben zu werden, wissen aber nicht, dass sie sich das selber immer wieder neu erzählen.
  • Die meisten Debatten gab es schon mal.
  • Bibliotheken wissen nicht, was ’sie‘ schon gemacht und durchgestanden haben.

 

Guten Morgen. Ich möchte Ihnen heute einige Thesen vorlegen, die sich aus dem Motto der Tagung und meiner Forschungstätigkeit ergeben haben. Dabei müssen Sie beachten, dass ich als Bibliothekswissenschaftler viele Nachteile gegenüber Ihnen in den Bibliotheken habe, aber einen Vorteil: Ich muss nicht, wie die meisten der hier Anwesenden, Entscheidungen darüber treffen, was in einer konkreten Bibliothek passiert, was dort demnächst gemacht werden oder wofür Geld ausgegeben werden soll. Stattdessen kann ich am Rande meiner Arbeit über Bibliotheken und deren Entwicklungen in einer längeren Perspektive nachdenken. Eine Sache, die ich dabei noch recht oft mache, ist, die Bibliotheksliteratur aus der Vergangenheit anzuschauen. Nicht so sehr die von vor einigen hundert Jahren, sondern eher die der vergangenen Jahrzehnte. Dabei ist mir etwas aufgefallen, dass sich dann mit dem Motto dieser Tagung zu diesem Vortrag entwickelt hat.

Dabei muss Sie bitten, dass alles als provisorisch anzusehen, als Vorschlag zur Diskussion. Vielleicht übertreibe ich Entwicklungen, vielleicht beachte ich wichtige Dinge nicht. Aber ich denke, es ist besser, Ihnen das zur Diskussion vorzulegen, als es zurückzuhalten.

Sie erinnern sich, dass das Motto der Tagung lautet: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Es geht also darum, ob die Bibliotheken nicht ganz up to date sind, sondern Entwicklungen hinterher rennen oder ob sie selber bestimmen, was up to date ist. Ich möchte dem eine These gegenüberstellen. Mir scheint, dass Bibliotheken sehr gut darin sind, sich gegenseitig überzeugend zu erzählen, dass sie getrieben würden – was auch seine guten Seiten hat, weil es Bibliotheken offenbar zu ständigen Veränderungen antreibt. Dabei scheinen sie sich aber nicht im Klaren zu sein, dass die meisten der Debatten darüber, wie und warum Bibliotheken sich entwickeln sollen oder müssen, schon mindestens einmal geführt wurden und das die Bibliotheken diese Debatten auch durchgestanden haben.

Das, was wir heute im Bibliothekswesen als Entwicklungen diskutieren – und das auf verschiedenen Ebenen und Themengebieten –, scheint mir in vielen Fällen so ähnlich schon einmal in den 1970er Jahren diskutiert worden zu sein. Oft mit den gleichen Argumenten für die (vorgeblichen) Entwicklungen, manchmal bis hin zu den einzelnen Formulierungen, oft mit ähnlichen Lösungen; nur halt oft auf der Basis der damaligen technischen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Was ich Ihnen in diesem Vortrag aus Zeitgründen nicht zeigen werde, sondern als grosse These darbiete, ist die Behauptung, dass sich in den 1970er Jahren, innerhalb weniger Jahre, in den deutschsprachigen Bibliothekswesens – zumeist mit Ausnahme der DDR, die ein Thema für sich ist – das Denken der Bibliotheken über sich selber und über die Herausforderungen der Bibliothek radikal änderte. Sicherlich ging dies nicht sofort mit dem dem Jahreswechsel von 1969 zu 1970 einher, aber doch scheint es mir so, als ob die bibliothekarische Literatur der 1960er und 1950er Jahre noch sehr wie die der 1920er oder 1910er Jahre klingt, sowohl in Gestus als auch der Zielsetzung der bibliothekarischen Arbeit, der Wahrnehmung der Bibliothek – und sich dann in kurzer Zeit vom Ende der 1960er und bis vielleicht 1975, die bibliothekarischen Literatur rabiat änderte und sich Diskursformen etablierten, welche sich seitdem in der bibliothekarischen Literatur immer wieder finden. Mir scheint, die 1970er waren die Zeit dieses Bruches, nicht etwa die 1990er, auch nicht die späten 1940er (was man ja aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Jahren eher hätte erwarten können).

Falls Sie eine ähnlichen Bruch suchen, allerdings einen mit einer hohen Fallhöhe, wie ich Ihnen noch mehr in diesem Vortrag als Interpretation vorschlagen werde: Mich erinnert dieser Bruch in den Diskursen, auch wenn er viel kleiner ist, immer wieder an das Aufkommen der Strafgesellschaft, wie sie Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschreibt (Foucault 2001), wo innerhalb kurzer Zeit Ende des 18. Jahrhunderts sich auf einmal Formen des Denkens über die Steuerung, Kontrolle und Bestrafung von Menschengruppen durchsetzen, die dann dazu führten, dass auf einmal ganz viele unterschiedliche öffentliche Bauten ähnlich konzipiert wurden: das Gefängnis, die Schule, die Kaserne, die Fabrik, das Hospital. Selbstverständlich: Bibliotheken sind ein viel erfreulicheres Thema als die Gefängnisse, aber der Bruch scheint mir ähnlich erstaunlich zu sein und ähnlich plötzlich aufzutreten. (Was ich auch nicht tun werde, aber was eine interessante Forschungsfrage wäre, wäre zu schauen, ob ähnliche Brüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise dem Bildungswesen, der Krankenversorgung oder auch den Gefängnissen, zur gleichen Zeit stattfanden.)

 

Folie 2

Vorbemerkung I:

  • Vortrag soll diese These testen
  • Persönliche Note: Gesellschaftliche Veränderung nach dem Ende der DDR meine „Lebenserfahrung“ –> Eindruck, dass sich einige Veränderungen & Versprechen wiederholen –> vielleicht überbetont
  • Texte aus den 70er zum Bibliothekswesen vermitteln aber ähnliches Gefühl („gab es doch schon…“)

 

Zwei kurze Vorbemerkungen, die mir notwendig erscheinen: Zu meiner Biographie gehört, dass ich meine Jugend in den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt habe und zuvor auch den Zusammenbruch der DDR. Neben all dem Stress mit Nazis und Ostalgischen Menschen, neben all der Freiheit, die wir dann auf einmal hatten und den frei nutzbaren Platz, den wir in Ost-Berlin damals noch vorfanden, gibt es eine Erfahrung, die vielleicht Menschen, die damals nicht in Ostdeutschland lebten, so nicht bewusst ist, obwohl sie doch sehr prägend war: Die 1990er waren eine Zeit, wo sehr oft der Eindruck entstand – was auch mit den Personen zu tun haben wird, die damals „in den Osten gingen“, um zu erzählen, wie Demokratie und Kapitalismus und Politik so richtig geht –, dass sehr viele Versprechen und Ansätze sich wiederholten, die es mit einer (zumeist) anderen Terminologie schon in der DDR gegeben hatte. Sicherlich veränderten sich Dinge, aber viele blieben auch einfach gleich, zumindest in der Grundstruktur. Mir scheint, dass diese Erfahrung unter anderem meinen Blick auf Entwicklungen im Bibliothekswesen geprägt hat und vielleicht zu sehr geprägt hat. Das wäre vielleicht ein Ansatz, meine These wieder aufzuheben. Vielleicht ist das, was ich Ihnen präsentieren möchte, einfach überinterpretiert.

Und trotzdem scheint mir immer wieder, dass sich dieses Gefühl, auf die gleichen Diskurse und Thesen, wie sie auch heute besprochen werden, gestossen zu sein, immer wieder sich einstellt, wenn man die bibliothekarischen Texte aus den 1970er Jahren – die immer noch in den Magazinen der Bibliotheken stehen und leicht zugänglich sind – liest.

 

Folie 3

Vorbemerkung II:

Die 1970er Jahre waren eine Zeit voller gesellschaftlicher Umbrüche und Zukunftsvisionen (gleichzeitig: gesellschaftlicher Kontinuität)

  • politische Bewegungen wurden „erwachsen“ und wirkmächtig
  • die Gesellschaft wurde als „in radikaler Veränderung“ begriffen, inklusive vieler neuer Möglichkeiten
  • generelle Liberalisierung
  • neue Technik, neue Methoden (u.a. in Schulen, Betrieben)
  • viele „Irrwege“ wurden enthusiastisch begangen –> Überzeugung vieler, zu wissen, was die Zukunft bringt

 

Eine zweite Vorbemerkung für alle die, die – so wie ich – vielleicht die 1970er gar nicht selber erlebt haben: Die 1970er Jahre, gerade die frühen, waren in den deutschsprachigen Gesellschaften (wieder, mit partieller Ausnahme der DDR) Zeiten grosser gesellschaftlicher Umbrüche, deren man sich heute nicht mehr ganz gewahr ist. Damals wurde in weiten Teilen der Gesellschaft davon ausgegangen, dass sich grundlegend alles ändern würde. Es gab politische Bewegungen, innerhalb und ausserhalb der Parlamente, die eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft oder auch eine ganz andere Gesellschaft anstrebten und die in den 1970er Jahren sehr wirkmächtig wurden. Ich habe vor kurzem in einem Projekt in St. Gallen, einen eher konservativen, aber auch nicht dem konservativsten, Kanton, politische Dokumente aus dieser Zeit gelesen, wo sich die politischen Parteien zu geplanten Gesetzen äusserten. In diesen Schriften finden sie auch bei den damaligen konservativen Parteien – die SVP gab es damals in der heutigen Form noch nicht – Sätze der Art: „In einer Zeit wie heute, wo alles in Frage gestellt wird…“ und die Vorstellung, dass es gerade aktuell eine notwendige Hinterfragung von gesellschaftlichen Strukturen und Zielen gab – und das das gut wäre. Generell gab es in den deutschsprachigen Gesellschaften (ausser der DDR) einen unheimlichen Liberalisierungsschub. Alles wurde „modern“, aber immer auch mit der Überzeugung, dass es dadurch besser und freier würde oder zumindest werden sollte.

Dies gilt nicht nur für das Denken, sondern auch für Technik und Methodiken. Beispielsweise wurden im Schulbereich unheimlich viele Experimente mit damals neuen Lernmethoden und Lerngeräten angestellt, die zumeist später wieder eingestellt wurden. Aber es war zum Beispiel auch eine Zeit, wo ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob man „Lernmaschinen“ bauen sollte, die auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler reagieren und den Unterricht individueller machen würden. In den Fabriken wurden in diesen Jahren Computer, Rechenzentren und erste Roboter in grosser Masse eingeführt.

Wenn Sie Literatur der damaligen Zeit lesen, nicht nur im Bibliotheksbereich, sondern zum Beispiele gerade im Bildungsbereich oder auch politischen Programme, finden Sie unter anderem einen Diskurs von Behauptungen darüber, wie die Zukunft sein wird. Oft sind diese Texte sehr polemisch gegenüber dem, was angeblich bislang gewesen wäre; also ein Diskurs von „was bisher war, ist alt und unmodern“ und das, was in Zukunft kommen oder gelten wird, ist dagegen modern und es wird genau so und so sein. Es gab ein unheimliches Vertrauen darin, die Zukunft vorhersagen und auch planen zu können. (Diese Überzeugung gab es dann auch in der DDR, aber mit einem anderen Hintergrund.) Vieles davon hat sich als falsch herausgestellt, aber in den 1970ern wurde es noch mit sehr viel Überzeugung vertreten.

Das als Hintergrund.

 

Folie 4

Ein paar Beispiele für Dinge, die in den 1970ern im Bibliothekswesen diskutiert wurden – und heute sehr modern klingen

 

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Beispiele für Diskurse und Vorschläge zeigen, die Sie in der deutschsprachigen Bibliotheksliteratur der 1970er Jahre finden und die sich nicht so sehr von dem unterscheiden, was heute im bibliothekarischen Rahmen diskutiert wird. Sicherlich sieht die Technik heute anders aus, aber Sie werden hoffentlich sehen, dass die grundlegenden Vorstellungen und Ängste sehr ähnlich waren, zum Teil bis hin zur Terminologie.

Dabei sind das die Beispiele, die mir aufgefallen sind. Nicht alle, da wir nicht unendlich Zeit haben. Aber ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie systematischer Vorgehen, noch mehr Beispiele finden werden. Und das scheint mir wichtig: Ich habe diese Beispiele nicht aktiv gesucht, Sie sind mir eher zufällig aufgefallen, aber immer wieder neue und immer mehr, so dass ich irgendwann zur Grundthese meines Vortrags kam. Wie gesagt, ich präsentiere Ihnen die hier als Diskussionsvorschlag. Falls die Diskussion in Gang kommt, wäre es eine Aufgabe, nachzuschauen, ob ich einfach schon alles gefunden habe und überinterpretiere oder ob ich auf eine interessante Struktur gestossen bin.

 

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VORWORT

Kürzlich wurde mir in den USA die Bibliotheken eines elitären College mit besonderem Stolz vorgezeigt: sie hat kaum mehr Bücher; wirkt wie ein Rechenzentrum; alles ist mikrofein und telegen gespeichert; die Lesegeräte und Leseterminals machen die Räume zu technologischen Gehirnzellen und Kommunikationsganglien, in denen Informationen sekundenschnell zirkulieren, clever abgerufen, und (…) inkorporiert werden. Statt Bibliothekarinnen müssten eigentlich Stewardessen das geistige Air-conditioning durchstrahlen. (…)

 

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einer Broschüre – Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion – beginnen. Genauer mit einem Zitat direkt aus dem Vorwort (Glaser 1976). Sie sehen den ersten Teil hier. Die Broschüre wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung, also der SPD-nahen Parteienstiftung, herausgegeben und behandelte die Frage, wie die Öffentliche Bibliothek in den zukünftigen Städten der damaligen BRD aussehen sollte. Das ist also keine Vorstellung irgendwo von einem gesellschaftlichen Rand, ganz utopisch von links oder so; sondern kommt direkt aus der politischen Mitte. Es ist eine „normale“ Schrift und keine Novität.

Was sehen wir in diesem Zitat? Lassen Sie mich auf ein paar Punkte hinweisen. Sie sehen die Vorstellung von einer zukünftigen Bibliothek, die von Technik bestimmt sein wird. Offenbar gegenüber der bisherigen Bibliothek: Die Bücher verschwinden, die Computer kommen und das Wissen wird über die Computer organisiert. Das ist eine Vorstellung, die Sie technisch aktualisiert heute auch im bibliothekarischen Diskurs finden. Die Angst oder Vorstellung, dass die Bücher und Medien verschwinden und die Bibliothek von der Technik geprägt werden wird. Sie wissen das selber. Aber was Sie hier auch sehen, ist, dass diese Vorstellung nicht mit dem Internet oder so begonnen hat. Sie ist schon älter. (Und vor den 1970er Jahren scheint sie so aber nicht in breitem Rahmen geäussert worden zu sein.)

Was Sie auch sehen ist die damit zusammenhängende Vorstellung, dass die Aufgabe der Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sich radikal ändern würde, so sehr, dass sich die Frage stellen würde, ob es dann überhaupt noch Bibliothekarinnen und Bibliothekare wären. Auch das ist eine Vorstellung, die Sie heute immer wieder finden, wenn über die Zukunft der Bibliotheken diskutiert wird: Was wird das Personal machen? Wie werden sich seine Aufgaben verändern? Auch dies scheint mir als Diskurs nicht erst vor Kurzem, sondern in den 1970er Jahren gestartet zu sein. Nur, wenn Sie darüber nachdenken, ist das irgendwann absurd. Wenn sich die Bibliothek und die Aufgaben des Personals in Zukunft so radikal verändern sollen, wie es teilweise behauptet wird, sollte das irgendwann auch einmal passiert sein. Scheint es aber nicht, sonst würde sich der Diskurs nicht wiederholen.

Was Sie an dem Zitat auch sehen, ist die Ausrichtung auf die USA. Das ist etwas, was Sie in den bibliothekarischen Texten in den 1970er und danach immer wieder finden: Beispiele von Bibliotheken aus den USA, die in dem Impetus vorgetragen werden, dass sie die Zukunft aller Bibliotheken, gerade in der BRD, Schweiz und Österreich beschreiben würden. Was auch interessant ist, weil sich dies nicht wirklich geändert hat. Sie kennen auch das aus den bibliothekarischen Diskussionen: Fast alle Beispiele, besonders wenn es darum geht, das die Technik die Medien ersetzen würde, kommen aus den USA (seltener aus Grossbritannien), obwohl sie auch aus vielen anderen Staaten kommen könnten (beispielsweise Australien, Kanada oder den europäischen Nachbarländern wie Frankreich.)

 

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Lebt die Bibliothek bald? So, wie Walser sie sich als ‚wirkliche Bibliothek‘ wünscht: mit Abenduniversität, Diskussionsforum, Swimm-in, kritischer Buchberatung, Russischstunde, Tennismatch, Kulturkneipe? So wie Robert Jungk hofft: als Ort der Inspiration, die weniger perfekte Maschinen als phantasievolle Anreger – und Benutzer, die sich anregen lassen – braucht? Die Bibliothek als Treffpunkt für all diejenigen, die sich schreibend, zeichnend, photographierend, musizierend, und natürlich lesend ausdrücken wollen. Das Stockholmer ‚Kulturhaus‘ strebt ja derartiges an und ist in manchem sehr gelungen; viel frequentiert; ein Kommunikationsort par excellence.“

(Hermann Glaser, 1976: 6)

 

Schauen wir auf den zweiten Teil des Zitates. Was Sie hier sehen, ist die andere Region, aus der heute gerne Beispiele für die „Bibliothek der Zukunft“ zitiert werden, nämlich Skandinavien. (Genauer, eine Art „gefühltes Skandinavien“, das die Niederlande umfasst, aber nicht Island oder die Färorer-Inseln.) Auch das ist etwas, was in den bibliothekarischen Texten in den 1970er Jahren immer wieder finden. Es werden Beispiele von Bibliotheken angeführt, immer wieder bestimmte, die dann oft für eine bestimmte Zeit in mehreren Texten auftauchen. Auch diese Beispiele werden immer wieder mit dem Impetus vorgetragen, dass sie Bibliotheken die Zukunft darstellen würden. Jetzt – also wenn das Beispiel in einem Text gebracht wird – wäre das so, wie in Skandinavien Bibliothek gemacht würden – obwohl es eigentlich immer wieder bestimmte Beispiele sind, kaum einmal das ganzen Bibliothekswesens Dänemarks oder Schwedens, das dargestellt wird, insoweit ist nie klar, ob die Beispiele repräsentativ sind oder nicht –, bald wird das auch in Bonn, Zürich oder Wien so sein. So ungefähr die implizite Argumentation.

Und diese skandinavischen Bibliotheken, die Sie seit den 1970ern immer wieder in der bibliothekarischen Literatur als Vorbild finden, stellen immer wieder etwas ähnliches dar: Sie sind Bibliotheken, die über das Anbieten von Medien hinausgehen. Sie werden beschrieben als Einrichtungen, die soziale Funktionen erfüllen, gesellschaftliche. Einrichtungen, die Kommunikation für alle möglichen Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen. Einrichtungen, die flexibel sind, mit Räumen, die flexibel sind und in denen die Medien in den Hintergrund gerückt werden oder zumindest nicht die Hauptrolle spielen. (Aber oft gibt es Orte für damals neue Medien und Mediennutzungsweisen.) Oft sind diese Bibliotheken Teil von grösseren Einrichtungen – wie hier im Kulturhaus – oder umfassen selber andere Einrichtungen, beispielsweise Kinosäle, Discos oder Plattenabhörstationen. Und Sie finden in den deutschsprachigen, bibliothekarischen Texten auch immer wieder ein Erstaunen darüber, dass dies in einer Bibliothek möglich ist. Verbunden mit der Vorstellung, dass auch „unsere Bibliotheken“ so werden müssten, um modern zu sein.

Wenn Sie jetzt an das Dokk 1 in Aarhus (oder, ein paar Monate zurück, an die Centrale Openbare Bibliotheek Amsterdam) denken, und daran, wie diese in der bibliothekarischen Literatur dargestellt und besprochen wurde, finden Sie bestimmt zumindest einige Parallelen. Auch an dieser Einrichtung wurde hervorgehoben, das sie offen, flexibel und ein Kommunikationsort sei, das die Medien in den Hintergrund gerückt seien und so weiter. Und mir scheint, dass es auch nicht zufällig ist, dass diese Bibliothek eine dänische (oder niederländische) ist. Obwohl dies immer wieder als neu dargestellt und wahrgenommen wird, scheint sich der Diskurs um skandinavische (Öffentliche) Bibliotheken in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur kaum geändert zu haben. Auch das ist erstaunlich: Entweder stimmt der Diskurs nicht oder die Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern verändern sich nicht. Eine Vermutung wäre, dass es eher ein kultureller Unterschied ist, dass also Bibliotheken in Skandinavien einfach so konzipiert werden und in den deutschsprachigen Ländern eher nicht oder zumindest nicht so; aber sie erscheinen in der deutschsprachigen Literatur immer wieder neu als Zukunft.

 

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Beispiel Schulbibliotheken

  • Projekt 1970-1973 (Uni FF/M; Bertelsmann-Stiftung) zur „modernen Schulbibliothek“

–> „Bestandsaufnahme“: „alte Schulbibliotheken“ wurden verworfen, weil… alt und nicht modern, also nicht zeitgemäss (so die Behauptung, ohne Nachweis)

–> Entwurf „moderner Schulbibliotheken“ (a) alle Medien, alle modernen Medienformen, (b) zugänglich und immer offen, (c) Zentrum der Schule und in Kontakt mit den LehrerInnen, (d) Aufgreifen „moderner Pädagogik“ (Individualisierung des Lernens, Projekte / Arbeitsgruppen, Demokratisierung / Kritikfähigkeit)

 

-> Später übergegangen in das deutsche Bibliotheksinstitut, Zeitschrift „die schulbibliothek“ (1974-2000) -> heute „dbv-Kommission Bibliothek und Schule“

 

Ein weiteres Beispiel, das mit einem meiner Forschungsschwerpunkte zu tun hat, den Schulbibliotheken. Wenn Sie sich die Geschichte der bibliothekarischen Diskussion über Schulbibliotheken im deutschsprachigen Raum anschauen, kommen Sie nicht daran vorbei, das am Ende alles auf ein Projekt (und ein Buch) zurückverweist, welches am Anfang der 1970er stattfand. Das Projekt, gar nicht im bibliothekarischen Rahmen angesiedelt, sondern von einem Literaturwissenschaftler, Klaus Doderer, an der Goethe-Universität Frankfurt am Main geleitet, hatte das Ziel, eine Infrastruktur für moderne Schulbibliotheken aufzubauen.

Wenn Sie das Buch aus dem Projekt (Die moderne Schulbibliothek, Doderer et al. 1970) lesen, sehen Sie sehr schnell, wie dabei vorgegangen wurde. Das Projektteam stellte sehr hohe Anforderungen dafür auf, was eine moderne Schulbibliothek zu sein hätte. Diese Anforderungen sind nicht wirklich begründet, sondern im besten Falle hergeleitet: Moderne Schulen hätten moderne Schülerinnen und Schüler mit modernen Methoden zu unterrichten, daraus ergäbe sich auch eine bestimmte Form von Schulbibliotheken. Das ist ganz offensichtlich, wenn Sie das Buch lesen: Es gibt kaum Aussagen oder Studien oder Herleitungen, auf denen sich die Vorstellungen davon, was moderne Schulbibliotheken sein müssten, aufbaut. Es wird einfach behauptet und darauf verwiesen, dass es in anderen Ländern (vor allem den USA, aber es finden sich auch Bilder aus der Sowjetunion und anderen Staaten) so sei.

Die Behauptung ist halt, dass dies modern sei. Dabei gab es solche Behauptungen vorher nicht. Die Schulbibliotheken, welche zuvor in der bibliothekarischen Literatur besprochen wurden, wurden zumeist ganz anders dargestellt, zumeist als Lesebibliotheken, die von Lehrpersonen betreut wurden. Das Buch und das Projekt machen da einfach einen Bruch. (Und zumindest für die Schweiz ist es sehr einfach zu zeigen, dass dann im Nachhinein den Vorstellungen in diesem Buch im bibliothekarischen Diskurs gefolgt wurde. 1973 erschien eine Broschüre des Schweizer Bibliotheksdienstes (1973), die mit einem schweiz-spezifischen Twists diese Vorstellungen aufgreift, obwohl die Schriften zu Schulbibliotheken in der Schweiz zuvor nicht von solchen „modernen Schulbibliotheken“ sprachen.)

Danach besuchte das Projektteam eine ganze Reihe von Schulen und bewertete die Schulbibliotheken dort immer aus dem von ihm selbst aufgestellten Blickwinkel. Alle fielen durch und das wird im Buch so dargestellt, das all diese Schulbibliotheken als „noch nicht modern“, als „zurückgeblieben“, als „unmodern“ besprochen werden; also immer mit der Vorstellung, dass es möglich ist, zu sagen, was einen gute Schulbibliothek sei und das jede Schulbibliothek über kurz oder lang modern werden wird, also das man den „jetzigen Zustand“ quasi auf einer Zeitachse abtragen kann. Auch das ist eine Wahl: Man hätte ebenso fragen können, warum die Schulbibliotheken so sind, wie sie vorgefunden wurden, ob sie vielleicht so ihren Zweck erfüllen, ob es vielleicht so von den Schulen gewünscht wurde, ob vielleicht die Vorstellung von „modernen Schulbibliotheken“ nicht ganz richtig sei. Aber die einzige Begründung, die Sie im Buch finden, ist: Die Schulbibliotheken sind nicht so, wie sie sein sollen, also sind sie unmodern, veraltet. Und dieses Denken setzt sich meiner Meinung nach bis heute in den Texten über Schulbibliotheken fort, wenn auch die Terminologie etwas anders ist. Das ist für Deutschland nicht ganz so überraschend. Aus dem Projekt selber ging über mehrere Transformationen die heutige Expertengruppen im dbv hervor. Aber es gilt auch für die Schweiz (mit ihren Richtlinien für Schulbibliotheken (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) und zumindest zum Teil Österreich.

Und erstaunlich ist das, wenn Sie sich anschauen, was eigentlich in dem Buch von 1970 von einer „modernen Schulbibliothek“ erwartet wird: Sie soll ein Zentrum der Schule sein, alle Medienformen enthalten und wie eine Öffentliche Bibliothek funktionieren (mit Katalog als Nachweisinstrument, mit bibliothekarisch ausgebildetem Personal und allem), sie soll immer offen sein und vor allem „moderne Formen“ der Lernen und Unterrichtens unterstützen. Gerade diese „modernen Formen“ sind oft nur kurz beschrieben: Unterricht in der Bibliothek, Projekte und Arbeitsgruppen sowie Individualisierung. Und das ist genau das, was Sie auch heute in der bibliothekarischen Literatur über Schulbibliotheken finden. Wenn Schulbibliotheken zum Beispiel in Abschlussarbeiten beschrieben werden, merken Sie oft, das genau dieses Denken dahinter steht: Es gibt diesen „modernen Standard“, der angelegt wird. Wenn er nicht eingehalten wird, werden die Schulbibliotheken als defizitär beschrieben und oft Programme aufgestellt, wie sie zu „richtigen“ Schulbibliotheken werden können. Dabei, nochmal, könnte man auch Anderes fragen, zum Beispiel ob bestimmte Schulen nicht andere Schulbibliotheken haben wollen, ob die bibliothekarischen Vorstellungen wirklich stimmen und so weiter. Aber das wird nicht getan und gerade bei diesem Beispiel haben Sie mit diesem Buch auch eine Quelle, die ich Ihnen ans Herz legen würde. Hier scheint mir sehr klar sichtbar, wie ein Diskurs quasi „aus dem Nichts“ auftaucht und dann immer wieder als „richtig“ reproduziert wird. Erstaunlich ist dabei, dass er auch heute zumindest im bibliothekarischen Rahmen als modern gilt, obwohl er sich seit einigen Jahrzehnten kaum verändert zu haben scheint. Wie kann es den sonst sein, dass eine „moderne Schulbibliothek“ 1970 fast genauso beschrieben wird, wie heute? Das ist doch schon einige Generationen von Schülerinnen und Schülern her.

(Erwähnt werden muss allerdings, dass Klaus Doderer, der Projektleiter, offenbar ein solches polemisches Vorgehen, bei dem alles, was bislang war, über einen Kamm geschoren und als „unmodern“ und veraltet bezeichnet, dagegen ein „neues Denken“ als richtig und modern beschrieben wird, auch bei der Diskussion über Jugendliteratur an den Tag gelegt hat. Zumindest behauptet das Sonja Müller (Müller 2014) in ihrer Arbeit über die Theoriedebatten zum Jugendbuch in den 1950ern und 1960ern. Diese hätten sich von den Vorstellungen der Jahrzehnte vorher – Stichwort „Schmutz und Schund“ – entfernt, wären aber dann in den 1970ern ohne grosse Differenzierung mit den Diskussionen aus den 1910er zusammengebracht und als veraltet abqualifiziert worden, unter anderem von Doderer.)

 

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Schule und berufliche Ausbildung werden künftig für immer mehr Menschen nur die erste Phase im Bildungsgang sein. Denn schon heute zeigt sich, dass die in dieser ersten Bildungsphase erworbene Bildung den später an den einzelnen herantretenden Anforderungen selbst dann nicht genügen kann, wenn diese Bildung auf Tiefe, Breite und die Erfüllung erwarteter Bedürfnisse angelegt ist. (…) Immer mehr Menschen müssen durch organisiertes Weiterlernen neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben können, um den wachsenden und wechselnden beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Der Begriff der ständigen Weiterbildung schliesst ein, dass das organisierte Lernen auf spätere Phasen ausgedehnt wird und dass sich die Bildungsmentalität weitgehend ändert.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 51)

 

Noch ein Text, den ich Ihnen gerne zeigen möchte. Das ist kein direkter bibliothekarischer Text, sondern ein bildungspolitischer. Aber es ist einer, auf den sich Bibliotheken in den 1970ern ungefähr so bezogen, wie sie sich vor ein paar Jahren noch auf die PISA-Studien bezogen. Der Text, Strukturplan für das Bildungswesen, ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Der Deutsche Bildungsrat wurde Ende der 1960er von Bund und Ländern eingerichtet, mit Vertreterinnen und Vertretern aus allem damals im deutschen Bundestag vertretenden Parteien, um das zukünftige Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu planen, auf Jahrzehnte hin. Ich sagte vorher, dass diese Zeit eine war, in der die Gesellschaft als in radikaler Modernisierung begriffen wurde, und im und um den Bildungsrat herum hat sich das damals sehr zugespitzt. In seiner Hochzeit fokussierten sich um den Bildungsrat – und die Bildungsreformen in einigen Bundesländern wie Hessen – die Debatten darum, was das Bildungssystem in einer modernen deutschen Gesellschaft tun sollte. Und das hatte Auswirkungen. Das heute in den Schulgesetzen steht, dass die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen, demokratisch orientierten und selbstbewussten Personen werden sollen, wäre zum Beispiel ohne den Bildungsrat wohl nicht durchgesetzt worden. Durch den Bildungsrat wurden die Gesamtschulen erst möglich (auch wenn am Ende nicht, wie sich damals von vielen erhofft wurde, damit die Gymnasien abgeschafft wurden). Der Bildungsrat und seine damalige Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der Strukturplan war quasi das Meisterstück der Rates und unter anderem Bibliotheken nutzten diesen, um sich in den 1970er Jahren zu orientieren.

Ich habe Ihnen das Zitat hier mitgebracht, weil es zeigt, wie sehr sich nicht nur die Aussagen, sondern auch die Argumente und teilweise Formulierungen der damaligen Zeit und der heutigen Debatten gleichen. Wenn Sie dieses Zitat lesen, ohne auf die Jahreszahl zu achten, werden Sie merken: Dass ist die gleiche Argumentation, wie sie in den letzten Jahren für das „Lebenslange Lernen“ vorgebracht wurde. Dieses sei notwendig, weil die Menschen in der Schule und Erstausbildung nur noch eine Grundbildung erhalten würden, die nicht ausreichen würde, sich in einer ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Bislang sei das nötig gewesen, jetzt sei es anders. Sie merken schon, ganz kann das Argument nicht stimmen. Wenn es schon in den 1970ern nicht ausreichend war, in Schule und Ausbildung zu lernen, kann es in den 2000er Jahren nicht neu sein.

Wichtig ist mir hier, dass der Bildungsrat ungefähr die gleichen Schlüsse zieht, wie sie vor einigen Jahren die Bibliotheken sehr oft in den bibliothekarischen Texten vertreten haben: Wenn jetzt (halt immer von der Zeit aus gesehen, in der das postuliert wird) sich die Situation mit dem Lernen ändert, muss die Weiterbildung nach der Erstausbildung organisiert und die Mentalität der Gesellschaft geändert werden. Oder anders: Die Menschen müssten jetzt auch gerne über die Erstausbildung hinaus lernen. Ansonsten würden sie und damit auch die Gesellschaft untergehen. Wie gesagt: Ganz kann das nicht stimmen, denn sonst wäre die Gesellschaft entweder schon untergegangen (was sie ganz offensichtlich nicht ist), weil sich die Menschen in den 1970ern oder 1990ern nicht ausreichend genügend sich weitergebildet haben oder aber es ist nicht so, dass es in den 2000er Jahren neu ist und dann stellt sich die Frage, warum es in den 2000ern so überzeugend klang.

Trotzdem finden Sie sowohl in bibliothekarischen Texten der 1970er (aber nicht wirklich vorher) als auch der letzten Jahre, Bibliotheken, die sich gerade auf dieses Argument beziehen und davon ausgehen, jetzt Einrichtungen werden zu müssen, welche die individuelle Weiterbildung der Menschen ermöglichen. Daraufhin wurden Räume umgestaltet, Bestände aufgebaut, Beratungsangebote eingerichtet und so weiter. Mein Argument ist auch gar nicht, dass es falsch wäre, in Bibliotheken individuelle Weiterbildung zu ermöglichen. Mein Argument ist, dass sich die Begründung für diese bibliothekarischen Strategien wiederholen und das wir im Bibliothekswesen bislang nicht darüber nachdenken, wieso. Mir scheint, dass das Argument im Zitat vielleicht doch nicht so stark ist, wie es scheint (was ein Grund dafür sein könnte, dass die Angebote nicht von so vielen Menschen angenommen werden oder anders benutzt werden, als sich das Bibliotheken erhoffen).

 

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Mit dem Beispiel ‚Informationsverarbeitung‘ ist das bisher ungelöste Problem der ’neuen Fächer‘ aufgeworfen. Es ist offensichtlich, dass die Schule nicht automatisch entsprechend jeder neuen wissenschaftlichen und technischen Disziplin neue Schulfächer einrichten kann. Ebenso wenig kann sie neue Fächer entsprechend allen Anforderungen einrichten, die sich aus dem Alltag ergeben, so unbestreitbar es ist, dass dem Kind durch die Schule geholfen werden muss, sich im Alltag zurecht zu finden.“

(Deutscher Bildungsrat, 1970: 69)

 

Aus dem gleichen Strukturplan, den Sie in seiner Wirkung und Verbreitung wirklich nicht unterschätzen sollten, wie ich schon sagte, habe ich Ihnen noch ein Zitat mitgebracht, dass leider nicht ganz so gut passt. Es kommt aber aus einer Argumentation, die Ihnen vielleicht erstaunlich aktuell vorkommt. Ich fasse die einmal zusammen: Die Vorstellung im Strukturplan ist, dass es jetzt, also in den 1970ern, zu einem Wachstum von elektronischen Geräten, elektronischer Datenverarbeitung und Lernmaschinen kommt. In der Zukunft würden immer mehr Informationen vorliegen und durch die elektronische Datenverarbeitung zugänglich gemacht. Es wäre jetzt, also in den 1970ern, ein Punkt erreicht, wo ein einzelner Mensch nicht mehr alle diese Informationen bewältigen könnte. Es gäbe einfach zu viele und ständig würden mehr produziert werden. Daraus ergibt sich, dass die Menschen – in diesem Zitat geht es vor allem um die Kinder und Jugendlichen in den Schulen – die Fähigkeiten erlernen müssten, sich in dieser Übermasse von Informationen zurechtzufinden. Das war alles auch mit dem Anspruch verbunden, dass die Fähigkeiten zur kritischen Reflexion über die Informationen – insbesondere über die Produktionsbedingungen der Informationen – damit einhergehen müssten. Im Strukturplan wird diskutiert, ob dafür ein extra Schulfach eingerichtet werden sollte, was abgelehnt wird. Vielmehr sei es eine Querschnittaufgabe. Wenn die Menschen aber diese Fähigkeiten nicht lernen würden, würden sie von den Informationen überwältigt und die Gesellschaft sei nicht mehr in der Lage, sich selber zu steuern.

Ich weiss nicht, wie Sie das sehen; aber für mich klingt diese Argumentation fast genauso, wie die für die ganzen Debatten und Projekte um „Informationskompetenz“, die in den letzten Jahren in Bibliotheken geführt wurden und zu unzähligen Angeboten, Strukturen und Personalstellen geführt haben. Man könnte diskutieren, wie wichtig heute noch die Frage der kritischen Reflexion genommen wird oder ob die Debatte nicht heute einen anderen Fokus hat. Aber ansonsten scheint mit das doch erstaunlich. Wenn Bibliotheken heute über „Informationskompetenz“ sprechen, ist die implizite Vorstellung, dass es die Verbreitung des Internets wäre, die es notwendig machen würde, diese Fähigkeiten zu lehren und das es das Internet wäre, das zu zu vielen Informationen geführt hätte, während es zuvor eher zu wenig Informationen gegeben hätte. Aber dann finden Sie die gleiche Argumentation schon in den 1970ern. Für mich stellt sich die Frage, wie das sein kann. Ist es vielleicht so, dass die Gefahr in den 1970ern gesehen wurde, die Menschen dann aber doch mit den ganzen Informationen klar kamen? Was würde das für die heutige Situation bedeuten?

Was stimmt ist, dass heute Bibliotheken eher aus diesen Vorstellungen heraus Angebote entwickelt haben. Ich muss Ihnen die ja gar nicht aufzählen, Sie alle kennen garantiert mindestens drei Standards für Informationskompetenz und so weiter. In den 1970ern finden Sie diese Ideen aber auch schon in bibliothekarischen Texten, nur halt mehr in pädagogischen.

Wieder geht es mir hier nicht darum, zu diskutieren, ob die Vorstellung falsch wäre. Mein Argument ist wieder, dass sich die Vorstellung wiederholt, ohne das dies bislang diskutiert oder wahrgenommen wird.

 

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Beispiel Benutzer/innen/forschung

  • Projekt Federführung Uni HH (BMBF) und Arbeitsstelle für das Bibliothekswesen (neu gegründet) (1970-1976)

–> Frage: Wer nutzt die Bibliothek wie? Kann man ein Instrument erstellen, um das kontinuierlich in den Bibliotheken zu erfassen?

–> Methoden: Umfragen und Beobachtungen („moderne Forschungsmethoden“)

–> Ziel: Verstehen, wer in die Bibliothek kommt; Angebote der Bibliotheken danach ausrichten

 

–> Instrument (Fragebögen und Auswertung) waren „zu kompliziert“

–> Daten liegen vor aus einigen Stadt- und Universitätsbibliotheken

 

Noch ein letztes Beispiel, die Forschung zu Nutzerinnen und Nutzern. Das ist etwas, was wir an der HTW Chur in den letzten Jahren versucht haben, anzustossen. Es erschien uns logisch; das, was bisher gemacht wird, sind oft Befragungen und Umfragen, dabei könnte man viel mehr Methoden anwenden. Wir haben das vor allem über Bachelorarbeiten und in Projektkursen machen lassen, aber mit der Überzeugung, etwas Neues zur Bibliotheksforschung beizutragen. Und dann sind mir diese drei Bücher untergekommen (Heidtmann 1971, Fischer 1973, Fischer 1978) – mit quasi genau der gleichen Idee, vielleicht sogar etwas weiter. Anfang der 1970er gab es offenbar die Vorstellung, dass es in den Bibliotheken nicht genügend Wissen über die tatsächliche Nutzung gab und das dies mit damals modernen Forschungsmethoden angegangen werden könnte. Dabei sind vor allem die beiden Bücher von Fischer (1973, 1978) interessant, weil die ein Projekt beschreiben, dass damals vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, und gleich mit dem Anspruch antrat, ein Instrument entwickeln zu können, dass von den Bibliotheken selber angewandt werden sollte. Die Idee war, dass die Bibliotheken Umfragebögen erhalten sollten, die sie dann regelmässig selber einsetzen uns auswerten könnten und dabei auch vergleichbare Werte erhalten würden. Im ersten Buch (Fischer 1973) wird das noch sehr ausführlich dargestellt: Die Bibliotheken erheben die gleichen Werte, dann vergleichen sie sich untereinander und können daraus lernen.

Auch das ist nicht ungehört in den letzten Jahren im Bibliothekswesen. Der jetzt eingestellte BIX hatte am Ende die gleiche Vorstellung, nur kam er aus einer anderen Richtung (halt der BWL, im Gegensatz zur Sozialwissenschaft wie bei Fischer). Aber auch seit den 1970ern scheint diese Idee zu bestehen, dass der regelmässige Vergleich von Daten, die in Bibliotheken erhoben werden, einen Lerneffekt darstellen könnte und für die Steuerung der Bibliotheken wichtig wäre. Deshalb finde ich es auch interessant, dass weder dieses Projekt noch der BIX lange über die Projektförderung hinaus bestanden haben. Das Projekt in den 1970er wurde, so heisst es im späteren Buch (Fischer 1978) eingestellt, weil sich herausgestellt hätte, dass das Umfrageinstrument zu komplex für die Bibliotheken sei. Was das genau heisst oder was wirklich passiert ist, steht da nicht. Mir scheint die Parallele aber beachtlich.

Das dritte Buch (Heidtmann 1971) ist dann für mich persönlich eine Erkenntnis gewesen. Das ist eine Studie zur Nutzung der Bibliothek der Technischen Universität in Berlin, ebenso durchgeführt mit damals modernen Umfragemethoden. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass wir grundsätzlich etwas Ähnliches in den letzten Jahren in Chur versucht haben. Das Projekt in Berlin wurde von Frank Heidtmann geleitet, der vielleicht den meisten von Ihnen nichts sagt. Aber: Das war mein Doktorvater, er hat schon meine Magisterarbeit betreut gehabt und ich habe auch bei ihm studiert. In all den Jahren aber ist diese Studie und die ganze Richtung Nutzungsforschung nicht aufgekommen. Wir haben damals in den 2000ern bei ihm stattdessen Buchillustrationsgeschichte gelernt. Erst jetzt, einige Jahre nach meiner Promotion, bin ich überhaupt auf das Buch gestossen. Was mir das gezeigt hat: Offenbar gibt es Themen und Vorschläge, die sich in der bibliothekarischen Literatur wiederholen, ohne dass die, die sich einmal mit einem Thema beschäftigt haben, es unbedingt als notwendig erachten, darauf hinzuweisen. Sicherlich, dass ist alles ein sehr grosser Zufall, dass ich jetzt ähnliches versucht habe, wie mein Doktorvater, ohne das mit zu bekommen. Aber es hat mich schon irritiert. Gerade als Forschender denkt man ja gerne, man wäre am Puls der Zeit, weit vorne. Aber offenbar stecke ich erstmal in den gleichen Denkstrukturen fest. Offenbar ist solches „Vergessen“ im Bibliothekswesen normal und nicht reiner Zufall. Aus solchen „Normalitäten“ kann man am Besten heraustreten, wenn man sie sich bewusst macht.

 

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Andere Themen (aus Zeitgründen ausgelassen):

  • Bibliotheksarchitektur (flexibel, offen, kommunikativ)
  • Grosse Infrastrukturprogramme, die auf „die technischen und ökonomischen Veränderungen reagieren“ sollen (Fachinformationszentren)
  • Offen Wissenschaft (Wissenschaftsläden)

 

  • Frage, ob „die neuen Medien“ die Bibliothek obsolet machen
  • Vorstellung, dass die Bibliothek potentiell dem Ende zugeht

 

Es gäbe noch eine ganze Reihe von anderen Beispielen, die ich aus Zeitgründen auslasse. Dabei hätte ich gerade zur Bibliotheksarchitektur einiges zu sagen, weil mich das sehr fasziniert, dass die Anforderungen an Bibliotheksräume in den 1970ern fast gleich klingen wie die Anforderungen, die heute in der Bibliotheksliteratur genannt werden – weil das wieder die Frage aufwirft, wie das sein kann. Hat sich die Vorstellung, was „flexibel“ und „offen“ heisst, so sehr verändert? Wurden die Bibliotheken in den 1970ern dann doch nicht so gebaut, wie gefordert? Oder wurde sie in der Zwischenzeit wieder „unflexibler“ gemacht – und wenn ja, wieso?

Wichtig ist mir nur noch mal zu sagen, dass das alles Beispiele sind, die mir persönlich im Rahmen anderen Projekte oder allgemeiner Lektüre untergekommen sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass es noch einige mehr gibt, die man mit einer systematischen Lektüre finden würde.

 

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Warum gibt es diese „Wiederholungen“? (Noch ein paar Thesen)

 

Ich möchte in diesem Teil des Vortrags ein paar Thesen dazu vorstellen, warum es diese Wiederholungen gibt. Wenn Sie von den Beispielen nicht davon überzeugt sind, dass sich dies zumindest zu untersuchen lohnt, wird Sie dieser Teil nicht interessieren. Ich denke aber, gerade wenn es um Bibliothekswissenschaft geht, ist es auch eine Aufgabe, zu schauen, ob diese auffälligen Gemeinsamkeiten irgendwie erklärt werden können und nicht nur Zufälle sind. Mir scheint schon klar zu sein, dass es hier nicht um irgendwelche Versäumnisse oder Verheimlichungen geht, also das irgendwer bestimmte Sachen verstecken wollen würde. Wir gesagt: Die Beispiele finden sich alle in der bibliothekarischen Literatur, die heute noch in Bibliotheken steht. Ich habe vor allem Bestände aus Zürich und Berlin benutzt, aber ich bin mir sicher, dass sich auch in Bibliotheken anderer Städte noch genügend dieser Literatur finden lässt. Wenn Sie daran Spass haben, können Sie ja mal schauen, was bei Ihnen noch im Magazin steht.

Zu diesen Thesen ist allerdings zu sagen, dass sie noch lange nicht fertig durchdacht oder ausformuliert sind. Es ist eher so, dass ich je nach Tag, Stimmung und Thema mal zu der einen oder anderen These neige. Sie werden auch merken, dass die Thesen sehr grob sind. Ich präsentiere sie Ihnen, um sie für die Diskussion vorzulegen, auch um Sie gemeinsam zu testen, wie sich das ja für einen wissenschaftlichen Diskurs gehört. Aber schon, dass sich die Thesen je nach Tagesstimmung ändern, zeigt, dass noch keine theoretisch gesättigt ist.

 

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Die Nietzsche-These:

  • Die ewige Wiederkehr des Gleichen (d.h. das ist normal und wird immer wieder passieren)
  • Aber was ist mit den Unterschieden (z.B. dem Ziel Demokratisierung?)

 

Die erste These (und die muss ich wohl haben, wenn ich in Graubünden arbeite) lehnt sich an der Vermutung an, die Sie bei Nietzsche finden. Selbstverständlich, bei Nietzsche geht es im Zarathustra um Fragen der menschlichen Geschichte und die Konstitution des Menschen (Nietzsche 1994), mir geht es darum zu verstehen, warum sich Behauptungen, Vorstellungen und Ansätze in der bibliothekarischen Diskussion seit den 1970ern wiederholen. Das sind sehr unterschiedliche Fallhöhen. Trotzdem finden Sie, sehr wirkmächtig, bei ihm die These, dass sich die Geschichte in Zirkeln wiederholt, dass es also normal ist, wenn sich Situationen und Behauptungen, die es schon mal gab, immer wieder neu finden. Wenn das stimmt, sind diese Wiederholungen nicht viel mehr, als eine normale Entwicklung und könnten auch als solche verstanden werden. Wir müssten dann auch sehr einfach vorhersagen können, welche Themen und Argumentationen als nächstes in der bibliothekarischen Diskussion auftauchen werden.

Zum Beispiel könnte man vermuten, dass einfach jede neuere Technik, die sich verbreitet, dazu führt, dass eine Anzahl von Beiträgen erscheinen, die postulieren, dass die Menschen jetzt die Fähigkeiten lernen sollten, diese Technik zu beherrschen, ansonsten würden sie von der Technik beherrscht. Dann wären die Debatten um „Informationskompetenz“ nur eine weitere Variante dieses Spiels. (Und wenn Sie sich erinnern, hat ironischerweise gerade Nietzsche im Bezug auf Schreibmaschinen ähnliches angedacht.)

Manchmal könnte man dies vermuten, aber es überzeugt auch nicht ganz. Warum passiert das bei bestimmten Techniken (Informationsverarbeitung, Internet, vielleicht auch Schreibmaschinen), aber anderen nicht. Oder habe ich einfach Debatten um die Auswirkungen der Videogeräte übersehen? Fanden die einfach nur ausserhalb des Bibliothekswesens statt? Und selbst dann, warum finden sich bestimmte Themen in diesen „Wiederholungen“ nicht mehr. Wo ist zum Beispiel die breite Debatte um die Demokratisierung und Erhöhung der Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen geblieben, die in den 1970ern die Debatten um die Nutzung der Informationsverarbeitungstechnologien mit prägte? Das gibt es bei den Debatten um die Informationskompetenz ja quasi nicht mehr oder nur sehr am Rande, als Kritik, das es fehlt, unter dem Stichwort „critical information literacy“, was aber in der deutschsprachigen Literatur so gut wie nicht beachtet wird.

Ich zumindest, und ich weiss nicht, wie es Ihnen da geht, bin nicht wirklich überzeugt. Zumal mir scheint, dass die Wiederholungen mit den 1970ern beginnen und nicht „schon immer“ zu finden sind.

 

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Die Hegel/Marx-These:

Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Marx: 18 Brumaire…)

  • Sind die heutigen „Wiederholungen“ Farce, weil nicht (mehr) historisch gedacht wird? Kann man das verhindern? Sollte man es verhindern?

 

Eine andere wirkungsmächtige These über Wiederholungen in der Geschichte ist die, die auf die auf dieses Zitat aus der „18 Brumaire Napoleons“ von Marx zurückgehen. (Marx 1965) Auch hier ist die Fallhöhe wieder sehr unterschiedlich. Marx wollte, auf der Basis der Hegelschen Philosophiegeschichte, den, nun sagen wir mal: Verrat Napoleons an der Französischen Revolution untersuchen, Hegel ging es um antike griechische Philosophie. Mir geht es um Wiederholungen im bibliothekarischen Diskurs. Da steht nicht so viel auf dem Spiel. Und Sie wissen auch, dass sowohl Hegels als auch Marx’ens Thesen heute nicht unbestritten sind. Aber darum geht es mir hier nicht, sondern darum, dass durch diese Bemerkung von Marx eine Vermutung über die geschichtlichen Entwicklungen in die Welt gesetzt wurde, die immer wieder einmal als erklärungsmächtig wahrgenommen wird. Egal, was Sie dann persönlich von Napoleon und seiner Politik denken.

Diese Vermutung ist, dass Geschichte nicht in Zirkeln verläuft, sondern linear – das haben Sie so ja bei Hegel eine Grundthese – und es gleichzeitig möglich ist, aus der Geschichte zu lernen (und sie damit auch zu gestalten, wobei bei Marx nicht ganz klar ist, wie viel gestaltet werden kann; aber auch das ist hier nicht Thema). Insoweit lassen sich „Wiederholungen“ auch als Möglichkeiten verstehen, Dinge besser zu machen. Ansonsten, so die Vermutung, werden sie zur Farce. Oder: Wenn sie das erste Mal scheitern, war es ein ehrenhafter Versuch, die Geschichte zu gestalten, weil niemand wusste, wie es ausgehen würde. Wenn es wieder versucht wird, ohne das aus der vorliegenden Geschichte gelernt wurde, dann ist es eine Farce. Es wäre die Aufgabe der Menschen, indem sie über die Geschichte nachdenken – und eben nicht nur über das vorliegende „Problem“, auf das reagiert werden muss –, es nicht zur Farce kommen zu lassen.

Vor allem, wenn ich über Schulbibliotheken nachdenken – und das Thema lässt mich nicht los, auch wenn ich es immer wieder versuche, davon weg zu kommen –, scheint es mir manchmal, dass Marx und Hegel zumindest mit dieser Vermutung Recht haben könnten. Wenn in den 1970ern Bibliotheken (und Teile der Literaturwissenschaft) antreten, um – sicherlich mit dem besten Zielsetzungen und Wünschen – moderne Schulbibliotheken zu entwerfen und den Schulen als notwendig zu erklären, obwohl es in den Schulen so nur ganz selten ankommt und obwohl die Interessen der Schulen zurückstehen, kann man das etwas pathetisch als Tragödie verstehen. So viele Menschen wollten so viel gutes für die Schülerinnen und Schüler, für die Schulen und die Bibliotheken – und agierten offenbar aneinander vorbei. Wenn aber später, heute noch, quasi die gleichen Argumente und Ziele angestrebt werden, ohne das aus dem – trotz Ausnahmen – weitflächigen Scheitern, solche Schulbibliotheken umzusetzen, gelernt wird, dann lässt sich das manchmal als Farce verstehen. Weil es nicht nötig wäre. Nach all den Jahrzehnten wäre es möglich zu wissen, dass all dies Argumente – die Sie bei uns in der Schweiz ja auch noch handlich zusammengefasst in den „Richtlinien für Schulbibliotheken“ (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken 2014) finden, die aber ausserhalb des Bibliothekswesens kaum beachtet werden – nicht zu „modernen Schulbibliotheken“ in allen Schulen führen, egal wie oft man die – wieder mit den besten Zielsetzungen und Wünschen – vorbringt. Zumindest in diesem Fall scheint es oft, als könnte man sehr einfach aus der Geschichte lernen, wenn man sie als geschichtliche Entwicklung wahrnimmt und sich eben nicht nur auf das vorliegende „Problem“, dass die Schulen oft andere Entscheidungen im Bezug auf Schulbibliotheken treffen, als das Bibliothekswesen gerne hätten, fokussiert.

An manchen Tagen und für manche Themen klingt diese These recht überzeugend, aber an anderen Tagen und für andere Themen nicht.

 

Folie 15

Die „Neoliberalismus“-These:

Der Neoliberalismus basiert auch darauf, ständig zu behaupten, „neu“ zu sein und auf der Seite des Fortschritts zu stehen –> alles andere sei „alt“ und abzulehnen

Diese Rhetorik ist zum Teil (nicht unbedingt mit dem gleichen Zielen) im Bibliothekswesen zu finden

–> Eine solche Rhetorik ist überzeugender, wenn nicht überprüft wird, ob es wirklich „neu“ (und besser) ist

–> wer keine Geschichte kennt, kann einfacher innovativ sein und / oder Angst vor der Zukunft haben / verbreiten

 

Eine andere These, die mir gerade an Tagen, wenn ich sehr polemisch gestimmt bin, als sinnvoll erscheint, nennen ich, wie Sie sehen, die Neoliberalismus-These. Auf der nächsten Folie gibt es diese in einer weniger polemischen Form. Auch hier geht es mir nicht darum, zu diskutieren, was ist Neoliberalismus, wie wirkt er und so weiter. Mir geht es um einen Teilaspekt.

Wenn Sie die Literatur lesen, die sich als kritisch zum Neoliberalismus versteht, beispielsweise sehr ausformuliert bei Naomi Klein (Klein 2007), dann finden Sie immer wieder die Kritik, dass der Neoliberalismus als Diskursformation und Begründungszusammenhang intellektuell eigentlich sehr dürftig ist, das er aber wirkmächtig wird, weil seine Vertreterinnen und Vertreter Krisensituationen ausnutzen. Im Grossen und Ganzen: Wenn heftige Krisenmomente auftreten, tauchen Vertreterinnen und Vertreter auf, die argumentieren, dass alles, was bislang gewesen wäre, falsch, unmodern und ineffektiv gewesen sei und deshalb abzulehnen wäre und dass das, was sie anbieten, radikal anders, neu und zielführend sei. Diese Interventionen würden Sie immer wieder finden: nach dem Zusammenbruch der DDR, nach wirtschaftlichen Zusammenbrüchen wie in den Argentinien Ende der 90er oder auch gerade jetzt in der Ukraine. Die Beraterinnen und Berater würden die Reformen, die sie vorschlagen, vor allem argumentativ durch diese Diskreditierung der Vergangenheit absichern. Weil es eine Krise gibt, sei alles, was davor war falsch. Punkt. Gerade wenn es wirklich eine Krise gibt, kann das sehr überzeugend klingen. Gleichzeitig stimmt das meistens nicht: Die Situation ist oft komplexer, nicht alles, was war, ist wirklich falsch; nicht alles, was als neu vorgeschlagen wird, ist neu oder zielführend. Damit beschäftigt sich dann die Literatur zum Neoliberalismus.

Was Sie aber sehen ist, dass es einfacher ist, solche Behauptungen aufzustellen, wenn man ein sehr einfaches Bild von der Vergangenheit malt, zum Beispiel die Bürokratie ohne Unterschied als ineffektiv und korrupt darstellt oder die Lohnkosten und die soziale Absicherung an sich als Problem. Was ja so nie stimmt. Es gibt ja immer auch Gründe für die Bürokratie, für die Lohnkosten, für soziale Sicherungssystem. Aber es ist einfacher, sich als neu und gut darzustellen und die eigene Vorschläge als modern und zukunftsweisend, wenn man die Geschichte vereinfacht oder ganz ignoriert. Wenn niemand weiss, dass bestimmte Debatten schon einmal geführt wurden oder das bestimmte Dinge schon ausprobiert wurden, ist es einfacher, diese als neu und innovativ zu verstehen. Ebenso: Wenn man nicht mehr weiss, dass bestimmte Krisen oder Ängste schon einmal durchgestanden wurden, ist es leichter, vor ihnen Angst zu haben. (Oder umgekehrt: Es ist einfacher, vor ihnen keine Angst zu haben, wenn klar ist, dass sie auch schon zuvor durchgestanden wurden, dass zum Beispiel die Mikroelektronik oder die Kinos die Bibliotheken nicht obsolet gemacht haben und das es deshalb „das Internet“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht machen wird.)

Und wir haben im Bibliothekswesen eine Reihe von Personen, die sich zum Teil sehr laut äussern, welche eine ähnliche Rhetorik verwenden, die also oft von der Zukunft als grosse Veränderung reden, die Vergangenheit der Bibliotheken als sehr einfach darstellen und dann Dinge als neue Herausforderungen oder mögliche Enden der Bibliotheken oder so darstellen. Mir geht es bei meinem Argument hier um diese Rhetorik und die Darstellung von „Neuheit“. Ich will niemandem eine politische Agenda unterstellen. Darum geht es hier gerade nicht. Es geht mir auch gar nicht um einzelne Personen, sondern um diese Argumentationsform: (1) Die Vergangenheit wird als unmodern, falsch und krisenhaft bezeichnet – und das auch schon seit den 1970ern, auch da finden Sie Texte, wo behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen, aber jetzt, 1970, müsste das anders werden, sonst würde die Bibliothek untergehen, was solche Argumente nur noch komischer macht, wenn Jahrzehnte später wieder behauptet wird, die Bibliothek sei bislang ein „Bücherspeicher“ gewesen und würde untergehen, wenn sie sich nicht verändert. Weil: Entweder stimmt das Argument nicht und die Bibliothek ist oder war nie dieser „Bücherspeicher“ oder sie ist schon längst untergegangen. Aber dieser Widerspruch fällt erst dann auf, wenn man die bibliothekarische Diskussion über einen längeren Zeitraum betrachtet. (2) Es wird dann aus der angeblichen oder tatsächlichen Krise geschlossen, die Bibliothek müsste sich in eine Richtung entwickeln, sonst würde sie untergehen. Und oft scheint das Argument da zu enden. Die vorgegebene Richtung wird als richtig und modern verstanden, weil sie anders sei, als die „unmoderne“ Bibliothek zuvor, die ja in der Krise steckt. Mir scheint, dass diese Argumente daraus an Überzeugungskraft gewinnen, weil sie nicht mit den schon mal geführten Debatten gegengeprüft werden. Und wie gesagt, gerade an „polemischen Tagen“ scheint mir, dass diese These viele Debatten und Wiederholungen im Bibliothekssystem erklären kann.

 

Folie 16

Die „Vorwärts immer“-These:

Der Blick von Bibliotheken, gerade bei strategischen Entscheidungen, scheint in die Zukunft gerichtet zu sein

–> wirkliche Veränderung und Konstanz ist so nicht mehr feststellbar

–> Es entsteht die Annahme, dass sich ständig etwas verändern würde und / oder man selber etwas ändern müsste, sonst würde man untergehen

–> Diese Angst ist Antriebskraft (Aber ist das gut? Übersieht man dann nicht wirkliche Veränderungen?)

 

Es gibt eine andere Form dieser These, eine für weniger polemische Tage. Schauen wir einmal in die zeitgenössische bibliothekarische Diskussion, realistisch, fällt schnell auf, dass sich heute Bibliotheken immer wieder nach vorne, in die Zukunft hin, orientieren. Das haben wir ja hier auf dieser Tagung direkt vor Augen gehabt. Immer wieder ging es darum, was Bibliotheken in Zukunft machen werden, wie sie sich entwickeln werden, wie sie auf Herausforderungen reagieren werden. Fast immer verbunden mit der Überzeugung, dass Bibliotheken das schaffen werden. Und das spricht für Bibliotheken. Egal, wie sehr sie selber manchmal Angst davor zu haben scheinen, von Entwicklungen überrollt zu werden, sind sie heute sehr agil und veränderungsbereit.

Aber: Das hat offenbar seinen Preis. Der ständige Blick nach vorne scheint mir ein Grund zu sein, dass es zu Wiederholungen von Vorhersagen, Annahmen und Projekten kommt. Wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, nach vorne zu schauen und sich zu fragen, wie man sich verändern muss und kann, ist man vielleicht nicht mehr in der Lage, die Konstanz in der eigenen Arbeit und dem bibliothekarischen Diskurs festzustellen. Man fragt nicht danach, was schon war und überwunden ist, man schaut nicht wirklich, ob Dinge funktionieren und warum, sondern man hantiert mit der These, dass man immer nicht gut genug ist und sich jetzt, sofort, auf der Stelle weiterentwickeln muss. Wenn die Vergangenheit überhaupt angeschaut wird, dann entweder als überwunden oder als Basis zur Weiterentwicklung – und vor allem, immer sehr einge Begriffe und Punkte reduziert.

Mein Argument hier ist nicht, dass es per se falsch wäre, sich zu verändern. Mein Argument ist, dass mit einem solchen, unhinterfragten Blick, sich eine Art Tunnelblick einstellt, der gar nicht mehr wirklich in der Lage ist, die eigene Vergangenheit zu befragen oder auch nur die Gegenwart danach, warum sie so ist, wie sie ist. Dieser Blick ist vielleicht notwendig, um sich zu entwickeln. Das weiss ich nicht. Aber er stellt eine radikale Verengung der Fragemöglichkeiten und damit auch Lerngelegenheiten dar. Ein Beispiel dafür scheinen mir die Vorstellungen rund um die Notwendigkeit von „Informationskompetenz“ darzustellen. Der Blick nach vorne scheint die Bibliotheken dahin geführt zu haben, in diesem Feld aktiv zu werden – und wir wissen alle, mit welchem Elan dies geschehen ist –, aber offenbar ohne sich zu fragen, ob das so eingängige Argument, das Internet würde bedingen, dass neue Kompetenzen gelernt werden müssten, wirklich ein Neues ist oder ob es nicht eine Wiederholung darstellt. Das hätte, um konkret zu werden, zum Beispiel dazu führen können, dass man viel früher hätte merken können, dass selbstverständlich die Schulen sich für solche „Kompetenzvermittlungen“ zuständig fühlen würden – wie sie es auch in den 1970ern getan haben. Stattdessen hat man neben den Schulen Angebote entworfen, die manchmal positive Ergebnisse hatten und manchmal auch nicht.

 

Folie 17

Die „Postmoderne“-These:

Eventuell sind wir einfach in einer Zeit angekommen, „in der alles geht“ und es ist egal

  • Aber warum dann immer die gleichen / ähnlichen Ideen?
  • Warum keine Referenz auf die eigene Geschichte, sondern auf Behauptungen über Entwicklungen (die Postmoderne wäre mehr „Hipster“ und würde Geschichte ironisch nutzen)

 

Zwei weitere Thesen noch. Die eine drängt sich oft auf, wenn all die Beispiele von Wiederholungen und die immer wieder vorgebrachten Argumente im bibliothekarischen Diskurs zu viel werden. Es gibt diese Behauptung, dass wir in der Postmoderne leben und in der Postmoderne alles irgendwie geht und deshalb irgendwie auch egal wäre. Das sind zwei Behauptungen, gerade die letzte stimmt eigentlich nicht, denn die Postmoderne – für die gerade der oder die „Hipster“ mit ihrer ironisch-kritisch-affirmativen Haltung prototypisch ist –, ist nicht beliebig, sondern zitiert sehr aktiv und auf der Basis eines Wissens um Geschichte (wenn auch manchmal der Geschichte komischer Themen wie popkultureller Phänomene) und eines recht von sich selbst bewussten Weltbildes, um daraus eine Identität zu prägen. Auch wenn sich an manchen Tagen die These aufdrängt, die Wiederholungen in den bibliothekarischen Diskursen seine einfach „postmodern“, scheint mir das die eine These zu sein, die man einfach zurückweisen kann. Eine „es ist doch heute egal, weil alles geht“ kann nicht erklären, warum diese Wiederholungen scheinbar in den 1970er Jahren einen Bruchpunkt haben und auch nicht, warum die heutigen Wiederholungen praktisch ohne einen Rückgriff auf die Geschichte der Bibliotheken daherkommen.

 

Folie 18

Die These von den ungelösten Problemen:

Eventuell haben sich Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten „nur“ mit anderen Fragen (z.B. Computerisierung) auseinandergesetzt und alte Fragen „beiseitegeschoben“. Nachdem Fragen der Computerisierung u.a. einigermassen geklärt sind, tauchen die alten Fragen und Thesen wieder auf, weil sie ungeklärt sind.

 

Eine letzte These und ehrlich gesagt die unspannendste. Aber vielleicht ist sie ja gerade deshalb richtig, weil sie so unspannend und irgendwie einfach ist. Auch diese These hat mit dem Projekt in St. Gallen zu tun, dass ich vorhin kurz erwähnte. Im Rahmen dieses Projektes haben ich Weiterbildungen, die in den letzten Jahrzehnten für Bibliotheken im Kanton angeboten wurden, durchgeschaut. Die Unterlagen der Kommissionen, welche diese Weiterbildungen organisierten und nachher die der Kantonsbibliothek, wo die eine Kommission angesiedelt wurde, sind recht vollständig erhalten. Was mir dabei auffiel war, dass sich die Weiterbildungen in den 1970er und frühen 1980er Jahren recht modern lesen. Der Fokus lag auf der Leseförderung, der Zusammenarbeit von Schule und Bibliothek, der Einführung von neuen Medien und so weiter. Zumindest eine Zeit lang scheinen diese Weiterbildungen gut funktioniert zu haben. Zumindest wurden sie immer wieder neu aufgelegt. Und dann, nicht sofort, aber doch stetig im Laufe der 1980er Jahre, ändert sich das. Die einst ausgebuchten Weiterbildungen hören auf, dafür gibt es neue Kurse zu neuen Themen, namentlich die Einführung von EDV in den Bibliotheken. Das ist dann auf einmal über Jahre hinweg das grosse Thema. So als ob sich in den 1980er Jahren in sanktgallischen Bibliotheken niemand mehr für das Lesen, aber alle für die Computer interessieren würde. In den 1990ern scheint noch die strategische Planung hinzuzutreten. Aber jetzt, nach 2000, tauchen Themen aus den 1970er Jahren wieder auf.

Ein Grund dafür könnte sein, dass einfach die Probleme mit der Einführung der EDV gelöst sind. In jeder Bibliothek stehen Computer, das Internet ist etabliert. Das ist kein Problem mehr. Das haben Sie ja auch auf dieser Tagung gesehen. Es wurde die Performance von Bibliothekssystemen verglichen und über die Präsentation von Lernplattformen in Öffentlichen Bibliotheken berichtet, aber niemand hat mehr darüber diskutiert, was die Einführung von Computern in Bibliotheken so verändern wird. Sie müssen auch heute eigentlich keiner Bibliothek mehr sagen, dass sie sich entwickeln soll und das sie das besser strategisch tut. Auch das ist gesetzt.

Vielleicht waren diese Probleme einfach wichtiger oder schwieriger und jetzt, nachdem sie gelöst sind, tauchen Fragen wieder auf, die gar nicht gelöst, sondern von anderen Fragen zur Seite gedrängt wurden. Beispiel Schulbibliotheken: Vielleicht hat man in den 1970ern gar nicht geklärt, was eine gute oder moderne Schulbibliothek ist, sondern hat das Thema praktisch zur Seite gelegt, weil erst einmal andere Fragen geklärt werden mussten. Und jetzt taucht es wieder auf, wo sich zeigt, dass die bibliothekarischen Vorstellungen die Schulen kaum überzeugen.

Falls diese These von den „ungelösten Problemen“ stimmt, wäre es sinnvoll zu schauen, was in den 1970ern alles diskutiert wurde. Hierfür ein Beispiel: In den 1970ern und frühen 1980ern wurde über „Soziale Bibliotheksarbeit“ diskutiert, ein Thema waren Bringdienste Öffentlicher Bibliotheken für hausgebundene Menschen. Die Diskussion hörte dann Anfang der 1980er Jahre auf. Eine Redaktionskollegin aus der LIBREAS hat in den frühen 2000ern zur Sozialen Bibliotheksarbeit ihre Abschlussarbeit geschrieben (Schulz 2009), zwei weitere haben ein Buch zu Sozialer Bibliotheksarbeit herausgegeben (Kaden / Kindling 2007), in welchen das Thema mit erwähnt wird. Aber mir scheint, das war es dann auch schon mit der bibliothekarischen Literatur in den letzten Jahren. Es scheint einfach so, als wären die Bringedienste „tot“. Dabei ist diese Frage nie vollständig geklärt worden: Sollten die Bibliotheken solche Angebote machen und wenn ja, wie sollten die aussehen? Jetzt habe ich eine Bachelorarbeit betreuen dürfen, die sich angeschaut hat, ob es überhaupt solche Bringdienste in Deutschland gibt und diese Arbeit konnte mit einer Internetrecherche – also noch nicht mal mit tiefgehenden Nachfragen nach nicht so einfach sichtbaren Angeboten, sondern „nur“ nach solchen, die öffentlich sichtbar sind –, über 100 solcher Dienste nachweisen, die aktuell betrieben werden. Davon wurde eine Anzahl seit den 1970er oder 1980er Jahren kontinuierlich weitergeführt, aber viele wurden auch erst in den letzten Jahren begründet. Offenbar ist das Thema gar nicht gelöst und fertig, sondern taucht wieder in der bibliothekarischen Praxis auf, obwohl es in der bibliothekarischen Literatur aktuell nicht vorkommt. Ich denke, dass ist zumindest ein Hinweis darauf, dass die These von den „ungelösten“ oder „aufgeschobenen“ Problemen stimmen könnte.

 

Folie 19

FAZIT (I)

  • Neue These: Niemand drängt Bibliotheken wirklich, sie drängen auch wenig. Vielmehr deuten sie bestimmte Entwicklungen als „Antreiben“ oder Gefahr, aber das ist ihre Interpretation.
  • Bibliotheken interpretieren immer wieder die gleichen / ähnlichen Gefahren / Innovationsgründe / gesellschaftlichen Entwicklungen und finden darauf immer wieder ähnliche Antworten (zumeist, ohne „die alten Antworten“ zu kennen)
  • Der Eindruck, gedrängt zu werden, kommt auch daher, dass man nicht fragt, was sich eigentlich wirklich verändert und wie die Bibliotheken wirklich sind –> eher eine Rhetorik von „wir müssen uns verändern, sonst gehen wir unter“, die offenbar überzeugt, aber nicht unbedingt den Fakten entspricht

 

Lassen Sie mich noch ein Fazit ziehen, ein vorläufiges. Ich habe mehrfach gesagt und betone das gerne nochmal, dass dies hier ein Diskussionsangebot ist; dass ich Ihnen zeigen wollte, was mir aufgefallen ist, und gerade nicht sagen, wie die Welt funktioniert. Ich würde mich freuen, wenn das klar geworden ist. Gerne würde ich wissen, ob es dieses Phänomen der ständigen Wiederholungen in der bibliothekarischen Debatte, vor allem mit dem Bruch in den 1970ern, wirklich gibt oder ob das überinterpretiere (oder vielleicht einen viel wichtigeren Bruch übersehen habe). Mir scheint das alles überzeugend, aber vielleicht bin ich der Einzige. Falls nicht, würde ich auch gerne darüber diskutieren, warum das so ist. Wie gesagt, einige grosse Vorschläge fallen mir sehr schnell ein, wenn ich über Geschichte und deren Strukturen nachdenke, aber passen die und wenn ja, wie? Vor allem, was heisst es dann für die bibliothekarischen Debatten? (Und habe ich vielleicht eine bessere Erklärung übersehen?) Wie Sie gewiss auch gemerkt haben, sind die anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die es in den 1970er Jahren gab, in meinem Vortrag nicht vorgekommen. Ich habe kurz auf sie verwiesen, als Kontext, aber die Frage, ob vielleicht dieses Phänomen gar kein rein bibliothekarisches ist, sondern für andere Diskurse auch festgestellt werden kann, habe ich gar nicht gestellt, weil die Zeit begrenzt ist. Selbstverständlich sollte sie aber gestellt werden. Sie sehen, ich sehe grosses Diskussionspotential.

Aber zum Fazit. Der erste Teil des Fazits bezieht sich auf das Motto der Tagung: „Treiben wir oder werden wir getrieben?“ Ich hoffen, es ist ersichtlich geworden, warum ich zu der These neige, dass die Bibliotheken weder getrieben werden noch selber treiben, sondern dass sie sich vielmehr immer wieder neu vorstellen, angetrieben zu werden. Bestimmte Entwicklungen werden als „Antreiben“ oder als Gefahr interpretiert, aber das ist eine Interpretation – eine, die Bibliotheken dazu bringt, sich Gedanken über Veränderungen zu machen, aber doch eine Interpretation, die von Bibliotheken vorgenommen wird. Bibliotheken antworten auch immer wieder auf ähnliche Weisen auf diese wahrgenommen „Gefahren“, ohne zu reflektieren, dass diese Antworten schon mal gegeben wurden und dass ähnliche „Gefahren“ schon durchgestanden wurden.

Es überzeugt, aber stimmt nicht immer. Ich denke, Bibliotheken könnten als Gesamtsystem ruhiger und vor allem weniger kurzfristig reagieren, wenn sie das wahrnehmen würden. Dazu bedarf es selbstverständlich, nicht nur nach vorne zu schauen oder nur auf die vorliegenden „Probleme“, sondern sich Zeit zu lassen, schon um ganz banal auch mal ältere Texte zu lesen. Hat dafür jemand Zeit? Weiss ich nicht. Sollten wir uns dafür Zeit nehmen? Das denke ich schon. Wäre es eine Aufgabe der Bibliothekswissenschaft, diese Aufklärung der Bibliotheken über sich selber und ihren eigenen Diskurs zu betreiben? Gewiss, aber das müsste als Aufgabe gefasst und organisiert – heute auch finanziert – werden.

 

Folie 20

FAZIT (II)

  • Um das Bibliothekswesen zu entwickeln, benötigt es Kenntnisse über die Geschichte der Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten (nicht einfach Annahmen darüber, wie die Bibliothek „früher war“)
  • Die hier vorgetragenen Thesen benötigen weiterer Überprüfungen.
  • Insgesamt braucht es für eine Entwicklung von Bibliotheken mehr Ruhe. „Untergangsszenarien“ und „das ist modern, alles andere ist alt“-Behauptungen weniger ernstnehmen, dafür einen etwas weiteren Blick entwickeln, kann gut helfen.
  • Irgendwas ändert sich immer. Das alleine ist noch kein Grund für irgendwas; es bedürfte immer einer weitergehenden Begründung, warum es wirklich etwas verändert.

 

Zweiter Teil des Fazits. Etwas, was sehr einfach gemacht werden könnte, wäre im bibliothekarischen Diskurs zu akzeptieren, dass es eines Wissens darüber bedarf, wie sich die Bibliotheken in den letzten Jahren wirklich entwickelt, was sie wirklich diskutiert und ausprobiert haben. Wenn wir das nicht wissen, sollten wir nicht versuchen, das mit Bildern von „alten“ oder „unmodernen“ Bibliotheken, die es früher einmal angeblich gegeben hätte, auszufüllen. Diese Bilder stimmen meist nicht. Die Behauptung, eine Bibliothek sei früher schlecht gewesen und würde jetzt erst richtig entwickelt – was, wie gesagt, auch schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder neu behauptet wird –, ist meistens für das Ziel, dass man erreichen will oder für das Argument nicht nötig. Will man zum Beispiel begründen, warum die Bibliothek einen Makerspace haben soll, kann man das auch, ohne zu behaupten, die Bibliothek hätte zuvor nichts in Richtung Aufbau von Communities oder so gemacht. Man kann auch einfach sagen, man hätte gerne einen Makerspace. Oder man kann auch gut und gerne sagen, man würde lieber elektronische Medien anbieten, ohne zu unterstellen, die Bibliotheken hätten sich bislang nie Gedanken dazu gemacht, welche Medienformen sie anbieten sollten.

Grundsätzlich wäre es bestimmt gut, in den bibliothekarischen Debatten mehr Ruhe zu bewahren. Die Bibliotheken werden nicht untergehen, das wurde schon so oft behauptet, ohne das ein eintrat. Die Bibliotheken werden nicht „unmodern“ werden, auch das sind einfach eine sehr alte, beständig wiederholte Behauptungen. Vor allem sollte man sich aber mehr Zeit nehmen, die Vorstellungen über die notwendigen Entwicklungen besser zu begründen und zu verstehen, vielleicht auch zu revidieren, bevor man anfängt, aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Mir scheint aber, dass wir in einer Zeit leben, in der es manchmal schon ausreicht zu behaupten, irgendetwas verändert sich, zum Beispiel in der Medienwelt, deswegen müssten die Bibliotheken das und das tun. Möglichst sofort. Aber das ist, dass sollte klar geworden sein, oft nicht wahr. (Und auch hier ist das Argument nicht, dass man nicht auf Veränderungen schauen und Dinge ausprobieren sollte. Das Argument ist, dass die Behauptung oder Feststellung, etwas sei neu oder hätte Potential, irgendetwas anders zu machen, als bislang, noch keine Begründung dafür ist, warum es Bibliotheken und deren Umfeld verändern wird, vor allem so, dass Bibliotheken darauf reagieren müssen. Der Begründungszusammenhang sollte viel genauer und komplexer sein, dass ist es auch viel besser möglich, über ihn zu diskutieren und tatsächliche Veränderungen von fehlgeleiteten Vorstellungen, übergrossen Versprechen oder einfach auch Hypes und Missverständnissen zu trennen.)

Irgendwas verändert sich immer, aber am Ende nie so, dass es nicht ein paar Jahrzehnte wieder neu auftauchen könnte. Man muss schon verstehen, was sich wirklich ändert und ob es überhaupt einen Einfluss auf Bibliotheken haben wird. Mir scheint, gerade bei Aussagen über die Zukunft von Bibliotheken sollte das Denken komplexer werden.

Ich danke Ihnen.

 

Folie 21

Literatur, Primär

  • Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen (Empfehlungen der Bildungskommission). Stuttgart, 1970
  • Doderer, Klaus et al. (1970): Die moderne Schulbibliothek: Bestandsaufnahme und Modell (Schriften zur Buchmarkt-Forschung, 19). Hamburg, 1970
  • Fischer, Bodo (1973): Profil der Benutzer öffentlicher Bibliotheken : eine Analyse von Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und sozialen Determinanten der Bibliotheksbenutzer : quantitative Vorstudie (AfB-Materialien, 3). Berlin, 1973
  • Fischer, Bodo (1978): Die Benutzer öffentlicher Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland : Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung (AfB-Materialien, 21). Berlin, 1978
  • Glaser, Hermann (1976): Vorwort. In: Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Bibliothek in einer menschlichen Stadt. Materialien zu einer aktuellen Diskussion. Bonn, 1976, 6-7
  • Heidtmann, Frank (1971): Materialien zur Benutzerforschung : aus einer Pilotstudie ausgewählter Benutzer der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin (Bibliothekspraxis, 3). München-Pullach, 1971

 

Literatur, Sekundär

  • Foucault, Michel (2001). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 184). Frankfurt am Main, 2001 [1975]
  • Kaden, Ben ; Kindling, Maxi (Hrsg.) (2007). Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. Berlin, 20007
  • Klein, Naomi (2007). The shock doctrine: the rise of disaster capitalism. New York, 2007
  • Marx, Karl (1965). Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Sammlung Insel, 9). Leipzig, 1965 [1852]
  • Müller, Sonja (2014): Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, 88). Frankfurt am Main, 2014
  • Nietzsche, Friedrich (1994). Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. Stuttgart, 1994 [1886]
  • Schulz, Manuela (2009). Soziale Bibliotheksarbeit: „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit in öffentlichen Bibliotheken. Berlin, 2009
  • Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken (Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst, 3). Bern, 1973
  • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (2014). Richtlinien für Schulbibliotheken (3. Auflage). Aarau, 2014, http://www.sabclp.ch/images/Richtlinien_Schulbibliotheken_2014.pdf

Was ist das Ziel und die Praxis von Leseförderung in Bibliotheken?

Was genau ist eigentlich gemeint, wenn (Öffentliche) Bibliotheken von Leseförderung reden? Grundsätzlich werden Bibliotheken in der Öffentlichkeit (und im Bibliothekswesen selber) zumindest in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit dem verbunden, was in Bibliotheken als „Leseförderung“ durchgeführt wird. Das scheint mir, zumindest aktuell, ausser Frage zu stehen, auch wenn andere Themen hiper sind. Nur frage ich mich seit einiger Zeit (wieder), was genau da eigentlich passiert.

Es ist ja so, dass sich in jeder Öffentlichen Bibliothek im deutschsprachigen Raum, wenn sie nur gross genug ist, Angebote zu diesem Bereich finden, mal implizit, mal sehr explizit mit eigenen Stellen, Veranstaltungen etc. Angesichts dieser weiten Verbreitung scheint mir erstaunlich wenig darüber gesprochen zu werden. Es gibt aus den letzten Jahren einige Buchpublikationen mit Vorschlägen dazu, wie Leseförderung gestaltet werden kann. (Z.B. Keller-Loibl 2012; Keller-Loibl & Brandt 2015) In diesen finden sich zahlreiche Vorschläge für Veranstaltungen, die zum Teil aus Bibliotheken, zum Teil aus der Forschung in Fachhochschulen stammen. (Mir ist, ehrlich gesagt, nicht immer klar, wieso es dann gerade diese Beispiele es „in die Bücher geschafft“ haben und andere nicht – aber das ist eine andere Frage.) Gleichzeitig scheint es einen unaufhörlichen Strom an Artikeln dazu zu geben, gerne illustriert mit Kindern, die glücklich in der Bibliothek Bücher lesen. Wie gesagt: Das es dazu gehört, scheint ausgemacht. Aber mir scheint, dass einiges fehlt. Zum einen Beschreibungen, die in die Tiefe gehen:

  • Wieso werden bestimmte Dinge gemacht und wieso bestimmte Dinge nicht?

  • Wie werden die Bücher und anderen Medien ausgesucht, die zur Leseförderung benutzt werden, welche Kriterien werden vom wem angelegt?

  • Wie entsteht das „lokale Wissen“, dass sich immer wieder findet, wenn man in den Bibliotheken nachfragt (also zum Beispiel: Wieso wissen – zumindest so gut, dass es funktioniert – die Kolleginnen und Kollegen, welche Medien „funktionieren“ und welche nicht?)?

  • Finden Veränderungen statt, welche und wieso?

  • Was sind die Effekte der Leseförderung?

  • Lesen die Kinder und Jugendlichen mehr?

  • Lesen sie etwas anderes?

  • Bestätigen sich Bibliotheken durch diese Leseförderung selber in ihrer Identität als Bibliothek?

Solche Fragen werden meist gar nicht oder aber nur im Vorbeigehen behandelt. Es scheint viel Praxis, aber kaum Austausch über diese Praxis (sowohl was die Praxis eigentlich genau ist als auch was das Ziel dieser Praxis ist oder sein sollte) – eine Theoretisierung, die die Praxis irgendwie erklärbar macht, scheint es gar nicht erst zu geben. Das ist irgendwie erstaunlich. (Aber vielleicht muss es so sein, damit die Autonomie der einzelnen Bibliotheken erhalten bleibt? Wer weiss?) Das irritiert mich auch, weil ich bei meiner kleinen Sammlung alter Bücher zum Bibliothekswesen zum Beispiel einen Schrift von 1923 habe, „Vorlesestunden“ von Erwin Ackerknecht (Ackerknecht 1923), die das genau anders macht. Da gibt es erst eine Einleitung, die sagt, wozu diese „Vorlesestunden“ – also Leseförderveranstaltungen, bei denen der Volksbibliothekar oder die Volksbibliothekarin den Kindern und Jugendlichen vorliest – da sein sollen, wie sie methodisch aufbereit sein sollen, es wird Position bezogen zu den Möglichkeiten dieser Vorlesestunden (Ackerknecht war Vertreter der „Stettiner Richtung“ im Richtungsstreit, er arbeitet auch direkt in Stettin), dann werden praktisch Fragen angesprochen (wie organisieren, welcher Raum, Gebühren oder nicht, etc.) und dann folgt eine lange Liste von Büchern, die sich für Vorlesestunden eignen würden, inklusive geschätzten Vorlesezeiten und Hinweisen dazu, wozu der jeweilige Texte gut wäre. Selbstverständlich folgt Ackerknecht anderen gesellschaftlichspolitischen Zielen, als es heute der Fall wäre. Die Schrift ist die einzige, die ich gerade greifbar habe. Sie ist aber Teil zahlreicher ähnlicher Schriften, die Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen sind und sich auch aufeinander bezogen. Mir scheint, dass es auch heute einfacher ist, die damalige Praxis in den Bibliotheken zu beschreiben oder zumindest zu erahnen sowie zu beschreiben, was die Diskussionspunkte waren, als es heute möglich wäre, die Praxis der Leseförderung in den Bibliotheken zu beschreiben.

Erste Irritation: Welches Lesen? Wozu?

Zwei Dinge haben mich in der letzten Zeit auf dieses Thema gebracht. Der erste Grund ist eine Studie, die wir in Chur gemacht haben und bei der wir die Volksschulbibliotheken im Kanton St. Gallen über deren Arbeit befragt haben. Das war alles sehr interessant und ich freue mich schon darauf, wenn wir den Bericht zu der Studie veröffentlichen können – gerade, weil die Ergebnisse sehr überraschend waren. Das wird aber noch etwas dauern. Was man schon sagen kann ist, dass die Volksschulbibliotheken in St. Gallen zumeist gar nicht von Bibliothekarinnen oder Bibliothekaren geführt werden, sondern von Lehrpersonen aus den Schulen selber. Insoweit sind sie nicht prototypisch für Öffentliche Bibliotheken. Aber bei den Interviews in den Schulen fiel mir etwas auf, was mir auch bei Gesprächen und Berichten aus Öffentlichen Bibliotheken oft auffällt: Einerseits wird die ganze Zeit davon geredet, dass es die Aufgabe der Bibliothek wäre, das Lesen der Kinder und Jugendlichen zu fördern, andererseits wird nicht darüber gesprochen, wie genau das geschehen soll. In St. Gallen ging es vor allem darum, den Zugang zu Büchern zu ermöglichen, in Öffentlichen Bibliotheken geht es auch um andere Medien. Aber wie genau geht das vonstatten? Das war kein richtiges Thema in den Interviews unserer Studie, das ist auch selten Thema in bibliothekarischen Texten. Etwas polemisch ausgedrückt erscheint es oft so, dass „viele Medien == Leseförderung“ gedacht wird. In der Praxis wird das nicht so einfach sein, da beispielsweise immer wieder Gespräche mit Kindern und Jugendlichen geführt und auch Veranstaltungen durchgeführt werden. Aber das wird nie so richtig kommuniziert. Irgendwie scheint es immer so, als ob einfach Medien mit Kindern und Jugendlichen zusammengebracht werden müssten – und dann ist es Leseföderung.

So einfach kann das einfach nicht sein und ich wundere mich in letzter Zeit immer wieder mal darüber, warum nicht diskutiert wird, welche Medien genau (die wie ausgesucht werden), wie angeboten, genutzt etc. werden. Vor allem, wenn man es ein wenig historisch ansieht, wird es noch verwirrender. Volksbibliotheken hatten eine grosse Zeit, als sie sich Ende der 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts „gegen Schund“ engagierten (neben den Lehrerinnen und Lehrern). (Maase 2012) Damals „wussten“ sie sehr klar, was die richtige Literatur war und es gab zumindest Darstellungen dazu, wozu Literatur (für Kinder und Jugendliche) wie vermittelt werden sollte. (Selbst, wenn es nicht direkt als „gegen Schund“ bezeichnet wurde, wie halt bei Ackerknecht 1923.) Es war am Ende doch nicht so einfach und klar, weil ständig darüber diskutiert werden musste, welche Literatur überhaupt „Schund“ sei (Masse 2012) und weil alle möglichen Anstrengungen regelmässig auch scheiterten. Aber es gab zumindest ein klares Ziel. Allerdings hat sich dieser „Schund-Kampf“ lange überholt. Die Diskussionen um Kinder- und Jugendliteratur haben sich verändert. Erst ging es in den 1950er und 1960er dahin, dass über „das gute Jugendbuch“ nachgedacht wurde, das Kinder und Jugendliche fördern sollte – und nicht andere Literatur bekämpfen. (Müller 2014) Auch damals scheint eher klar gewesen zu sein, was Bibliotheken tun sollten. Dann, in den 1970ern, ging es darum, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Kinder- und Jugendliteratur widerzuspiegeln und Kritikfähigkeit zu fördern, in den 1980er zeigte sich dann, dass Kinder und Jugendliche (deren Leseinteressen mit der Zeit immer mehr ernst genommen wurden) auch mit der Literatur nicht unbedingt viel anfangen konnten, sondern beispielsweise die Phantastische Literatur ein Hoch erlebte (kjl&m 2015). Und dann? Es gibt weiterhin Kinder- und Jugendliteratur, aber aus der ergibt sich spätestens seit den 1980ern keine direkte „Aufgabe“ für die Bibliotheken (kein Schund ist zu bekämpfen, keine Kritik zu fördern etc.). Das ist per se nicht schlecht, immerhin scheinen die Interessen der Kinder und Jugendlichen heute im Fokus zu stehen. Aber nach alle den Jahrzehnten, wo in der bibliothekarischen Literatur dargelegt wurde, was Leseförderung erreichen soll, scheint mir das heutige nicht-darüber-Reden erstaunlich.

Mir ist schon klar, dass es Versatzstücke von Diskursen gibt, die im Bezug auf Lesen in den letzten Jahren immer wieder reproduziert werden. Beispielsweise der Verweis darauf, dass „seit PISA“ klar wäre, dass Lesen eine Kulturtechnik sei, die eine steigende Bedeutung hätte – und deshalb die Leseförderung wichtig sei. Aber solche Aussagen scheinen mir alles nur noch verwirrender zu machen. Erstens will ich bei solchen Aussagen oft den Personen, die das sagen / schreiben eine Ausgabe der PISA-Studien schicken, damit sie die mal selber lesen können. Es steht da nämlich die gleiche Behauptung, als Behauptung, drin: Lesen sei wichtig. Aber es gibt keinen Nachweis oder so, das Lesen wirklich wichtig wäre – dass können die Studien gar nicht, weil sie nicht so angelegt sind. Doch selbst, wenn man die Studien (und all die Programme, die sich daran anlehnen) ernst nimmt, scheint mir etwas Wichtiges nicht zu stimmen: Lesen wird in den PISA-Studien als Kompetenz verstanden, die funktionell sein soll. Lesen ist Sinn-entnehmendes Lesen. Die Schülerinnen und Schüler werden darauf getestet, ob sie in der Lage sind, aus einem Text Informationen zu entnehmen und diese auf die Lösung von Aufgaben (und, so die Hoffnung, dem Alltag) zu übertragen. Und das ist doch gar nicht das, worum es bei der Leseförderung in Bibliotheken geht. Oder? Wenn es in Bibliotheken darum geht, Zugang zu Medien zu schaffen und vielleicht noch die Kinder und Jugendlichen zum Lesen zu motivieren, dann fördert das doch nicht das Sinn-entnehmende Lesen. Oder sehe ich das falsch? Wie gesagt: Ich frage mich ja, was eigentlich in den Bibliotheken konkret passiert, insoweit weiss ich es nicht. Ich würde aber erwarten, dass man sich Pläne macht, welche Literatur und welche Form der Arbeit mit Texten zu einem besser „Informationen entnehmen“ führen würde, wenn es wirklich darum ginge, diese Form von Lesen zu fördern. Und wenn Bibliotheken das nicht tun, sollten sie dann nicht (a) aufhören, PISA und ähnliche Studien als Begründung anzuführen und (b) beginnen, darüber zu reden, was sie eigentlich bei der Literatur fördern wollen?

Ich hatte bei den Interviews in St. Gallen – wie gesagt, eher mit Lehrpersonen, aber solchen, die Bibliotheken führen – den Eindruck, dass diese pädagogische Frage keine Rolle spielt. Es ging offenbar darum, dass viel Gelesen wird. Bücher wurden danach ausgewählt, ob die Kinder und Jugendlichen sie gerne lesen wollen – nicht unbedingt, zumindest explizit gemacht, weil sie irgendein näher bestimmtes pädagogisches Ziel fördern würden. Und das waren Lehrpersonen, also Menschen, die es von ihrer Ausbildung her gewohnt sind, pädagogische Ziele zu setzen und didaktische Mittel zu wählen, um diese zu erreichen. Wie ist es dann in Bibliotheken?

Wie gesagt: Es gab Zeiten, da war das klarer. Ich will gar nicht, dass diese Zeiten wiederkommen. Wir sind als Gesellschaft weitergekommen und offener geworden, das wird leider schon immer wieder zurückgedreht und Bibliotheken müssen diesen Backlash nicht auch noch aktiv mitmachen. Aber es irritiert mich schon, dass auf einmal das Ziel der Leseförderung nicht mehr klar zu sein scheint. Wie kann man Fördern, wenn man nicht klar bestimmt hat, was man Fördern will? (Und ich habe auch nichts dagegen, wenn Kinder und Jugendliche viel lesen.)

Zweite Irritation: Forschung zum Lesen. Was kommt davon eigentlich in den Bibliotheken an?

Der zweite Grund, der mich zu solchen Überlegungen gebracht hat, ist sehr einfach, dass ich in der letzten Zeit einige Arbeiten zur Leseförderung und Studien zur Leseforschung gelesen habe. Das eher unsystematisch, also vor allem das, was interessant klang. (Wobei ich zugeben muss: Publikationen der Stiftung Lesen, die im deutschen Bibliothekswesen ja einen guten Ruf hat, finde ich selten interessant genug, um sie einfach so zu lesen. Das ist eher nervige Arbeit.) Bei zweien habe ich sehr gestockt, aber eigentlich wiederholten sich meine Irritationen.

Fragwürdiges Kinderbuch (Kruse & Sabisch 2013) ist eine Sammlung von Studien zur Rezeption und Nutzung von Kinderbüchern. Die Auswahl scheint sehr beliebig, aber gerade das hat auch etwas gezeigt: Die Forschung zu Kinderbüchern kommt aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen. Grundsätzlich: Kinder bilden sich sehr wohl differenzierte Meinungen zu Kinderbüchern und verarbeiten die Geschichten in ihnen. Diese Rezeption wird durch verschiedene Faktoren unterstützt. Was auch mehrfach gezeigt wurde: Diese Rezeption ist anders, als sich das Lehrkräfte, die mit Kinderbüchern arbeiten, vorstellen. Beispielsweise gibt es unter Lehrkräften die Meinung, dass bestimmte Bilderbücher sich nicht für die Arbeit mit Kindern eignen würden, weil sie zu viel der Geschichte offen lassen. Die Lehrkräfte haben das Gefühl, bei den offenen Teilen der Geschichte zu viel erklären zu müssen, weil dies für Kinder (noch) zu schwierig sei. Hingegen zeigten Kinder bei diesen Büchern eine grosse Rezeptionsfähigkeit und konnten mit den offenen Teilen der Geschichten gut umgehen. Das hat ihren Spass nicht eingeschränkt. Ich habe das gelesen und dachte dabei an all die Öffentlichen Bibliotheken (und Schulbibliotheken), die Kinderbuchkinos und ähnliches durchführen. Ist das da anders? Wissen die mehr? Nutzen die Bilder- und Kinderbücher anders? Ein paar Mal habe ich in Bibliotheken gehört, dass man mit der Zeit schon wüsste, was bei Kindern ankommen würde und es vor allem darum ginge, gerne mit Kinder zu arbeiten, wenn man solche Veranstaltungen macht. Und sicher: Gerne mit Kindern arbeiten wollen ist unbedingt wichtig. Aber die in den Studien untersuchten Lehrkräften sind ja auch Menschen, die gerne mit Kindern arbeiten, die ständig Kinder beobachten – das ist ja Teil ihrer Profession und Ausbildung – und so weiter. Das unterscheidet die nicht von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren. Nur, wenn die die Rezeptionsfähigkeit und die Lernerfolge von Kindern offenbar falsch einschätzen, wieso sollte das in Bibliotheken nicht genauso sein? An good will mangelt es ja wohl weder in Kindergarten / Schulen noch in Bibliotheken?

Und wieder musste ich mir sagen, dass ich es einfach nicht weiss. Wie suchen die Kolleginnen und Kollegen in den Bibliotheken die Bilderbücher aus, die sie für Bilderbuch-Kinos und ähnliche Veranstaltungen nutzen? Für welchen Zweck? Mit welchem Erfolg? Was genau machen die damit und mit welchem Erfolg? Was halten eigentlich die Kinder davon? Ich konnte Anfang des letzten Jahres auf dem bibliothekspädagogischem Forum in Hamburg einen Workshop zu Kinderbüchern in der Bibliothek von Susanne Brandt besuchen. Am Ende des Workshops, der vor allem von Kolleginnen besucht wurde, die in Bibliotheken mit Kindern arbeiten, suchten sich die Anwesenden Bilderbücher aus (aus dem Bestand der Hamburger Bücherhallen, insoweit gab es schon eine Anzahl von Büchern zur Auswahl), die sie selber für die Verwendung in der Bibliothek nutzen oder vorschlagen würden. Nicht alle, aber viele der Bücher wurden vorgestellt und was auffiel war, dass die Begründungen, warum sie ausgewählt wurden, sehr oft die persönlicher Begeisterung der Kolleginnen war und in kleinerem Masse die Erfahrung, dass Kinder gut auf das jeweilige Buch ansprechen würde. Das sind bestimmt nicht die schlechtesten Begründungen, aber im Rückblick fällt mir jetzt auf, dass es zum Beispiel fast nie darum ging, ob die Kinder aus den Büchern etwas lernen könnten oder das sie mit einem Buch unterstützt würden, eine Kompetenz aufzubauen, etwas zu verarbeiten etc. Es gab nicht so richtig einen Grund für die Nutzung von Kinderbüchern, der besprochen wurde, sondern viel Begeisterung für Kinderbücher. Wie gesagt: Das ist schon okay und vielleicht besser, als Bücher nach rein inhaltlichen Gründen auszusuchen – aber irgendwie auch irritierend. Ist denn das alles, was interessiert? Will denn niemand darüber reden, wie die Kinder die Veranstaltungen in Bibliotheken mit Bilderbüchern wahrnehmen, was sie daraus machen und so weiter? Wenn man nur das eine erwähnte Buch von Kruse & Sabisch (2013) dagegen hält, ist doch zu vermuten, dass auch auf Seiten der Bibliothekarinnen (und Bibliothekaren, die es in diesem Workshop aber nicht gab) grosse Missverständnisse vorherrschen – so wie bei den Lehrpersonen. Und das die Fragen viel weiter greifen könnten und müssten als „welche Bilderbücher funktionieren für welche Veranstaltungsformen“. Oder?

Ähnliches ist mir passiert, als ich einige Untersuchungen aus der Pädagogik zu der Frage, welche Formen von Leseförderungen welche Effekte haben, gelesen habe. Beispielsweise steht im Standardwerk von Risebrock & Nix (2013) als Zusammenfassung des Forschungsstandes, dass Programme, die darauf abzielen, Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, möglichst viel zu lesen, aus medienpädagogischer Sicht falsch sind. Sie brächten nichts, sondern hätten eher zufällig Erfolge (was aber auch gilt, wenn Kinder und Jugendliche selber ohne Förderung lesen) und würden sich vor allem in die Behauptung flüchten, dass die Tendenz zum „Freizeitlesen“ aus eigenem Interesse steigen würde, wenn die Kinder und Jugendlichen nur oft genug dazu gebracht würden, zu lesen. Das ist etwas polemisch, aber, bezogen auf andere Studien zur Leseförderung auch nicht falsch: Kontinuität der Leseförderung alleine scheint nur kurzfristige Effekte zu haben, die meisten Effekte von Leseförderung in verschiedenen Formen sind eher gering – und wenn sie doch funktionieren, haben sie zumeist darüber nachgedacht, was Kinder und Jugendliche eigentlich mir Literatur machen.

Schaut man aber in die bibliothekarischen Texte zur Leseförderung, scheint es, dass sie meistens gerade darauf abzielen, Kinder und Jugendliche zum Viel-Lesen zu bringen. Sehr oft wird eine Sprache verwendet, die eigentlich ein wenig creepy ist, wenn davon gesprochen wird, Kinder und Jugendliche „zu kriegen“ oder „zu überraschen“ oder ähnliches – fast immer klingt es so, als wüssten die Kinder und Jugendlichen nicht, was gut für sie ist, und mit einigen Tricks müssten sie ausgetrickst werden, um doch zu tun, was gut ist. Und was gut ist, ist Lesen. Was Gelesen wird, scheint dann einigermassen egal (und, wie gesagt, dass ist historisch gesehen auch ein Fortschritt: Immerhin ist es egal und wird nicht kontrolliert.). Mich irritiert das. Lesen wozu? Was Lesen? Was bringt es den Kindern und Jugendlichen eigentlich wirklich? Sollte nicht die Rezeption und Nutzung der Literatur durch die Kinder und Jugendlichen (zu unterschiedlichen Zwecken, und wenn es die Identitätsfindung ist) im Mittelpunkt der Planung von Leseförderung stehen? Oder ist das der Preis, den die Bibliotheken historisch zu tragen haben: Die Kinder und Jugendlichen werden jetzt – im Gegensatz zu vor hundert Jahren, als sie potentiell alle ein Gefahr darstellten, besonders, wenn sie in Gruppen auftraten und aus proletarischen Familien stammten (Maase 2012) – als eigenständig entscheidende Personen akzeptiert, denen man nicht reinreden darf – aber dafür wird auch die konkrete Leseförderung beliebig? Und was ist mit der pädagogischen Forschung zur Leseförderung? Gilt die nicht für Bibliotheken? Ist die falsch? Wissen es Bibliotheken besser? Oder stimmt es gar nicht, dass es „nur“ ums Lesen an sich geht?

Wie gesagt: Es sind eher weiterführende Fragen, die sich mir stellen. Mir ist schon bewusst, dass es eine Anzahl von Vorschlägen für Veranstaltungen der Leseförderung in Bibliotheken gibt (und es ist auch einfach, grundsätzlich einige Leitsätze dafür vorzuschlagen. Wie ich beim Schreiben an diesem Post gemerkt habe, habe ich das vor fünfeinhalb Jahren in einem Post selber schon einmal getan – und wieder vergessen.), aber es ist mir nicht bekannt, ob die wirklich in der Praxis so sinnvoll sind, ob sie überhaupt beachtet werden und wenn ja wie. Aber dieses Vorschläge unterbreiten ist ja nur eine Möglichkeit, Forschung zu betreiben. Ich fände es gerade viel interessanter, zu fragen, wie die Leseförderung in Bibliotheken „wirklich“ ist und vor allem, warum und wie sie von denen wahrgenommen und rezipiert wird, bei denen sie wirken soll, also vor allem den Kindern und Jugendlichen. In der weiter oben schon genannten Studie zu Volksschulbibliotheken in St. Gallen sind wir davon ausgegangen, dass die Einrichtungen so, wie wir sie „vorfinden“ einen Sinn haben müssen, dass also aus der Struktur, Ausstattung, Aufgabe und so weiterer der Schulbibliotheken auch etwas gelesen werden kann. Hätten sie in der vorliegenden Form keinen Sinn, wären sie von den Schulen schon verändert worden. Das ist eine andere Perspektive, als sie sonst in der bibliothekarischen Literatur eingenommen wird, die viel eher dazu tendiert, zu sagen, wie es sein muss und dann die vorhandenen Schulbibliotheken an diesem „wie es sein soll“ misst. Mir scheint unser Vorgehen viel aussagekräftiger und ich habe den Eindruck, dass es mit der Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken ähnlich ist: Vorschläge dazu, wie es sein soll, gibt es viele. Untersuchungen dazu, wie es ist, verbunden mit der Frage, welche Sinn im sozialen System Bibliothek der jetzige Zustand hat, wäre meiner Meinung nach interessanter.1

Was halt auch irritiert, ist, dass in den bibliothekarischen Texten kaum wirklich auf die Forschungen zur Leseförderung aus der Pädagogik zurückgegriffen wird. Eher wird auf ein paar Texte verwiesen, die angeblich grundlegend sind, und dann weiter fortgefahren, Vorschläge für Veranstaltungen zu machen. Oft ist mir nicht klar, was dann die angeführten Texte mit den Vorschlägen zu tun haben – wie oben bei den PISA-Studien geschrieben, habe ich oft den Eindruck, dass da ein grosses Missverständnis vorliegt und in den angeführten Texten nicht das steht, was vermutet wird. Das gleiche gilt aber auch andersherum: In den pädagogischen Forschungen findet sich erstaunlich wenig zu Bibliotheken selber. Manchmal sind „Bibliotheksbesuche“ eine unabhängige Variable, die in empirischen Untersuchungen mit erhoben wird. Dann zeigt sich oft, dass Kinder und Jugendliche, die gut lesen, auch oft Bibliotheken besuchen – aber darauf beschränkt sich das dann. Wie genau das funktioniert, wird quasi nie gefragt. Allerdings: Die Bibliothekswissenschaft könnte meiner Meinung auch gar nicht zu pädagogischen Forschung hingehen und es ihr besser zeigen, weil sie ja auch nicht weiss, was da in Bibliotheken, wieso, wann, warum passiert. Es gibt ein Schreiben über das gleiche Thema (Leseförderung), aber ohne aufeinander richtig zu reagieren oder das überhaupt zu können. Ich denke, auch für den richtigen Anschluss an die pädagogische Forschung wäre es sinnvoll, wenn die Bibliothekswissenschaft sich mehr mit der tatsächlichen Realität der Leseförderung in Bibliotheken beschäftigen würde. Wenn fast alles, was geschrieben ist, Vorschläge für Veranstaltungen sind, was soll man dann der pädagogischen Forschung als Anschluss bieten? Ohne getestetes Modell von Wirkungen der Leseförderung, das auf der Realität in den Bibliotheken basiert, wird das immer schwierig bleiben.2

Ein paar potentielle Fragestellungen

Wie gesagt: Ich habe mehr Fragen als irgendwelche klaren Antworten. Je mehr man die Bibliothek als ein System anschaut, dass irgendwie immer funktioniert, beginnt man offenbar zu fragen: Wieso funktioniert das? Was passiert da? Wie reagieren z.B. die Nutzerinnen und Nutzer wirklich und wieso? Das wäre viel interessanter, als noch ein weiteres „innovatives Ding“ rauszuhauen, partizipative Leseförderung im Co-Workingspace oder so. Das alles hat sich bei mir bislang weder zu einem Forschungsprojekt noch einer Forschungagenda verdichtet. Ich muss das ja auch nicht alleine tun. Aber ich würde gerne ein paar Fragestellung vorschlagen:

  • Was ist und was sollte das (pädagogische?) Ziel der Leseförderung in Bibliotheken sein? Mir scheint, dass das in den Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund geraten ist – was auch seine Vorteile hat. Die Welt ist freier geworden, die Literatur der Kinder und Jugendlichen sollte nicht mehr kontrolliert werden. Aber gleichzeitig leben wir in einer Zeit des gesellschaftlichen Backlashs: Bildung wird wieder mehr als „Erziehung zu etwas, dass man definieren kann“ verstanden (siehe Kompetenzraster) und immer weniger als „auf dem Bildungsweg zu einem offenen, selbstbestimmten Individuum begleiten“. Das muss man nicht gut finden; ich finde es nicht gut. Aber so zu tun, als würde man irgendwas fördern, gleichzeitig „Freiheit“ mit „das Lesen die Kinder und Jugendlichen gerne“ übersetzen… Mir scheint, die bibliothekarische Praxis, das Denken in der Praixs, warum etwas gemacht wird (und anderes nicht), die Ziele, die angeführt werden, die Ziele, die tatsächlich angestrebt und gelebt werden, all das ist in einem erstaunlichen Widerstreit. Und es wäre gut, diesen Widerstreit erst einmal klar darzustellen. Danach oder dabei kann (und sollte) der auch offen geführt werden. Vielleicht wollen Bibliotheken ja wirklich, dass die Kinder und Jugendlichen sich zu freien, selbstbestimmten Individuen entwickeln (was sie zum Teil von der Schule unterschieden würde, weil das eher etwas ist, was die Sozialpädagogik als Ziel hat). Aber dann sollte das auch geklärt sein, da das Konsequenzen hat. (Z.B. für die Zusammenarbeit mit Schulen.)

  • Was wird eigentlich konkret gemacht und warum (wie begründen Bibliotheken das?)? Wie gesagt, dass scheint mir der wirkliche ungeklärte Bereich zu sein: Viele Vorschläge, was gemacht werden soll, einige Zahlen zu den geleisteten Stunden in den Bibliotheksstatistiken, aber sonst viel Unklarheit. Mich würde auch eher interessieren, was passiert und gemacht wird; nicht, ob mir das sinnvoll, richtig, effektiv etc. erscheint. Dieses „daherkommen und es besser wissen“, dass ja zum Teil im Bibliothekswesen verbreitet ist, wenn jemand sich eines Themas annimmt, scheint mit oft den interessanteren Teil zu übergehen, nämlich, dass die Praxis ja immer einen Effekt hat und es immer Gründe dafür gibt, dass sie so ist, wie sie ist – und nicht anders. Eine Vermutung, die bei mir (bzw. unseren Diskussionen in Chur) immer wieder mal aufkommt, ist, dass bestimmte Dinge, die ineffektiv aussehen, für die Identität von Bibliotheken als „professionelle Bibliothek“ (oder für die Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Bibliothekarinnen und Bibliothekare – und gerade nicht irgendwelches, austauschbares Personal) wichtig wäre. Beim Nachdenken über die Leseförderung scheint mir das immer wieder einmal der Fall zu sein. (Zumal, historische Note, die Volksbibliotheken ja gerade über ihr Engagement im „Schund-Kampf“ überhaupt zur eigenen Identität gefunden haben, was nachwirkte, auch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus.)

  • Wie rezipieren Kinder und Jugendliche die unterschiedlichen Veranstaltungen? Das scheint mir eine der grossen unbearbeiteten Themen zu sein. Wie gesagt, Vorschläge für die Leseförderung gibt es immer wieder, auch immer gerne mit Bildern von begeisterten Kindern illustriert. Hier und da werden die Kinder und Jugendlichen auch gefragt werden, was sie von den Veranstaltungen hielten, ob sie Spass hatten etc. Aber das ist ja reine Evaluation, keine Erkenntnisgewinnung. Mich würde viel mehr interessieren, wie die Kinder und Jugendlichen die Veranstaltungen rezipieren, welche Lerneffekte sie haben, welche Effekte auf ihre Identitätsbildung sie haben etc. Ich kann mir z.B. gut vorstellen, das Kinder die Vorlesestunden in der Bibliothek mögen, weil sie dann andere Sachen nicht machen müssen, weil sie sich dann mit anderen Sachen nicht auseinandersetzen müssen, weil es so nett ist, aber ohne dass das irgendetwas an ihrem Bezug zu Büchern ändert. Was mir auch interessant erscheint ist, dass bibliothekarische Texte sich gerne damit beschäftigen, wie Kinder und Jugendliche an Bücher „herangeführt“ werden können; dann aber dazu schweigen, was passiert, wenn sie „herangeführt“ sind. Das ist doch keine einmalige Sache, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Auch die Kinder aus reichem Elternhaus, die dazu angehalten werden, Bücher zu mögen, machen irgendwas mit diesen Büchern, interpretieren die irgendwie etc. An sich sind die Rezipientinnen und Rezipienten von bibliothekarischen Veranstaltungen zu oft nur als Menschen konzipiert, die zufrieden oder unzufrieden sind (halt „Kundinnen und Kunden“) und zu wenig als Menschen, die sich beständig entwickeln.

  • Warum lesen so viele Kinder und Jugendliche eigentlich in Leseförderprogrammen – weil sie besser lesen wollen, weil sie sonst noch was schlimmeres machen müssten, weil sie sonst nichts zu tun haben, weil es gut für sie ist? Und immer: Warum? Schon um die eigenen Überzeugungen zu testen, ist es immer auch gut, einmal andersherum zu fragen: Eigentlich ist es doch erstaunlich, dass Kinder und Jugendliche so oft so viel in Leseförderprogrammen lesen. Ich denke da an die Berichte über Lesesommer etc. Wenn die stimmen, sind die ja immer wieder überlaufen. Wieso eigentlich? Haben Kinder und Jugendliche nicht auch anderes zu tun? Auch wenn ich nicht wirklich weiss (wie ich ja gesagt habe), wie die Praxis in der Leseförderung in den Bibliotheken wirklich ausssieht, scheint mir doch, dass das recht erfolgreiche Systeme sind – gemessen an dem, was alles gelesen wird, wie viele Kinder und Jugendliche kommen etc. Aber mich erinnert das bei Jugendlichen z.B. auch an Forschungen zu Teen-Fankulturen, wo gefragt wird, was und warum tun da eigentlich jugendliche Fans, wenn sie irgendwelche Teenstars anhimmeln – und die Antwort ist oft, mit der eigenen Identität experimentieren, weil sie z.B. versuchen können, sich über ihre eigene Sexualität klar zu werden, ohne dafür wirklich Sex haben zu müssen. Teen-Fankultur als Schonraum. Das ist sinnvoll, aber selbstverständlich nicht das, was man erwarten würde. Manchmal fragen ich mich, ob nicht auch gerade Jugendliche Bibliotheken und Leseförderung so „unerwartet“ nutzen.3

  • Schichtspezifische Effekte von Leseförderung. Sowohl im Bibliothekswesen als auch in der pädagogischen Forschung geht es meist ganz unbestimmt „um alle Kinder und Jugendlichen“, so als würde die sich alle gleich entwickeln. (Auch das ist ja ein historischer Fortschritt.) Manchmal gibt es Texte zu „bildungsfernen“ Kindern und Jugendlichen, aber schon das „bildungsfern“ ist ja ein Begriff, der gesellschaftliche Verhältnisse überdecken oder zumindest vereinfachen soll. Er passt in eine Zeit, wie unsere, wo (wieder) mehr und mehr so getan wird, als ob es Schuld der Menschen in Armut, wenn sie arm sind — weil sie halt sich von der Bildung fern halten und nicht anstrengen würden. Das ist meist Unsinn, soviele Menschen strengen sich nicht an und landen am Ende in besseren ökonomischen Situationen, als Menschen in Armut. Aber zum Punkt: Mir scheint, das, was im Bibliothekswesen (und auch in der Pädagogik) zur Leseförderung geschrieben wird, ist erstaunlich „gesellschaftsfern“. Nicht nur, dass die Kinder und Jugendlichen halt in unterschiedlichen Schichten aufwachsen und damit unterschiedliche Möglichkeiten, Probleme, Aufgaben etc. haben – was zu untersuchen wäre, nicht nur für die „unteren Schichten“, sondern für alle, da ja auch die Kinder und Jugendlichen aus höheren Sozialschichten das Lesen irgendwie in die eigene Entwicklung einbinden (müssen). Es kann auch nicht (nur) darum gehen, die unteren Schichten in die gleichen Bildungsbahnen und -vorstellungen zu drängen/zu bringen, wie die mittleren Schichten (mal abgesehen davon, dass sich Vorstellungen aus der Mittelschicht, z.B. über Kindererziehung längst auch in „unteren Schichten“ finden, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, Verduzco-Baker 2015), sondern es muss darum gehen, zu Verstehen, ob und wenn ja wie, die unterschiedlichen Leseförderungen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten, Aufgaben, Identitäten von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen sozialen Situationen haben. Vielleicht kann man davon ausgehend dann Dinge ändern, Menschen aus „unteren Schichten“ besser unterstützen – wer weiss. Aber mit scheint bislang schon lange nicht mehr darüber geredet worden zu sein, ob es eine Leseförderung für alle gibt oder ob es faktisch nicht unterschiedlich (angekommende) Leseförderungen sind. (Das kann man dann auch noch erweitern, z.B. auf den Wohnort. Bei der oben erwähnten Studie war ich auch in vielen kleinen st. gallischen Gemeinden, bei denen ich sehen konnte, wie sehr die Schulen und Bibliotheken die jeweilige Gemeinde mitprägen, einfach weil es kaum andere Einrichtungen mit ihrer Ausstrahlung gab, ausser den Kirchen. Das war schon irritierend für jemand wie mich, der in einer Stadt aufgewachsen ist, wo die Bibliotheken nur ein kleiner Teil sind und die Kirchen vollkommen irrelevant. Die Wirkung von Leseförderprogrammen wird in solchen Gemeinden auch anders sein, als in Berlin. In der bibliothekarischen Literatur allerdings scheint es solche Differenzen nicht zu geben. Da ist Leseförderung gleich Leseförderung, egal wo sie stattfindet. Ein anderes Thema sind die Rezeption von Leseförderung bei Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen. Bibliotheken setzen sich ja aktuell sehr aktiv für Geflüchtete ein – was auch ein weiterer historischer Fortschritt ist, für den ich sehr dankbar bin – aber die Beschreibungen dieser Aktivitäten sind auch sehr kurz. Was passiert da eigentlich, wie wird das von Menschen, die Geflüchtet sind, erfahren und vor allem bei ihrer Entwicklung eingebunden? Was ist eigentlich das genaue Ziel dieser Aktivitäten? Wie stellen sich die Bibliotheken – oder andere Helfende – eigentlich vor, was da passiert und was es bringen soll? Ich weiss es nicht, ich fände es aber interessant, es zu wissen. Bin ich der Einzige?)

Literatur

Ackerknecht, Erwin (1923). Vorlesestunden. Berlin: Weidmansche Buchhandlung, 1923

Keller-Loibl, Kerstin ; Brandt, Susanne (2015). Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken. (Praxiswissen Bibliothek.) Berlin: De Gruyter Saur

Keller-Loibl, Kerstin (2012). Bibliothekspädagogische Klassenführungen : Ideen und Konzepte für die Praxis. (2. Auflage). Bad Honnef: Bock + Herchen

kjl&m (2015). ästhetischer, poetischer: Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren. kjl&m 15 (2015) 4

Kruse, Iris ; Sabisch, Andrea (Hrsg.). Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel – Denkspiele – Bildungspotenziale. Müchen: kopaed

Maase, Kaspar (2012). Die Kinder der Massenkultur: Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main ; New York: Campus, 2012

Müller, Sonja (2014). Kindgemäß und literarisch wertvoll: Untersuchungen zur Theorie des guten Jugendbuchs ‒ Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien: Theorie, Geschichte, Didaktik; 88). Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2014

Risebrock, Cornelia ; Nix, Daniel (2013). Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen Leseförderung. (6. Auflage). Baltmanssweiler: Schneider Hohengehren

Verduzco-Baker, Lynn (2015). ‘I Don’t Want Them to Be a Statistic’: Mothering Practices of Low-Income Mothers. In: Journal of Family Issues 36 (2015): 1–29

Fussnoten

1 Es würde halt weniger Forschung sein, die die Leute beruhigt, die gerne irgendwelche „Vorschläge“ für ihre Bibliothek hören möchten. Ich denke ja, wie angedeutet, dass es solche Vorschläge schon in grosser Zahl gibt – und das es nicht die einzige Aufgabe von Forschung sein kann, solche Vorschläge zu sammeln oder sich neu auszudenken. Forschung muss eine kritische Funktion haben, ansonsten ist sie reine Affirmation – und Affirmation gibt es schon zur Genüge. Aber ich habe auch schon die Situation erlebt, dass eine Kollegin erzählte, sie würde gerne solche „interessanten Vorschläge“ hören, sei deshalb auf einer Weiterbildung und fände, es gäbe viel zu wenige dieser Vorschläge – während gleich neben ihr Frau Keller-Loibl, die ja mehrere Bücher mit solchen Vorschlägen geschrieben hat, stand. Die Bücher kannte die Kollegin gar nicht. Das scheint mir noch ein weiteres Phänomen zu sein, mit einer eigenen Fragestellung: Wie entwickelt sich eigentlich die Leseförderung in Bibliotheken? Offenbar nicht einfach so, indem darüber geschrieben wird.

2 Wobei dieses „Aneinander vorbei Schreiben“ auch bei Schulbibliotheken zu finden ist, wo die bibliothekarischen Texte sich fast nur auf andere bibliothekarische Texte beziehen und die pädagogischen/schulpraktischen Texte fast nur auf pädagogische/schulpraktische.

3 Autobiographische Notiz: Habe ich auch. Der Bestand zum Expressionismus der Amerika Gedenkbibliothek war sehr wichtig dafür, in meiner Jugend meine eigene Identität als kulturell interessierter Prä-Hipster zu entwickeln, der halt einfach die ganzen Zeitschriften des Expressionismus kannte und einige sogar gelesen hatte (was auch hiess, Nachmittage in der Bibliothek zu sitzen, zwischen Menschen, die dort Bücher schrieben, und zu lesen – und eben zu der Zeit nicht mit anderen „Aufgaben“, die man so als Jugendlicher hat, beschäftigen zu müssen) – und vor allem damit etwas hatte, was mich von den anderen in meiner Peergroup unterschied (die dafür halt Italienisch lernten und Petrarca im Original lasen – es war vielleicht nicht die durchschnittlichste Peergroup). Insoweit kann ich so eine „unvorhergesehene“ Nutzung gut verstehen, frage mich aber, ob sich im Bibliothekswesen darüber Gedanken gemacht wird, dass sowas passiert – und ob es gut ist.

Das Unbehagen mit der Informationskompetenz

Es gibt ein Unbehagen mit der Informationskompetenz, eines das langsam, aber merkbar zunimmt und nicht weggeht mit der Zeit. Dieses Unbehagen äussert sich eher leise. Nicht so auftrumpfend laut wie diejenigen, welche Informationskompetenz in den letzten Jahren zu einem ihrer Hauptthemen gemacht haben. Denn die gibt es auch, fraglos. Das Handbuch Informationskompetenz [Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hrsg.) / Handbuch Informationkompetenz. Berlin: de Gruyter, 2012] beispielweise ist voll von solchem lauten Auftreten; auch die Vorträge zum Thema auf den Bibliothekskongressen (egal in welchem der deutschsprachigen Länder) sind immer voll und werden beherrscht von Vortragenden, die sehr klar ihre Meinung sagen. Und viele, viele hören zu. Kritik gibt es, wenn überhaupt, an den Umsetzungen. Es sieht dann auch oft gut aus: Immer mehr Angebote, Kurse, welche in die Curricula von Hochschulen eingebunden werden, steigende Zahlen von Teilnehmenden, Nachfragen von ausserhalb der Bibliotheken, Erklärungen zur Informationskompetenz von Forschungsfördereinrichtungen und politischen Gremien werden berichtet.

Meeeeeeeeeh.

Aber wer einmal genauer hinhört, spürt meines Erachtens doch ein wachsenden Unbehagen.

  • Immer wieder hört man auf den Gängen der Bibliotheken, in den Ausbildungseinrichtungen, in den privaten Gesprächen zwischen bibliothekarisch und bibliothekswissenschaftlich Tätigen Zweifel daran, dass Informationskompetenz wirklich so wichtig ist, wie es gehandelt wird. Ist es nicht eher doch ein kleiner Teilbereich bibliothekarischer Arbeit? Ist es nicht eher ein Nebenschauplatz, der gross geredet wird?
  • In diesen Gesprächen klingt von Zeit zu Zeit der Zweifel an, ob das, was als Informationskompetenz beschrieben wird, wirklich etwas ist, was Bibliotheken vermitteln könnten und sollten. Ist nicht das, was Bibliotheken tun, heute mehr und strukturierte Rechercheschulungen durchzuführen? (Was nicht schlimm ist, aber: Ist das wirklich Informationskompetenz? Ist das nicht etwas zu hoch gegriffen?)
  • Von den Öffentlichen Bibliotheken her klingt unter der Hand immer wieder die Frage, ob es sich bei der Informationskompetenz nicht um ein Konzept handelt, dass vielleicht für Wissenschaftliche Bibliotheken wichtig wäre, aber: Ist es für Öffentliche Bibliotheken interessant?
  • In den Ausbildungsgängen (die ja wohl alle mindestens einen Kurs [ein Modul, ein Seminar etc.] zu diesem Thema eingerichtet haben) erntet man von den Studierenden immer mehr ein müdes, abwehrendes Lächeln, wenn man das Thema anspricht; eines das zu sagen scheint: „Ja ja, schon gehört. Informationskompetenz. Aber das überzeugt uns nicht mehr. Erzähl was neues, bitte.“
  • In den Redaktionen bibliothekarischer Zeitschriften und den Gremien, die Abschlussarbeiten zulassen; in den Vereinigungen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, welche Konferenzen und Weiterbildungen organisieren; in den losen Netzwerken wird; so hört und sieht man; immer wieder einmal mit den Augen gerollt, wenn das Wort fällt. Sicher: Die Artikel werden nicht abgelehnt, die Abschlussarbeiten zugelassen, die Vorträge abgenickt, die Weiterbildungen angeboten. Doch es scheint, als wäre langsam aber sicher die Luft raus aus dem Thema. Die Anekdoten zu diesem Unwollen häufen sich, auch wenn sie nicht offen berichtet werden.
  • Und wieder ein anderer Teil der Kolleginnen und Kollegen möchte gleich weiter. Informationskompetenz sei nicht mehr ausreichend, Datenkompetenz muss es sein – was gute Gründe hat (Wachstum der Forschungsdaten, Open Data etc.). Oder halt an die Kompetenz muss noch mehr angedockt werden, zum Beispiel mit ordentlichem wissenschaftlichen Arbeiten und nicht nur Recherchieren (was eigentlich eh Teil der Information Literacy ist, aber „in der Übersetzung“ am Anfang der Debatten um Informationskompetenz im deutschsprachigen Raum „irgendwie“ verschwunden ist).

Remember 2000: Wir werden unnötig.

Ist das nur mein Eindruck? Ich denke nicht. Was ist den passiert in den letzten Jahren? Anfang der 2000er Jahre kam das Thema Informationkompetenz auf, wurde gross beworben, in den Bibliotheksalltag integriert. Es sei, so tönte es, ein Konzept aus den englischsprachigen Bibliothekswesen. (Das stimmt so nicht. Die Übersetzung von Literacy ist nicht Kompetenz und das aus einem guten Grund: Das sind zwei unterschiedliche Konzepte. Auch wurde bei der „Übersetzung“ in die deutschsprachigen Bibliothekswesen einiges auf der Strecke gelassen, insbesondere die Fähigkeit zum Verarbeiten von Informationen. Aber so recht schien das niemand zu interessieren. Vielleicht hat es auch niemand richtig nachgeprüft.) Das Konzept sollte in gewisser Weise die Bibliotheken retten. Sie würden bald untergehen: Stichwort Digitale Medien, Buchverkauf übers Internet, immer schnelleres Studium. Studierende würden diese Kompetenz benötigen, so tönte es weiter, ansonsten würden sie im Studium nicht mehr bestehen können; würden nicht mehr wissenschaftlich arbeiten können. Und zudem seien Bibliotheken der Ort, wo diese Kompetenz schon angesammelt sei und angeboten werden könnte. (Wieder hat kaum jemand bemerkt, dass von Anfang an davon geredet wurde, dass Informationskompetenz vermittelt werden soll, obgleich der Witz an Kompetenzen in der Pädagogik eigentlich ist, dass sie nicht vermittelt, sondern von den Lernenden aufgebaut werden. Aber vielleicht wollte wieder nur niemand genau hinschauen.) Immerhin: Die Argumentation klang gut.

Unterfüttert wurde sie damals auch noch mit der Panik, welche die PISA-Studien ausgelöst hatten; obgleich in diesen Studien nicht wirklich etwas über Informationsnutzung etc. stand. Aber damals, 2002, 2003, konnte man fast alles mit den PISA-Studien begründen, ohne das es einen richtigen Zusammenhang zu diesen geben musste. Heute tauchen die Studien kaum noch in den Debatten auf.

Nun, einige Jahre später, wie sieht die Realität aus? Es gibt an fast allen grösseren Wissenschaftlichen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum Personen, die für Informationskompetenz zuständig sind; oft sind diese Stellen mit sehr engagierten Kolleginnen und Kollegen besetzt. Ebenso gibt es an den meisten dieser Bibliotheken strukturierte Angebote für Studierende und zum Teil auch für Forschende unter diesem Motto. Teilweise gibt es auch Kurse, die im Studium integriert wurden.

Aber: Ist es das wirklich, was versprochen wurde?

Was ist eigentlich wirklich passiert?

Zum ersten: Entgegen der Panik, die noch vor einigen Jahren verbreitet war, sind Bibliotheken nicht untergegangen. Sie haben sich verändert, sind zum Beispiel zur Verwalterinnen von elektronischen Medien, von Lizenzverträgen und ähnlichem geworden. Sie sind ebenso (wieder einmal) zu Lernorten geworden, nicht so sehr bezogen auf ihr eigenes Programm, sondern als Ort, an den immer mehr Studierenden hingehen, um selbstständig zu lernen. Alles anstrengend, aber der ganz grosse Kladderadatsch, der angekündigt wurde, kam nicht. Er wird auch nicht kommen.

Zum zweiten: Obgleich die Zahlen der Teilnehmenden in den Kursen gestiegen sind, herrscht doch immer mehr der Eindruck vor, dass es das im Grossen und Ganzen dann auch war. Sicher: Ein paar Studierende oder junge Lehrende lernen mehr mit Informationen etc. umzugehen. Aber nicht nur in Bibliotheken scheint sich der Eindruck durchzusetzen, dass das nicht heisst, dass Informationen im Allgemeinen besser genutzt würden; schon gar nicht die, welche über die Bibliotheken zugänglich gemacht wurden. Die vorhandene Informationskompetenz bei den Studierenden und Lehrenden steigt gar nicht so sehr, wie man sich das erhoffte. Gleichzeitig ahnt man, dass sie vielleicht auch gar nicht so wichtig war, wie man sich als Bibliothekswesen das selber eingeredet hatte. Alle sagen was Nettes über die Bibliothek und deren Anstrengungen, alle rollen die Augen, wenn sie davon berichten, dass Studierende (oder zumindest die anderen Studierenden) „nur noch Google benutzen“ würden; aber so Recht scheint sich das auf die Noten der Studierenden oder auch die wissenschaftlichen Arbeiten nicht niederzuschlagen.

Und drittens: Die Zweifel mehren sich, dass das, was die Bibliotheken über Informationskompetenz sagen, von anderen Einrichtungen auch so geteilt wird. Sicher: Es gibt einige Studiengänge – weil die Bibliotheken persistent darauf gedrängt haben – in denen Studierende Kurse in Bibliotheken besuchen müssen. Aber einen Diskurs ausserhalb der Bibliotheken, in den Studiengängen und Forschungsrichtungen (und seien es nur die Erziehungswissenschaften) über diese Informationskompetenz – die ja, so die Behauptung der bibliothekarischen Debatten, eine Grundkompetenz sein soll – gibt es immer noch nicht. Sicher: Ein wenig Google-Gedisse, ein wenig „ja ja, die Studierenden recherchieren nicht richtig“ hört man. Aber ansonsten agiert zum Beispiel die Medienpädagogik konsequent an den Bibliotheken vorbei.

Und viertens: Bis heute hat sich die bibliothekarische Debatte darauf kapriziert zu beschreiben, wie die jeweiligen Schulungen organisiert und durchgeführt; wie deren Notwendigkeit den Lehrenden in den Hochschulen oder gleich den Hochschulen selber verständlich gemacht; wie die Studierenden (und manchmal auch die Forschenden) erreicht werden können; gleichzeitig wurden zahllose (zumeist ungetestete und eher prekär hergeleitete) Standards beschrieben (die sich aber, weil es so viele sind, oft auch widersprechen) und zudem immer wieder gegenseitig erklärt, dass Bibliotheken wichtig für Informationskompetenz seien. Nur: was bislang nicht gezeigt wurde, meiner Meinung nach auch nicht untersucht, ist, ob die Fähigkeiten, die als Informationskompetenz umschrieben werden, wirklich für die Studierenden oder jungen Forschenden notwendig wäre.

Ist das alles wirklich so wichtig?

Mich irritiert der vierte Punkt sehr, schon länger. Die Vorstellung ist, dass Studierende und Forschende heute mit Informationen anders umgehen müssten, um erfolgreich in Studium und Forschung zu sein. Das Bestimmen, Finden, Auswählen und Interpretieren der jeweils besten Information sein eine Voraussetzung dafür. (Sehen wir einmal davon ab, dass der letzte Punkt, nämlich das Interpretieren, selten Inhalt der Kurse in Bibliotheken ist.) Deshalb muss ihnen das jemand beibringen und diese jemands seien die (Hochschul-)Bibliotheken.

Mir scheint das ein grundsätzliches Verkennen der Realität in Studium und Forschung zu sein. (Was auch deshalb absurd ist, weil die meisten Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in diese Debatten einmischen, selber studiert haben.) Meine Gegenthese wäre: erfolgreich studieren – und zwar auf der Ebene von Bestnoten – kann man auch mit passenden Informationen, die im Studium zusammengegoogelt, mehr zufällig in Katalogen oder erst in den Abschlussarbeiten einigermassen systematisch gefunden werden. Die Suchwerkzeuge sind heute gut genug, um sogar mit weniger Aufwand passende Informationen zu finden. Besser recherchieren zu können oder gar kritischer ist eine nicht notwendige Fähigkeit für das Bestehen des Studium. Nicht, dass sie etwas schadet, aber sie bringt auch nichts für das Studium selber. (Warum? Höchstwahrscheinlich auch, weil es im Studium um etwas anderes geht, als das richtige Recherchieren.)

Wenn das stimmt, wäre es für die bibliothekarische Überzeugung schrecklich, weil: Dann bräuchte es auch keine Rechercheschulungen. Aber ich denke, es wäre realistisch.

Ebenso ist auch in der wissenschaftlichen Praxis nicht das effiektive Finden der besten Information notwendig. Durch die Projektorientierung der Wissenschaft (die dazu führt, dass die Forschenden immer mehr Multitalente werden), durch die immer grössere Zahl von Publikationsorten und der Überforderung der Qualitätssicherungssyteme, durch den ständigen Drang zur Publikation und den Drang zum „einfacher Schreiben“ (der sich u.a. darin äussert, dass Forschende ernsthaft verkünden, dass sie Texte, die länger als fünf Seiten lang sind, zu schwierig finden und deshalb nicht lesen) nimmt die reale Qualität der wissenschaftlichen Publikationen eh tendenziell ab, ohne dass dies direkt bemerkt würde, weil ja weder wissenschaftliche Streitkultur (in der man solche Fakten klar benennen dürfte) noch ausreichendes Expertinnen- und Expertentum existieren. In einer solchen Kultur reicht es vollkommen aus, wenn Forschende in der Lage sind – und das sind sie intellektuell auch ohne Rechercheschulung – eine Suchmaschine, eine freie Datenbank und einen Bibliothekskatalog zu bedienen. Alles andere ist netter Surplus, der einer wissenschaftlichen Karriere nicht schadet, aber auch nicht notwendig ist.

Auch hier: Wenn das stimmt, dann würde die Grundthese der Informationskompetenz-Diskussionen nicht stimmen. Aber wieder: Ich denke, es wäre realistischer.

Nun aber: Kann es wirklich sein, dass Bibliotheken im deutschsprachigen Raum seit Jahren quasi im Blindflug agieren und auf einer These aufbauen, die nicht belegt ist? Das mag erstaunlich erscheinen, ist es aber nicht. (Beziehungsweise: Das ist nicht ohne historisches Vorbild.) Mir scheint eher, dass innerhalb des bibliothekarischen Diskurses eine verstärkender Effekt eingetreten ist: Da immer wieder in Texten zur Informationskompetenz auf diese Grundthese – mehr Informationskompetenz ist notwendig – verwiesen wird und sich diese Texte gegenseitig zitieren, erscheint dies mehr und mehr als bewiesene oder zumindest selbsterklärende Aussage. Nur ist sie weder selbsterklärend noch bewiesen.

Was nötig wäre an dieser Stelle wäre wohl eine klare Untersuchung, welche Fähigkeiten – sagen wir gar nicht erst Kompetenz am Anfang – wirklich zu einem besseren Studium oder einer besseren wissenschaftlichen Arbeit notwendig sind. Und zwar nicht aus Sicht der Bibliotheken, da kommt immer wieder das gleiche raus (nämlich das, was die Bibliotheken anbieten können [das wird eh beständig getan, siehe z.B. kürzlich Tappenbeck, Inka (2013) / Vermittlung von Informationskompetenz an Hochschulbibliotheken: Praxis, Bedarfe, Perspektiven. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 37 (2013) 1, 59-69 und Kiszio, Blanche ; Favre, Nathalie & Ding, Sandrine (2013) / Ein neues Online-Tutorial zur Förderung von Informationskompetenz: ein Praxisbericht. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 73 (2013) 1, 11-114 die genau das wieder einmal taten und deshalb auch die zu erwartenden Ergebnisse erhielten]), sondern aus der Realität. Vergleichen wir doch einmal die guten und die weniger guten studentischen Arbeiten: Welche Fähigkeiten im Bezug auf den Umgang und die Suche von Informationen führen denn zu besseren oder weniger guten Arbeiten? Nachdem ich selber eine gute Anzahl von unterschiedlich guten studentischen Arbeiten gelesen habe, würde ich behaupten, die Informationskompetenz von der Bibliotheken sprechen, ist es nicht. Sicherlich gibt es einige sehr sehr gute Arbeiten, die auch sehr gut und kritisch mit Informationen umgehen. Aber für eine sehr gute Arbeit (also eine 6 in der Schweiz beziehungsweise eine 1,0 in Deutschland) ist das nicht notwendig. Die wird oft auch mit Hilfe von Quellen erreicht, die eher zufällig gefunden wurden. Ähnliches gilt für wissenschaftliche Arbeiten, die ich gelesen habe. Es ist meiner Meinung nach nicht notwendig, gut mit Informationen umzugehen, um eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Gehen wir doch einfach mal und schauen, was die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Forschenden so mit Informationen machen; wie die genau arbeiten (nicht was sie sagen, wenn sie von den Bibliotheken, mit denen sie zusammenarbeiten, gefragt werden, was vielleicht wichtig und gut wäre, sondern was sie wirklich tun, wenn sie Texte schreiben, Projekte entwerfen etc.). Zu oft habe ich dieses wissenschaftliche Arbeiten in den letzten Jahren live beobachtet, als das ich einfach davon überzeugt werden könnte, dass es überhaupt so etwas wie Informationskompetenz bedarf, um erfolgreich in der Wissenschaft zu sein. Ein funktionierender Internetanschluss, eine Bibliothek mit Fernleihe und vielen Lizenzen – das ja; aber die Fähigkeiten ordentlicher und kritischer Recherche – nein.

Jessa Lingel und danah boyd haben desletztens die Informationsflüsse und -praktiken in der Extrem Body Modification Scene untersucht [Lingel, Jesse & boyd, danah (2013) / „Keep it secret, keep it save“ : Information poverty, information norms, and stigma. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology 64 (2012) 5, 981-991] und dabei wenig überraschend festgestellt, dass es die kontextangepasste Informationssuche ist, die relevant für die gesellschaftliche Praxis innerhalb dieser Szene ist; wobei es nicht um die richtigen oder effektiv zu findenden, sondern die passenden und über mehrfache Codes und Zugänge abgesicherten vertrauenswürdigen Informationen geht, die relevant für das Handeln in dieser Szene werden. Solche Untersuchungen über die tatsächlich erfolgreich genutzten Informationen und Informationsstrategien von Studierenden und Forschenden (gerade auch erfolgreichen) fehlen einfach; dabei sollten sie die Basis von Debatten über Informationskompetenz sein, auch wenn das Ergebniss sein könnte, dass diese Formen der Informationsnutzung nichts mit Bibliotheken zu tun haben.

Informationskompetenz. Nichts dagegen, aber…

Um es noch einmal klar zu sagen: Nichts gegen die Kolleginnen und Kollegen, die engagiert und aktiv im Bereich Informationskompetenz tätig sind. Nur scheint mir je länger je mehr Informationskompetenz eine relativ fixe Idee eines Teils des Bibliothekswesens geworden zu sein, dessen Entstehen mehr mit einer historischen Situation und weniger mit einer realen Anforderung von ausserhalb der Bibliotheken zu tun hatte.

Es ist gar nicht so, dass etwas gegen Recherecheschulungen, in welcher Form auch immer, zu sagen wäre. Aber nicht nur bei mir scheint sich ein Unbehagen aufgebaut zu haben mit den Jahren. Wird hier nicht in eine Themenbereich investiert (und zwar sowohl intellektuell als auch personell und materiell), der nicht halb so wichtig ist, wie es behauptet wird? Wird hier nicht von Bibliotheken ein Diskurs geführt – der auch an die Ausbildungeinrichtungen herangetragen wird – der andere Diskurse und Entscheidungen, die notwendig wären, überdeckt? Ist das alles realistisch oder sind die Bibliotheken nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Wette eingegangen, die sich als immer weniger zu gewinnen herausstellt? Ist das Getöse um Informationskompetenz nicht auch so gross, weil es gerade prekär ist und nicht so untermauert, wie es eigentlich bei der vorgeblichen Wichtigkeit des Diskurses sein sollte? Sollten wir nicht vielleicht nochmal zum Anfang zurück und fragen, was das eigentlich wirklich sein soll und ob es wirklich sinnvoll ist – sinnvoll nicht für Bibliotheken und deren Zukunftssorgen, sondern den Studierenden und Forschenden, um die es angeblich gehen soll?

Nein…? Na gut. Aber dann wird das Unbehagen wohl einfach so ansteigen und vielleicht das Thema irgendwann einfach liegen gelassen werden. (Auch das wäre nicht ohne historisches Vorbild.)

Let’s talk about Änderung des Urheberrechtmodells. Maybe.

Aaron Swartz ist tot. Der Suizid des Internetaktivisten war in den letzten Tagen ein wichtiges Thema der betreffenden Presse. [1] [2] [3] [4] [5] [6] Sicherlich tragen zu einer Entscheidung, dass eigene Leben zu beenden, immer sehr viele unterschiedliche Situationen, Erfahrungen, Strukturen bei. Das ist niemals monokausal zu erklären. Dennoch scheinen sich Viele sicher zu sein – und das mit einigem Recht –, dass die aktuelle Urheberrechtssituation, die Umsetzung dieser Gesetze aber auch der Diskurs um sie, ein relevanter Grund für den Suizid von Swartz war. Seine Familie und Partnerin schreiben vom kriminellen Justizsystem und ihnen wird dabei breit zugestimmt. [7] [8] [9]

Hier soll gar nicht auf das Leben von Swartz und die betreffende Auseinandersetzung (eher Auseinandersetzungen) näher eingegangen werden. Das lässt sich anderswo nachlesen. Was ich hier kurz und unstrukturiert thematisieren will, weil es mir im Kopf herumgeht, ist etwas anderes: Wir haben einen Toten. Die ganze Problematik um Urheberrechte, Zugangsrechte, die gesellschaftliche Nutzung von Informationen, closed access, die Contentindustrie, die Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation, die Wege, wie wir als Bibliothekssysteme und wie die Menschen im Allgemeinen mit diesem Konstrukt Urheberrecht und dem Lobbyismus von Contentindustrie, Verlagen, Verwertungsgesellschaften und so weiter umgehen – all das, was in den letzten Jahren beständig thematisiert wurde, was Witze hervorgebracht hat, neue Verhaltensformen, neue bibliothekarische Strukturen und eine gesellschaftliche verbreitete Informationskompetenz, die sich über die Barrieren hinwegsetzt, all das scheint nicht mehr lustig.

Wie war das bisher? Lustig?

Sicher: Auch bislang war das kein reiner Spass. Menschen werden mit Knast bedroht oder hoch verschuldet, weil sie Kulturgüter getauscht haben (sollen). Wissen wurde nicht geteilt. Bibliotheken sind übervorsichtig, was sie anbieten und nicht anbieten. Die Bibliotheksetats sind von Zeitschriften und Datenbanken aufgebraucht, bevor auch nur ein Buch gekauft werden kann. Menschen haben tierischen Stress. Aber trotz allem fühlten wir uns doch immer auf der richtigen Seite in einem grossen Kampf, den die Gegenseite an sich schon verlohren hatte. All die Argumente der Contentindustrie, die Behauptung, Künstlerinnen und Künstler, die Qualität wissenschaftlicher Publikationen und was weiss ich zu sichern, haben doch immer auch ein mitleidiges Lächeln auf unsere Lippen gezaubert.

War es nicht das? Internetausdrucker vs. (irgendwie) Nerds. Hollywood und Gema vs. gesunder Menschenverstand. Verknöcherte Justiz und Politik, die die Welt nicht verstehen vs. Anonymous und Kim Dotcom und Richard Stallman und Linus Torvalds und Horden von hippen jungen Leuten, die sich doch downloaden, was sie wollen.

War es nicht das? Es war stressig. Wir haben uns aufgeregt, als Jammie Thomas 1.2 Millionen Dollar zahlen sollte, weil sie ein paar Musikstücke angeboten haben soll. Wir haben gerade in der Wissenschaftscommunity gerne vorgerechnet, welches Wissen der Welt vorbehalten bleibt. Und wenn sich Verlage dann einmal darauf einliessen, zu erklären, wie sie zu den hohrenden Summen für wissenschaftliche Zeitschriften kommen, haben wir innerlich den Kopf geschüttelt: Halt Leute von Vorgestern. o.o o.O O.O LOL ROFL n00bs :-) (^o^)

Das klang alles ärgerlich, aber irgendwie schien es, dass wir am Ende eh gewinnen würden. Vielleicht würde es ein paar Generationen dauern, aber es würde sich schon irgendwie regeln. Kein Medium bleibt ungeknackt. Kein Geschäftsmodell lebt auf ewig. (Jetzt erinnert das schon ein wenig an die Haltung, die Thomas Kuczynski in seinem Dialog mit meinem Urenkel schrieb, nämlich dass er als Kommunist nicht daran zweifelt, dass der Kommunismus kommen wird, sondern dass er sich nur fragt, wie lange es dauert und was getan werden kann, um dieses Kommen zu beschleunigen. Tja…)

Und sicher: Gerade bei der Wissenschaft konnten wir immer darauf verweisen, wie viele Krankheiten nicht geheilt, wie viel Wissen über das Heilen von Krankheiten oder das Verhindern von Unfällen et cetera nicht geteilt wurde, alles wegen den aktuellen Urheberrechtssystemen. Auch das wird Menschenleben gekostet und die Qualität des Lebens von anderen Menschen eingeschränkt haben. Zumindest einige von uns wird das wütend gemacht haben. Aber ehrlich: Das war inhaltlich richtig, allerdings schwer greifbar. Kim Dotcom in Neuseeland am Strand war ein viel greifbareres Bild.

Doch jetzt haben wir es: Ein Opfer des Urheberrechtssystems. Sicherlich: Niemand – nun ja, vielleicht ein bestimmter Staatsanwalt – wird daran ursächlich Schuld sein, dass Aaron Swartz seine schlussendliche Entscheidung traf. Und sicher werden viele, die wir hier, von „der guten Seite“ aus, als mitverantwortlich sehen, sich bestürzt zeigen.

Was soll das immer noch?

Aber seien wir doch einmal ehrlich, offen und direkt: Das ist doch Unsinn.

Das gesamte Urheberrechtssystem, die ganzen Argumente der Contentindustrie und Verlage, die ganzen Drohungen mit dem Gesetz, das ist alles einfach nicht mehr lustig. Es ist keine Auseinandersetzung um Geld und Macht mehr, es geht offenbar um Menschenleben. Und wir wissen es ja auch alle. Wenn wieder einmal behauptet wird, das Urheberrecht müsste dazu beitragen, Künstlerinnen und Künstlern, Autorinnen und Autoren fair zu entlohnen, denken wir doch alle, dass das Unsinn ist. Wir wissen es. Quasi niemand der oder die schreibt, singt, malt lebt vollständig davon. Quasi niemand hat es bislang getan. Dafür ist das Urheberrecht nicht da und dafür war es auch nie da. Es war einmal dazu da, die gesamte Gesellschaft und deren Fortschritt zu fördern und es ist heute dazu da, um Geld einzuspielen. Und gerade nicht für die kleinen, netten, kulturell oder politsch engagierten Verlage, Labels, Filmstudios und so weiter, die ständig um das Überleben kämpfen und niemand ordentlich bezahlen können und von ständiger Selbstausbeutung leben. Auch das wissen wir. Und wir wissen doch auch, dass es bei den Kosten für wissenschaftliche Publikationen nicht um Qualitätssicherung geht. Wir – jetzt als Studierende und Lehrende im Bibliothekswesen – haben es doch oft genug in unseren Seminaren durchgesprochen, gelehrt und irgendwie versucht, objektiv alle Seiten darzustellen. (Wobei wir einfach objektiv sagen könnten: Wenn BWLerinnen und BWLer Verlage leiten, machen sie halt das, was sie gelernt haben. Es ist nur nicht gut für die Gesellschaft, dass sie das tun.) Vielleicht ist es der Jahresanfang, aber mir scheint, dass wir – jetzt nicht unbedingt das Bibliothekswesen, aber die Leute, die wissen, was Chanspeak heisst und wieso Kim Dotcom lustig ist – zu lange gespielt haben. Mag sein, dass das Urheberrechtssystem und alles was daran hängt, irgendwann eingehen wird. Aber mir scheint, dass die Entscheidung von Aaron Swartz – die, um das klar zu sagen, eine persönliche war, die man nicht als Fanal umdeuten sollte – einen ersten Endpunkt markiert. Hier bringt sich jemand, der relevant war für die Entwicklung des Internets und der Open Access Bewegung, wie wir sie kennen, um, weil er wegen absurder und moralisch falscher Gesetze bedroht wird. (Wieder: Gewiss nicht nur deshalb, aber auch deshalb.) Das darf nicht sein. Das muss aufhören. So einfach ist das.

Vielleicht sind das viel zu unausgegorene Gedanken, vielleicht ist es auch die Midlifecrisis, aber mir scheint, dass jetzt ein Zeitpunkt ist, wo eine radikale Bewegung gegen dieses Urheberrechtssystem nötig und möglich wäre. Es wurde schon oft gesagt, aber: Menschen sterben deswegen. Das gesamte System ist unmoralisch. Alle, die es aufrecht erhalten oder verschärfen wollen, sind auf der moralisch falschen Seite. Alle, die es weiter nur reformieren wollen, sind auf der moralisch falschen Seite. Alle, die weiter implizit darauf hoffen, dass man es mit Witz umgehen kann und es schon absterben wird, haben nicht Unrecht, sollten sich aber fragen, ob es nicht moralisch richtiger wäre, endlich klare Forderungen zu erheben und die, die Unsinn reden, auch so zu nennen: Die, die Unsinn reden; weil sie zuviel Geld verdienen wollen, weil sie nicht wissen, was sie erzählen und / oder weil sie moralisch falsch sind.

Bei SOPA haben wir gesehen, dass sich Gesetze verhindern lassen. Jetzt gälte es zu beweisen, dass Urheberrechtssysteme – die ja, wie alles Recht, zuvorderst menschengemacht sind – abgeschafft werden können. Dieses ganze Gedöns, dass zum Beispiel die Piratenparteien veranstalten, mag ja manchmal nett sein, aber es ist nicht ausreichend. Was die Welt eigentlich bräuchte, wäre eine starke Bewegung, die mit Massenaufläufen und klaren Positionen zeigt, dass es Zeit ist, alle Inhalte zu befreien. (Dabei geht es nicht darum, in den Tod von Aaron Swartz im Nachhinein einen Sinn zu interpretieren. Es geht darum zu sagen, hier ist offenbar geworden, was das Urheberrecht und seine Durchsetzung anrichten.) Manchmal ist es vonnöten, angriffig zu sein. In einer solche Situation ist es vonnöten, angriffig zu sein.

Bourdieu für die Bibliothekswissenschaft

Die Le Monde veröffentlichte am gestrigen Dienstag, 24.01., (eigentlich einen Tag zu spät) ein vierseitiges Dossier anlässlich des zehnjährigen Todestages von Pierre Bourdieu. Reflektiert wurde, wie es sich zu solchen Jahrestagen gehört, über die Bedeutung Bourdieus für die aktuelle Soziologie und Politik, sowie zu der Frage, was er wohl heute zu sagen hätte, beziehungsweise: wie er seine Arbeiten heute fortgeführt hätte, wäre er nicht gestorben. Getan wurde das, neben einem einleitenden Artikel, von Fachkolleginnen und Fachkollegen Borudieus. Axel Honneth verortet ihn beispielsweise im Kontext zwischen Marx, Kritischer Theorie und Max Weber, Nancy Fraser diskutiert die Forschung Bourdieus zur Frauenfrage und post-industrieller Gesellschaft. Diskutiert wird eigentlich alles wichtige aus Bourdieus Werk, außer vielleicht seine frühen ethnologischen Arbeiten in Algerien.

In der Schweiz und in Deutschland bekannt ist Bourdieu wohl vor allem mit „Das Elend der Welt“ [Bourdieu, Pierre et al. (1997) / Das Elend der Welt : Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. – Konstanz : UTB. franz.: La misère du monde (1993)], einer Studie über das Leben in den Banlieus (was aber eben auch als potentielle Zukunft des Lebens im Kapitalismus verstanden wird). Das Buch ist vor allem im Le monde diplomatique Milieu bekannt und wurde gerade während der Occupy-Proteste und der Berichterstattung über diese immer wieder referenziert. Auch in der Le Monde wurde es in diesem Zusammenhang noch einmal besprochen.

Aber: Bezogen auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft scheint mir das nicht das relevanteste Werk Bourdieus zu sein. Da allerdings diese, unsere Wissenschaft erstaunlich unsoziologisch ist (ganze Zweige kommen ja damit aus, nicht über die Gesellschaft zu reden, wenn sie über Information forschen), ist Bourdieu auch nicht wirklich bekannt.

Allerdings: Gerade bezogen auf die Forschungen zu Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken und Nutzungsweisen von Bibliotheken sind zwei andere seiner Werke relevant: Die feinen Unterschiede [Bourdieu, Pierre (1982) / Die feinen Unterschiede : Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. franz.: La distinction : Critique sociale du jugement] und (zusammen mit Jean-Claude Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit [Bourdieu, Pierre ; Passeron, Jean-Claude (1971) / Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. – Stuttgart : Klett, 1971. franz.: Les étudiants et la culture und La reproduction : Eléments pour une Théorie du Systéme d’Enseigenement]. Der zehnte Todestag scheint ein guter Zeitpunkt, auf diese beiden Werke noch einmal dezidiert hinzuweisen. Ich würde argumentieren, dass man beide gelesen haben sollte, bevor man versucht, etwas über Bildungswirkungen, Habitus oder gesellschaftlichen Barrieren auszusagen.

In Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu, zusammen mit einem Team an weiteren Forschenden, eine grundlegend einfache These empirisch: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung einer Person, deren Alltagsgestaltung, kultureller und sozialer Aktivitäten. Oder anders: Die Reichen leben auf die eine Weise, die Armen auf eine andere – und das weder vollständig selbst gewählt, noch erzwungen. Es lassen sich unterschiedliche Subgruppen ausmachen; aber allen ist gemein, dass sie ihren eigenen Lebensstil als quasi natürlich ansehen. Ins Museum gehen oder nicht ins Museum gehen, gebrauchte Möbel kaufen oder handgefertigte, viel reden und aushandeln oder lieber viel schweigen: was wie eine individuelle Disposition wirkt, ist immer eine Wahl innerhalb eines sozial verorteten Rahmens.

Das ist die Grundthese, die bei Bourdieu mittels mehrere tausend Interviews (und dabei Beobachtungen der Wohnungen der Befragten) untersucht wird. Dabei geht es nicht nur darum, die These zu testen, sondern auch darum, die Befunde in einer Theorie zu erklären. Hierbei führen Bourdieu et al. die Konzepte soziales Kapital und Bildungskapital ein. Diese Konzepte sind anschließend trivalisiert worden. In der heutigen Verwendung fehlt ihnen eine wichtige Grundtendenz, nämlich die Überlegungen zur Akkumulation, Reproduktion und Transformation dieser Kapitalarten. Deshalb sollte man, neben der empirischen Herleitung, die Herleitung der Kapitalarten bei Bourdieu direkt nachlesen. Dann wird nämlich klar, dass es nicht einfach möglich ist, Kapital „nachzuschießen“, also beispielsweise einige Unterstützungsangebote für sozial Schwache anzubieten und damit Chanchengleichheit im sozialen Rahmen herzustellen. Ebenso wird klar, dass es bei sozialen Ungleichheiten größtenteils um systemische Probleme geht und nicht um individuelles Fehlverhalten.

Bezogen auf Bibliotheken bietet dieses Konzept eine viel bessere Möglichkeit, die unterschiedlichen Nutzungswiese oder Nicht-Nutzungsweisen von Bibliothek und bibliothekarischen Angeboten zu verstehen, als die zumeist aus dem Marketing geborgten Methoden.

In der Illusion der Chancengleichheit gehen Passeron und Bourdieu dem Phänomen nach, dass das (hier französische) Bildungssystem auf der einen Seite Chancengleichheit bieten soll und anstrebt, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Gleichheit der Chancen auch einigermaßen hergestellt wäre – und gleichzeitig doch Ungleichheit produziert, die sich zudem auf soziale Strukturen zurückführen lassen. Heutzutage ist zumindest der Fakt anerkannt, dass Bildungssysteme diese Ungleichheiten systematisch produzieren und dass dies eine Skandal ist. Allerdings gilt auch hier wieder: Die Erklärungsansätze sind relativ theorielos und verbleiben oft bei der Annahme, dass sozial Schwachen etwas nachgeholfen werden, gleichzeitig individuelle Aufmerksamkeit geschult werden müsse und dann würde sich das Skandalon lösen. So einfach ist das leider nicht (obgleich nichts gegen solche Unternehmungen nichts gesagt sein soll).

Passeron und Bourdieu kommen letztlich zu dem einfachen Grundsatz: Auch ein chancengerechtes System, dass in einer sozial ungleichen Gesellschaft funktioniert, produziert – weil eben keine Chancengleichheit am Beginn steht und zudem das System nicht unabhängig von der Gesellschaft agiert – Ungleichheit. Vielmehr: Durch die potentielle Blindheit (wenn diese Fakten vom System verleugnet werden und beispielsweise behauptet wird, die Schulzensuren wären für alle Schülerinnen und Schüler gleich und würden die gleichen Anforderungen stellen) verstärkt das vorgeblich gerechte Bildungssystem die bestehenden Ungleichheiten noch – ohne böse Absicht einzelner Individuen. Passeron und Bourdieu führen das schöne Beispiel des Bauernjungen an, für den in der Abschlussprüfung Nachsicht geübt wird, weil niemand der Prüfenden es ihm schwerer machen will, als unbedingt notwendig; aber gleichzeitig nicht gefragt wird, wo und wie sich dieser Bauernjunge überhaupt auf dem Weg zu dieser Prüfung in den zahlreichen Jahren zuvor durchsetzen musste.

Die Illusion der Chancengleichheit öffnet die Augen für solche unintendierten Effekte gutgemeinter Bildungsanstrengungen und Annahmen über das Lernen. Was für Schulen gilt, gilt für Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken und die dort (implizit) genutzten Annahmen über das Lernen und die vorgebliche Herstellung von Chancengleichheit bei der Nutzung von Bibliotheken, noch verstärkt.

Sichtbar ist: Beide Bücher wurden vor Jahrzehnten geschrieben, der Bezug ist Frankreich, nicht die Schweiz oder Deutschland. Und selbst in Frankreich hat sich die Situation gewandelt. (Siehe Das Elend der Welt) Zudem ist Bourdieu seit 10 Jahren tot, kann also auch nichts mehr fortschreiben. Dennoch sind die beiden Werke als Grundlage für das Weiterdenken weiterhin geeignet. Sie sind große Entwürfe, welche das Nachdenken anregen. Nicolas Truong und Nicolas Weill schreiben in ihrem Essay über Bourdieu in Le Monde, dass er in Frankreich quasi eine Soziologie zurückgelassen hätte, die jetzt wie ein Orchester ohne Dirigent funktioniert, obgleich diese Orchesterfunktion von Bourdieu nicht angestrebt war. Eben eine solche Wirkung kann man den beiden Werken für ein gesellschaftspolitisch interessiertes Nachdenken und Forschen über Bibliotheken zuschreiben. (Zumal das Leben Bourdieus gleich die Frage aufwirft, ob man als Nachdenkender über soziale Strukturen gesellschaftlich inaktiv bleiben darf., wobei er selbstverständlich in der Tradition engagierter Intellektueller – Zola, Satre, Foucault etc. – steht, was für die Bibliothekswissenschaft in der Schweiz und Deutschland, bei allem Respekt, nicht gesagt werden kann.)

Buchankündigung Randolph C. Head

Randolph C. Head hat ein Buch über Jörg Jenatsch geschrieben. Wer Jenatsch nicht kennt, sollte sich was schämen, immerhin ist er eine der bedeutendsten Personen in der Geschichte Graubündens (und damit meiner neuen Wahlheimat). Weil dieses Buch gerade ins Deutsche übersetzt wurde und der Verlag mit dem Autor eine Präsentation dieses Buches veranstaltete, findet sich in der hiesigen Umsonstzeitung (!) ein längeres Interview mit ihm. In diesem spricht er auch darüber, was er jetzt plant. Da es sonst wohl untergehen und übersehen würde, hier das Zitat (Aus: Buchli, Martina / "Jenatschs Axt": Eine neue Sicht auf den Bündnder Freiheitshelden". – In: Rheinzeitung, 7 (2012) 1, 04.01.2012, S. 3):

Ich arbeite jetzt an einem größeren Buch, das eher wissenschaftlich geschrieben ist. Es geht um die Geschichte der Archive, der Wissensorganisation und der Wissensaufbewahrung. Auch im Europa der frühen Neuzeit. (…) Es soll ein Buch werden, das auch einen Bezug zur Gegenwart hat. Heutzutage haben wir das Internet, Z. B. Google, Wikipedia, die unzählige Quellen zugänglich machen. Die Frage, was archiviert wird und wie man das organisiert, ist heute sehr relevant. Die Frage stellte sich angesichts der Papierflut aber auch in früheren Jahrhunderten.

 

Okay. Schauen wir doch mal, was da rauskommt.