In diesem Blogpost möchte ich eine Frage diskutieren, bei der ich mir schon denken kann, dass sie nicht allen gefällt. Mir ist klar, dass irgendjemand zumindest denken wird, wie falsch das ist, dass ich ausgerechnet als Deutscher in die Schweiz komme und dann den Schweizer Bibliotheken dieses Thema auftische (auch wenn es jetzt erstaunlicherweise schon zehn Jahre sind, die ich hier bin). Und dennoch, die Frage drängt sich immer wieder auf. In den Kunstmuseen der Schweiz wird sie jetzt laut thematisiert. Selbst wenn ich sie nicht anspreche, wird irgendjemand anders es machen. Sie ist einfach zu naheliegend.
Deshalb: Sollten Bibliotheken in der Schweiz Provenienzforschung mit Bezug auf die NS-Zeit machen?
Die Frage impliziert, dass sie es bislang nicht tun. Ich kann da falsch liegen, aber mir ist kein Projekt, kein Arbeitsgang, kein Ansatz dazu bekannt. Zumindest als grösser besprochenes Thema ist es mir noch nicht untergekommen. Ich werde im Folgenden (1) kurz thematisieren, wie sich die Situation gerade in Kunstmuseen der Schweiz darstellt, (2) wie sie in deutschen und österreichischen Bibliotheken ist, (3) dann diskutieren, ob die schweizerischen Bibliotheken sich überhaupt die Frage stellen sollten, ob sie auch vom NS-Regime in den Nachbarländern profitiert haben. Ganz am Ende (4) gehe ich nochmal darauf ein, wie Bibliotheken in der Schweiz vorgehen könnten, wenn sie die Initiative übernehmen wollen (und nicht erst darauf warten wollen, dass es zu einem Skandal kommt und sie dann dazu getrieben werden).
1. Das kontaminierte Museum
Ein Buch, dass aktuell recht gut herumgeht, ist «Das kontaminierte Museum» von Erich Keller (Keller 2021). In diesem geht es um die Sammlung Bührle, welche jetzt für zwanzig Jahre im Kunsthaus Zürich ausgestellt ist. Emil Bührle war, wie man aus dem Buch lernt – wenn man es nicht schon vorher wusste –, einer der Industriellen, welche von der Schweiz aus während des NS die deutsche Wehrmacht mit bewaffnete (und vorher, dafür ist er erst aus Deutschland in den Schweiz eingewandert, illegal die Bewaffnung dieser Armee während der Weimarer Republik): In seinen Fabriken wurden in der Schweiz Waffen und Munition hergestellt, die zu grossen Teilen an die Wehrmacht verkauft wurden (später aber auch an die Alliierten, als dies geographisch möglich war).
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Gewinnen dieser Geschäfte der Aufbau einer privaten Kunstsammlung finanziert. Dabei profitierte Bührle direkt und indirekt vom nationalsozialistischen Staat. Der Kunstmarkt in Europa war damals davon geprägt, dass Menschen direkt und indirekt gezwungen wurden, die Kunstwerke, die ihnen gehörten, zu verkaufen (zum Beispiel um überhaupt fliehen zu können oder um im Exil zu überleben). Und davon, dass Kunstwerke beschlagnahmt und in grossen Massen wieder direkt im Auftrag des NS-Staats verkauft beziehungsweise versteigert wurden. Dies hatte Auswirkungen bis nach 1945.
Bührle konnte so für relativ wenig Mittel eine Sammlung anlegen und sich gleichzeitig als Mäzen des Kunsthauses Zürich etablieren. Im Buch von Keller geht es darum, wie diese Sammlung – die lange in einem Privatmuseum gezeigt wurde – quasi moralisch «gewaschen» wurde und heute als unbedenklich im aktuellen Neubau des Kunsthauses gezeigt wird. Es geht im Buch auch darum, wie die Politik in eine Studie zur Herkunft der Sammlung eingriff, wie die Familie und Stiftung Bührle versuchte, sich selber moralisch rein zu waschen und auch, wie sich die Sammlung in die Konzepte der Aufwertung der Stadt Zürich einfügte. (Er skandalisiert auch, dass dies gerade in einer rot-grün regierten Stadt passierte.)
Es ist also ein angriffiges Buch, aber mit gutem Grund. Was mich hier aber interessiert sind zwei Sachen: Keller zeigt anhand der Bührle-Sammlung, dass in der Schweiz selbstverständlich auch direkt und indirekt vom NS profitiert wurde. (Das ist nicht neu, es macht aber den Eindruck, als müsste man erstaunlich oft daran erinnern.) Und gleichzeitig zeigt er auch, wie Provenienzforschung dazu genutzt werden kann, die historische Verantwortung, die mit diesem Fakt einhergeht, zu verdecken oder aber anzugehen. Die Bührle-Stiftung legte nämlich eine eigene Forschung vor, die zeigen sollte, dass praktisch alle Bilder in der Sammlung eine ausreichend gesicherte Provenienz haben – und sprach sich dabei immer wieder von moralischen Fragen frei.
Dem entgegen steht, wieder bezogen auf die Schweiz, vor allem das Kunstmuseum Bern und das Kunstmuseum Basel. Beide betreiben seit einigen Jahren auch Provenienzforschung und gehen dabei anders vor als die Bührle-Stiftung und das Kunsthaus Zürich. Bei ihnen geht es nicht darum, möglichst keine moralischen Fragen aufkommen zu lassen, sondern sich diesen zu stellen. Im Fokus steht oft das Kunstmuseum in Bern, welches 2014 in den Besitz der Gurlitt Sammlung gelangte, nachdem es ihr im Testament Cornelius Gurlitts‘ zuerkannt wurde.
Zur Erinnerung: Cornelius Gurlitt war der Sohn des Kunsthändlers Hildebrandt Gurlitt. Dieser wurde 1930 unter anderem durch die NSDAP aus seinem Amt als Leiter des König-Albert Museums in Zwickau entlassen, weil er dort vor allem moderne Kunst förderte und weil er jüdische Vorfahren hatte. Er arbeitet dann nach 1930 und während des NS als Kunsthändler – und zwar auch als einer derer, welche vom NS-Staat eingesetzt wurden, um im grossen Stil beschlagnahmte Kunst zu veräussern. 2012 dann wurden bei Cornelius Gurlitt rund 1500 Werke der Sammlung seines Vaters entdeckt, die praktisch dann erst einmal alle unter Raubgut-Verdacht standen. Die Situation Gurlitts, des Vaters, einerseits gut in der Kunstszene der 1920er und 1930er vernetzt gewesen zu sein, andererseits sich mit dem NS arrangieren zu können, liess nicht klar erkennen, woher diese Bilder stammten und unter welchen Umständen sie erworben wurden. Als das Kunstmuseum Bern dieses Erbe annahm, übernahm es auch die Verantwortung, die Provenienzen dieser Bilder zu klären. Bislang bestätigte sich der Raubkunstverdacht nur bei wenigen Werken, bei anderen ist die Provenienz nicht zu klären.
Es ist also auch in der Schweiz möglich, dass ein Museum sich zu fragen beginnt, woher eigentlich die Werke in seinem Besitz stammen und welche moralischen Fragen sich an diesen Besitz knüpfen. Die Gurlitt Sammlung kam von aussen an das Museum und es ist auch auffällig, dass erst damit eine regelrechte Provenienzforschung eingerichtet wurde. So, als wäre es bei der anderen Sammlung in Bern nicht notwendig gewesen. Dem steht aber nicht gegenüber, das die Bührle-Stiftung es immerhin als notwendig ansah, moralischen Verdacht an ihrer Sammlung (mehr oder weniger erfolgreich) auszuräumen, sondern auch, dass das Kunstmuseum Basel von sich aus in den letzten Jahren begann, die Herkunft der eigenen Sammlung zu hinterfragen und auch – wie das Kunstmuseum Bern – Werke zu restituieren, wenn sich ein Raubkunstverdach erhärtet.
Es gibt also verschiedene Möglichkeiten und es ist eine Entscheidung der Museen (und vielleicht der Politik der jeweiligen Stadt und anderen Träger), wie mit diesem historischen Erbe umgegangen wird.
Was diese Beispiele aber auch zeigen, ist, dass ein Verdrängen der Fragen nur den Zeitpunkt verschiebt, wann sie auftauchen und angegangen werden. Man kann nicht einfach hoffen, dass sie verschwinden werden, sondern muss als Einrichtung immer damit rechnen, dass sie wieder auftauchen. Oft als Skandal. Nur, wenn sich ihnen aktiv gestellt wird, kann man dies irgendwann ausschliessen. (Ganz abgesehen von der moralischen Frage, ob man überhaupt hoffen sollte, dass sie irgendwann, irgendwie vergessen gehen.)
Und: Es ist ja auch nicht so, als hätte die Schweiz keine Erfahrung mit problematischen Geschichten, die verdrängt wurden und dann doch wieder auftauchten. In den letzten Jahren sind zum Beispiel so viele Publikationen zur Verbindung der Schweiz zum Kolonialismus (direkt (Falk et al. 2013, Purtschert & Fischer-Tiné 2015) und indirekt (Schär 2015)) erschienen, dass niemand mehr ernsthaft behaupten kann, dass es diese Verbindungen nicht gegeben hätte. Und jetzt – wieder sichtbarer in Museen als in anderen Bereichen – muss sich damit auseinandergesetzt werden. Vorher war es die Geschichte der «Verdingkinder» und der „Administrativen Versorgungen“ in der Schweiz, mit der sich die Öffentlichkeit und die Strukturen von Politik, Verwaltung und Jugendhilfe auseinandersetzen mussten. (beispielsweise Leuenberger et al. 2011, Guggisberg 2016, Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen 2019)
2. Provenienzforschung in deutschen und österreichischen Bibliotheken
Auch in Deutschland und Österreich dauerte es Jahrzehnte, bis sich Bibliotheken der Verantwortung im Bezug auf den NS stellten. Wirklich begann dies erst Ende der 1990er Jahre, unterstützt durch die «Washingtoner Principles» (zu denen siehe zum Beispiel bei Sarr & Savoy 2018, Hoffrath 2020), nachdem längst alle Beteiligten das Bibliothekswesen verlassen hatten (entweder in Rente waren oder tot). Aber was damals als Einzelprojekte begann, ist heute eine gewissermassen professionelle Organisation:
- Bibliotheken haben sich Wissen dazu angeeignet – mit Rückgriff auf historische Methodiken, aber auch der Arbeit am Bestand selber – wie vorzugehen ist, um mögliche Problemfälle im Bestand zu identifizieren und zu überprüfen, um Forschungen zur Herkunft von Büchern anzustellen und, im Falle, dass sich ihre Provenienz als problematisch herausstellt, Kontakt zu Erben herzustellen und mit ihnen über die Rückgabe der betroffenen Bücher zu verhandeln. Es gibt etablierte Arbeitsabläufe.
- Das es solche Bestände gibt und das es notwendig ist, die moralische Schuld zu übernehmen, ist heute im deutschen und österreichischen Bibliothekswesen eine etablierte Position. Auf Konferenzen werden Veranstaltungen zum Thema organisiert, auf denen es oft mehr um Detailfragen beim methodischen Vorgehen oder um Fragen der Ausweitung der Provenienzforschung geht und gar nicht mehr – weil das geklärt ist – um moralische Fragen. Publikationen zum Thema – sowohl als Monographien als auch eigenständige Artikel – sind so zahlreich, dass sich kaum noch zu überblicken sind. (nur drei: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern 2007, Bödeker & Bötte 2008, Hoffrath 2020) Mit der «DBV Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung», der «VÖB AG NS-Provenienzforschung» und – etwas umständlich – der AG Provenienzforschung in Bibliotheken im Arbeitskreis Provenienzforschung (sonst eher von Museen geprägt) existieren auch etablierte Strukturen für dieses Thema.
- Die Erfahrung ist zweigeteilt: Erstens findet sich sehr viel «NS-Gut» in den deutschen und österreichischen Bibliotheken, wenn man nur genau schaut. Nicht nur solches, dass direkt Opfern des NS entzogen und in Bibliotheken untergebracht wurden, sondern auch solches, bei dem es mehrere Schritte gab zwischen diesen Opfern und den Bibliotheken, in denen die Bücher jetzt stehen (beispielsweise den Antiquariatsbuchhandel oder auch andere Bibliotheken). Es ist auch klargeworden, dass es nicht eine oder zwei Opfergruppen gibt, von denen Bücher entzogen worden. Es geht nicht nur um Bücher, die Jüd*innen entzogen wurden, sondern auch um solche von, zum Beispiel, Freimauer-Logen, sozialistischen, kommunistischen, sozialdemokratischen und ähnlichen Parteien, Gruppen, Gewerkschaften, oder auch aus Bibliotheken besetzter Länder. Zweitens aber zeigt sich auch, dass eine Provenienz als NS-Gut nicht immer heisst, dass diese Bücher aus dem Bestand der Bibliothek entfernt werden müssen. Eine Anzahl von Erben nehmen die Bücher wieder an sich – was ja auch ihr gutes Recht ist –, aber andere lassen die Bücher in den Bibliotheken stehen, mit einem Verweis in den Büchern und Katalogen. Warum wird unterschiedliche Gründe haben, aber oft wird erwähnt, dass es darum geht, eine Erinnerung an die Opfer an den Orten zu lassen, in denen sie lebten (oder als Organisationen aktiv waren). Oft sind also Einigungen möglich – wenn sich Bibliotheken ihrer Verantwortung stellen.
- In den letzten Jahren weiten sich auch die Themen aus, über die in der Provenienzforschung gesprochen wird. Schaut man heute auf die Homepage der erwähnten DBV-Kommission, werden neben dem NS auch im Zweiten Weltkrieg «verlagertes Gut», Kolonialismus und DDR-Unrecht erwähnt. Die – im Falle dieser Kommission deutsche – Geschichte ist voller Verbrechen (die man nicht miteinander vergleichen sollte, sie sind alle für sich zu bewerten), in denen es auch oft um Bücher und Wissen ging. Es werden wohl noch einige dazukommen, mit denen sich die Kommission in Zukunft beschäftigen wird.
3. Ist die Schweiz so «schuldig», dass Bibliotheken sich damit beschäftigen müssen?
Wenn ich gerade gesagt habe, dass die deutsche Geschichte noch eine ganze Zahl an Verbrechen oder moralisch schwierige Punkte hat, auf die die bibliothekarische Provenienzforschung auch noch stossen wird, ist das kein Problem für mich. Das ist das Land, aus dem ich stamme (also, auch nicht wirklich – geboren und aufgewachsen in der DDR ist das auch noch mal eine besondere Situation), und ich war nie mit ihm oder seiner Politik zufrieden (auch wenn es immer schlimmer sein könnte). Schwierige Punkte der deutschen Geschichte aufzählen – da kann ich immer mitmachen.
Aber zumindest bislang habe ich die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht. Ein wenig habe ich schon Bedenken, vor allem mit der deutschen Geschichte im Rücken, als jemand daherzukommen und die Bibliotheken hierzulande moralisch zu bewerten. Ich hoffe, dass sie es selber machen. (Im Museumsbereich passiert dies ja.)
Denn, wie schon bei der Bührle-Sammlung zu lernen war, geht es nicht unbedingt um rechtliche Fragen. Es geht auch nicht darum, welche Bibliothek damals «etwas falsch gemacht hat». Fast alle Beteiligten sind – wie hart das auch klingen mag – jetzt tot. Es geht um moralische Fragen, nicht mehr darum, wer für per Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es geht, so wie es Keller (2021) in seinem Buch über die Bührle-Sammlung darstellt, um die Entscheidungen, die heute in der schweizerischen Gesellschaft getroffen werden.
Deshalb möchte ich hier, in diesem Abschnitt, aber etwas anderes fragen, dass nicht gleich als moralischer Vorwurf verstanden werden kann: Wie wahrscheinlich ist denn überhaupt, dass in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut steht?
Ein Argument nämlich, dass – wie man am Beispiel der Bührle-Sammlung lernen kann – vorgebracht werden könnte, ist, dass die Schweiz nicht am NS beteiligt gewesen sei, sondern ein demokratischen Hafen geblieben wäre. Das ist selbstverständlich historisch falsch: Die Schweiz war immer Teil von Netzwerken mit den umgebenden Ländern (Tanner 2015) und die waren, mit Ausnahme Liechtensteins, halt über mehrere Jahre nationalsozialistisch oder faschistisch. Das die Schweiz mit dieser Realität umgehen musste und dabei nicht immer die moralisch richtigsten Entscheidungen getroffen hat, ist eigentlich seit dem Abschlussbericht der Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002) etabliertes Wissen. Nicht zuletzt wurde oben ja schon mit Emil Bührle eine Person angesprochen, die genau von dieser Situation profitierte. (Keller 2021)
Aber es ist richtig: Es wäre überraschend, wenn Bibliotheken in der Schweiz direkt und ohne Umwege zum Beispiel von der Gestapo Bestände, die von Opfern des NS eingezogen wurden, überlassen worden wärem. Das passierte eher in Deutschland in seiner damaligen Ausdehnung. (Ob es wirklich nicht vorkam, das könnte man aber nur mittels historischer Forschung klären.)
Aber indirekt können schweizerische Bibliotheken sehr wohl profitiert haben. Der NS führte auch zu moralischen Problemen, die über ihn hinausgingen. Ein Beispiel, über das Anatole Stebouraka (2019) berichtet: Am Ende des Zweiten Weltkrieges konfizierte die Rote Armee in Deutschland unter anderem Buchbestände und Kunstobjekte in grosser Zahl, die alle in die Sowjetunion verbracht wurden. Die Begründung dafür war, dass diese als Reparationen für die Sammlungen dienen sollten, welche die Nazis aus der Sowjetunion entwendet oder zerstört hatten. Genauso wie das Vorgehen der Nazis war dieses Vorgehen nach internationalem Recht nicht wirklich gedeckt. Die Haager Landkriegsordnung steht dem entgegen. Aber – die moralische Position war für die Rote Armee haltbarer. Die systematische Zerstörung der Bibliotheken in der Sowjetunion war Realität gewesen. Die Idee, dafür Bücher aus deutschen Bibliotheken als Ausgleich zu konfizieren, ist zumindest nachvollziehbarer. Und: Ohne NS wäre es dazu nie gekommen.
Allerdings, das ist der Punkt bei Stebouraka, ist dies moralisch durch die verflossene Geschichte noch schwieriger geworden. Sie arbeitet selber in der belorussischen Nationalbibliothek in Minsk, dort lagern immer noch einige der damals von der Roten Armee konfizierten Bestände. Weissrussland ist ein Nachfolgestaat der Sowjetunion – aber ist es auch der moralische Nachfolger? Und: Die Bestände dort in Minsk sind in Teilen nicht direkt aus Deutschland, sondern offensichtlich zuerst von den Nazis aus französischen Bibliotheken zusammengetragen worden. Die Rote Armee hat also einmal gestohlene Bestände noch einmal gestohlen. Sollten die jetzt nach Frankreich zurückgegeben werden? Sollte dafür dann zum Beispiel von Deutschland oder Österreich eine Reparation eingefordert werden, weil sie ja eigentlich als Ersatz für zerstörte sowjetische Bestände galten? Stebouraka hat keine Antwort darauf. Aber ihre Geschichte zeigt, wie verzweigt die Fragen sein können. Es geht nicht nur um direkte Beziehungen zum NS-Staat.
Nimmt man zusammen, was man zum Beispiel über den Kunstmarkt während des NS, aus der Provenienzforschung in Bibliotheken, aus der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert und halt solche Geschichten wie der eben erzählten weiss, so finden sich mehrere theoretische Möglichkeiten, wie Bibliotheken in der Schweiz von Notlagen, die der NS geschaffen hatte, profitiert haben könnten:
- Der Buchmarkt in Europa war, durch die ständigen Konfizierungen, «überschwemmt», genauso wie der Kunstmarkt: Der NS-Staat versuchte bekanntlich die Kunst, die er offiziell ablehnte, zu verkaufen, um Mittel für andere Zwecke zu erhalten. Gleichzeitig waren immer mehr Menschen gezwungen, selber Mittel aufzubringen, um vor den Nazis fliehen zu können, und mussten in dieser Notlage nicht nur für ihre Kunstwerke, sondern zum Beispiel auch für ihre Bücher, praktisch jeden Preis annehmen. Bücher, genauso wie Kunst, waren auf einmal in den 1930ern und 1940er Jahren in grosser Zahl und zu geringen Preisen auf dem Buchmarkt zu erhalten. Es wäre erstaunlich, wenn Bibliotheken in der Schweiz diese Möglichkeiten nicht auch genutzt hätten (schon weil die meisten dieser Bücher wohl in Landessprachen der Schweiz geschrieben waren) – zumal sie nicht einmal direkt über deutsche Antiquariate gehen mussten, falls sie moralische Bedenken gehabt haben. Auch, zum Beispiel, in Frankreich profitierte der Kunstmarkt und wohl auch der Buchmarkt. Und selbstverständlich konnte auch der schweizerische Buchhandel als Schnittpunkt agieren. (Keller 2018 deutet dies z.B. gerade für den kommunistischen zürcher Buchhändler Theo Pinkus an.)
- Bibliotheken in Deutschland erhielten direkt Bücher aus den Konfizierungen oder aber konnten bei Versteigerungen, Verkäufen und so weiter billig an diese gelangen. Ein guter Teil davon werden Dubletten gewesen sein, die dann im normalen Dublettentauschen zwischen Bibliotheken eingesetzt werden konnten. Auch auf diesem Weg konnte NS-Raubgut in schweizerische Bibliotheken gelangen.
- Einige Menschen konnten dem NS entfliehen und von diesen wieder einige konnten Teile ihres Eigentums mitnehmen. Auch in die Schweiz. Dort waren sie dann darauf angewiesen, ihr Überleben irgendwie zu sichern. Viele taten dies zumindest für eine Zeit, indem sie das veräusserten, was sie hatten. Auch so konnte (das wieder ein Beispiel aus der Bührle-Sammlung (Keller 2021)) zum Beispiel Kunst billig erworben werden – weil Menschen irgendwie überleben mussten. Es ist gut möglich, dass dies auch für Bücher galt. Waren diese Verkäufe, falls es sie gab, rechtlich einwandfrei? Bestimmt. Die Frage wäre aber, waren sie es dann auch moralisch?
4. Wie könnten schweizerische Bibliotheken vorgehen?
Ist das überzeugend? Vielleicht nicht für alle. Aber ist es nicht zumindest so, dass der Verdacht stark ist, dass auch in schweizerischen Bibliotheken NS-Raubgut und Bücher, die dort nur wegen der Zwangslagen, die der NS produzierte, stehen, zu finden sind? Zumal grosse Bibliotheken in der Schweiz grosse historische Sammlungen haben, weil sie auch heute noch wenig aus dem Bestand entfernen – also auch Bücher, die in den 1930ern und 1940ern erworben wurden, noch zu grossen Teilen erhalten sind. Mir scheint, der Verdacht wird solange bestehen, solange er nicht untersucht wurde – wohl am Besten mit den Methoden der Provenienzforschung, die jetzt in Deutschland und Österreich etabliert sind. Welche Entscheidungen dann aus den Ergebnissen dieser Forschung gezogen werden, dass wäre dann (nochmal der Verweis auf das unterschiedliche Vorgehen der Kunstmuseen in Zürich, Bern und Basel) eine Aufgabe für die betroffenen Bibliotheken. (Und, ich sehe schon mal voraus, dass sich, falls sich Bestände finden, garantiert auch welche im gemeinsamen Bestand in der Speicherbibliothek in Büron finden werden – was nur noch mehr Fragen aufwerfen wird. Wer darf denn über die entscheiden?)
Aber mir scheint, es gibt auch eine gute Seite: Die schweizerischen Bibliotheken müssten für eine solche Provenienzforschung nichts neu erfinden. Historische Forschungen, die den Kontext für solche Arbeit und dann vielleicht später zu treffende Entscheidungen über aufgefundene Bestände, liefern, wurden schon durchgeführt. Methoden wurden auch schon entwickelt. Bibliotheken müssten dies nur zusammenführen: Man müsste die Kolleg*innen aus Deutschland und Österreich, die ja auch schon in Strukturen organisiert sind, einbeziehen, ebenso die Forschenden, die sich mit der schweizerischen Geschichte dieser Jahre befasst haben.
Wichtig wäre zuerst wohl, einen Überblick zu bekommen, viele Bücher (und vielleicht andere Medien) überhaupt in Betracht kommen für diese Provenienzforschung. Im Verdacht stehen – so war das in deutschen und österreichischen Bibliotheken auch – erstmal alle, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden (aus Italien wohl auch schon früher) und wohl auch einige, bei denen es einige Jahre später passierte. Eine Anzahl davon wird man schneller vom Verdacht befreien können. Aber wie viele, wird wohl nur eine Autopsie am Bestand selber zeigen.
Wer sollte das organisieren, wer finanzieren? In Deutschland und dann Österreich begann es mit kleinen Projekten in einzelnen Bibliotheken, teilweise in der Freizeit von Bibliothekar*innen durchgeführt, teilweise von den Bibliotheken finanziert. Heute ist die Situation etwas besser: Es gibt Fördermöglichkeiten und, wieder mit den erwähnten Strukturen, auch eine gewisse Lobby, um solche Fördermöglichkeit von der Politik oder Forschungsförderung – die in diesen Staaten, im Gegensatz zu Schweiz, eine Tradition der Infrastrukturförderung hat – einzufordern. Es ist aber weiterhin eine Mischsituation: Viel Eigeninitiative, viel Finanzierung durch die Bibliotheken selber, ein wenig Förderung durch den Staat. (Ich wäre nicht erstaunt, wenn Studierende, nicht nur aus Bibliotheksstudiengängen, sondern auch der Geschichtswissenschaft, mittels Praktika, Projekten oder Abschlussarbeiten dafür auch herangezogen werden.)
Wichtig ist, dass mehr und mehr Personen und Strukturen Verantwortung übernehmen und dass mit den Strukturen, Publikationen und Treffen sich über Erfahrungen ausgetauscht wird. So entsteht unter anderem auch ein Überblick dazu, was noch nicht untersucht wurde.
Aber ja: Falls mich jemand fragen würde, wie in der Schweiz vorgegangen werden sollte, wäre das meine Antwort:
- Bibliotheken sollten Arbeitszeit dafür bereitstellen.
- Es sollte eine Struktur ähnlich der in Deutschland und Österreich gegründet werden (eine Kommission oder Arbeitsgruppe von bibliosuisse würde sich anbieten).
- Es sollte sich über diese Strukturen in Deutschland und Österreich darüber informiert werden (das kann auch über die zahlreichen Publikationen geschehen, aber… warum nicht direkt fragen?), wie dort vorgegangen wird und dies dann auf die Schweiz übertragen werden.
Wie würde das ausgehen? Da wage ich keine Vorhersage. Meine Wahrnehmung der Schweizer Geschichte ist, dass dieses Land so vernetzt mit der Geschichte all der umgebenden Länder ist, dass sie an allen Anteil hat. Auch, aber nicht nur, dem Schlechten. Insoweit würde es mich wohl überraschen, wenn sich keine problematischen Bestände fänden. Aber wohl weniger, als in deutschen oder österreichischen Bibliotheken.
Was ich mich traue vorherzusagen, ist, dass sich die Provenienzforschung nicht auf den NS beschränken wird. Nicht nur, weil das in Deutschland schon passiert ist (siehe oben). Sondern, weil es sich aufdrängt: Wenn die Schweiz so vernetzt mit der ganzen europäischen Geschichte (im mindesten) ist, wird es auch eine Reihe weiterer Themen geben, bei denen Bibliotheken in der Schweiz von problematischen Situationen profitiert haben – und einige davon werden moralisch schwierig oder falsch gewesen sein. (Andere wieder vielleicht nicht. Die Schweiz hat immer auch viel von Personen profitiert, die von anderswo flohen und dann hierzulande ihre Kompetenzen einsetzen konnten. Das kann auch zum Beispiel bei Personal in Bibliotheken der Fall gewesen sein.)
Entkommen wird man dem aber nicht. Irgendwann kommen die Themen auch so auf. Weil, wie auch schon gesagt, die Geschichte voll solcher Situationen ist und weil Verdrängtes sich schon immer seinen Weg sucht, wieder aufzutauchen.
Literatur
- Bödeker, Hans Erich ; Bötte, Gerd-J. (Hrsg.) (2008). NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek: Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. Berlin, Boston: K. G. Saur, 2008
- Falk, Francesca ; Lüthi, Barbara ; Purtschert, Patricia (2013). Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012
- Guggisberg, Ernst (2016). Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsverein 1948-1965. Baden: hier + jetzt, 2016
- Hoffrath, Christiane (2020). Provenienzforschung und Provenienzerschließung in Bibliotheken: ein Rück- und Ausblick. In: Bibliotheksdienst 54 (2020) 10: 820-832, https://doi.org/10.1515/bd-2020-0095
- Keller, Erich (2021). Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle. Zürich: Rotpunktverlag
- Keller, Erich (2018). Der totale Buchhändler: Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie, 26 (2018) 2:126-148, https://doi.org/10.7788/ha-2018-260203
- Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hrsg.) (2007). Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution: Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2007
- Leuenberger, Marco ; Mani, Lea ; Rudin, Simone ; Seglias, Loretta (2011). „Die Behörde beschliesst“ – Zum Wohl des Kindes?: Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912-1978. Baden: hier + jetzt, 2011
- Purtschert, Patricia ; Fischer-Tiné, Harald (edit.) (2015). Colonial Switzerland: rethinking colonialism from the margins. Zürich: seismo, 2015
- Sarr, Felwine ; Savoy, Bénédicte (2018). Restituer le patrimoine african. Paris: Philippe Rey /Seuil, 2018
- Schär, Bernhard C. (2015). Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015
- Stebouraka, Anatole (2019). Livres français spoliés dans les collections de la Bibliothèque nationale du Bélarus. In:Poulain, Martine (coor.) (2019). Où sont les bibliothèques françaises spoliées par les nazis ?. Villeurbanne: presses l´enssib, 2019: 81-98, https://books.openedition.org/pressesenssib/7892
- Tanner, Jakob (2015). Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2015
- Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (2019). Organisierte Willkür: Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930-1981. (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A) Zürich, Chronos; Neuchâtel, Éditions Alphil; Bellinzona, Edizioni Casagrande, 2019
- Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (2002). Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo, 2002