Zur Differenz zwischen Zielen bibliothekarischer Angebote und dem Bewerten derselben

Öffentliche Bibliotheken sind erstaunlicherweise wenig gut in der Lage, zu zeigen, wie ihre Angebote wirken, also vor allem, welche Veränderungen sie bei ihren Nutzer*innen hervorrufen. Sicherlich sollen gar nicht alle Angebote Veränderungen herbeiführen, beispielsweise sollen Medien aus der Bibliothek auch einfach dafür benutzt werden, um aus Spass an der Freude, aus Jux und Dollerei gelesen zu werden. Aber eine ganze Anzahl von Angeboten zielt zumindest diskursiv darauf, etwas zu verändern: Leseförderung soll die Begeisterung für das Lesen, die Regelmässigkeit des Lesens, den Aufbau von Lesekompetenz und so weiter fördern. Andere Angebote beispielsweise demokratisches Handeln oder den kritischen Umgang mit Fake-News. Bibliotheken sollen auch «mehr und mehr» Teil des Stadtraumes werden oder soziale Orte. Diese Aufzählung lässt sich ergänzen.

Und all dieses «Fördern», «mehr und mehr», «verstärkt» impliziert, dass es jeweils Veränderungen gibt. Menschen nehmen an Demokratieworkshops teil und können nachher demokratischer argumentieren und Dinge aushandeln. Kinder und Jugendliche durchlaufen Leseförderprogramme einer Bibliothek und haben nachher mehr Lesekompetenz als vorher. Oder sie haben mehr Spass am Lesen als vor dem Programm. So ungefähr.

Die Praxis sieht aber so aus, dass es immer wieder eine erstaunliche Differenz zwischen den angegebenen oder zu vermutenden Zielen von bibliothekarischen Angeboten auf der einen Seite und den dann durchgeführten Messungen dieser Ziel auf der anderen Seite gibt. Das war mir schon aufgefallen, als ich meine Promotion zu Bildungseffekten Öffentlicher Bibliotheken schrieb – die auch deshalb nicht bestimmt werden konnten, weil keine Daten zu diesen Veränderungen vorliegen. Desletztens betreute ich aber auch einige Bachelorarbeiten, die mich wieder an dieses Phänomen erinnerten. Das war die Motivation, dieses Phänomen nochmal zu besuchen und zu fragen: Warum ist das eigentlich so?

Mir geht es dabei nicht um die Evaluation von einzelnen Projekten – die kann man auch von «ausserhalb» (Berater*innen, Hochschulen und so weiter) einkaufen, was ja auch getan wird, aber dann ist es halt nicht die Arbeit der Bibliothek selber. Mir geht es darum, dass meistens die Ziele von Angeboten gar nicht nachgewiesen zu werden scheinen, beispielsweise dass in Jahresberichten steht, warum man bestimmte Angebote wie Leseförderung macht, aber nicht, ob dieses Ziele erreicht worden sind. Oder dass wenn Angaben zu den Erfolgen von solchen Angeboten gemacht werden, diese zumeist nicht wirklich in Zusammenhang mit den Zielen stehen. Beispielsweise wieder in vielen Jahresberichten findet man oft Angaben dazu, wie viele Kinder und Jugendliche oder Schulklassen bestimmte Leseförderangebote im letzten Jahr besucht haben, manchmal auch Hinweise dazu, dass die Teilnahme wieder gestiegen ist oder die Zusammenarbeit mit den Schulen weiter funktioniert. Und in einigen Fällen finden sich auch Bilder davon, wie Kinder und Jugendliche begeistert an den Leseförderangeboten teilnehmen. Aber… das Ziel der Leseförderangebote – Lesen und Begeisterung für das Lesen fördern, den Aufbau von Lesekompetenzen zu unterstützen und so weiter – ist ja nicht, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche die Angebote irgendwie durchlaufen oder das sie dabei Spass haben. Um diese Differenz geht es mir.

Vorbild Schule / Kita

Vielleicht, so habe ich mehr als einmal überlegt, fällt mir diese Differenz deshalb auf, weil ich damals bei meiner Promotion (und dann nachher, als ich in der Bildungsforschung arbeitete) auch gesehen habe, wie es in Schulen und – damals recht neu – Kindertagesstätten gemacht wird. Mir ging es ja damals darum, herauszukriegen, welche Bildungseffekte Bibliotheken haben – und wer ist besser darin, Bildungseffekte zu bestimmen, als Schulen? (Die Kindertagesstätten kamen dazu, weil es damals relativ neu Bildungspläne für diese gab und sie anfingen, systematisch in der alltäglichen Praxis die Entwicklung der Kompetenzen von Kindern zu dokumentieren und zu reflektieren.)

Sicherlich: Zur Schule gehört auch immer die Kritik an dieser Beobachtung der Bildungsentwicklung von Kindern und vor allem die Messung mittels Noten – spätestens wohl seit die Staaten Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts die Aufsicht über die Schulen übernahmen. Aber auch diese Tradition der Kritik existiert schon so lange, weil es halt zum Beruf von Lehrpersonen gehört, zu beobachten und zu messen, wie sich das Wissen, die Fähigkeiten, die Kompetenzen der Schüler*innen verändern. Es gehört zur professionellen Arbeit einer Lehrperson, dies regelmässig zu machen, egal ob als Notengebung von Klassenarbeiten oder als Schreiben von individuellen Lernreports für Schüler*innen oder noch anders. Das findet nicht einfach so statt, sondern um die eigene Arbeit als Lehrperson zu reflektieren und auch zu verändern, wenn das notwendig ist. (Es gibt auch weitere Gegebenheiten, für die dieses Messen genutzt wird. Beispielsweise, was ich auch quasi live in der pädagogischen Literatur beobachten konnte, als ich die für die Promotion las, immer mehr Berichte für schulsozialarbeiterische Interventionen oder indirekt für die Evaluation ganzer Schulen.)

Es ist kein Zufall, dass Lehrpersonen so gut darin sind, Aussagen zu den Lernfortschritten «ihrer» Schüler*innen zu machen: Sie sind explizit dafür ausgebildet, es ist Teil der Arbeit, die von ihnen erwartet wird (und für die es dann auch Arbeitszeit gibt), es ist notwendiger Teil für andere Teile ihrer Arbeit, beispielsweise die Unterrichtsplanung selber.

Kindergärten, zumindest in den Deutschland, waren damals (vor fast fünfzehn Jahren) ein weiteres gutes Beispiel: Durch die ersten Bildungsplänen für diese Einrichtungen, die in einigen Bundesländern erlassen wurden, wurde der Wandel von «der Bewahreinrichtung zur Bildungseinrichtung», der eh seit Jahrzehnten im Gang war, weitergetrieben. Von Kindergärtner*innen wurde damals neu erwartet, die Entwicklung der Kinder zu beobachten, zu dokumentieren und auch die Unterstützung weiteren Lernens zu planen. Es gab damals eine Welle der Professionalisierung, die sich in Debatten in der Fachliteratur und der Forschung niederschlug, aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Kindergärten sichtbar wurde. Es war also offenbar möglich, so eine Praxis zu etablieren – wenn es gewollt wurde.

Bibliotheken

In Bibliotheken ist dieses Beobachten von Lernentwicklungen nicht Teil professioneller Arbeit. Auch nicht das Beobachten von anderen Entwicklungen, beispielsweise ob Menschen mehr demokratisch handeln oder sozialer werden.

Das wird klarer, wenn man es mit dem Beispiel Lehrperson vergleicht. Lehrpersonen lernen das Bewerten, das Notengeben, auch das Beobachten und das Einbeziehen all der Daten, die so zustande kommen, in die weitere eigene Arbeit (wieder vor allem die Unterrichtsplanung) in der Ausbildung. In der Entwicklung der Profession von Lehrpersonen wurden immer mehr Formen dieser Beobachtungen und Bewertungen angedacht, ausprobiert, kritisiert, selber bewertet, weiterentwickelt und so weiter. Und sie wurden so sehr Teil der Arbeit, dass sie Teil der Arbeitszeit und der Anforderungen an Lehrpersonen sind: Ein*e Lehrer*in vergibt Noten, dass ist Teil der Arbeit – auch wenn die Lehrperson das alles kritisch sieht.

In Bibliotheken ist das nicht so. Das Bewerten von Angeboten über einfach zu erhebende Daten (die, die eh im Bibliothekssystem erhoben werden oder solchen, die leicht ausgezählt werden könne, wie die Anzahl von Teilnehmenden) ist weder Teil der Ausbildung noch Teil der professionellen Arbeit selber. Es gibt weder eine Diskussion im Bibliothekswesen über die Möglichkeiten und Grenzen von Erhebungsinstrumenten noch gibt es überhaupt etablierte Erhebungsinstrumente. In Schulen werden die meisten Lehrpersonen sich kritisch zu Schulnoten äussern – aber es gibt Schulnoten und sie sind etabliert.

Dadurch, dass solche Messungen nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit sind, fehlt in Bibliotheken zum Beispiel auch Arbeitszeit, um diese Messungen überhaupt durchzuführen oder die Ergebnisse regelmässig zu reflektieren. (Deshalb vielleicht immer wieder neue Versuche in Projekten, in denen man Zeit dafür einplanen kann, die aber nicht in die kontinuierliche Arbeit übernommen werden.)

Und selbstverständlich: Wenn es nicht gemacht wird, wird es auch nicht geübt und kann auch nicht zu einem so normalen Teil der Arbeit werden, wie es das Benoten für Lehrpersonen oder das Anlegen von Lerndossiers für Kindergärtner*innen ist.

Warum ist das so?

Warum ist das so? Warum wird des Messen der Effekte von Angeboten von Bibliotheken nicht Teil der bibliothekarischen Arbeit? Warum gibt es zum Beispiel gerade keine bekannten Projekte, Messinstrumente dafür zu entwickeln, wie Leseförderaktivitäten bei den potentiellen Lesenden wirken? Sicherlich kann man einige naheliegende Gründe finden, warum es in Schulen einfacher ist, zu benoten oder Lernentwicklungen zu beobachten, als in Bibliotheken. Beispielsweise die Freiwilligkeit der Teilnahme an bibliothekarischen Angeboten (ausser gerade dann, wenn sie im Rahmen von Schulen oder Kindergärten stattfindet), die vielfältigen Aufgaben von Bibliotheken, der Fakt, dass Lehrpersonen die von ihnen betreuten Schüler*innen über Jahre regelmässig treffen, Bibliothekar*innen hingegen nur selten. Aber das wären alles Herausforderungen, keine unüberwindlichen Hindernisse.

Der Grund scheint mir ein anderer zu sein: Es ist einfach nicht notwendig, diese Arbeit zu leisten. Zwar gibt es immer wieder die Behauptung, Bibliotheken müssten (immer mehr, gerade jetzt et cetera) nachweisen, was sie machen und das sie damit erfolgreich sind. Aber… das stimmt ja nicht. Oder zumindest zumeist nicht. Weder die Träger noch die allgemeine Politik noch die Gesellschaft an sich wollen so genau wissen, welche Effekte die Arbeit von Bibliotheken haben. Was gerade die Träger immer wieder interessiert ist, dass Bibliotheken den Eindruck vermitteln, sich zu entwickeln und gleichzeitig zu wissen, was sie tun. Das gilt auch oft für Kooperationspartner. Aktive Bibliotheken sind gefragt, solche die zeigen, dass sie sich entwickeln. Aber keine Schule wird erst von der Bibliotheken einen Nachweis der Wirksamkeit von Leseförderangeboten und so weiter verlangen, bevor sie sich für oder gegen eine Zusammenarbeit entscheidet.

Vielleicht kann mir jemand Gegenbeispiele nennen, aber in all meinem Jahren, in denen ich auch Bibliotheken bei Strategieentwicklungen und so weiter unterstütze, ist mir noch nie ein Fall untergekommen, wo wirklich gefragt wurde, ob zum Beispiel die Leseförderung der Bibliothek wirklich dazu führt, dass die Kinder und Jugendlichen mehr oder besser und lieber lesen oder nicht. Was mir begegnet ist die immer wieder Überzeugung von Trägern, dass Bibliotheken (zum Beispiel) Leseföderung machen und das sie sich gleichzeitig entwickeln sollen. Aber wie genau – das bleibt immer wieder den Bibliotheken selber überlassen.

Gleichzeitig ist es nicht Teil bibliothekarischer Arbeit, die Ergebnisse (zum Beispiel) von Leseförderung so zu reflektieren, dass sie mehr förderlich werden können. Vielmehr wird immer wieder gefragt, was sich die Kolleg*innen zutrauen, woran Kinder und Jugendliche Spass haben, was die Schulen und Kindergärten von der Bibliothek erwarten. Aber wenn das die Kriterien sind, nach denen Leseförderung bewertet und entwickelt wird, dann ist es auch nicht notwendig, nach den tatsächlichen Effekten zu fragen.

Und nicht notwendig heisst auch, dass es nicht zum Teil der professionellen Arbeit wird und dann zum Beispiel auch nicht Arbeitszeit dafür genutzt werden kann. (Es heisst nicht, dass nicht einzelne Kolleg*innen es trotzdem immer wieder einmal versuchen oder zumindest andenken. Ein wenig scheint das parallel zu gehen damit, dass im Schulwesen kontinuierlich das Notengeben kritisiert wird – genauso wird immer wieder einmal im Bibliothekswesen angemerkt, dass man eigentlich nicht richtig weiss, ob die Leseförderung wirklich das Lesen fördert.)

Was das auch heisst, ist selbstverständlich, dass es nicht ein Fehler, gar ein Fehler von bestimmten Kolleg*innen, wäre, dass es ständig diese Differenz zwischen Zielen von bibliothekarischen Angeboten und dem Messen der Effekte derselben gibt. Wenn es ein Sinn im System Bibliothek hätte, würde es dieses Messen schon geben. Aber solange es diesen Sinn nicht gibt – weil die Entwicklung und Weiterentwicklung von Angeboten nicht beinhaltet, ob die Ziele überhaupt erreicht wurden, und wenn es auch von aussen kein wirkliches Interesse daran gibt, dass zu wissen – wird das strukturell nicht Teil der professionellen Arbeit von Bibliotheken werden. (Wird es weiter immer wieder Kolleg*innen irritieren? Ja. Aber, wie gesagt, gehört das wohl auch zu dieser Struktur.)

Warum es doch gut wäre

Kann sich diese Situation ändern? Ja, selbstverständlich. Die oben geschilderte Entwicklung in den Kindergärten vor einigen Jahren ist da ein Beispiel für.

Aber es muss einen Grund geben, warum diese Änderung stattfinden sollte. Ansonsten bleibt es bei vereinzelten Versuchen, Kolleg*innen, die irritiert über die Situation sind und Behauptungen darüber, dass es notwendig wäre, solche Nachweise der Wirksamkeit einzuführen. Bei den Kindergärten war es vor allem, aber nicht nur, die Politik, welche diese Entwicklung vorantrieb. Kindergärten wurden in das Bildungssystem integriert und somit wurde von ihnen auch erwartet, mehr wie andere Bildungseinrichtungen zu funktionieren. Sicherlich: Die konkrete Umsetzung fand dann in den Einrichtungen selber statt und wurden zum Beispiel von der Erziehungswissenschaft unterstützt. Aber die Erwartung von aussen war Triebfeder für die Veränderung selber.

Das kann auch im Bibliothekswesen passieren. Falls die Bildungspolitik einmal die immer wieder von Bibliotheken und Bibliotheksverbänden vorgebrachte Argumentation, sie seien auch Bildungseinrichtungen, ernst nimmt, wird das wohl auch heissen, dass innerhalb recht kurzer Zeit Öffentliche Bibliotheken mehr wie die anderen Bildungseinrichtungen werden und es schnell zum Teil professioneller bibliothekarischer Arbeit werden, Lernentwicklungen zu beobachten und zu dokumentieren. Auch wenn jetzt noch nicht klar ist, wie das genau aussehen könnte. (Und keine Angst: Wenn es tatsächlich ein Interesse daran gibt, gibt es auch mehr Personalmittel, um diese Anforderung umzusetzen – so, wie es bei den Kindergärten passierte.)

Aber dieser Druck von aussen ist nicht die einzige Möglichkeit. Professionen können sich aus sich selber heraus verändern, wenn es eine Neubewertung davon gibt, was für die Profession relevant ist. Dann beginnen sich Professionen auch Gedanken darum zu machen, wie die dann neuen Ziele erreicht und in die normale Arbeit integriert werden können.

Eine solche Veränderung wäre zum Beispiel, wenn es im Bibliothekswesen als relevant angesehen wird, nicht Angebote zu machen, von denen man hofft oder annimmt, dass sie das Lesen fördern, sondern wenn man es als notwendig ansehen würde, nur Angebote zu machen, die dies auch wirklich tun. Wenn also die tatsächlichen Entwicklungen der Lesemotivation, der Lesefähigkeiten, der Lesekompetenzen und so weiter der potentiellen Lesenden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt würden. Das würde dann einiges verändern. Nicht nur würde dann ein Interesse daran erwachsen, den jeweiligen Stand dieser Fähigkeiten und so weiter vor, während und nach Leseförderungsaktivitäten zu bestimmen, sondern auch daran, überhaupt zu verstehen, wie der Aufbau derselben vonstatten geht, wie Aktivitäten mithilfe solcher Daten weiterentwickelt werden könnten und so weiter. Das würde dann gewiss auch die Leseförderung in Bibliotheken konkret verändern, bestimmte Formen würden weniger gemacht, andere mehr. Bestimmte Vorstellungen über die Wirksamkeit von Leseförderung, die in Bibliotheken oder bei einzelnen Bibliothekar*innen existieren, würden dann hinterfragt werden. (Einige Kolleg*innen würden dann aus dem Bibliothekswesen ausscheiden, weil sie das alles nicht mittragen wollen oder können; andere würden dafür dazu kommen – das ist in Kindergärten genauso passiert wie damals, als Ende des 19. Jahrhunderts die Schulen professionalisiert wurden.)

Wäre das besser? In bin versucht zu sagen, für die potentiellen Lesenden wäre es tatsächlich besser. Aber es wäre halt eine Veränderung, die von innen heraus, aus dem (Öffentlichen) Bibliothekswesen kommen müsste.