Zoos sind doch schon lange Teil der Stadtgesellschaft! Oder: Über die Ungeduld von Bibliotheken, dass ihre Veränderungen endlich anerkannt werden sollen.

In letzter Zeit lese ich in Sozialen Medien und an ähnlichen Orten wieder verstärkt Äusserungen von Bibliothekar*innen, die mal mehr und mal minder zu beklagen scheinen, dass die Veränderungen, die in Bibliotheken – es geht dabei meist um Öffentliche Bibliotheken – von anderen nicht wahrgenommen werden würden. «Bibliotheken sind längst Teil der Stadtgesellschaft» heisst es da oder «Bibliotheken sind schon lange Dritte Orte» oder «Es ist erstaunlich, was [die Politik, der Journalismus, die Öffentlichkeit, Entscheider*innen, konkrete Personen] noch über Bibliotheken denken. Wir sind ganz anders geworden.» Grundsätzlich scheinen diese Äusserungen eine gewisse Verzweiflung zu vermitteln, aber auch ein gewisses Beleidigtsein. Es scheint, als würden die, die sich so äussern, etwas von ausserhalb des Bibliothekswesens erwarten, und gleichzeitig in gewisser Weise daran zu leiden, dass diese Erwartung nicht erfüllt wird.

Mich erstaunen diese Aussagen und vor allem, dass es scheint, als würden sie immer und immer wieder gemacht werden. Als würde das alles nicht von der Stelle kommen. (Selbstverständlich ist das nur zum Teil richtig: Es sind immer wieder einmal neue Bibliothekar*innen, die sich so äussern. Aber Inhalt und Tenor scheinen sich trotzdem nicht gross zu ändern.) Was ich in diesem Blogpost machen möchte, ist (1) zuerst die Erwartungen, die hinter solchen Äusserungen stehen, etwas zu erden, (2 & 3) zweitens die Erwartungen etwas genauer klären, weil ich denke, dass sich wenig über mögliche Konsequenzen Gedanken gemacht wird, (4) diese möglichen Konsequenzen kurz aufgliedern. Einerseits sagen diese Äusserungen selbstverständlich etwas über das Bibliothekswesen und wie es sich selber versteht aus. Man kann dabei stehenbleiben und es als Teil der «Identität» von Bibliotheken akzeptieren. Andererseits muss man das aber nicht. Wenn diese verzweifelten Ausrufe ernst gemeint sind, dann könnte man nämlich auch daran gehen, etwas an ihren Gründen zu ändern.

1. Zootest II

Ich hatte für das Thema «Umfragen in Bibliotheken» schon einmal einen Zootest vorgeschlagen. Hier ist ein zweiter. Insbesondere dann, wenn Bibliothekar*innen das Gefühl haben: «Ja, es stimmt was mit diesen Äusserungen gesagt wird, dass die Welt [Politik, Öffentlichkeit und so weiter] ignoriert, was wir in Bibliotheken so in den letzten Jahren verändert haben», kann der vielleicht etwas erden.

  1. Schreiben Sie einmal, ohne nachzuschauen, auf, fünfzehn Minuten lang auf, was Zoos machen: Was sind ihre Aufgaben? Wie erfüllen sie die? Was macht einen Zoo aus?1
  2. Zoos haben sich in den letzten 15 Jahren verändert und sind nicht mehr so, wie sie früher waren. Schauen Sie jetzt, was ihr gerade geschriebener Text über Zoos über diese Veränderungen sagt. Schauen Sie dann einmal in der Literatur über Zoos nach und vergleichen Sie dann: Was von den tatsächlichen Veränderungen findet sich in Ihrem eigenen Text wieder? Was von dem, wie Zoos ihre Aufgaben und Aussenwirkung verstehen, findet sich in Ihrem Text?

Was man, so wette ich, bei dieser Übung merken wird, ist, dass man es nicht so richtig weiss. Vielleicht hat man hier und da etwas bemerkt, als man zuletzt im Zoo war – beispielsweise, dass öffentliche Fütterungen jetzt eigentlich immer moderiert werden –, aber die meisten Veränderungen, vor allem die, wie sich Zoos selber sehen und wie sie gerne von der Öffentlichkeit gesehen würden, kennt man nicht. Eher würde man die eigene Vorstellung von Zoos bei der Überprüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit als, nun ja, veraltet und etwas stereotyp ansehen. Und das ohne böse Absicht, weil: Wer hat schon was gegen Zoos?2

Wie Einrichtungen in der Öffentlichkeit [der Politik, dem Journalismus und so weiter] wahrgenommen werden, hat immer nur indirekt etwas mit der Realität in diesen Einrichtungen zu tun. Die Vorstellungen, die über eine Einrichtung verbreitet sind, ändern sich nur langsam – und fast nie, weil die Einrichtungen sich ändern. Das ist mit Bibliotheken nicht anders als mit Zoos. Wenn man selber, als Bibliothekar*innen aber die Veränderungen in Zoos nicht wahrgenommen hat, wie soll man dann erwarten, dass andere die Veränderungen in Öffentlichen Bibliotheken wahrgenommen und dann auch noch so bewertet haben, wie die Bibliotheken sie selber bewerten? [Und wenn man glaubt, dass das halt bei Zoos so ist, aber nicht bei anderen Einrichtungen: Was hat sich denn in den letzten 15 Jahren in Fachhochschulen verändert? Da stosse ich in Bibliotheken auch immer wieder auf erstaunliche Vorstellungen.]

Man sollte die eigenen Ansprüche realistisch halten. Sicherlich: Leute arbeiten Tag für Tag in der Bibliothek, sie versuchen dies, verändern das, machen sich Gedanken, stecken Arbeit hinein. Und dann stellen sie fest, dass die ganze Arbeit nicht – oder nicht so viel, wie sie gerne möchten – wahrgenommen wird. Das kann frustrieren, aber es ist nichts Bibliotheksspezifisches. Das gilt einfach für alle Einrichtungen in unseren funktional differenzierten Gesellschaften. Gerade deshalb, weil die Funktionen differenziert werden und wir mehr oder minder darauf vertrauen können, dass sie von Einrichtungen, «die dafür zuständig sind», erfüllt werden, denken wir alle wenig darüber nach, wie sich die ganze Einrichtungen tatsächlich verändern, ausser wenn wir mit ihnen direkt zu tun haben oder aber es zu Krisen in ihrer Funktion kommt. Auch, wenn man sich dadurch persönlich manchmal in der eigenen Arbeit in der jeweils eigenen Einrichtung herabgesetzt fühlen kann, hat das im Gesamt gesehen auch grosse Vorteile: Mehr oder minder funktioniert die Gesellschaft. (Sie könnte immer besser funktionieren, aber immerhin bricht sie nicht auseinander und liefert bessere Ergebnisse, als wenn es sie nicht gäbe.)

Äusserungen von Bibliothekar*innen, die sich verärgert darüber zeigen, dass die ganzen Veränderungen, die sie so anstreben oder durchführen oder wahrzunehmen scheinen, gar nicht richtig gewertschätzt werden, übergehen das. Deswegen ändern sie auch nichts. (Und haben tatsächlich wenig verändert. Seit den 1970er Jahren, nachdem die Freihand etabliert war, sind Öffentliche Bibliotheken immer wieder in Sinnkrisen und wollen sich entwickeln – und entwickeln sich auch. Aber seitdem finden sich solche Stossseufzer, dass diese Entwicklungen nicht wahrgenommen werden würden, immer wieder. Sicherlich jetzt, mit den sozialen Medien, verstärkter wahrzunehmen, aber mehr versteckt auch in der bibliothekarischen Literatur in den Jahrzehnten zuvor. Das legendäre Bild von dem «Bild der verstaubten Bibliothek, von dem wir wegkommen müssen» ist keine neue rhetorische Figur, sondern eine mit Tradition. Die Frage ist, was das Ziel ist: Was wollen Bibliothekar*innen mit diesen Äusserungen erreichen? Die Gesellschaft und die Bibliotheken haben sich verändert, aber diese Stossseufzer eigentlich nicht. Es scheint, als ginge es um etwas anderes: Um die Identität der Bibliotheken selber.)

2. Was wäre denn wenn?

Man könnte dabei stehen bleiben. Vielleicht ist es einfach Teil der Identität von gesellschaftlichen Einrichtungen, dass von Zeit zu Zeit einmal solche Stossseufzer ausgestossen werden. (Weil, wenn man sich nur genug mit anderen Einrichtungen beschäftigt, hört man solche Äusserungen auch dort.) Vielleicht hört man sie im Bibliothekswesen mehr oder intensiver als in anderen Einrichtungen, die sich ihrer Position sicherer sind – aber das wäre zu überprüfen (vielleicht ist das auch einfach meine Wahrnehmung, weil ich mehr mit Bibliotheken zu tun habe, als mit anderen Einrichtungen). Ich möchte aber ein bisschen weitergehen und fragen, was denn wäre, wenn jemand auf diese Äusserungen reagieren würde – wie würde die Welt dann aussehen?

Interessanterweise ist das praktisch nie Thema solcher Äusserungen. Man kann einiges vermuten, aber es klingt dann immer wie ein Klischee: Menschen würden für bestimmte Dinge, die, die halt neu sind (und nicht einfach die Medien sind, die eine Bibliothek im Angebot hat) in die Bibliothek kommen. Politiker*innen würden mehr Geld geben – oder auch nur, sich positiv über die Arbeit von Bibliotheken äussern (aber das tun sie eigentlich auch schon so regelmässig). Journalist*innen würden vor allem darüber berichten, wie sich Bibliotheken verändern (aber ehrlich gesagt, ist das immer wieder Thema von Artikeln und Beiträgen, die dann in der Bibliotheksszene rumgereicht werden). Oder Jugendliche würden sagen «Bibliotheken sind cool» (aber wer sagt schon noch «cool»?). Grundsätzlich ist nicht klar, was eigentlich erwartet wird, welche Veränderung von welchen Personen sich erhofft werden und was das dann wieder für Bibliotheken heissen würde.

Und das ist selbstverständlich ein Problem. Weil: Wenn man nicht weiss, was sich eigentlich ändern soll, kann man auch nicht feststellen, ob es sich verändert. Wenn wir zum Beispiel erwarten würden, dass im Journalismus ein anderes, «zeitgenössisches» Bild von Bibliotheken gezeichnet wird, könnte man erst bestimmen, wie dieses Bild aussehen sollte; dann eine Inhaltsanalyse von journalistischen Beiträgen machen und anschliessend die Ergebnisse mit den Erwartungen vergleichen (und gleichzeitig sehen, ob sich dieses Bild in den Beiträgen über die Zeit verändert hat). Aber – abgesehen davon, dass ich vermuten würde, dass das gezeichnete Bild schon «modern» ist, nur das die Erzählung halt oft ist, dass die/der Journalist*in davon überrascht ist – das ist nicht möglich, weil wir nicht wissen, was für ein Bild den gewünscht ist. Oder wenn wir wüssten, was von der Politik und den Trägereinrichtungen erwartet wird, könnten wir nachschauen, was die den wirklich tun. Aber: Sollen die rumkommen und die Bibliotheken regelmässig für ihre Veränderung loben? Wenn ja, könnte man nachschauen, ob sie das machen. (Auch hier wäre ich nicht überrascht, wenn sich zeigen würde, dass die Politik dies nicht von Zeit zu Zeit macht.) Oder wenn wir wüssten, was Jugendliche oder andere Teile der Bevölkerung von den Bibliotheken denken sollen, könnte man schauen, ob sie das nicht auch machen. (Und auch hier: Wenn man nicht zu hohe Ansprüche hat, kann ich mir gut vorstellen, dass die nicht so negativ denken, wie man vermuten könnte.)

Grundsätzlich scheint mir, dass die, die sich beschweren, nicht wirklich sagen können, was sie den sonst wollen. Die Bibliothek, wenn ihr veränderten Angebote wahrgenommen würden, würde gut benutzt werden. Bibliotheken werden im Allgemeinen recht gut benutzt. Vielleicht nicht alle neuen Angebote so, wie sich die Bibliothekar*innen, die die einrichten, erhoffen – aber an was liegt das? Liegt es wirklich daran, dass die nicht wahrgenommen werden?

3. Ein Politiktest

Ich würde noch einen Test vorschlagen, um die eigenen Ansprüche etwas zu erden: Einmal die Position wechseln.

  1. Stellen Sie sich vor, sie sind Kommunalpolitiker*in mit Regierungsverantwortung: Bürgermeister*in einer mittelgrossen Gemeinde zum Beispiel. Wie sieht ihr Alltag wohl aus? Sie müssen Entscheidungen treffen. Sie benötigen Informationen, um diese Entscheidungen zu treffen – die Sie nicht alle alleine erstellen und besorgen können, sondern über die Sie sich oft auch informieren lassen. Sie müssen Entscheidungen auch vorbereiten, beispielsweise schauen, welche Sie überhaupt rechtlich treffen können und welche Gesetze Sie beachten müssen. Sie müssen Entscheidungen mit anderen absprechen, die auch Einfluss haben. Oft müssen Sie auch über Entscheidungen verhandeln, Kompromisse schliessen und so weiter. Und Kontakte pflegen müssen auch noch.
  2. Was wissen und was wollen Sie in dieser Position von der Bibliothek? Erst einmal wissen Sie, ob die Bibliothek vor Ort funktioniert oder ob es Krisen gibt, also ob sich zum Beispiel viele Menschen über die Bibliothek beschweren oder ob das Bibliothekspersonal ständig nach einigen Monaten kündigt. Aber solange das nicht der Fall ist und solange die Bibliothek nicht negativ heraussticht, wissen Sie vor allem, dass sie funktioniert. Sie wissen nichts von täglichen Klein-Klein in der Bibliothek, so wie sie auch nichts vom täglichen Klein-Klein in den Schulen der Gemeinde oder im Bauamt oder der Stadtgärtnerei wissen. Sie halten Kontakte, sie lassen sich informieren – über die Bibliothek so wie auch über andere Einrichtungen. Das schon. Aber sonst vertrauen Sie, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft die Einrichtung Bibliothek schon weiss, was sie tut.
  3. Was können Sie erwarten von der Bibliothek? Das sie professionell funktioniert. Unter anderen, dass die schon selber weiss, wie Medien für den Bestand ausgewählt werden. Aber auch, dass die richtigen Veranstaltungen organisiert werden. Oder, dass sich die Bibliothek im Kontext der Entwicklung des gesamten Bibliothekswesens mitentwickelt. Anders gesagt: Das sie selber handelt. Das heisst zum Beispiel, dass, wenn es notwendige Änderungen gibt, die Bibliothek Ihnen das präsentiert. Als Politiker*in wollen sie nicht wissen, was Bibliotheken untereinander darüber diskutieren, wozu sie zum Beispiel einen Makerspace oder Beete für das Urban Gardening oder Bibliothekscafés brauchen. Sie wollen eine Entscheidung dazu vorbereitet haben. Wenn die Bibliothek denkt, dass sie einen Makerspace braucht, möchten Sie von der darauf hingewiesen werden und wenn es nötig ist dafür Entscheidungen zu treffen, die über den Rahmen der Bibliothek hinausgehen (beispielsweise weil die Personalstellen, der Platz der Bibliothek oder der Etat verändert werden müssen), dann wollen Sie diese Entscheidung vorbereitet bekommen. Zu dieser Vorbereitung zählt auch, erklärt zu bekommen, wozu das aus Sicht der Bibliothek nötig ist. Aber grundsätzlich wollen Sie eine Bibliothek, die sich selber entwickelt.
  4. Manchmal, meist im Rahmen anderen Entscheidungen, wollen Sie Entscheidungen über die Bibliothek treffen, die nicht von der Bibliothek selber vorbereitet werden. Beispielsweise wollen Sie den Gemeindekern neu beleben, weil der nach und nach immer leerer wird und denken daran ein neues Gemeindezentrum zu bauen, in dem auch die Bibliothek unterkommen soll. Das kommt vor – aber selten. Dann beschäftigen Sie sich etwas mehr mit der Bibliothek, aber vor allem doch mit der Entwicklung Ihrer Gemeinde.
  5. Heisst das, dass sie etwas gegen die Bibliothek haben? Nein. Oft – in mittelgrossen Gemeinden – sind sie gut vertraut mit der/dem Bibliotheksleiter*in, vielleicht auch einzelnen Bibliothekar*innen. Aber halt auch mit so vielen anderen Personen. Da sticht die Bibliothek nicht heraus.

Wenn wir einmal diesen Blickwinkel einnehmen, wird schnell klar, dass Erwartungen an die Politik, dass diese irgendwie wahrnehmen soll, wie sich die Bibliotheken verändern, eigentlich recht illusorisch sind. Was sollte sich denn in der Politik dabei ändern? Sollte sie mehr Lob verteilen? Sollte sie in Leistungsvereinbarungen mit der Bibliothek «moderne Angebote» integrieren im Sinne von «Die Bibliothek betreibt auch ein Café»? (Das passiert, aber vor allem, wenn die Bibliothek es vorbereitet.)

Meiner Erfahrung aus Beratungsprojekten nach funktioniert dies alles auch schon recht gut. Die Politik, insbesondere die lokale, ist eigentlich immer recht gut auf die Bibliothek zu sprechen und unterstützt die im Rahmen ihrer Möglichkeiten. [Selbstverständlich: Die Bibliotheken, die meine Kollegen und mich in Beratungsprojekten engagieren, sind schon eine Auswahl. Vielleicht geht es anderen schlechter und sie können deshalb solche Projekte nicht aufsetzen und finanzieren.] Aber wenn es etwas zu ändern gäbe, dann eher von Seiten der Bibliotheken aus: Die müssten sagen, was sie den anderes von der Politik erwarten. Und da die Aufgabe von Politiker*innen immer wieder heisst, Entscheidungen zu treffen, Richtlinien zu erlassen und so weiter, heisst es auch, dass Bibliotheken solche Entscheidungen vorbereiten müssen. Sie müssen sagen, wofür Geld da sein soll, wofür andere Richtlinien erlassen werden sollen und so weiter. Aber was sie, ehrlich gesagt, von der Politik erwarten können, ist, dass auf ihre Entscheidungsgrundlagen reagiert wird. Nicht weniger, aber auch nicht wirklich mehr – und das ist wieder nicht Bibliotheksspezifisches, sondern gilt für alle Einrichtungen.

4. Veränderungen anstossen

Nehmen wir aber an, die oben genannten Äusserungen von Bibliothekar*innen sind nicht vor allem dazu da, die eigene Identität von Bibliotheken und Bibliothekar*innen als immer wieder irgendwie «übersehen» zu bestätigen, sondern die Kolleg*innen wollen tatsächlich eine Veränderung. Dann sollte man daran gehen, auch tatsächlich etwas zu verändern. Was wäre zu tun?

  1. Erstmal müsste man sich darüber klar werden, dass diese Äusserungen nicht singulär sind – weder für die Bibliotheken als Einrichtungen, noch für diese aktuelle Zeit, noch für die einzelnen Kolleg*innen. Personen in anderen Einrichtungen machen ähnliche Aussagen. Bibliothekar*innen haben solche Aussagen in den letzten Jahrzehnten schon oft gemacht. Andere Bibliothekar*innen machen solche Aussagen auch. Es geht also nicht um einzelne Personen, um die aktuelle Situation oder nur um Bibliotheken – es geht um Strukturen. Was zu verändern wäre, wären Strukturen. Es ginge nicht um die eine Bürgermeisterin, der eine Skater auf dem Platz vor der Bibliothek, die eine Journalistin die nicht schreibt, was man gerne hätte – sondern um grundsätzliche Veränderungen.
  2. Es müsste klar werden, was die angestrebten Veränderungen eigentlich sein sollten. Ich könnte (siehe oben) das nicht sagen – aber hoffentlich die Kolleg*innen, die solche Äusserungen machen. Was genau soll den anders werden? Man könnte das gut und gerne einmal aufschreiben – für solche Selbstverständigungsprozesse von Institutionen sind ja zum Beispiel Berufsverbände da.
  3. Anschliessend müsste man versuchen zu verstehen, warum «die anderen» so handeln, wie sie handeln, wie weiter oben beim «Politiktest». (Dabei muss man nicht raten – es gibt genügend Literatur dazu. Aber wichtig ist, die einzelnen Personen nicht als Individuen – die eine Bürgermeisterin, der eine Skater –, sondern als Personen in Handlungszusammenhängen zu verstehen.)
  4. Und dann müsste man daran gehen, aufbauend auf diesem Verständnis, systematisch auf Veränderungen hinzuarbeiten. Wenn man weiss, welche Veränderungen und welche Handlungszusammenhänge, dann kann man auch ein Programm erarbeiten (wieder: man muss nicht raten, es gibt schon Vorarbeiten, aber die muss man nutzen), um diese Veränderungen anzustreben.
  5. Und dann kann – auch hier sind wieder festere Strukturen wie Berufsverbände im Vorteil gegenüber einzelnen Kolleg*innen – regelmässig geschaut werden, welche Effekte das jeweilige Vorgehen hat und dann darüber nachdenken, warum. Das liefert dann mehr Wissen dazu, ob die Veränderungen möglich sind und was an Vorgehen «funktioniert». Das klingt ein bisschen einfach, aber wenn man versteht, dass es nicht individuelle «Probleme» sind, sondern Strukturen, dann ist das der richtige Weg.

Es müsste dann, in diesem Zusammenhang, auch ein Messinstrument installiert werden, das klären kann, ob man den Veränderungen näher kommt oder nicht. Wenn sich dann über ein längeren Zeitraum nichts verändert, hätte man auch einen klaren Hinweis darauf, dass das (zumindest über den dann eingeschlagenen Weg) nicht funktioniert. Die Interpretation wäre dann eine andere Aufgabe. Es könnte sich zum Beispiel zeigen, dass die bisherige Struktur – beispielsweise: Die Bibliotheken stellen immer mal wieder Angebote um, die Politik begleitet das wohlwollend, aber auch distanziert, weil sie die Bibliotheken als sich selber steuernde, professionelle Einrichtungen wahrnimmt – recht gut funktioniert, als Teil der lose gekoppelten, funktionalen Differenzierung, die unsere Gesellschaften prägt. Aber dann wüsste man es zumindest und könnte sich – als Profession und als Bibliothekar*in – fragen, ob solche Stossseufzer überhaupt einen Sinn haben.


Fussnoten

1 Das funktioniert nicht, wenn Sie zufällig eng verwandt oder befreundet sind mit jemand, die/der in einem Zoo arbeitet und ständig mit Ihnen darüber spricht. Sie müssen von Zoos ein wenig entfernt sein, so wie die normale Öffentlichkeit auch von Bibliotheken ein wenig entfernt ist. Sie können aber eine ähnlich gut beleumundete Einrichtung nehmen: Jugendclubs, Museen und so weiter.

2 Ja, okay. Selbstverständlich gibt es Kritik an Zoos, beispielsweise aus der Tierschutzrechtsszene. Einige davon auch, weil die Entwicklungen in Zoos in den letzten Jahren von den Kritiker*innen nicht so richtig wahrgenommen werden; andere aber wohl nicht unberechtigt. Aber grundsätzlich sind Zoos, wie Öffentliche Bibliotheken, Einrichtungen, die in der Öffentlichkeit keine schlechten Leumund haben.

Wie nehmen Kinder Museen wahr – aber vor allem: Kann daraus etwas für Bibliotheken abgeleitet werden?

«Working with Young Children in Museums» (Hackett, Holmes & MacRae 2020) ist, offensichtlich, kein Buch über Bibliotheken. Aber ich denke, dass auch diese etwas aus ihm lernen können, deswegen möchte ich dazu ein paar kurze Anmerkungen machen. So unterschiedlich sind Museen und Bibliotheken nicht, als das nicht auch gegenseitig gelernt werden könnte.

Grundsätzlich ist die Frage im Buch, was Kinder – hier zwischen 0 und 4, 5 Jahren – in Museen machen. Dabei stellen die meisten Beiträge einzelne Aktionen und Untersuchungen in Museen (hauptsächlich in Grossbritannien, aber auch Australien und anderen Ländern) vor. Gerahmt ist es von Beiträgen, die eine theoretische Perspektive liefern wollen. Aus diesen rahmenden Beiträgen lässt sich wohl mehr für Bibliotheken lernen, als aus den Beispielen selber.

Dabei ist die Theorie einigermassen offen, eher suchend. Es werden sehr verschiedene theoretische Ansätze herangezogen, die zur Erklärung von Beobachtungen in Museen herangezogen werden, aber es werden daraus kaum Konsequenzen gezogen. Teilweise liest sich das, als würden hier möglichst viele theoretische Versatzstücke ausprobiert, ohne sich festlegen zu wollen. (Beispielsweise ist am Ende nicht klar, welche Theorie möglichst viel erklärt und damit dann zur weiteren Arbeit genutzt werden sollte.) Oder positiver ausgedrückt: Die Autor*innen legen sich nicht auf eine Theorie fest, sondern bieten – ungeplant – einen Überblick möglicher theoretischer Ansätze. Was sich damit zeigt ist, dass sich Praxis mit Theorie tatsächlich besser verstehen lässt als ohne.

Dinge, Räume, Zeit

Der interessante Ansatz des Buches ist, sich explizit dagegen zu stellen, die Besuche von Kindern als Lernen verstehen zu wollen. Zu oft würden Museen ihre Aktivitäten unter dem Fokus untersuchen, was die Besucher*innen lernen würden und nach Evidenzen für eine direkten Einfluss der Museumsbesuche auf diese fragen. Dieser Blickwinkel würde andere Formen von Interaktion, Verstehen von Objekten und Sammlungen sowie anderen Gründen für den Besuch von Museen ausschliessen. Kinder (und deren Begleitpersonen) gehen nicht immer – oder nie – in Museen, um dabei etwas zu lernen. Ihr Leben besteht aus weit mehr.

Dabei kommt dieser Blick auf Aktivitäten in Museen als «Lernen» selbstverständlich nicht von ungefähr: Museen fragen sich ständig, was ihre Aufgabe/n wäre/n. Inhalte vermitteln – wenn auch nicht immer direkt wie im Schulunterricht, sondern oft indirekt und durch die Besucher*innen selbst gesteuert – ist dabei eine der Sachen, auf die dabei immer wieder verwiesen wird. Aber: Gerade wenn man verstehen will, was Kinder im so jungen Alter – also noch vor dem Schulbesuch – machen, sei dies unbefriedigend. Stattdessen schlagen die Herausgeberinnen vor, deren Musemsbesuche aus drei Blickwinkeln zu untersuchen: Dinge (also die Interaktion von Kindern mit Dingen wie Ausstellungsgegenständen oder für Kinder bereitgestellte Objekte zum Spielen und Erkunden), Räume (also die Räume von Museen als spezielle Orte, die erkundet, interpretiert, genutzt und deren «Spielregeln» kennengelernt, aber auch verändert werden können) und Zeit (also sowohl den Aufbau von Vertrautheit mit Museen als Orte und Institutionen über die Zeit als auch temporär wichtige Momente wie die ersten Besuche). Diese Dreiheit – Dingen, Räume, Zeit – würde besser verständlich machen, was Kinder in Museen machen, als die Versuche zu bestimmen, was diese dabei gelernt hätten oder welche Einfluss diese Besuche für sie über einen längeren Zeitraum haben.

Ergebnisse

Die Beispiele, welche sich im Buch in den «praktischen» Beiträgen finden zeigen unter anderem Folgendes:

  • Kinder, auch im jungen Alter, geben den Objekten, die sie vorfinden, immer wieder eigene Bedeutungen. Es findet nicht unbedingt – wie dies in der Museumspädagogik vorgesehen wäre – die «richtige» Einordnung in den jeweiligen Kontext statt. Aber es ist unvermeidbar, dass Kinder ihre eigenen Interpretationen vornehmen, die zum Teil gegen die Vorannahmen der Museen stehen. (Gleichzeitig ist es unterschiedlich, wie die Begleitpersonen der Kinder darauf reagieren. Viele in den Beiträgen erwähnten unterstützen diese Selbsterkundungsprozesse der Kinder, aber andere versuchen, den «vorgegebenen» Pfaden des Museums zu folgen und den Sinn der jeweils vorhandenen Objekte «richtig» zu vermitteln.)
  • Kinder erleben den Raum und die Objekte nicht nur intellektuell im Sinne von «Begreifen durch Sehen und Erklärt kriegen», sondern auch körperlich, indem sie anfassen, verändern, selber etwas herstellen, durch Räume gehen oder rennen. Das mag auf den ersten Blick nicht überraschend sein, weil es sich um sehr junge Kinder handelt. Aber es deutet darauf hin, dass auch Personen, wenn sie älter sind als die in diesem Buch untersuchten Kinder, sich Museen nicht einfach nur intellektuell erschliessen.
  • Auffällig ist bei den Beiträgen auch, dass Lernen als Aktivität praktisch bei niemand im Mittelpunkt stand, ausser bei einigen Museen selber. Dies kann teilweise mit der Auswahl der Beiträge – die alle mehr oder minder in die theoretischen Vorannahmen der Herausgeberinnen passten – erklärt werden. Mit einer anderen Auswahl hätte man vielleicht mehr Personen gefunden, die das Lernen betonen. Aber trotzdem ist auffällig, wie viele Personen das Thema irrelevant zu finden scheinen. Das ganze Buch ist getragen von einem Gestus, dass jeder Grund für einen Museumsbesuch okay wäre und nicht explizit danach gefragt werden müsse, warum Kinder und ihre Begleitpersonen sich für einen solchen entscheiden, insoweit scheint ein Offenheit für ganz unterschiedliche Gründe zu existieren – aber sichtbar ist bei den Beschreibungen dessen, was dann getan wurde, dass es ihnen oft mehr um Unterhaltung, Entdecken oder Zeit verbringen, als um anderes.
  • Repetition ermöglicht das Entstehen von Communities, nicht einzelne Veranstaltungen oder Räume. Regelmässige Veranstaltungen / Veranstaltungsreihen, die für Kinder und ihre Begleitpersonen immer wieder Gründe dafür schufen, ein Museum zu besuchen, führten dazu, dass sich Gruppen bildeten.
  • Als Nebenthema zu bemerken ist, dass ein Grossteil der Beiträge Berichte zu Studien darstellen, welche in Museen selber vom dortigen Personal durchgeführt wurden, oft mit ethnologischen Methoden (zum Beispiel wurden offenbar unzählig viele Feldnotizen erstellt und anschliessend ausgewertet). Dies wird auch nicht weiter begründet, sondern scheint zur professionellen Museumsarbeit dazuzugehören.

Für Bibliotheken

Diese kurzen Notizen sollen selbstverständlich nicht das Lesen des – an sich auch sehr kurzen – Buches ersetzen. Mir ging nur darum das kurz zu schildern, um jetzt darauf eingehen zu können, was Bibliotheken aus diesem Lernen können.

  • Zuerst vor allem, dass ein Blickwinkel auf Einrichtungen wie Museen und – übertragen – dann auch Bibliotheken nicht ausreichend ist. Die ständige Suche nach «Evidenzen für Wirkungen» zeichnet nicht nur Museen aus, sondern auch Bibliotheken. Ebenso kommen – bei allen Versuchen, die eigene Bedeutung auszuweiten und neue Themen oder Aufgaben zu finden – auch Bibliotheken immer wieder auf das Lernen oder die «Bildungsfunktion» zurück. «Lernen» ist aber wohl nicht der einzige Grund, warum Menschen Bibliotheken benutzen; andere Rahmungen sind möglich und versprechen, mehr zu erklären. (Und: Wenn sie mehr erklären, dann auch besser zur Planung von bibliothekarischer Arbeit benutzt werden zu können.) Es muss nicht unbedingt die Dreiheit Dinge – Räume – Zeit sein, wie in diesem Buch (wie gesagt erscheint die Theorie eher suchend und offen zu sein) und es muss nicht nur über ganz junge Kinder nachgedacht werden (obwohl dieses Nachdenken in diesem Buch produktiv war). Sinnvoll ist es offenbar, nicht (nur) nach Effekten zu suchen, sondern auch danach zu fragen, was Kinder (oder andere Menschen) in der Bibliothek überhaupt tun – nicht, was sie der Meinung der Bibliotheken nach dort tun sollten, sondern was sie tatsächlich machen und warum.
  • Wenn Kinder Objekten und Räumen von Museen immer eigene Bedeutungen zuschreiben (und auch der jeweiligen Einrichtung), dann wird dies auch für Bibliotheken und den Objekten in ihnen gelten, also vor allem den Medien. [Mir fällt dazu eine Bachelorarbeit ein, die ich an der HTW Chur betreute, in der sich zeigte, dass Kindern egal war, welche Bilderbücher in einer Bibliothek standen, solange es nur welche gab. Nicht der Inhalt der Bücher interessierte sie, sondern der gemeinsame Besuch mit ihren Betreuungspersonen, zu der die Bücher als Objekte gehörten.] Bibliotheken denken gerne über den Inhalt der Medien und aktuell über solche kaum fassbaren Dinge wie «Aufenthaltsqualität» nach, so wie Museen auch ständig über ihre Objekte und Räume nachdenken – aber das mag nicht das sein, wie Menschen Bibliotheken sehen und verstehen. Es lohnt sich, sich auf die Blickwinkel der Nutzer*innen einzulassen.
  • Was auffällt, wenn man darüber nachdenkt, ist, dass nicht so einfach zu bestimmen ist, was Bibliotheken eigentlich als «Effekte» von neuen Angeboten – nehmen wir einfach die «3. Orte» und Makerspaces – annehmen? Was denken sie, was Menschen damit / darin machen werden und warum? Vielleicht ist auch diese Offenheit ein Grund, warum nie ganz klar wird, was diese Bemühungen genau bringen sollen.
  • Gleichzeitig zeigen die Museen in diesem Buch, dass es zur normalen professionellen Arbeit gehören kann, in den Institutionen eigene Forschungsprojekte dazu durchzuführen, wie die Einrichtung genutzt wird. In Bibliotheken passiert dies nur in einigen sehr grossen, aber es könnte offenbar weiter verbreitet sein.

Literatur

Hackett, Abigail ; Holmes, Rachel ; MacRae Christina (edit.) (2020). Working with Young Children in Museums: Weaving Theory and Practice. (Global Perspectives on Children in Museums). London ; New York: Routledge, 2020