Ist die APC eine Neuauflage der UB der 1950er Jahre?

1950er: Universitätsbibliothek vs. Departements-Bibliotheken

Jürgen Badendreier (2018), Klaus Kempf (2018) und Sven Kuttner (2018) berichteten, jeweils in eigenen Beiträgen, in einem der Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte über die Bibliothekslandschaft an deutschen Universitäten in den 1950er Jahren. Sie schilderten, wie sich die Universitätsbibliotheken nach 1945 traditionalisierten. Die Bibliotheken schlossen an einer kulturkonservativen Sicht auf Wissenschaft (und die Welt) der 1920er und 1930er Jahre an. In den ersten Jahren nach 1945 ging es ihnen vor allem um den «Wiederaufbau» (nie um die eigene Geschichte während des Nationalsozialismus). Als dieser einigermassen erreicht war, folgten sie einem Denken, dass «Bildung» als romantischen Eigenwert gegen Technisierung, Mechanisierung und «Materialismus» stellte. Das Feindbild war die Moderne, das Ideal waren sich langsam und intensiv bildende Wissenschaftler. Den Universitätsbibliotheken ging es darum, eine Tradition aufrechtzuerhalten, die es – wie bei so vielen Traditionen – so nie gegeben hatte. Sie orientierten sich dabei auch an einem Bild von Forschung, dass nicht (mehr) der Realität der meisten Forschenden entsprach.

Das war selbstverständlich nicht das, was Forschende oder Studierende benötigten. Sie brauchten schnellen Zugang zu Medien, zu Zeitschriften – die nicht unbedingt im Fokus der Universitätsbibliotheken standen – und grundsätzlich zur Moderne. Aber Institutionen erhalten sich selber: So einfach konnten die Universitätsbibliotheken nicht von ihrem Weg abgebracht werden. Ergebnis war, dass die Forschenden zur Eigeninitiative griffen und neben den Universitätsbibliotheken aus eigenen Mitteln eigene Bibliotheken aufbauten: Departements- und Fakultätsbibliotheken, Lehrstuhl- und Fachbibliotheken und so weiter. Teilweise klein, teilweise aber auch gross, betrieben von bibliothekarischen Fachkräften. Diese Bibliotheken orientierten sich eher am modernen Bibliothekswesen anderswo, fokussierten sich darauf, schnell Zugang zur Fachliteratur zu schaffen und so weiter. Sie waren unabhängig von den Universitätsbibliotheken, mal offiziell, mal de-facto, auch wenn es auf dem Papier anders aussah.

Das zweigliedrige Bibliothekssystem an den deutschen Universitäten war also, folgt man dieser Darstellung, auch Ergebnis von schwerfälligen, gedanklich in der Vergangenheit verhafteten und diesen «traditionellen» Ideen folgend organisierten Universitätsbibliothek auf der einen, einer sich verändernden Wissenschaft auf der anderen Seite. (Selbstverständlich kann das nicht der einzige Grund gewesen sein, sonst hätte es in den Schweizer Universitäten nicht auch zahllose Neben- und Zweigbibliotheken gegeben beziehungsweise gäbe es sie nicht heute noch.) Dies änderte sich erst mit den Universitätsneugründungen der 1960er und 1970er Jahre (Bochum, Regensburg, Konstanz, Bielefeld, Bremen et cetera) und den dort neu eingerichteten Bibliotheken (mit Freihand!) sowie einem Generationswechsel in den Bibliotheken und wohl auch der Liberalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft in diesen Jahren.

2010er, 2020er: Open Access-Geschäftsmodelle und so weiter

Sicherlich ist die Situation heute ganz anders: Universitätsbibliotheken sind nicht konservativ in ihrer Weltsicht. Bibliotheken in einer Universität sind Teil eines gemeinsamen Netzes oder gar gleich eingliedrig. Sie verstehen sich als Einrichtungen, die Forschende und Studierenden unterstützen wollen. Und dennoch, mit etwas Abstand und Abstraktion scheint es manchmal, als würden sich Strukturen wiederholen.

Thema Open Access. Die Probleme sind wohl bekannt: Was einst startete, um die wissenschaftliche Kommunikation radikal zu verändern, ist zu einem Geschäftsmodell für die gleichen grossen Verlage geworden, wegen denen man überhaupt darauf hoffen musste, ein neues System an wissenschaftlicher Kommunikation aufzubauen. Anstatt ein Netz von frei verfügbaren Publikationsorten in der Hand der Forschung selber zu schaffen wurden Strukturen geschaffen, in denen noch mehr Geld an Verlage fliesst, als schon zuvor. All das. (Wir haben in der Libreas-Redaktion letztens zum Beispiel über einen Open Access-Wettbewerb einer Bibliothek gesprochen, bei dem es praktisch nur APCs «zu gewinnen» gibt. Was absurd ist, wenn man Open Access fördern will, ausser man definiert OA als APCs. Und das ist nicht der einzige solcher Wettbewerbe.)

Was mich interessiert, ist, was Bibliotheken machen. Sie machen, trotz aller Klagen und Hinweise, dass das eigentlich nicht gut ist, mit bei diesem System. (Nicht nur Bibliotheken, auch Forschungsförderer.) Aktuelle Ansätze, mit Verlagen umzugehen – nationale Lizenzverträge mit «right to publish»-Komponenten; Publikationsfonds, die APCs bezahlen und so weiter – sich eigentlich immer auf der gleichen Spur bewegen. Es ist schon anderswo oft und richtig festgestellt worden, dass so Strukturen verewigt und zum Beispiel Differenzen zwischen Forschung im globalen Norden und Süden nur verstärkt werden. Alles richtig. Was auch passiert ist, dass zum Beispiel Publikationsformen verewigt werden: Die Fokussierung der «Open Access»-Arbeit von Bibliotheken auf Zeitschriften und zunehmend Monographien könnte mit ein Grund sein, warum die auch schon lange angekündigte Entwicklung neuer wissenschaftlicher Publikationsformen (und was wurde nicht schon alles angedacht von Overlay-Journals zu Nanopublikationen und Social Media) nicht abzuheben scheint.

Viele haben sich über diese Probleme schon ausgelassen. Was ich zum Bild hinzufügen möchte ist die Feststellung, dass Forschende nicht warten. Mir scheint – aber das wäre wohl noch empirisch zu zeigen –, dass immer mehr Forschende tatsächlich dazu übergehen, eigene Open Access-Strukturen aufzubauen, also vor allem – aber nicht nur – Zeitschriften zu gründen. Wir hatten letztes Jahr in der Libreas zum Beispiel einen Text (Ganz, Wrzesinski & Rauchecker 2019) über «non-APC, scholar-led Open-Access-Journalen», in dem sich Redakteur*innen verschiedener dieser Zeitschriften Gedanken über diese machten. Sicherlich: Es geht immer auch darum, solche Initiativen auf eine nachhaltige Basis zu stellen. Aber: Immer mehr Initiativen finden auch Wege dazu, sei es durch Projektfinanzierungen, Einbindung an Lehrstühlen, Vereinsgründungen – wie bei der Libreas – oder anderes, die an Bibliotheken und Verlagen vorbeigehen.

Sicherlich gibt es von Bibliotheken teilweise dafür Unterstützung. Server für Open Journal System-Instanzen und Lösungen für Langzeitarchivierung werden an vielen Wissenschaftlichen Bibliotheken unterhalten. Open Access Büros beraten auch bei der Gründung von scholar-led OA-Journals. Aktive aus diesen Büros (und ähnlichen Strukturen) denken laut über mögliche Veränderungen im wissenschaftlichen Publikationsmarkt und von wissenschaftlichen Publikationsformen nach. Aber der Hauptteil der Arbeit von Bibliotheken im Bereich OA, der Hauptteil der Diskussionen, Projekte, des Geldes geht nicht dorthin, sondern in Strukturen, die eher traditionell sind. (Vielleicht auch Strukturen, die bekannt sind und in deren Rahmen man weiss, wie man handeln kann, nämlich indem man mit Verlagen verhandelt und mit diesen Verträge schliesst.) Mir scheint, dass mehr und mehr Forschende diese Strukturen verlassen.

Der Eindruck verstärkt sich für mich nur, wenn mir solche Texte wie dieser Tagungsbericht (Stille et al. 2020) zum Workshop „Was ist Forschung?“ (ULB Darmstadt) unterkommen. Bei diesem Workshop trafen sich Bibliothekar*innen, die sich mit «forschungsnahen Dienstleistungen» beschäftigen, um sich gegenseitig und durch Vorträge von Forschenden darüber auszutauschen, wie Forschende mit Daten und Publikationen umgehen. Dagegen ist erst einmal nichts zu sagen, wäre es nicht der gefühlte hundertste Text zu dieser Fragestellung und wäre das Ergebnis nicht immer das Gleiche: Forschende verschiedener Disziplinen nutzen Daten und Publikationen unterschiedlich, innerhalb der Disziplinen gibt es weitere Differenzen. Sie schaffen sich zur Not ihre eigenen Strukturen, um ihre Formen von Datennutzung und Publikationen umzusetzen. Hingegen vermitteln auch engagierte Bibliotheken immer wieder den Eindruck, als würden praktisch alle auf den data management life cycle schauen und denken, dieser würde wirklich zeigen, wie Forschende mit Daten umgehen – und Bibliotheken müssten ihre Angebote an diesem ausrichten, um für Forschende relevante Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen. Und dann, nachdem sich in der Realität zeigt, dass das so nicht stimmt, würden sich Bibliotheken wieder darüber informieren, dass diese in unterschiedlichen Disziplinen und bei unterschiedlichen Forschenden so unterschiedlich wäre, dass es eigentlich nicht in einem solchen Modell abgebildet werden kann – ohne das dies einschneidende Veränderungen im Denken von Bibliotheken darüber, wie Forschung ablaufen würde führen würde. (Selbstverständlich hat das wohl auch strukturelle Gründe: Der Cycle ist etabliert und impliziert Entscheidungsmöglichkeiten. Niemand scheint einen komplexeren aufstellen zu wollen; alle haben anderes zu tun. Es heisst also nicht, dass die Kolleg*innen in den Bibliotheken in diesem Bereich nicht engagiert wären.)

Garantiert ohne es zu wollen, scheinen sich Bibliotheken von der tatsächlichen Forschungspraxis zu entfernen. Strukturell scheinen sie Publikationsstrukturen zu stützen, denen die Forschenden immer mehr fliehen. Und sie scheinen Vorstellungen davon, wie Forschung funktioniert zu folgen – und anhand dieser Vorstellungen Angebote, Infrastrukturen, Ressourcenverteilung zu organisieren –, die sich in der Realität als mindestens unterkomplex herausstellen. An den Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden in den letzten Jahren immer wieder auch ausserhalb von Bibliotheken Stellen und Strukturen geschaffen, die für ihre Hochschule, ihren Fachbereich und so weiter Aufgaben übernehmen, die eben auch Bibliotheken übernehmen wollen, wenn sie von «forschungsnahen Dienstleistungen» sprechen. Ich denke an all die Datacenter, Open Science-Verantwortlichen, Data Officers und so weiter an Hochschulen, Fakultäten, Departements, Lehrstühlen. (Auch hier wäre es bestimmt sinnvoll, diesen Eindruck empirisch zu untersuchen.) Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit werden diese eingerichtet, weil Forschende oder Hochschulverantwortliche der Meinung sind, dass sie diese so, wie sie die einrichten, benötigen.

Und hier kommt das oben genannte historische Beispiel ins Spiel: Wissenschaftliche Bibliotheken scheinen mir – selbstverständlich ohne es anzustreben – gerade wieder Gefahr zu laufen, zu sich selbst erhaltenden Einrichtungen zu werden, die sich vorstellen, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, während die Forschung – für die diese Aufgaben übernommen werden sollen – an ihnen vorbei eigene Strukturen aufbaut.

Wofür machen Bibliotheken das?

Sicherlich: Das ist erstmal ein Eindruck. Aber keiner, den ich so einfach loswerde. Wenn ich wieder mal Diskussionen über dieses oder jenes OA-Dashboard höre, über APCs und nationale Verträge und so weiter, frage ich mich schon oft, für wen das eigentlich alles diskutiert und gemacht wird. Ist das wirklich das, was die Forschenden wollen? (Oder vielleicht zumindest die Hochschulleitungen?) Wird da nicht in Bibliotheken oft einem von der Praxis entfernten Bild davon, wie Forschende arbeiten und worauf sie Wert legen, gefolgt? Und wenn ich den nächsten Bericht lese, in dem geklärt wird, dass Forschende Daten anders nutzen, aufbewahren, analysieren als erwartet und das sich das von Disziplin zu Disziplin unterscheidet, scheint mir auch die Frage auf, für wen diese Berichte eigentlich geschrieben und diese Workshops gemacht werden? Hat das nicht eher mit der Selbstvergewisserung von Bibliotheken zu tun?

Die Gefahr, dass Wissenschaftliche Bibliotheken zu Einrichtungen werden, die neben der realen Forschungspraxis stehen, ist immer da. Was das historische Beispiel zeigt, ist, dass es schon einmal passiert ist.


Literatur

Badendreier, Jürgen (2018). Von der Bibliotheks- zur Bildungskatastrophe: Wissenschaftliche Literaturversorgung am deutschen Wirtschaftswunderrand. In: Kuttner, Sven; Kempf, Klaus (Hrsg.). Buch und Bibliothek im Wirtschaftswunder: Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche in Deutschland und Italien während der Nachkriegszeit (1949-1965). [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 63]. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018: 39-63

Ganz , Kathrin ; Wrzesinski, Marcel ; Rauchecker, Markus (2019). Nachhaltige Qualitätssicherung und Finanzierung von non-APC, scholar-led Open-Access-Journalen. In: LIBREAS. Library Ideas, 36 (2019). https://libreas.eu/ausgabe36/ganz/

Kempf, Klaus (2018). Die bundesdeutsche Hochschulbibliothek in den Jahren des «Wirtschaftswunders» zwischen Kontinuität und Aufbruch. In: Kuttner, Sven; Kempf, Klaus (Hrsg.). Buch und Bibliothek im Wirtschaftswunder: Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche in Deutschland und Italien während der Nachkriegszeit (1949-1965). [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 63]. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018: 33-38

Kuttner, Sven (2018). «Funktionär im Räderwerk des Betriebs»: Bibliothekarisches Berufsbild und Modernekritik in der späten Nachkriegszeit. In: Kuttner, Sven; Kempf, Klaus (Hrsg.). Buch und Bibliothek im Wirtschaftswunder: Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche in Deutschland und Italien während der Nachkriegszeit (1949-1965). [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 63]. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018: 65-71

Stille, Wolfgang ; Farrenkopf, Stefan ; Hermann, Sibylle ; Jagusch, Gerald ; Leiß, Caroline ; Strauch, Annette (2020). Bibliotheken als Partner der Forschung: Bericht zum Workshop „Was ist Forschung?“ am 13. und 14. November 2019 an der ULB Darmstadt. In: o-bib 4 (2020) 7: 1-9, https://doi.org/10.5282/o-bib/5634

Schreiben Sie einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Verbinde mit %s