Im Rahmen einer anderen Recherche ist mir ein Dokument von 2015 untergekommen, welches ich damals wohl übersehen oder nur überflogen habe. Jetzt aber bin ich von ihm fasziniert: Im Auftrag der ekz führte das Institut für Demoskopie Allensbach damals eine «Repräsentativbefragung» zur «Zukunft der Bibliotheken in Deutschland» durch. (Institut für Demoskopie Allensbach 2015) Insgesamt wurden 1448 Interviews geführt. Das kann nicht billig gewesen sein. Andreas Mittrowan (2015), damals Bibliothekarischer Leiter der ekz, stellte in einem zeitnahen Text dar, dass die ekz zumindest damals regelmässig Umfragen durchführte, um zu wissen, welche Angebote sie entwickeln sollte. Ich vermute mal, dass diese Befragung in diesen Rahmen gehört.
Was mich fasziniert, ist nicht so sehr, dass diese Befragung durchgeführt wurde. Ich bin eher von den Ergebnissen irritiert. Sicherlich: Man darf Resultate solcher Befragungen nicht als letzte Wahrheit darüber, was Menschen denken und tun, nehmen. Aber diese wurde ja offenbar durchgeführt, um sie dann auch zu benutzen. (Und sie wurde auch benutzt für die Konferenz «Chancen 2016: Bibliotheken meistern den Wandel» (https://chancen2016.wordpress.com, Anonym 2016, ekz.bibliotheksservice 2016.)) Insoweit würde man erwarten, dass die Ergebnisse auch etwas bedeuten.
Aber mir scheint das gerade nicht der Fall zu sein. Zuerst liefert die Befragung einige erwartbare demographische Ergebnisse (S. 5) zur Nutzung oder Nicht-Nutzung von Bibliotheken. Anschliessend liefert die Frage danach, ob es in Zukunft wichtig wäre, dass Bibliotheken existieren, dass dies von den meisten Befragten bejaht wird. (S. 7, S. 8) Die Graphik ist so gehalten, als ob es 50/50 wäre, aber die Daten zeigen, dass die Antworten zu «wichtig / sehr wichtig» (ohne offenbar, dass man «ist mir egal» antworten konnte) überwiegen. Per se ist das nicht erstaunlich, da sich das eigentlich immer wieder zeigt, wenn Menschen direkt zu solchen Themen befragt werden: Die Bibliotheken haben einfach ein überwiegend grossen goodwil in der Bevölkerung, auf den sie bauen könnten, wenn sie wöllten. Erstaunlich ist eher, dass das in den Diskussion zwischen Bibliotheken so oft untergeht.
Die Daten, die mich mehr faszinieren, finden sich in den Graphiken, welche die Antworten auf die Frage: «Wie sollte eine öffentliche Bibliothek sein, die Sie gerne nutzen?» (mit Auswahl von Möglichkeiten aus einer Karte) zusammenfassen. (S. 11, S. 13, S. 16) Hier wurden nämlich (fast) all die Vorstellungen versammelt, die sich Öffentliche Bibliotheken damals von ihrer Zukunft gemacht haben (d.h. «Partizipation» und Demokratie standen noch nicht auf der Liste, dafür in Unterpunkte gepackt der «3. Ort»). Das Ergebnis ist, dass praktisch alle diese Vorstellungen von den Befragten zurückgewiesen wurden: Wichtig ist ihnen ein umfangreiches Medienangebot, eine angenehme Atmosphäre, gute Beratung und Angebote für Kinder. Sicherlich könnte man «angenehme Atmosphäre» als etwas bezeichnen was zum «3. Ort» passt, aber der Punkt ist so subjektiv, dass er zu allen möglichen Räumen passt, in denen man sich aufhält. Die Frage ist halt immer, was «angenehm» heissen soll. Aber «bequeme Sitzmöglichkeiten» (auch etwas, dass nicht nur zum «3. Ort» passt und sehr subjektiv ist) kommt erst in der Mitte der Liste. Der Wunsch nach einem Café in der Bibliothek steht weit unten in der nach Häufigkeit geordneten Liste (aber noch, notabene, vor dem Wunsch, dass die Bibliothek Sonntags geöffnet werden sollte, was kaum gewünscht wird). Die letzten drei Punkte sind der Wunsch, «mit anderen ins Gespräch kommen», Makerspaces und Computerspiele. Oder anders: Was in diese Befragung eigentlich zurückgemeldet wurde, war, dass die Befragten eher «traditionelle» Öffentliche Bibliotheken wollen, die ihren Fokus auf Medien haben.
Die Faszination kommt nun selbstverständlich davon, dass sich die bibliothekarische Diskussion und auch die Planungen von Bibliotheken genau in die andere Richtung entwickelten. Schon einige Zeit vor 2015, aber auch danach.
Sicherlich: Man muss Ergebnisse solche Befragungen nicht als Handlungsanweisung lesen. (Aber warum macht man sie dann überhaupt?) Mehrfach habe ich von Bibliothekar*innen zu dieser Frage immer wieder ein Zitat gehört (so oft, dass es danach klang, als hätten sie es alle von der gleichen Person, die als Berater*in tätig war, gehört), dass ich hier nicht wiederholen will (weil die zitierte Person auch bekannter Antisemit und Ausbeuter war). Aber was das Zitat sagt, ist, dass man nicht weiterkommt, wenn man darauf wartet, dass die Menschen ihre Meinung ändern und man stattdessen anfangen muss, etwas zu verändern, damit die Menschen nachher merken, das die Veränderung besser war. Oder anders gesagt: Die Leute wissen nicht, was sie wollen, bis sie es selber erleben.
Well. So eine Haltung passt selbstverständlich schwer mit dem aktuell in der bibliothekarischen Literatur oft vorgetragen Anspruch der Partizipation zusammen, bei dem ja den Menschen mehr vertraut werden soll, gute Entscheidungen zu treffen. Aber ignorieren wir das mal kurz. Dann müssten Bibliotheken nicht nur neue Angebote einrichten, sondern auch irgendwann zeigen, dass sie Recht damit hatten, diese Veränderungen durchzusetzen. Die Menschen müssten dann z.B. das Café tatsächlich so nutzen, wie sich das in der bibliothekarischen Planung vorgestellt wird. Aber: Solche Nachweise sind in der Literatur praktisch auch nicht vorhanden.
Was mich fasziniert ist, dass man mit dieser Befragung eigentlich etwas in der Hand hat, um selber zu sehen, dass die meisten Veränderungen in Bibliotheken in den letzten Jahren nicht etwa dadurch ausgelöst wurden, weil Menschen solche Veränderungen eingefordert hätten oder weil sie irgendwie von aussen als notwendig erschienen – sondern, weil Bibliotheken sie selber wollten.
Was mir dabei nicht klar ist, ist warum solche Befragungen überhaupt durchgeführt wurden. (So oft kommen sie auch nicht vor. Vielleicht ist das auch etwas, was nicht mehr gemacht wird.) Ich habe da keine Antwort, nur die Frage: Für wen werden die gemacht, wenn die Entscheidungen und Diskussionen im Bibliothekswesen gar nicht auf diesen Ergebnissen basieren?
Literatur
Anonym. (2016). Chancen 2016: Bibliotheken meistern den Wandel—Internationale Bibliothekskonferenz zeigte Herausforderungen und Lösungsansätze | Lesen in Deutschland. Lesen in Deutschland. https://www.lesen-in-deutschland.de/html/content.php?object=journal&lid=1360
ekz.bibliotheksservice. (2016, Juli 8). Chancen 2016—Ekz.bibliotheksservice GmbH. https://web.archive.org/web/20160708103739/http://www.ekz.de/seminare-veranstaltungen/veranstaltungen/chancen-2016/
Institut für Demoskopie Allensbach. (2015). Die Zukunft der Bibliotheken in Deutschland: Eine Repräsentativbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre (S. 43). Institut für Demoskopie Allensbach. http://www.ekz.at/fileadmin/ekz-media/unternehmen/Zukunftsstudie/2016_Studie_Zukunft_Bibliotheken_in_Deutschland.pdf
Mittrowan, A. (2015). ekz-Kundenbefragung 2014: Bibliotheken wählen ihre Zukunftsrollen. Bibliotheksdienst, 49(3–4), 393–400. https://doi.org/10.1515/bd-2015-0047