Ist die Bibliothek ein Ort, der Armut ausgleicht?

Ein Blogpost zu etwas, was mich immer wieder irritiert und, ehrlich gesagt, mehr und mehr auch ärgert.

Letztens hörte ich wieder einmal folgende Argumentation: Bibliotheken würden Menschen in Armut Zugang zu Medien ermöglichen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Deshalb könne man sagen, dass Bibliotheken gegen Armut helfen.

Dieses Argument wird immer wieder einmal gebracht. Es is falsch. Aber vor allem ist das Bringen dieses Arguments, dass dann auch oft das letzte Wort zum Thema Armut ist, Ausdruck einer meiner Meinung nach problematische Argumentationsstruktur. Einer, die Probleme reproduziert anstatt über sie nachzudenken oder gar anzugehen.

Was hier passiert ist nämlich, dass Bibliotheken als gut, sinnvoll, richtig erklärt werden (zumeist aus dem Bibliothekswesen selber, aber nicht nur) und dann aber die konkreten Verhältnisse gar nicht angeschaut werden. Nutzen den Menschen in Armut die Bibliothek so? Sehen sie die auch so oder anderes? Was denken die über Bibliotheken? Das wird bei dieser Argumentation übergangen.

Vielmehr wird die Reflexion der Realität schon abgebrochen, bevor solche überhaupt Fragen aufkommen oder gar Menschen in Armut sich irgendwie äussern könnten. Das ist einerseits gefährlich, weil das Überzeichnen der Realität nie dazu führt, dass diese Realität weggeht, sondern vielmehr dazu, dass diese immer wieder abgewehrt werden muss. Dazu muss viel intellektuelle Energie aufgebracht werden, um die Realität, die sich dem einfachen Argument nicht unterordnet, abzuwehren, aktiv zu ignorieren oder umzudeuten. Andererseits ist es auch traurig, weil sich so nichts ändert und viele (tatsächlich bestehende) Potentiale vergeben werden.

Struktur und Effekt des Arguments

Dröseln wir das einmal auf. Wie ist diese Struktur (gleich, um sie sichtbarer zu machen, ein wenig vom Thema Armut abstrahiert)?

  1. Es wird ein irgendwie positives Ziel benannt (hier: Bibliotheken sollen Menschen in Armut helfen).

  2. Das Ziel wird nicht als Ziel begriffen, dass man anstreben sollte. Vielmehr wird behauptet, dass dieses schon Realität wäre.

  3. Damit wird auch jede potentielle Diskussion abgeschnitten. Weder wird so ermöglicht, über das Ziel an sich zu diskutieren (hier zum Beispiel nicht: Was könnte die Bibliothek eigentlich für Menschen in Armut bedeuten? Sollte sie vor allem ein Ort sein, der Medienzugang ausgleicht? Oder sollte es andere Ziele geben? Vielmehr wird das Thema „Armut‟ wird sofort auf „Zugang zu Medien‟ eingeengt), noch wird so ermöglicht, diese Aussage irgendwie zu überprüfen. So etabliert man – eigentlich ohne Notwendigkeit – eine gewisse Blindheit für die Realität.

  4. Die von dieser Aussage tatsächlich Betroffenen werden übergangen. Sie werden nicht gefragt, ihnen wird nicht zugehört, es wird noch nicht mal überlegt, wie deren Alltag eigentlich tatsächlich ist. Zudem wird sofort ein bestimmtes Bild von Ihnen vermittelt, dass nicht der Realität entsprechen muss (hier: Menschen in Armut würden den gleichen Zugang zu Medien haben wollen, wie alle anderen auch – was zum Beispiel einfach als gegeben setzt, dass alle Menschen dieses gleiche Ziel hätten).

  5. Das Thema gilt dann meisten mit diesem Argument auch als beendet, was auch heisst, dass das Bild vermittelt wird, das Bibliotheken nichts ändern müssen.

Was sind die Effekte dieser Struktur?

  1. Grundsätzlich schreibt man so nicht nur der Bibliothek eine Wirkung zu, die nicht überprüft wird. Man beendet damit auch Diskussionen um die Entwicklung und Wirkung von Bibliotheken. Ebenso schneidet man Diskussionen über politische Ziele und Aufgaben von Bibliotheken ab.

  2. Man übergeht die Betroffenen.

  3. Man postuliert so nicht nur, dass Veränderung nicht notwendig wäre, sondern in gewisser Weise auch, dass sie nicht möglich wäre. Warum darüber nachdenken, etwas zu verbessern, wenn es schon gut ist?

Es muss einen Grund dafür geben, dass dieses Argument immer und immer wieder reproduziert wird. Ich würde vermuten, dass es eher darum geht, das Bibliotheken sich gegenseitig ihrer eigenen Identität versichern, als das es um Menschen in Armut geht. Aber wenn das so ist: Wozu das? Oder gibt es einen anderen Grund? (Gibt es Menschen, die davon überzeugt werden? Von was?)

Evidenzen gegen das Argument

Es gibt, um zum Thema Armut zurückzukehren, eine ganze Reihe Evidenzen dafür, dass diese Aussagen nicht stimmt (nicht umsonst habe ich ein Buch dazu geschrieben (Schuldt 2017)):

  • Schon der Fakt, dass diese Aussage so oft wiederholt wird, ohne sie zu untermauern, ist ein Hinweis darauf, das ihre Funktion nicht ist, die Realität darzustellen. Vielmehr scheint, als ob sich hier vor allem Bibliotheken untereinander immer wieder gegenseitig ihrer Bedeutung versichern. Wäre es anders, würde wohl schon jemand losgehen und zum Beispiel Testimonials einholen von Menschen in Armut, die genau das sagen, was im Argument gesagt wird. Aber die gibt es praktisch nicht. Genauso wenig, wie in Umfragen von Bibliotheken überhaupt nach sozialer Schicht oder ökonomischen Möglichkeiten von Nutzer*innen gefragt wird – also auch jedesmal versäumt wird, überhaupt Daten zu erheben, um das Argument zu überprüfen.

  • Die paar Untersuchungen, die herangezogen werden können, um zu klären, ob diese Argument überhaupt stimmt, beziehen sich fast alle auf Obdachlose / Menschen ohne festen Wohnsitz und stammen praktisch immer aus anderen Staaten als dem DACH-Raum. Aber sie bieten zumindest einen Hinweis, dass die Situation nicht so eindeutig ist, wie das Argument unterstellt. Lo, He und Yan (2019) zeigten zum Beispiel – für eine andere Fragestellung –, dass Menschen ohne festen Wohnsitz in Shanghai die Öffentliche Bibliothek vor allem nutzen, um „Zeit tot zu schlagen‟, nicht um Medien auszuleihen. Provence et al. (2020) stellten fest, dass für die USA gesagt werden kann, dass Menschen in dieser Lage sich mehr für Informationen interessieren, die sich auf ihre konkrete Situation beziehen lassen – wie sie an Unterstützung gelangen et cetera –, aber das sich ihre Interessen ansonsten mit denen anderer Personen decken. Zhang & Chawner (2018) kritisierten, dass die Stimmen von Menschen in dieser Situation im Bibliothekswesen praktisch nicht gehört werden und befragten deshalb solche in Auckland, Neuseeland. Für diese sind auch nicht der Zugang zu Medien, sondern Regelmässigkeit und Vertrauen wichtig: Sie versuchten, ihr Leben zu strukturieren und einen lebbaren Alltag herzustellen – das ist ihnen wichtig. Wenn die Bibliothek dabei hilft, nutzten sie diese. Tinker Sachs et al. (2018) stellten wieder für die USA fest, dass Menschen ohne festen Wohnsitz nicht nicht lesen, sondern vielmehr recht viel und sehr breit Medien konsumieren, dass ihnen aber gleichzeitig oft nicht bewusst ist, welche Möglichkeiten ihnen zum Beispiel in Bibliotheken offen ständen. So geht das weiter: Das Bild ist nicht per se negativ (es gäbe also wohl viele Potentiale dafür, dass Bibliotheken im Leben von Menschen eine positive Wirkung haben könnten, wenn sie das forcieren), aber es ist lange nicht so eindeutig, wie es das oben genannte Argument unterstellt. Würden Daten zu Menschen in Armut, aber mit festen Wohnsitz – also der viel, viel grösseren Gruppe – zur Verfügung stehen, wäre das Bild wohl noch uneindeutiger.

  • Mit dem Argument wird auch so getan, als bestände das Problem von Menschen in Armut nur darin, zu wenige ökonomische Mittel zu haben, um die gleichen Dinge erwerben zu können, wie andere Menschen. Das ist immer ein unterkomplexes Bild: Weit weniger Mittel als der Durchschnitt zur Verfügung zu haben, ist nur ein Teil von Armut. Vielmehr ist das Leben in ständiger Prekarität und mit ständige Bedrohung des Status quo, dessen Zusammenbruch weitreichende Konsequenzen für das eigene Leben haben kann, etwas, was Armut ausmacht. Es geht nicht um reine materielle Defizite, die man nur irgendwie ausgleichen müsste, damit die Menschen in Armut ein besseres Leben führen können. Insoweit ist selbstverständlich auch nicht davon auszugehen, dass es im Bezug auf Bibliotheken und Medien nur darum gehen würde, materielle Defizite auszugleichen, um dann schon für Menschen in Armut sinnvolle Arbeit zu leisten. (Schuldt 2017) Es ist bestimmt komplexer. (Nicht zuletzt auch, weil ein anderes Ziel für Menschen in Armut oft ist, aus dieser Situation herauszukommen; nicht einfach in der Situation selber verharren zu müssen. Das kommt bei diesem Argument auch nicht vor.)

Das Argument erzeugt eine diskursive Situation, indem es so scheint, als sei das Problem schon recht gut gelöst und man könne zu anderen Fragen übergehen. Aber nehmen wir einfach mal an, Menschen in Armut würden nicht unbedingt (nur) Zugang zu Medien suchen, sondern vor allem eine Institution, auf die sie sich verlassen können – das würde mit dem Argument nicht mal thematisierbar. Die Bibliotheken hören oft mit diesem einem Argument auf, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Menschen in Armut haben so gar keine Möglichkeit, Hinweise dazu, was sie benötigen würden, zu hinterlassen. Alle Ansätze in Bibliotheken sind mit dem Argument auf eine Lösung (Zugang zu Medien) zugeschnürt.

Die Betroffenen können sich nicht äussern, die Bibliotheken fühlen sich gut in ihrem Tun, aber können sich so auch nicht ändern. Und das, obwohl es in so einem Fall noch nicht mal schwer wäre und es, wie gesagt, grosses Potential gäbe: Bibliotheken könnten sehr wohl zu verlässlichen Institutionen werden, die Menschen in Armut nutzen könnten, um ihr Leben besser abzusichern. Schon dadurch, die sie verlässlich da sind und immer die gleichen Angebote haben. Das würde helfen. Man müsste gar nicht viel verändern. Aber (a) Bibliotheken müssten wohl aufhören, sich gegenüber zu behaupten, dass sie in Bezug auf das Thema Armut in gewissem Sinne schon „perfekt‟ sind, (b) sie müssten offen sein, nicht über, sondern mit den Betroffenen zu reden und auch denen vielmehr Lead dabei zu überlassen zu sagen, was sie wichtig finden und wie sie grundsätzlich die Situation wahrnehmen, (c) und ja – sie müssten akzeptieren, dass sie nicht perfekt sind, sondern sich ändern können.

Kann man das besser machen?

Könnte man es anders machen? Ja, klar. Es wäre noch nicht einmal schwer.

  1. Wichtig wäre, dass man aufhört, zu behaupten, das bestimmte politische Ziele (hier, das Menschen in Armut geholfen wird) als schon die bestehende Realität darstellen. Man kann gerne sagen, Bibliotheken sollten Menschen in Armut helfen – aber erstmal sollte man das als Utopie begreifen, als „so sollte es sein‟. Das (a) macht das überhaupt einmal diskutierbar (Sind alle dieser Meinung? Ist das ein von der Profession geteilter Wert?) und (b) schliesst Diskussion nicht sofort ab, sondern eröffnet sie.

  2. Wirklich wichtig ist, den Gestus abzulegen, etwas, was man gerne hätte, als schon gegeben darzustellen – vor allem dann, wenn es einen nicht direkt betrifft. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass es nicht so ist, wie man es gerne hätte und sich zu fragen, wie man es erreichen kann. Versucht man zu verstehen, ob die Situation so ist, wie man sie gerne hätte, ohne gleich darein zu verfallen, sie so, wie sie ist verteidigen zu wollen, lernt man viel mehr über die Realität und kann die Einrichtung Bibliothek auch viel besser verändern. [Ein Vorgehen bei wissenschaftlichen Studien ist bekanntlich, (begründete) Hypothesen aufzustellen und dann zu versuchen, sie zu widerlegen. Schafft man das nicht, gelten sie erstmal als gültig – aber beim Versuch sie zu widerlegen lernt man meisten viel über das Thema. So sollte man auch mit offensichtlichen Wünschen, wie denen, die sich hinter dem genannten Argument zu verbergen scheinen, umgehen.] Das geht am Besten selbstverständlich, wenn man die Perspektive der Bibliothek verlässt und mit denen spricht, die – hier, in diesem Fall, von Armut – betroffen sind.

  3. Wenn man die Situation geklärt hat (also hier: Wenn klar ist, dass die spezifische Bibliothek oder das ganze Bibliothekswesen Menschen in Armut unterstützen sollte UND man weiss, wie die Situation eigentlich ist, vor allem, was Menschen in Armut eigentlich benötigen), kann man überlegen, wie man dazu kommt, dieses Ziel zu erreichen. Es wird dann garantiert ein anderes sein, als das einfache „die Bibliothek substituiert materielle Voraussetzungen beim Zugang zu Medien‟. Aber wichtig ist, dass man nur so überhaupt klärt, ob und was geändert werden müsste. Oder ob die ganze Idee vielleicht nicht hinreichend war / ist.

  4. Relevant dafür wäre auch, den Blick zu ändern: Nicht davon auszugehen, dass die Bibliothek schon an sich gut / perfekt wäre und dann „nur‟ versuchen, dass irgendwie zu verteidigen. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür. Nichts ist perfekt.

Eine Frage wäre, ob das alles nur für dieses eine Argument über Armut gilt. Selbstverständlich nicht – es gibt eine ganze Anzahl von Argumenten, die in bibliothekarischen Diskussionen und Selbstdarstellungen immer wieder reproduziert werden und bei denen behauptet wird, dass Bibliotheken bestimmte Dinge erfüllen / sind / tun und die nicht hinterfragt werden: Wenn Behauptungen darüber aufgestellt werden, dass Bibliotheken bestimmte Kompetenzen „vermitteln‟ würden. Wenn postuliert wird, dass die Bibliothek ein offener Raum für alle wäre (und sich dann gefragt wird, warum sich so wenig Menschen, die nicht der Mehrheitsgesellschaft gehören, bewerben würden – als wäre das ein Fehler dieser Menschen). Wenn gesagt wird, dass Bibliotheken „Orte der Begegnung‟ wären (für alle), „Orte der Integration‟ und so weiter. Armut ist als Thema eher zufällig herausgegriffen, weil ich dazu Einiges zu sagen habe. Aber vielmehr irritiert und ärgert mich die Struktur. Ich kann sie mir nur als Arbeit an der bibliothekarischen Identität erklären – aber eine, die die eigentlichen Potentiale von Bibliotheken für eine, well, bessere Gesellschaft verbauen.

Wer behauptet, Bibliotheken wären schon perfekt, verhindert, dass sie sich entwickeln. Wer über Menschen redet, statt mit ihnen, reproduziert oft nur die Strukturen, von denen Menschen betroffen sind. So wird nichts besser.

Literatur

Lo, Patrick ; He, Minying ; Liu, Yan (2019). „Social inclusion and social capital of the Shanghai Library as a community place for self-improvement‟. In: Library Hi Tech 37 (2019) 2: 197–218, https://doi.org/10.1108/LHT-04-2018-0056

Provence, Mary A. ; Wahler, Elizabeth A. ; Helling, John ; Williams, Michael A. (2020). „Self-Reported Psychosocial Needs of Public Library Patrons: Comparisons Based on Housing Status‟. In: Public Library Quarterly (2020) (Latest Articles) https://doi.org/10.1080/01616846.2020.1730738

Karsten, Schuldt (2017). „Armut und Bibliotheken: Anmerkungen zu einer notwendigen Diskussion‟. 2017, http://hdl.handle.net/10760/31084

Tinker Sachs, Gertrude ; McGrail, Ewa ; Lewis Ellison, Tisha ; Dukes, Nicole Denise ; Walsh Zackery, Kathleen (2018). „Literacy scholars coming to know the people in the parks, their literacy practices and support systems‟. In: Critical Inquiry in Language Studies 15 (2018) 1, https://doi.org/10.1080/15427587.2017.1351880

Neue Hygienedispositive – werden wohl auch die Bibliotheken verändern

Das Buch „Un siècle de banlieue japonaise‟ von Cécile Asanuma-Brice (2019) hat die Geschichte der ständigen Um- und Neubauten der Vorstädte Tokios seit der Meiji-Restauration (1868) zum Thema. Diese ist geprägt von rasanten Veränderungen nicht nur des Bauens, sondern auch der Vorstellungen über gutes Wohnen, über die Organisation von Stadt und Umland oder auch der Frage, wer für das Bauen guter Wohnungen zuständig ist (der Staat oder der Markt). Als ich es letztens gelesen habe, fiel mir aber noch etwas ständig Wiederkehrendes auf: Die Bedeutung je neuer Dispositive um Hygiene, die sich vor allem als Antwort auf Gesundheitskrisen (konkrete Epidemien und der sich wandelnde Blick auf Problemlagen, die je neu als Krisen, wahrgenommen wurden, die anzugehen wären1) etablierten und dazu führten, dass anders geplant, gebaut und dann auch gelebt wurde.

Das ist in der Geschichte der Stadtentwicklung ein ständiges Thema (Lévy 2012), aber mit der Beschleunigung von Entwicklungen und Veränderungen in der Moderne seit dem 19. Jahrhundert halt auch eines mit beschleunigter Dynamik. (Ich erinnere mich an meine alte Nachbarin in Neukölln, die Ende der „Nuller Jahre‟ rund 50 Jahre in der gleichen Wohnung lebte und sich jeder Renovierung widersetzte, deshalb aber mit Kohlen heizte und als einzige im Haus noch ein Etagenklo nutzte – was vollkommen aus der Zeit gefallen war, obwohl es kein Menschenleben vorher offenbar in diesem Haus vollkommen normal war, wie man im Treppenhaus sieht, wo die Aussparungen für die Etagenklos weiterhin sichtbar sind.) Es ist mir nur beim Lesen dieses Buches wieder aufgefallen. Beispielsweise auch in der ständigen Ausstellung des gerade wieder geöffneten Musée Historique hier in Lausanne über die Entwicklung dieser Stadt kommen Gesundheitskrisen, sich etablierenden Hygienedispositive und dann darauf teilweise langsam, teilweise schnell reagierende Umbauten prominent vor. Die Überbauung der beiden Flüsse Louve und Flon Ende des 19. Jahrhunderts, um weitere Typhus-Ausbrüche zu verhindern – die ja auch in vielen anderen Städten stattfand –, nimmt in dieser Ausstellung einen grossen Raum ein. Ebenso, wie der Umbau der Häuser in den proletarischen Quartieren, so dass alle Wohnungen fliessend Wasser und ausreichende Sanitäreinrichtungen erhielten. Oder die Schaffung von städtischen Strukturen für das sanitäre System Ende des 19. Jahrhunderts.

Andere Hygiene – andere Formen des Alltags

Oft ist auch schon darauf hingewiesen worden, dass solche Umbauten, die zuerst aus Gründen der Hygiene vorgenommen wurden, im Anschluss dazu führten, das sich neue, unerwartete Möglichkeiten zu wohnen oder die Stadt zu nutzen ergaben. (Zum Beispiel Hardy 2005, Lévy 2012) Menschen und die Gesellschaft haben sich da immer wieder angepasst (oder, wie meine alte Nachbarin, widersetzt, sind aber dann damit recht aus der Zeit gefallen). Die immer wieder erzählte Geschichte davon, wie Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Planung von Baron Haussmann die Strassen und Viertel in Paris auch umgebaut wurden, damit Militär bei Aufständen nicht in engen Gassen manövrieren muss, aber gleichzeitig die Hygiene so sehr verbesserten, dass sich an diesen Strasse zahllose Cafés mit offenen Flächen ansiedeln konnten, in denen sich dann besser und schneller revolutionäre Gedanken entwickeln und verbreiten liessen, als vorher, ist eindrücklich, aber auch nicht originär. (Sennett 2018) Ähnliche unvorhergesehene Veränderungen des Alltags kamen immer wieder vor. Schon, dass heute allgemein überall fliessend Wasser und Sanitäreinrichtungen erwartet werden – nicht nur in der Wohnung, sondern überall, selbst auf dem schmutzigsten Festival – und alle mit ihrem Vorhandensein planen, ist ein Hinweis darauf, wie sehr Einrichtungen, die der Hygiene wegen etabliert werden, sich in unser Leben integrieren.

Mir scheint sehr klar, dass auch die COVID-19-Pandemie dazu führen wird, dass sich neue Hygienedispositive etablieren. Die Frage scheint mir gar nicht, ob man die jetzt gut oder schlecht finden wird, sondern nur, wann und welche. Aktuell sehe ich zum Beispiel viele Bilder, wo Sitzplätze (in Schulen, in Cafés, aber auch in Bibliotheken) auseinander geschoben und in ihrer Zahl verringert werden. Gleichzeitig haben wir alle vielleicht jetzt neu gelernt, Hände zu waschen und überall Desinfektionsmittel vorzufinden. Das Tragen von Gesichtsmasken wird sich vielleicht auch als Normalität – nicht für alle, aber für die, die es wollen oder als notwendig ansehen – etablieren (zumindest haben andere Epidemien in anderen Gesellschaften bekanntlich dazu geführt). Vielleicht wird es sich auch etablieren, dass Menschen allgemein im Alltag mehr Distanz einfordern werden. Wer weiss.

Rasante Veränderungen. Nicht nächste Woche, aber vielleicht nächstes Jahr

Sicherlich, gerade stellen sich Leute wieder sehr, sehr nah, weil Leute den Eindruck zu haben scheinen, dass die Krise vorbei wäre. Oder, weil sie es nicht mehr aushalten, achtsam zu sein. Hier in der Schweiz durften zum Beispiel die Clubs dieses Wochenende wieder öffnen und bei dem direkt hier vor der Tür konnte man sehen, wie sich niemand in der Schlange an irgendeine Distanz gehalten hat. Für eine kurze Zeit scheinen viele Menschen vergessen zu haben, dass wir weiterhin eine Pandemie haben, die sich vor allem durch Nähe zwischen Menschen überträgt. Aber man sollte die mittelfristigen Veränderungen nicht unterschätzen. (Ebenso wie man die ersten Tage nicht überschätzen sollte. So voll, wie dieses Wochenende, ist der Club sonst nie. Da war „Nachholebedarf‟, wie woanders wohl auch – aber der ist irgendwann auch befriedigt.) Spätestens eine zweite Welle dieser Pandemie oder halt die nächste Pandemie (die mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen wird, wir sind ja in den letzten Jahren nur knapp an anderen „vorbeigeschrammt‟) wird – wenn die Geschichte eine Struktur zeigt – dazu führen, dass sich Dispositive und damit auch das Verhalten ändern werden.

Bibliotheken

Aktuell scheint auch bei Bibliotheken die Vorstellung vorzuherrschen, dass man über kurz oder lang wieder zur gleichen Nutzungsweise von Bibliotheken und Bibliotheksräumen übergehen wird, wie vor der Pandemie. Das also alles eher eine Frage der Zeit sei. Und, zugegeben, ich bin nicht gut darin, treffende Vorhersagen zu machen. Aber: So, wie wir bislang gelebt haben, hat es ja zur Pandemie geführt. Mir ist nicht klar, wie es sicher und sinnvoll sein kann, wieder dahin zurückzukehren.

Ich kann auch nur vermuten, was passieren wird. Mir scheint aber, es wäre sinnvoll, wenn Bibliotheken das zumindest mal andenken würden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in kurzer Zeit Menschen nicht mehr von der Idee angetan sein werden, in ein „Wohnzimmer der Stadt‟ zu gehen, wenn das Bilder von ungewollter Nähe vermittelt. Auch die Vorstellung, Communities herzustellen, indem man Menschen in Workshops, Veranstaltungen und so weiter zusammenbringt, dürfte jetzt zumindest mehr Raum benötigen. Ebenso scheinen mir Arbeitsplätze in Lesesälen nebeneinander, in langen Reihen, potentiell tendenziell weniger beliebt zu werden. Kann auch gut sein, dass mehr Menschen anfangen, sich mehr Gedanken darum zu machen, wie Viren „funktionieren‟ (so, wie man sich heute grundsätzlich auch mehr Gedanken darum macht, was man isst) und dann darauf zu achten – was immer dieses „darauf achten‟ heissen wird.

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass in den letzten 150 Jahren oder so sich immer wieder schnell, aufgrund von Gesundheitskrisen, neue Hygienedispositive etabliert haben und dann zum Beispiel dazu führten, dass die Vororte Tokios umgebaut oder überall in Lausanne Sanitäreinrichtungen installiert oder ganz grundsätzlich neue Verhaltensregeln etabliert wurden. Oder, dass Wohnungen so gebaut wurden, dass man sie lüften kann. Oder das Städte Parks und Grünflächen erhielten. Solche Veränderungen kamen nicht in zwei-drei Wochen, aber doch – wie zum Beispiel im oben erwähnten Buch von Asanuma-Brice (2019) dargestellt wird – zum Teil rasend schnell. Ich schaue immer wieder auf Bilder von Bibliotheken aus verschiedenen Jahrzehnten. Wenn man darauf achtet, zeigen sich in diesen die jeweiligen zeitgenössischen Hygienevorstellungen selbstverständlich auch. Bibliotheken sind von den Veränderungen in der Nutzung öffentlicher Einrichtungen nie ausgeschlossen.

Aktuell scheinen Bibliotheken, wenn sie über mögliche Veränderungen durch die Pandemie reden, vor allem über digitale Angebote, Homeoffice und so weiter nachzudenken. Schön und gut. Aber sie sollten sich darauf vorbereiten, dass sich mittelfristig auch die Dispositive dazu, was akzeptable Räume (nicht nur von Bibliotheken) sind und wie sie zu nutzen sind, ändern wird. Bislang können wir zu den bevorstehenden Veränderungen – aber das ist ja auch bei anderen Themen so – nur ein paar Vermutungen äussern. Aber ich würde mich wundern, wenn es nicht diesen Monat in einem Jahr ein intensiv diskutiertes Thema wäre. Einfach so, wie es „vorher‟ war, wird es nicht werden. Die Menschen werden sich (mit Ausnahmen) beginnen, anders zu verhalten.

 

Literatur

Asanuma-Brice, Cécile (2019). „Un siècle de banlieue japonaise: Au paroxysme de la société de consommation‟. Genève: Mētis Presses, 2019

Elsig, Alexandre (2015). „La ligue d’action du bâtiment – L’anarchisme à la conquête des chantiers genevois dans l’entre-deux-guerres‟. (Coédition Collège du travail) Lausanne: Editions d‛en bas, 2015

Hardy, Anne (2005). „Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit : Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts‟. (Kultur der Medizin, 17) Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2005

Lévy, Albert (2012). „Ville, urbanisme & santé: les trois révolutions‟. (Société et santé) Paris: Pascal / Mutualité Française, 2012

Sennett, Richard (2018). „Building and dwelling : ethics for the city‟. London: Allen Lane, 2018

1Alexandre Elsig (2015) stellt in seiner Geschichte einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft im Genf der 1930er unter anderem da, wie die Wohnverhältnisse der Arbeiter*innen zu einem politischen Thema wurden und die Gewerkschaft irgendwann begann – als direkte Aktion – „Typhus-Häuser‟ abzureissen, weil ihrer Meinung nach die Regierung sich nicht schnell genug darum kümmerte, diese Häuser zu verbessern. Auch hier hatte sich in wenigen Jahren die Vorstellung etabliert, dass bestimmte Formen des Wohnens – die vorher noch akzeptabel schienen – ein Gesundheitsrisiko darstellten.