Soll man einfach so zum Status quo ante zurückkehren?

So, Bibliotheken sperren langsam auf. Nicht überall, immer mit Einschränkungen, unterschiedlichen Lösungen und Zeithorizonten (und vielleicht auch nur erstmal, falls „die zweite Welle‟ kommt). Dazu hätte ich mal eine Frage: Ist das Ziel jetzt am Ende des Prozesses alles wieder so zu haben, wie es – sagen wir mal – im Januar 2020 war? Soll neue Normalität heissen vor allem irgendwie die alte Normalität, wenn auch in Schritten, wieder zu erreichen?

Weil, zumindest das was man hört und sieht, wenn man vor allem weiter daheim bleibt und Online arbeitet, scheint darauf hinzudeuten. Das muss nicht heissen, dass es überall so ist. Vieles was in einzelnen Bibliotheken lokal geschieht, gerade internes, sieht man so ja nicht. Aber wenn dieser Eindruck stimmt, würde ich doch etwas einwerfen wollen: Das muss überhaupt nicht das Ziel sein und es wird viel Unzufriedenheit hervorrufen. Es wäre falsch. Ich würde hierbei vor allem, aber nicht nur, vom Personal sprechen.

Was gelernt wurde

Während der Pandemie ist in den letzten Monaten unter anderem in Bibliotheken klar worden, (a) was in den einzelnen Bibliotheken auch anders möglich wäre, (b) was von den Nutzenden als wichtig angesehen und genutzt wird oder nicht, (c) was für Vorstellungen Bibliotheken über sich und ihre Funktion haben und wie sehr sich das mit der Realität (also dem, was wirklich benutzt oder wertgeschätzt wird) deckt, (d) was für interne Strukturen vielleicht gar nicht nötig sind, zumindest aber nicht in der hergebrachten Form. Nur ein paar Punkte:

  • Das ganze Arbeiten Online und vielleicht mit weniger direkter Kontrolle durch ständigen Kontakt in der Bibliothek / im Büro hat gezeigt, wie gut oder schlecht das wirklich funktioniert. Etwas überrascht (weil, zugegeben, ich als Forschender eigentlich schon immer so arbeite) konnte man in den letzten Wochen ja feststellen, dass einige Einrichtungen und Personen jetzt, 2020, erst damit wirlich Erfahrungen sammeln. Und diese Erfahrungen sind selbstverständlich ganz unterschiedlich (das hätten Leute wie ich, die schon so arbeiten, auch sagen können, hätte man mal gefragt). Viele kamen damit nicht gut klar, bei vielen auch wegen dem Betreuungsaufwand, den sie auf einmal zusätzlich hatten. Aber bei vielen auch, weil sie die Organisation auf diese Weise nicht gewohnt waren. Andere kamen gut klar und konnten besser und effektiver, vielleicht auch zufriedener arbeiten. Gleichzeitig wurden viele Annahmen über die Leitung von Bibliotheken und das Management von Personal auf die Probe gestellt. So viele Leitungen und Personen mit Personalverantwortung, welche die Überzeugung hatten, Führung ginge nur über direkten Kontakt in Sitzungen und Gesprächen vor Ort (ansonsten würde niemand arbeiten?) waren jetzt gezwungen, das anders zu organisieren. Bestimmt wieder mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Aber mit realen Erfahrungen.

  • Das Personal in vielen Bibliotheken musste und konnte in diesen Wochen die eigene Arbeit anders organisieren als in der Bibliothek / im Büro. Auch hier: Einige werden damit Schwierigkeiten gehabt haben, andere werden gut damit zurecht gekommen sein und eine Anzahl wird so viel besser als sonst gearbeitet haben. Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben viele auch selber erlebt (und werden vielleicht in den nächsten Tagen beim vBIB20 noch erleben), das Weiterbildung auch Online gut möglich ist, und wenn es einfach nur die Zeit ist, die man sich nimmt, um einen Vortrag zu schauen, anstatt extra dafür hunderte Kilometer zu fahren und dann da mit Leuten kommunizieren zu müssen. (Das ist ja auch ein Lernprozess.)

  • Es scheint auch so, als wäre das eigentliche Empfinden des Personals – also sowohl die, die in dieser Krise belastet waren, beispielsweise mit mehr Ängsten, depressivem Phasen, Stress, Unsicherheiten als auch denen, die positivere Erfahrungen hatten, beispielsweise freier arbeiten konnten oder konzentrierter – kaum Thema von Diskussionen. Das kann täuschen, es ist schwer in die internen Prozesse der einzelnen Bibliotheken zu schauen. Aber – wie auch in der breiten Öffentlichkeit, wo mehr über die Sorgen vermögender Firmen und Restaurants-Lobbygruppen geredet wurde, als über die Belastungen für Menschen mit wenig Geld oder mehr Ängsten – scheint auch im bibliothekarischen Diskurs vor allem eher über institutionelle Dinge geredet worden zu sein. Das zeigt auch eine gewisse Wertigkeit (die, wie gesagt, vor Ort anders aussehen kann).

  • Viele Bibliotheken, vor allem Öffentliche, gingen in den Anfangswochen dieser Krise davon aus, dass es einen grossen Bedarf daran gäbe, irgendwie Bücher bereitzustellen. Wir haben das alle irgendwo gelesen: Lieferdienste per Post oder direktem Vorbeibringen, Anrufen in der Bibliothek und vor der Bibliothek abholen und alle anderen möglichen Lösungen. Mehr Onleihe, Filmfriend und so weiter sowie die Möglichkeit, sich online einzuschreiben. Es wäre jetzt möglich, mal zu schauen, wie sehr diese These stimmte. Wie waren den die Zahlen? Hat sich der Aufwand gelohnt? Und selbst wenn die Zahlen nicht gut waren (die wenigen, die bislang durchgedrungen sind, klangen nicht überragend; aber das kann ja wieder anderswo anders gewesen sein1), fand es vielleicht die Öffentlichkeit, die Träger und so weiter gut, dass es das Angebot gab? Oder war das eine verkehrte Annahme der Bibliotheken davon, was Nutzende (in dieser Situation) wichtig finden?

Wie immer wird die Antwort nicht einfach Ja oder Nein, Gut oder Schlecht sein. Nicht zum Beispiel: „Ja, ab jetzt nur noch Online arbeiten‟ oder „Nein, nur noch vor Ort‟. Aber was wohl klar sein sollte: Alle haben in dieser Krise Erfahrungen gesammelt (und sammeln sie weiter, auch beim jetzigen „Öffnungsprozess‟; die Krise ist ja noch nicht um). Viele haben erlebt, dass Dinge wirklich nicht so sein müssen, wie sie sind.

Was man tun könnte

Mein Argument wäre: Einfach anstreben, die Bibliothek im, sagen wir mal, Oktober, wieder so zu haben, wie sie im, sagen wir mal, Januar war, wäre ein Fehler. Das wird Teile des Personals (und damit meine ich auch Leitungen selber) und vielleicht auch der Öffentlichkeit enttäuschen. Menschen haben jetzt nicht einfach als denkbare Möglichkeit, sondern in der Realität, gelernt, dass es anders sein kann. Das heisst nicht, dass alle wollen, dass es so anders bleibt. Aber viele werden sehen wollen, dass ihre Bibliothek aus diesen Erfahrungen lernt. Die einfache, undiskutierte Rückkehr zum Status quo ante wird den Eindruck vermitteln, dass man die Erfahrungen des Personals – gute, schlechte und die dazwischen – nicht relevant findet und nur an der Aufrechterhaltung vorhandenen Strukturen und Prozesse interessiert ist, egal was deren – auch wieder guten, schlechten und dazwischen – Effekte sind. (Das wird Auswirkungen auf die Motivation von Teilen des Personals haben und vielleicht auch dessen Wunsch, sich anderswo um Karrieren umzusehen.)

Was könnten Bibliotheken praktisch tun?

  1. Bibliotheken sollten nicht einfach davon ausgehen, dass alle den Wunsch und das Ziel haben, ungefragt und unbedacht wieder zum Zustand vom Januar 2020 zurückzukehren und die Frage einfach nur wäre, wie und über welchen Zeitraum. Das wäre schlicht eine falsche Annahme. (Ungefähr so, wie wenn die Leitung alleine das Leitbild schreibt und dann davon ausgeht und plant, als wenn das von allen in der Einrichtung geteilt wird.)

  2. Bibliotheken sollten zeitnah einen Prozess aufsetzen, in dem sich alle in der Bibliothek gemeinsam darüber Gedanken machen können, was jetzt eigentlich in der Krise passiert ist, wie sie das erlebt haben, was sie gelernt haben und so weiter. Der Prozess kann ganz unterschiedlich aussehen, wie solche Prozesse in den Bibliotheken halt aussehen: Ein grosses Treffen (online?), ein strukturierter Prozess in mehreren Phasen mit verschiedenen Formen der Rückmeldung. Die Managementliteratur ist voll mit Vorschlägen für solche Abstimmungsprozesse, man kann da einen auswählen. (Bibliotheken, die Prozesse etabliert haben, in dem das Personal sich wirkmächtig – also so, dass auch tatsächlich etwas passiert und ohne Angst haben zu müssen, dass es für sie negative Auswirkungen hat, wenn sie sich äussern – äussern können, sind dabei im Vorteil. Solche, die bislang solche internen Prozesse nicht haben und eher hierarchisch organisiert entscheiden oder bislang dem Personal keinen realen Einfluss auf Entscheidungen gewährt haben, werden damit weiter Probleme haben. Aber das liegt dann gerade an der internen Struktur über die gerade reale Erfahrungen gesammelt wurden.) Verschiebt man diesen Prozess auf irgendwann nach der Krise oder geht ihn gar nicht an, sendet man an das Personal die Nachricht, dass deren Erfahrungen irrelevant sind im Gegensatz zur Aufrechterhaltung des Bestehenden.

  3. Was in einem solchen Prozess geklärt werden sollte, ist nicht nur, welche Erfahrungen die Einzelnen in den letzten Monaten hatten (wobei dabei wichtig wäre zu merken, wie unterschiedliche diese Erfahrungen wohl waren und nicht die Erfahrungen einzelner zum normalen Empfinden stilisiert werden sollten). Es sollte thematisiert werden, was funktioniert hat und was nicht (wobei hier klar sein sollte, dass nicht alles gut funktionieren kann und vor allem die tatsächlichen Anstrengungen wertgeschätzt werden sollten), was an „alten Strukturen‟ und vielleicht auch Denkweisen (oben schon erwähnt die Annahme, Leitung müssen in Sitzungen und Gesprächen vor Ort durchgeführt werden) dem Funktionieren im Weg stand, was an Vorstellungen davon, was die Bibliothek ist und soll, sich bestätigt oder nicht bestätigt hat.

  4. Geklärt werden sollte auch gemeinsam, was das Ziel für die Normalität nach der Krise sein soll. Wie gesagt, gerade scheint mir, dass an vielen Stellen einfach vorausgesetzt wird, dass alle zum Status quo ante zurückkehren wollen würden. Aber: So, wie es Januar 2020 war, war es vielleicht gar nicht bestmöglich. Vielleicht haben sich durch die Erfahrungen der letzten Monate alternative Vorstellungen davon, wie die jeweilige Bibliothek sein soll, wie die internen Strukturen sein sollen, wie die Arbeit sein soll, entwickelt. Vielleicht haben sich Lockerungen ergeben. Vielleicht hat sich erst durch die neuen Erfahrungen gezeigt, wie die Strukturen eigentlich sind. Oder vielleicht wollen wirklich alle in der Bibliothek wieder zum gleichen Stand zurück und die gleichen Angebote machen. Das wäre in einem solchen Prozess zu klären. Aber es einfach vorauszusetzen, hiesse nur, die Erfahrungen des Personals überhaupt nicht ernstzunehmen.

Keine dummen Sprüche

Auch wenn es vielleicht nicht so anfühlt, weil wir vor allem daheim geblieben sind: Für diejenigen von uns, die bislang ihr ganzes Leben im DACH-Raum verbracht haben und nicht etwa aus Bürgerkriegs-/Kriegsgebieten eingewandert sind, war dies (beziehungsweise ist dies weiterhin) die grösste Katastrophe, die wir (bislang) erlebt haben: Die mit der grössten Anzahl Toter und den meisten bleibenden Schäden. (In der Presse ist vor allem von Schäden für die Wirtschaft die Rede, aber nachdem ich den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft erlebt habe, kann ich nur sagen, dass uns das nicht schocken sollte. Wirtschaft jammert immer, redet dabei nicht von den Menschen und erholt sich am Ende zumeist innerhalb kurzer Zeit wieder. Aber die Gesundheitsschäden und die Schäden an der conditio humana, die machen mir Sorgen.) Deswegen finde ich es auch unangebracht, wenn jetzt schon wieder Marketingsprüche von „der Krise als Chance‟ die Runde machen oder leichter Hand irgendwelche Voraussagen dazu gemacht werden, wie „uns‟ die Krise verändert haben wird, wie das in den Kommentarspalten vieler Zeitungen gerade passiert. Vielleicht ist mein moralischer Kompass falsch, aber das ruft bei mir Verachtung hervor. Weder muss man den Ernst der Lage mit motivierenden Sprüchen überdecken, noch muss man mit Tunnelblick eine Entwicklungsrichtung (und wenn es die von „alles soll werden wie vorher‟) vorgeben. Die so vorhergesagten Veränderungen treten eh nie ein. Das will nicht machen, weil ich es auch nicht besser weiss.
Eine Krise ist keine Chance, die man nur nutzen muss, um das durchzusetzen, was man gerne hätte (wie das in der Marketingliteratur gerne vorgeschlagen wird). Sie ist vielmehr immer ein Zeitpunkt, an dem der Status quo, die Annahmen davon, wie etwas ist und wirkt sowie die Strukturen, so wie sie sind, belastet werden. Einige brechen, einige biegen sich, einige halten oder beweisen eine grössere Stärke als angenommen. Das ist jetzt auch in den Bibliotheken passiert. (Ich würde vermuten, dass sich die Vorstellungen, Leute würde sich in Krisen auf Bücher stürzen und in grosser Zahl Liefer- und Onlineangebote nutzen, nicht bestätigt hat, aber das der Willen des Personal zu arbeiten, auch wenn es nicht eng geführt wird, sich als viel stärker bewiesen hat, als viele Leitungen Angst hatten – aber das nur meine Vermutungen.) Diese Belastungsproben jetzt nicht zu nutzen, um zumindest zu schauen, ob man etwas anders machen sollte, würde nur den Eindruck vermitteln – nach innen und nach aussen – dass Bibliotheken gar kein Interesse daran haben, sich zu verändern oder auch nur zu fragen, ob etwas anders sein könnte. Aber das wird, da sich – egal ob Krise oder nicht – immer etwas ändert, nicht funktionieren.
Ich bin mir sicher, dass in vielen Bibliotheken auch jetzt wieder das Argument vorgebracht wird (weil es so oft vorgebracht wird), dass man jetzt gerade keine Zeit hätte, sich damit zu beschäftigen, darüber nachzudenken, ob man zurück zur gleichen Normalität möchte, die es schon mal gab, oder zu einer anderen oder was passiert ist und so weiter. Aber das ist immer ein schlechtes Argument, auch jetzt. Wenn man es jetzt nicht zeitnah angeht, wird man es nie angehen und wohl eher negative Effekte haben, weil das Nicht-Behandeln (wie oben gesagt) sich zumindest auf Teile des Personals negativ auswirken wird. Zudem ist die Verteilung von Ressourcen, also auch der Arbeitszeit, die für interne Prozesse, wie den hier angemahnten, aufgebracht wird oder nicht aufgebracht wird und dafür, was als wichtig wertgeschätzt wird oder nicht, immer eine politische Entscheidung, auch innerhalb einer Bibliothek. Ressourcen wie Zeit nur dafür einzusetzen, ungefragt ein Ziel (den Status qua ante) anzustreben, sagt halt auch etwas über die jeweilige Bibliothek.

[Zumal: Wir sollten auch wenn diese Krise irgendwann durchgestanden ist, nicht davon ausgehen, dass es dann einfach „weitergeht‟. Wir – nicht die Bibliotheken, die Menschen – haben die Erde umgestaltet. Es ist wirklich das Anthropozän. Wir haben dabei Bedingungen für vieles geschaffen, aber eben auch dafür, dass es immer schneller und öfter Epidemien und Pandemien geben wird, neben den ganzen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die auch – ich erinnere nur an den warmen April dieses Jahr – auf uns zukommen werden. Es wird mehr solche Krisen geben. Vielleicht werden wir als Gesellschaft auf die nächste Pandemie schneller reagieren. Aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das „Herunterfahren der Gesellschaft‟ in den letzten Monaten etwas einmaliges war. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die aus dieser Krise lernen, werden besser darauf vorbereitet sein, wenn es wieder soweit kommt. Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, die nur den Status quo ante anstreben, werden dann wieder vor den gleichen Problemen stehen.]

 

Fussnoten

1 Es ist aber erstaunlich, wie wenig man von diesen Angeboten, jetzt, wo man sie auswerten könnte, hört. Mag unterschiedliche Gründe haben, aber man könnte erwarten, dass sie pro-aktiv nach aussen dargestellt würden, wenn sie sehr erfolgreich gewesen wären.

Thekenbibliotheken / Pandemie-gerechte Bibliotheken

Thekenbibliotheken – aktuell, wo sich jetzt viele Bibliotheken darauf vorbereiten wieder für das Publikum zu öffnen, unter strengen Hygiene-Regelungen und vor allem für die Ausgabe zuvor bestellter Medien und die Rücknahme derselben, wird immer wieder einmal der Witz gemacht, sie seien jetzt halt wieder Thekenbibliotheken. Solche Witz kann man machen und es ist selbstverständlich auch gut, in der jetzigen Situation einmal zu lachen. Unbenommen.

Aber Thekenbibliotheken sind das selbstverständlich nicht.

Sicherlich: Da ist – in den meisten Bibliotheken – eine Theke, vor die die Nutzer*innen treten werden, dahinter Bibliothekar*innen, die Medien zurücknehmen oder zuvor bestellte Medien aushändigen. So ähnlich war es in den Thekenbibliotheken bis in die 1950er / 1960er auf den ersten Blick auch. Aber die Unterschiede sind doch immens.

Wenn man den Witz einmal gemacht hat, kann man die Situation auch nutzen, um sie als Beispiel dafür zu nehmen, was sich seitdem alles geändert hat. Die Bibliothek ist, so kann man bei diesem Vergleich gut sehen, immer mehr als der Raum selber. Es geht immer auch darum, was sich die Bibliotheken – also das Personal konkret vor Ort, aber auch die Profession als Ganzes – unter einer Bibliothek, deren Aufgaben, Möglichkeiten, Zielen vorstellt und was sich die Öffentlichkeit – die Nutzer*innen vor Ort, aber auch die Allgemeinheit – darunter vorstellt. Sicherlich: Der Raum repräsentiert dieses Denken und prägt es auch wieder (insbesondere, wenn dieser nicht von den notwendigen Regeln zur Reduktion des Ansteckungsrisikos in einer Pandemie geprägt ist – obgleich wir weiter unten sehen können, dass gerade das eine Verbindung zu den „alten Thekenbibliotheken‟ darstellt). Aber das ist nur ein Teilaspekt.

Was waren Thekenbibliotheken?

Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum begannen in den 1910er Jahren langsam darüber nachzudenken (und allererste Experimente dazu durchzuführen), ob den Leser*innen nicht der direkte Zugang zum Bestand gewährt werden könnte. Immer mit Einschränkungen, immer erstmal bezogen auf Teile des Bestandes und immer mit grossem Widerstand aus der Profession. Es dauerte lange, bis dieser Zugang zum Allgemeingut wurde. Jahrzehnte lang gab es diese Diskussionen, immer mit Verweis darauf, dass ein solcher Zugang – die Freihandbibliothek – in anderen Ländern normal sei (was übrigens so auch nicht stimmte).

Während des Nationalsozialismus gab es eine ganze Reihe von Bibliotheken, die als Freihand eingerichtet wurden, aber es scheint, als seine viele davon nach 1945 zerstört gewesen oder zurückgebaut worden. Zumindest wurde kaum über diese Phase geredet.

Erst während der 1960er scheint sich die Freihand-Bibliothek im DACH-Raum als normale Bibliotheksform etabliert zu haben. Zumindest finden sich ab Anfang der 1960er in der bibliothekarischen Literatur Raumskizzen für neugebaute Öffentliche Bibliotheken, die nicht mehr lange begründen, warum bestimmte Bereiche als Freihand gebaut oder geplant wurden, sondern offenbar stillschweigend voraussetzen, dass dies die richtige Form für eine Bibliothek sei. (Selbstverständlich gab es eine Übergangszeit mit Bibliotheken, die nicht oder nur so halb umgebaut wurden. Aber in den 1960ern verschwindet zumindest die Debatte über die Freihand-Bibliothek aus der bibliothekarischen Literatur.) Das gilt eigentlich für den gesamten DACH-Bereich.1

Zuvor, seit man von Formen Öffentlicher Bibliotheken reden kann (also je nach Land und Region den 1870er-1890er Jahre), waren diese im DACH-Raum alle als „Thekenbibliotheken‟ konzipiert. Es gab von der Grösse her unterschiedliche Formen. Beispielsweise bei sehr kleinen Beständen „Bibliotheksschränke‟, die in anderen Einrichtungen (Schulen, Gaststätten, Partei- und Gewerkschaftslokalen, Kirchen und so weiter) standen und die nur vom jeweiligen Bibliothekar (bis zu Bona Peiser, die 1895 als solche zu arbeiten begann, offenbar keine Bibliothekarin) verwaltet wurden, der dann auch die Bücher ausgab und wieder einstellte. Etwas grössere Bibliotheken hatten keine richtigen Theken, sondern Tische, die vor Buchregalen an der Wand standen. Nur die grösseren Einrichtungen hatten wirklich Theken, die baulich den Raum zwischen Leser*innen und Bibliothekspersonal trennten, mit Türen, verschiedenen – oft auch verschliessbaren – Ausgabe- und Rücknahmetresen und anderen gebauten Feinheiten. Dies hing immer von der Grösse des Bestandes und den verfügbaren Mitteln ab. Aber grundsätzlich waren das alles Thekenbibliotheken.

Die räumlich Gestaltung war aber, wie gesagt, nur ein Teil der Thekenbibliotheken. Was diese ausmacht, war ein spezifisches Denken über (a) das Lesen, (b) davon, was für eine Einrichtung Bibliotheken darstellten und (c) was für Aufgaben sich daraus ergaben.

  • Zuerst verstanden sich alle diese Bibliotheken explizit als Bildungseinrichtungen. Und zwar nicht im recht offenen, recht unbestimmten und immer auch mit anderen Aufgaben wie Unterhaltung oder Kultur in Konkurrenz stehenden Sinne, wie dieser Begriff heute manchmal für Öffentliche Bibliotheken verwendet wird – sondern ganz explizit: Die Aufgabe der Bibliotheken war es, die Leser*innen zu bilden und zwar zum richtigen Lesen. Die heutige Idee, dass einige (viele) Nutzende die Bibliothek selbstbestimmt für ihre eigene Bildung nutzen, andere aber für etwas anderes, wäre diesen Bibliotheken zumindest als Ziel fremd. Bibliotheken hatten den Anspruch, die, die sie nutzen zu erziehen. Selbst Unterhaltungsliteratur stand unter diesem Vorbehalt, wenn sie überhaupt vorhanden war. (Das impliziert auch, dass die Bibliotheken halt nicht „für alle‟ da waren, sondern für die, die diese Bildung nötig hätten.)
  • Alle diese Bibliotheken hätten deshalb ein Konzept für die „Leserlenkung‟. Wie erreicht man die Menschen, damit sie überhaupt anfangen, in die Bibliothek zu kommen? Wie lenkt man sie dahin, die richtige Literatur zu wählen, nicht nur keine „schlechte‟, sondern auch keine so komplexe, dass sie von den Leser*innen „noch nicht‟ verstanden werden kann? Was genau ist „richtiges Lesen‟ und wie schafft man es als Bibliothek, die einzelnen Leser*innen zu diesem Lesen zu führen? Wie viel ist zu viel oder zu wenig Lesen? Die Antworten auf diese Fragen waren unterschiedlich, änderten sich mit den Jahrzehnten, waren Thema von Diskussionen in der bibliothekarischen Literatur, in Debatten, in der Ausbildung. Aber die grundsätzliche Idee, dass die Leser*innen „gelenkt‟ werden müssten (und der Anspruch als Bibliotheken, das zu können und zu dürfen), war allen diesen Bibliotheken gemein.
  • Die Bewertungskriterien und die Strategien dazu waren unterschiedlich. Es gab nicht die eine Öffentliche Bibliothek – so wie wir das heute kennen –, sondern bis in die 1950er Jahre Bibliotheken, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielen dienten: Neben den Lesehallen, die nach eigenem Verständnis neutral und für alle da sein wollten (ein Anspruch, der von anderen bestritten wurde und deren Ideologie man auch eher als Teil des rechts-konservativen Mainstreams der beiden Kaiserreiche und des Bürgertums bis in die 1950er Jahre bezeichnen müsste), gab es zum Beispiel „Arbeiterbibliotheken‟, die sich vor allem als Teil der sozialistischen Bewegung verstanden (und die Arbeiter*innen dazu ermächtigen wollten, Produktionsmittel und Gesellschaft zu übernehmen) oder die katholischen Bibliotheken, die ein konservatives (aber eigentlich modernes, weil erst in der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft gewonnenes) Gesellschaftsbild etablieren wollten.2 Es gab auch teilweise massive Auseinandersetzung über diese Strategien innerhalb der unterschiedlichen Bibliotheksformen, insbesondere den sogenannten „Richtungsstreit‟ innerhalb der Lesehallen, indem es vor allem darum ging, was eigentlich die von diesen angestrebte „Volksbildung‟ sei und wie sehr zur Gewinnung von Leser*innen Unterhaltungsliteratur eingesetzt werden sollte. Aber wichtig hier: Alle Formen der Thekenbibliothek hatten Bewertungskriterien von Literatur und Strategien zur Lenkung von Leser*innen als gedanklichen Hintergrund und fanden diese so wichtig für die eigene Identität als Bibliothek, dass sie bereit waren, darüber zu streiten.
  • Die bibliothekarische Literatur der Jahrzehnte der Freihandbibliotheken ist voll von Texten (und Streitigkeiten) über „Bibliothekstechnik‟ (Technik auch im Sinne von Arbeitsweisen, -abläufen), die sich nur durch diese Form von Bibliothek erklären lassen: Einerseits die Frage, wie das Ausheben der benötigten Bücher aus dem Bestand am Effektivsten organisiert werden kann (das ist heute noch für Bibliotheken mit Magazinen Thema), anderseits aber auch, wie die Beratung der Leser*innen, die Ausgabe und Rücknahme der Medien zu organisieren sei. Pläne wurden gezeichnet, wie sich die Personen durch den Raum vor der Theke bewegen sollte. Gesonderte Kataloge für die Leser*innen wurden entworfen, die immer anders waren als die, welche das Bibliothekspersonal benutzte. Es gab Diskussionen um die „offene‟ und die „gebundene Theke‟ (bei der offenen kann an allen Plätzen alles gemacht werden, bei der gebundenen gibt es Plätze für die Rückgabe, für die Ausgabe und so weiter).
  • All diese Planungen und Diskussionen hiessen selbstverständlich nicht, dass alles immer funktionierte. Ebenso finden sich in der bibliothekarischen Literatur immer wieder Klagen, dass sich die Leser*innen den Zielen, der Beratung, den Arbeitsweisen der Bibliotheken entziehen. Dass sie eigene Interessen durchsetzen. Dass sie sich nicht darauf einliessen, sich „empor zu lesen‟. Zudem gab es – zumindest in den Städten – immer die Möglichkeit, dass Leser*innen auf andere Bibliotheken auswichen. Einerseits zum Beispiel nicht in die Lesehalle gingen, sondern in die Arbeiterbibliothek. Andererseits – das war eher der Horror – in die „kommerziellen Leihbibliotheken‟, welche Medien als Gewerbe vermieteten, oft direkten Zugang zu den Beständen boten und – so die Behauptung der ganzen unterschiedlichen Thekenbibliotheken, der die Leihbibliotheken selbstverständlich widersprachen – vor allem schlechte Literatur anbieten würden, weil es ihnen nur um Geld und nicht um Bildung ginge.
  • Ein Punkt, der in der bibliothekarischen Literatur der damaligen Jahre auch immer wieder einmal auftauchte war der der Hygiene. Es gab Diskussionen darüber, ob die Erreger verschiedenster Krankheiten – von denen vermutet wurde, dass sie bei Leser*innen aufgrund deren ökonomischer Verhältnisse, aber auch aufgrund ihres Lebenswandels verstärkt auftreten würden – sich über die Bücher von Bibliotheken verbreiten würden. Es gab auch dazu verschiedene Meinungen und Lösungsansätze, verschiedene Vorschläge zur Reinigung der Medien nach der Rückgabe oder auch Vorschläge, wie lange sie zu lagern wären, bevor sie wieder ohne Gefahr ausgegeben werden könnten. Eine eindeutige Lösung gab es nie, aber das Thema tauchte immer wieder auf. An sich war das in den letzten Jahrzehnten nicht mehr Thema der bibliothekarischen Literatur (was nicht heisst, dass es nicht von Zeit zu Zeit auf anderen Kanälen antönte), aber jetzt ist es das aus guten Gründen wieder. (Wobei es die Desinfektionsmittel, die heute zur Verfügung stehen, damals nicht gab.)

Zum Übergang zur Freihand

Wie gesagt, begangen die Bibliotheken im DACH-Raum in dem 1910er Jahren ganz vorsichtig über die Freihand zu diskutieren. Aber es dauerte wirklich lange, bevor sich dann – eher plötzlich – die Freihand wirklich durchsetzte. Die Vorstellung davon, was die Bibliothek sei und wie sie zu arbeiten hätte, veränderte sich nicht schnell. Interessant sind vor allem Beiträge am Ende dieser Entwicklung. In den 1950ern liest man öfters3 davon, dass an sich akzeptiert wird, dass die Freihand „die Bibliotheksform der Zukunft wäre‟, aber das sie dann auch massiv viel mehr Personal bedürfe, weil die Lenkung der Leser*innen dann direkt am Regal erfolgen müsse. An der Theke können man die Gespräche gut organisieren – wie gesagt, wie das stattfinden sollte, war auch Teil der Bibliothekstechnik –, aber am Regal müsse man neue Formen finden.

Auch wurden lange diskutiert, ob man nur bestimmte Teile der Bestände als Freihand aufstellen solle und welche. Und wem man dann Zugang gewähren könne und wem nicht. Dazwischen kamen viele Teilschritte, beispielsweise der immer wieder neue Entwurf von Katalogsystemen für die Leser*innen oder die Mechanisierung der Ausleihe. Das ist seine eigene Geschichte.

Aber sichtbar ist, dass sich der Übergang zur Freihand nicht einfach räumlich gestaltete – auch wenn das einen nicht zu unterschätzenden Aufwand bedeutete –, sondern inhaltlicher Art war. Die Bibliotheken mussten erst die Vorstellung ändern, was für Einrichtungen sie wären und was ihre Aufgabe wäre, um dann in der Freihand wieder eigene bibliothekarische Arbeitsformen zu finden. Das veränderte viel mehr, als nur die Aufstellung der Bestände. Beispielsweise wurde den Interessen der Leser*innen substantiell mehr Beachtung geschenkt – deshalb heissen sie heute ja auch nicht mehr Leser*innen, sondern je nach Weltanschauung Nutzer*innen oder Kund*innen (oder anders).

Thekenbibliothek versus „Pandemie-gerechte Bibliothek‟

Die eingeschränkte Ausleihe in Bibliotheken, wie sie jetzt eingeführt und wohl für den Zeitraum der Pandemie beibehalten wird (und, machen wir uns nichts vor, die Welt ist kaputt, es wird mit hoher Wahrscheinlichkeeit in unserer Lebenszeit weitere Pandemien geben, in denen das wieder ähnlich sein wird) ist also offensichtlich keine Thekenbibliothek. Im Hintergrund der jetzigen Bibliotheken steht eine andere Idee davon, was für eine Aufgabe (beziehungsweise Aufgaben) die Bibliotheken haben. Der Zugang zum Bestand ist jetzt physisch eingeschränkt, aber sonst offen. Nutzer*innen und Bibliothekar*innen nutzen die gleichen Kataloge, weil man alle zutraut, sich in diesen zurecht zu finden. Bibliotheken erziehen die Nutzer*innen nicht zum richtigen Lesen und erheben auch nicht den Anspruch, Literatur inhaltlich daraufhin zu bewerten, ob sie zum „hinauflesen‟ geeignet wäre. Es gibt weit mehr Medienformen als Bücher und das ist keiner Diskussion mehr wert.

Was dieser Ausflug in die Bibliotheksgeschichte zeigt, ist, dass es immer eine Sicht der Bibliotheken auf sich selber, auf ihre Aufgaben und so weiter gibt, die sich mit der Zeit ändert. Sie ist offensichtlich nicht festgeschrieben, sondern verhandelbar (dafür muss sie dann benannt, diskutiert, vielleicht auch kritisiert werden – aber das ist hier nicht das Thema). Diese Vorstellung strukturiert dann die Arbeit, die tatsächlich in den Bibliotheken geleistet wird, sie strukturiert den Raum Bibliotheken und auch das, was als wichtig genug angesehen wird, um es zu diskutieren (oder was als dafür nicht wichtig genug angesehen wird). Die jetzige Situation wird vorübergehen – vielleicht in Monaten, vielleicht in Jahren. Aber die Vorstellung von Bibliotheken, was ihre Aufgabe ist, wird sich auch nach dieser Pandemie immer weiterentwickeln.

 

Fussnoten

1 Für die DDR habe ich, glaube ich, schon einmal geschrieben, wie erstaunlich ich das fand, dass die Broschüre „Über die Arbeit in Freihandbibliotheken‟ (Günter de Bruyn, Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen ; 1957) auf Erfahrungen aus „den bürgerlichen Bibliotheken‟ (also BRD und vielleicht Österreich) und USA, Grossbritannien und Skandinavien sowie aus der DDR selber zurückgriff, aber gerade nicht auf – eigentlich damals schon existierende – Erfahrungen in der Sowjetunion mit Freihandbibliotheken.

2 Zu Arbeiterbibliotheken siehe meinen Artikel„Neutralität als bürgerliche Bibliotheksideologie. Die Kritik der Arbeiterbibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts‟ (Schuldt, Karsten, in: Libreas 35 (2019), https://libreas.eu/ausgabe35/schuldt/), zu katholischen Bibliotheken (in Frankreich, aber das lässt sich prinzipiell übertragen) siehe „La mise au pas des écrivains. L’impossible mission de l’abbé Bethléem au XXe siècle.‟ (Mollier, Jean-Yves, Paris: Librairie Arthème Fayard, 2014).

3 [Ich weiss, hier wären Literaturnachweise angebracht. Aber die liegen leider nicht hier, wo ich gerade bin, sondern in einem Ort, den in wegen geschlossener Grenzen während der Pandemie nicht einfach erreichen kann.]