Einfach mal nachgucken gehen, anstatt alle Thesen zu glauben

In Wien bin ich gewesen. Nicht das erste Mal, aber diesmal fiel mir etwas auf, dass mit Öffentlichen Bibliotheken, den von ihnen gepflegten Diskursen und Obsessionen und damit, wie sie zu Entscheidungen über ihre eigene Entwicklung kommen, zu tun hat. Nämlich grundsätzlich, dass viele Behauptungen, welche die Basis für reale Entwicklungen in Bibliotheken bilden, eigentlich ohne grosse Probleme überprüft werden könnte, bevor sie einfach geglaubt und wiederholt werden. Das möchte ich hier schildern, aber zuvor noch darauf eingehen, wieso ich das relevant finde.

Unterschiedliche Wissenskulturen

Ein Leben als Bibliothekswissenschafter hat – wie auch das Leben mit anderen Jobs – viele frustrierende Momente. Öffentlichen Bibliotheken dabei zuzusehen, wie sie regelmässig die immer gleichen Behauptungen über die Entwicklung von Bibliotheken, über die aktuelle und zukünftige Mediennutzung oder über gesellschaftlichen Entwicklungen wiederholen, die oft einfach nicht stimmen und – noch schlimmer – wie sie oft offensichtlich falsche Aussagen von Berater*innen als scheinbare sinnvolle Argumente übernehmen – das sind oft solche frustrierende Augenblicke. Frustrierend ist dabei nicht etwa, dass nicht anstatt der jeweiligen Berater*in einfach ich gefragt werde: Das wäre nur die Ersetzung mit einem anderen Berater (allerdings, im Gegensatz zu vielen Berater*innen, die alles sind, aber keine Bibliothekar*innen, jemand mit fachlicher Qualifikation). Frustrierend ist, mit wie wenig Anstrengung Bibliotheken eigentlich diese Obsessionen und Behauptungen selber überprüfen und als falsch (oder mindestens unterkomplex) erkennen können. Sie wiederholen oft Behauptungen entgegen einfach zugänglichen Wissens. Das ist das Frustrierende.1

Und dann werden auf der Basis dieses Obsessionen oder Behauptungen die oft immer wieder gleichen Entscheidungen getroffen – die dann (a) oft auch schon vorher vorausgesagt werden können und (b) Ressourcen (Zeit, Personal, Geld, Goodwil von Personal und Nutzer*innen, Infrastruktur und so weiter) verschwenden, weil selbstverständlich nichts anderes herauskommt, wenn Bibliotheken das gleiche nochmal machen, wie andere Bibliotheken vor ihnen auch.

Manchmal, muss ich zugeben, möchte ich einfach tief und vernehmbar durchatmen, dabei einen frustrierten Ton ausstossen und dann einfach nur fragen: „Warum, um alles in der Welt, glauben Sie dann das jetzt schon wieder?” wenn ich Kolleg*innen aus Bibliotheken über Makerspaces oder 3. Orte oder „neue Stadtgesellschaft” oder „Wohnzimmer der Stadt” oder „Coding als die neue Sprachkompetenz” oder Ähnliches reden höre.

Aber selbstverständlich ist auch das unterkomplex. Es gibt wohl Gründe dafür, dass die Dinge sind, wie sie sind (sonst wären sie anders).

Wissenschaft, Praxis, Beratung: Das sind drei verschiedene Wissenskulturen mit drei unterschiedlichen Wissensparadigmen. Man würde erwarten, dass die sich sinnvoll aufeinander beziehen, aber das tun sie selbstverständlich nicht. Dann wäre die Welt ja zu einfach.

  1. Wissenschaft – jetzt einmal einfach und kritiklos gefasst – ist vor allem daran interessiert, strukturiert und methodisch neues Wissen zu generieren. Schon vorhandenes Wissen wird benutzt, strukturiert, ausgewertet und dann daraus neues Wissen geniert (oft über neue Fragen, die dann systematisch beantwortet werden). Bei Luhmann hat Wissenschaft als System die Aufgabe, zu entscheiden, ob etwas wahr oder nicht wahr ist. (So wie alle Systeme bei Luhmann genau eine Aufgabe haben.)

  2. In der Bibliothekspraxis ist das Interesse an Wissen ein anderes: Es geht darum, Wissen zu erhalten, vielleicht auch zu generieren, welches Entscheidungen ermöglicht: Soll man Ressourcen für XYZ einsetzen oder nicht? Soll man Angst vor Veränderung ABC haben oder nicht? Soll man sich Gedanken um dies machen oder um das? Am Ende des Prozesses muss jeweils eine Entscheidungen darüber stehen, wie die Arbeit gemacht wird. Man würde vielleicht vermuten, dass dieses „Entscheidungswissen” und das Wissen, wie es in der Wissenschaft produziert wird, übereinstimmt – aber das tut es nicht. Für die Praxis ist es nicht so wichtig, ob etwas wahr oder nicht wahr ist, sondern das eine Entscheidung getroffen wird. [Das sich das nicht nachhaltig ausgeht, weil Ressourcen so falsch investiert werden und weil so auch Erfahrungen aus anderen Einrichtungen oder gar abstrakteren Wissen oft nicht genutzt werden… das ist ein anderes Thema.]

  3. Beratung hat auch kein grosses Interesse dran, ob Wissen wahr oder nicht wahr ist. Stattdessen wird, abstrakt gesagt, Wissen in der Beratung eingesetzt, um in Bibliotheken Entscheidungsprozesse zu motivieren (also oft erst den Eindruck zu vermitteln, dass Veränderungen nötig sind, aber gleichzeitig auch möglich) und dann diese Entscheidungen zu ermöglichen. Das heisst nicht, dass Beratung unbedingt falscher Wissen präsentiert oder das die Berater*innen nicht von dem, was sie erzählen, überzeugt sind. Aber die Funktion des Wissens ist eine ganz andere: Wenn es nur Entwicklungsprozesse anstösst, ist es gut. Dann wird nichts mehr nachgeprüft. Auch die Methoden, die genutzt werden, haben dann eine sehr andere Funktion als in der Wissenschaft: Sie sollen Ergebnisse ermöglichen, nicht – wie in der Wissenschaft – neues Wissen generieren.

Wie gesagt könnte man vermuten, dass sich diese Wissenskulturen sinnvoll ergänzen würden. Aber sie tun es nicht. So oft wird das vorhandene Wissen aus der Forschung nicht genutzt und stattdessen nochmal die gleichen Aussagen wiederholt, weil Sie Entscheidungen ermöglichen. Ich kann mir vorstellen, dass das hilfreicher ist: Zu glauben, das Makerspaces und Coding-Workshops gross etwas verändern würden, ist wohl motivierender, als die tatsächlichen Ergebnisse aus Forschungen zu Makerspaces und Coding-Workshops, die eher geringe nachhaltige Effekte zeigen, wahrzunehmen und von diesen auszugehen. Aber gleichzeitig ist hoffentlich verständlich, wie frustrierend es sein kann, wenn man als Bibliothekswissenschaftler all die Studien zu Makerspaces in Bibliotheken und zu anderen Makerspaces kennt, deren Ergebnisse eigentlich eindeutig sind (siehe hier und hier) – und dann wieder und wieder stattdessen etwas anderes behauptet wird.

Umzugehen mit diesen Frustrationen; aus dem Wissen daraus, dass die Wissenskulturen anders sind etwas machen: Das mag eine Aufgabe sein, die man vielleicht gemeinsam angehen sollte. Ein Schritt dahin wäre wohl, wahrzunehmen, dass es diese Unterschiede gibt und zumindest zu schauen, was man einfach und schnell besser machen könnte.

Mein Vorschlag hier für die Praxis wäre: (1) Sich bei allen Entscheidungen bewusst sein, dass die Behauptungen, die so in der bibliothekarischen Presse und unter der Hand verbreitet werden, vielleicht gut klingen, aber deshalb nicht unbedingt stimmen müssen – und auch nicht dadurch richtiger werden, dass sie wiederholt werden. (2) Einfach mal bedenken, wie viele dieser Behauptungen schon gemacht wurden, um dann wieder aus dem Diskurs zu verschwinden und (3) deshalb Behauptungen überprüfen, bevor auf ihrer Basis Entscheidungen getroffen und Ressourcen eingesetzt werden.

Wien liefert ein gutes Beispiel dafür, wie einfach das oft möglich ist.

Wien: Kaffeehäuser, public space, Stühle und Bänke

Wien kommt in Ray Oldenburgs „The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day” (New York, 1989) prominent vor. In diesem Buch formuliert Oldenburg seine, well, Analyse vom „3. Place”, auf dem viele bibliothekarische Diskurse heute basieren. [Dass das Buch 1989 erschien – und vieles darin auch schon anderswo gesagt wurde –, die Diskurs in Englisch aber erst gegen 2000, in Deutsch und Französisch gegen 2010 anfingen, ist eine der komischen Eigenheiten, die eigentlich aufhorchen lassen sollten – aber das hat dem Diskurs auch bisher nicht aufgehalten.]

Zur Erinnerung: Oldenburg suchte nach Einrichtungen, welche die gesellschaftliche Kohärenz der US-amerikanischen Gesellschaft (wieder) erhöhen könnten – und fand diese vor allem in Europa oder der US-amerikanischen Geschichte. Diese nannte er „3. Place” (als Kurzform für „great good place”).2 In diesen Orten würden Menschen in einem besonderen Raum aufeinander treffen, angeregt durch „anregende Getränke” über gesellschaftliche Grenzen hinweg miteinander kommunizieren und somit lernen, Gesellschaft herzustellen.

Kaffeehäuser

Bibliotheken haben daraus heute selbstverständlich etwas ganz anderes gemacht. Aber trotzdem: Die Kaffeehäuser in Wien sind für Oldenburg – neben englischen Pubs und französischen Bistros – die Vorzeige 3. Orte der Jetztzeit (beziehungsweise der späten 1980er Jahre). Die Kaffeehäuser gibt es heute noch – nicht mehr alle; einige sind so touristifiziert, das sie nicht mehr als der 3. Ort gelten können, von dem Oldenburg sprach. Es gibt (und gab) selbstverständlich in Wien auch ganz andere Lokalitäten als nur die Kaffeehäuser. Und auch die Kaffeehäuser, welche weiterhin vor allem die lokale Bevölkerung bedienen, haben sich seit den späten 1980ern etwas verändert [bei dem um die Ecke von meiner Unterkunft konnte man jetzt explizit vegetarisch essen und wurde sofort, wenn auch weiterhin mit Wiener Schäm, bedient – das war vor einigen Jahren nicht so].

Dennoch sind es weiter Wiener Kaffeehäuser. Was Oldenburg an diesen hervorhob, war (a) das „soziale Spiel”, also vor allem das Verhalten der Ober, die erstmal warten lassen, wenn man die ersten Mal kommt, dann von oben herab fragen, was es sein soll, dann betont unhöflich servieren; dann aber nach wenigen Besuchen schnell Personen zu Stammgäst*innen erheben, sich deren Namen und Vorlieben merken, mit einem Titel eine Stufe über dem tatsächlichen Titel ansprechen und so schnell Personen in eine Gemeinschaft einbinden, (b) die Stammgäst*innen, welche den spezifischen Ort Kaffeehaus prägen würden, mit ihrem raumnehmenden Verhalten, langer Kommunikation, Sonderwünschen und so weiter. Solche Personen, so betont Oldernburg, wären für 3. Orte nötig. Erst sie würden den Raum sozial machen und dafür sorgen, dass er als ein Ort funktionieren würde, der Gesellschaft herstellt.

Stimmt das? Also: Ist das Wiener Kaffeehaus wirklich ein Ort, der so Gesellschaft herstellt? Erfüllt der 3. Ort par excellence seine Funktion? Wenn ja: Was heisst das für die Versuche von Bibliotheken, 3. Orte zu werden? Erfüllen sie die Funktion, Stammgäst*innen einzubinden, wie es das Personal der Kaffeehäuser tut? Und wenn nein (was gut sein kann, das Buch von Oldenburg ist nicht unbedingt immer überzeugend): Heisst das vielleicht, dass schon Oldenburg einer fixen Idee gefolgt ist, die sich so gar nicht umsetzt? Ist es dann wirklich sinnvoll, der zu folgen?

Was jetzt interessant ist: Anstatt dass Bibliotheken immer wieder in Workshops, Strategiepapieren, Gesprächen mit Journalist*innen einfach nur die sehr verkürzte Formel, der 3. Ort seie nicht der 1. und nicht der 2. Ort, wiederholen, könnte man auch einfach mal für zwei-drei Tage nach Wien fahren und dort Kaffeehäuser besuchen. Die Thesen, denen gefolgt wird, könnte man überprüfen, bevor man sich daran macht, aus ihnen Entscheidungen abzuleiten. [Auch die anderen beiden Beispiele, Bistro und Pub könnte man besuchen – nach dem Brexit vielleicht eher Pubs in Irland, aber soviel anders als die britischen sind die auch nicht.] Folgt man einer forschenden Wissenskultur, wäre das selbstverständlich – Thesen müssen systematisch überprüft werden; man kann die nicht einfach glauben. Aber auch in einer praxisorientierten Wissenskultur wäre das sinnvoll – auch wenn es am Ende heissen könnte, dass man eventuell die eigenen Vorstellungen ändern müsste. [Was nicht unwahrscheinlich ist: So sehr ich Kaffeehäuser und Bistros selber mag, so sehr denke ich mir, dass das nicht das ist, was Bibliotheken machen. Aber nicht mir glauben: Lieber mal hinfahren, selber nachgucken.]

Public space

Wien ist auch eine sehr progressive Stadt. Was gut ist. Bekannt ist sie heute für ihre Lebensqualität, die immer wieder verbessert werden soll. Dazu gehört der Versuch, Autos möglichst aus der Stadt herauszuhalten, dafür einen guten ÖPNV anzubieten und den öffentlichen Raum zu beleben. Das 365-Euro-Jahresticket gehört dazu, ebenso die doch sehr zuverlässigen Trams, Busse und Bahnen. Das mag bekannt sein.

Was man aber eher erst bei einem Besuch sieht, ist der Ausbau des öffentlichen Raumes in der Stadt. Zum Beispiel haben viele Restaurants und Cafés, die an einer Strasse situiert sind, heute einen Vorbau neben dem Trottoir. Da wo in anderen Städten zwei, drei Autos parken würden, finden sich in Wien abgegrenzte Bereiche für Stühle, Tische, Schirme. Weniger Platz für Autos, mehr Platz für Menschen und freiere Trottoirs. Daneben sind im öffentlichen Raum zahllose Stühle und Bänke gestellt. Massiv viele, viel mehr als anderswo. In allen Parks scheinen die Gehwege lückenlos mit Bänken bestückt, auf den kleinen Plätzen, teilweise an den Strassenkreuzungen, stehen neue, fest installierte Sitzgelegenheiten (alle so, was auf den zweiten Blick aufhält, dass niemand dort schlafen könnte, dafür sind sie „zufällig” zu klein, die Lehnen zu hart). Es ist offensichtlich, was hier versucht wird: Die Stadt folgt der gerne geäusserten Behauptung, dass ein Ort geschaffen werden muss, wo sich Menschen treffen können; dann würden sie miteinander kommunizieren und damit über Unterschiede hinweg gesellschaftliche Nähe entstehen.

Das sollte aufhören lassen, weil es die gleiche These ist, die aktuell bei vielen Umbauten bei Bibliotheken im Hintergrund steht: Der Raum Bibliothek soll belebt werden, indem Barrieren abgebaut und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet werden.

Was man jetzt in Wien machen kann – und das war es, was mir vor allem auffiel –, ist, zu überprüfen, ob diese Annahme stimmt. Funktioniert es? Wird so ein öffentlicher Raum hergestellt?

Nein, das passiert nicht. Besonders gut kann man das in Bezirken sehen, wo diese Stühle und Bänke neben Cafés und Restaurants stehen. Kaum jemand sitzt auf den freien Bänken, praktisch niemand kommuniziert; aber in den Restaurants und Kaffeehäusern daneben sind Menschen und kommunizieren. (Ist das dann schon ein public space in den Restaurants oder reden einfach nur die miteinander, die sich auch schon kennen? Das ist eine andere Frage. Erstmal geht es um den Vergleich.)3 Das ist vielleicht zu erwarten, aber in Wien, gerade in den Jahreszeiten, wo man draussen sitzen kann, kann man das gut selber sehen: Es ist offensichtlich nicht so, dass die vorgebaute Situation Kommunikation ermöglicht, sondern das, was im Raum passiert und was der Raum ausdrückt, hat eine grössere Bedeutung. Bibliotheken bräuchten sich also von Berater*innen nicht erzählen lassen, dass die Gestaltung des Raumes zur Belebung führt und das glauben – sondern könnten diese These einfach mal selber überprüfen. [Auch anderswo. Wien ist hier ein wenig zufällig gewählt, weil ich (a) nach Wien wollte (wer will das nicht) und (b) sich gleich zwei Thesen einfach überprüfen lassen.]

Eine Konsequenz wäre dann wohl, die These zurückzuweisen und mehr über die tatsächliche Nutzung – also die Veranstaltungen, Angebote und so weiter – zu reden. (Das wäre auch bei Oldenburg angelegt, der hat auch betont, das der 3. Ort plain sein müsste und vor allem die Stammkund*innen, Kommunikation und anregender Getränke wichtig wären.) Und zwar wirklich drüber reden, nicht behaupten, dass das irgendwie „doch klar” wäre, aber dann wieder nur vom Raum reden.

Schauen kann man überall

Was ich sagen will ist wohl vor allem:

  1. Es ist erstaunlich, was Bibliotheken in ihren Diskursen und Zukunftskonzepten so alles an Behauptungen wiederholen, die auch ohne grosses Nachdenken überprüft und dabei als fehlerhaft erkannt werden könnten. Erklärbar ist das zum Teil mit den unterschiedlichen Wissenskulturen: Die Bibliothekspraxis braucht vielleicht solche Behauptungen, weil sie Entscheidungen treffen muss; mich in der Forschung interessiert eher, ob die überhaupt stimmen und sinnvoll sind.

  2. Aber es sollte klar sein, dass Entscheidungen, die auf der Basis falscher Behauptungen getroffen werden, wohl vor allem Ressourcen verschwenden und irgendwann auch demotivierend auf Personal und Leitung wirken müssen, wenn sich immer und immer wieder Versprechen, die auf der Basis dieser Behauptungen gemacht werden, nicht einlösen.

  3. Dabei gäbe es in vielen Fällen einen einfach Weg, die Thesen zu überprüfen: Einfach mal nachschauen, ob sie wirklich stimmen. Zwei Beispiele dazu: Ich war nicht nur in Wien diesen Sommer, sondern auch in den Niederlanden. In den Niederlanden [weil ich dort mit jemand anders war, mit dem man das machen kann] war ich auch in Öffentlichen Bibliotheken. Das kann ich auch empfehlen. Gerade deutsche Bibliotheken hängen bestimmten Entwicklungen ja lange hinterher. Was in Deutschland als innovativ besprochen wird, ist in den Niederlanden oft schon eingerichtet; nicht nur in den grossen Städten, sondern auch in den kleineren. Man kann sich also live angucken, wie aufgelockerte Bibliotheken mit Hands-On-Labs und Ausstellungen und offenen Räumen und Makerspaces eigentlich im Normalbetrieb wirken. Oder wie hippen Sitzgelegenheiten genutzt werden.4 [Ausserhalb der Veranstaltungszeiten: Leise, leise, leise. Viele Leute, die leise vor sich hinarbeiten oder lesen.] Anstatt Oldenburg nochmal zu lesen habe ich auch Richard Sennetts neues Buch (Building and Dwelling. Ethics for the City. London 2019) Was man in dem Buch lernen kann, auch für Bibliotheken, ist das der 3. Ort keine neue Fragestellung ist und das schon viel darüber nachgedacht wurde, wie Menschen überhaupt „Stadt machen”, also Beziehungen miteinander herstellen – das man also auf viel mehr Erfahrungen, Teste, Nachdenken zurückgreifen könnte, wenn man über Räume nachdenkt, als die einfachen Behauptungen, auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Die Thesen bei Sennett – und nicht nur bei ihm, er geht so ein bisschen durch die Geschichte der Stadtplanung – sind auch viel differenzierter. Man könnte also auch mal weitergehen und muss nicht bei den gleichen drei Behauptungen stehen bleiben.

Das sind alles ganz einfache Vorschläge: Obsessionen als solche erkennen; Behauptungen nicht glauben, insbesondere wenn sie beständig wiederholt werden, sondern überprüfen; die unterschiedlichen Wissenskulturen beachten. Das würde, davon bin ich überzeugt, zu besseren Entscheidungen in Bibliotheken über ihre eigene Entwicklung führen und zu besser eingesetzten Ressourcen.

Warum kann das nicht die Forschung machen? Ich hoffe, dass ist klar geworden: Bibliotheken interessieren sich für anderes Wissen als das, was die Forschung produziert. Die Forschung hat viele Behauptungen schon schon widerlegt, bevor die Bibliothekspraxis sie sich aneignet. Bibliotheken wiederholen sie dann trotzdem gerne weiter. Deshalb müssen offenbar sie selber sich daran machen, die zu überprüfen (was vielleicht auch ein leicht anderes Mindset als jetzt bedarf). Ich wollte hier nur zeigen, wie einfach solche Überprüfungen von Thesen möglich sind.

 

Fussnoten

1 Es gibt selbstverständlich noch weit mehr Frustrationsquellen als Bibliothekswissenschafter, aber um die soll es hier nicht gehen.

2 Falls das überrascht, dann überrascht vielleicht auch, dass er in diesem Buch explizit ausschliesst, dass Bibliotheken 3. Places sein können. Aber auch das hat den bibliothekarischen Diskurs nicht gestoppt.

3 Zumindest unter der Woche. Kaum hatte ich das geschrieben, fiel mir – weil ich durch sie gegangen bin – auf, dass in der einen Hälfte der Bergmannstrasse in Berlin-Kreuzberg auch ähnliche Vorbauten stehen: Dort, wo sonst Autos parken würden, aber nicht für Plätze von Restaurants und Kneipen, sondern als öffentliche Sitzgelegenheiten. Und auf diesen sassen tatsächlich einige Menschen und redeten – lange nicht so viele wie in den Restaurants drumherum, aber doch einige. Allerdings: Am Samstag Abend. Zu anderen Zeiten, in denen ich dort vorbeigegangen bin, ist mir nicht erinnerlich, dass sie merklich benutzt worden wären.

4 Was man in diesen Bibliotheken auch lernen kann, ist, dass man die Toiletten in der Bibliothek 50 Cent kosten lassen kann – manchmal für alle, manchmal kostenlos für Nutzer*innen mit Bibliothekskarte. Ich weiss aber nicht, ob das ein gutes Beispiel ist.