„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.”

„Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher.” Die Präsidentin des Stiftungsrats der Liechtensteinischen Landesbibliothek, Christina Hilti, schrieb diesen Satz in ihre Geleitwort zur „Bibliotheksstrategie 2025”.1 Dabei war und ist sie nicht die Einzige. Vielmehr findet sich diese Aussage aktuell immer und immer wieder in Bibliotheksstrategien, in Texten, in denen sich Bibliotheken der Öffentlichkeit gegenüber vorstellen oder in denen über die Zukunft von Bibliotheken nachgedacht wird. Auch Journalistinnen und Journalisten schreiben ihn seit einig Jahren sehr gerne. Es ist klar, was dieser Satz heissen soll: Bibliotheken sind modern, entwickeln sich und so weiter.

Aber: Dieser Satz enthält eine (a) falsche und (b) auch ein wenig gefährlich Behauptung. Ich fände es gut, wenn im Bibliothekswesen etwas mehr nachgedacht wird, bevor solche Sprachbilder verbreitet werden. (Auf den Journalismus habe ich keinen Einfluss, aber auch da kommt diese Aussage ja nicht von ungefähr. Irgendwer muss die Leute ja darauf bringen, immer wieder diesen Satz zu schreiben.) Das werde in diesem Blogpost besprechen: Zuerst etwas dazu, wie Sprachbilder allgemein wirken (1), dann etwas zur Geschichte von Bibliotheken, die von diesem Sprachbild überzeichnet wird (2), anschliessend einige Überlegungen dazu, was der Effekt dieses spezifischen Sprachbildes ist (3) und im Fazit noch ein paar Vorschläge, was man anders machen könnte (4).

1.Sprachbilder

Bibliothekarische Texte verwenden, wie alle anderen Texte auch, Sprachbilder, um Zusammenhänge darzustellen, Überlegungen zu verdeutlichen, Argumente zu verstärken, Bedenken zu zerstreuen und so weiter. Aber Sprachbilder sind mehr als „nur Gerede”. Sie sind nicht unschuldig in dem Sinne, dass es egal ist, ob sie verwendet werden oder nicht.

Vielmehr produzieren erfolgreich angewendete Sprachbilder bestimmte Vorstellungen von Realität – und führen auch dazu, dass andere Vorstellungen von Realität mehr oder minder unmöglich zu denken sind. Nicht, weil es verboten wäre, sie zu denken, sondern weil sie von den wirkmächtigen Sprachbildern überdeckt werden. Meist wird durch solche Sprachbilder die komplexe Realität so weit reduziert, dass sie falsch wird. Wir kennen das: Wenn sich zum Beispiel das Bild durchsetzt, Lyrik sei vor allem unzugänglich und schwierig zu verstehen, prägt das, wie Lyrik wahrgenommen wird – auch wenn man einfach durch das Lesen von etwas Lyrik merken würde, dass das so überhaupt nicht stimmt. Aber es ist ein wirkmächtiges Sprachbild, das leider viele davon abhält, Spass mit Sprache zu haben.

Kurz: Sprachbilder verkürzen das Denken und die Wahrnehmung von der Realität. Das kann manchmal sinnvoll und notwendig sein, dass kann – in der Lyrik – auch interessante Effekte hervorbringen. Aber wenn es falsch läuft, bringen sie falsche Vorstellungen hervor und produzieren auch falsche (irrealistische) Überzeugungen. Deshalb sollten sie immer wieder einmal überprüft werden. [Ganz abgesehen davon, dass sie auch sprachlich langweilig sind. Wenn sie neu gefunden werden, im Gedicht, dann mag das interessant sein; aber wenn sie zum hundertsten Male wiederholt werden, dann vermitteln sie nur noch Überzeugung, nicht mehr sprachliche Innovativität.]

2.Bibliotheken als Bücherspeicher

Was mit dem Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” behauptet wird, ist, dass früher [Wann?] Bibliotheken einmal „Bücherspeicher” [Warum?] gewesen wären und sich jetzt [Seit wann?] verändert hätten [Wie?], also nicht mehr „Bücherspeicher” wären, sondern modern.

Das ist schlicht und ergreifend historisch falsch.

In der ganzen Geschichte moderner Bibliotheken (lassen wir sie mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts beginnen, ein guter Startpunkt ist „Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform” von Constantin Nörrenberg2) waren Bibliotheken nie „Bücherspeicher” – das gilt für alle Bibliothekstypen, dafür steht die Landesbibliothek in Vaduz als Nationalbibliothek und Öffentliche Bibliothek in einem ganz gut. Immer gab es Versuche – sowohl in der Literatur als auch in der Bibliothekspraxis selber – Bibliotheken als moderne Einrichtungen zu definieren und zu gestalten.

  • Niemals gab es die Idee, die Bibliothek als reine „Ausleihstation” oder „Bücherspeicher” zu betreiben. Vielmehr wurden Bibliotheken immer wieder Aufgaben zugeschrieben, die sie erfüllen sollten (oft aus den Bibliotheken selber, manchmal aber auch von aussen): Bildung, Kampf gegen die Sozialdemokratie oder für das Klassenbewusstsein, gegen den Alkoholismus oder für den Patriotismus, gegen schlechte Literatur oder zum modernen Staatsbürger, zur modernen Staatsbürgerin, die Aufbewahrung und Erschliessung des nationalen Kulturerbes. Aber niemals galten sie als „reiner Bücherspeicher”.

  • Was genau modern hiess und was Bibliotheken deswegen tun sollten, veränderte sich mit der Zeit. Es war oft umstritten, gab immer wieder auch andere Meinungen (so wie es lange nicht nur eine Form von Bibliothek gab). Aber das ist ja mit einem Blick in die Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts auch zu erwarten.

  • Diese Entwicklung wurde im DACH-Raum zum Teil durch Kriege und gesellschaftliche Katastrophen unterbrochen; es war auch keine gradlinig verlaufene Entwicklung. (Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bekanntlich in Deutschland und Österreich erstmal versucht, an die Vorstellungen und Debatten der 1920er wieder anzuschliessen. Aber man darf sich zum Beispiel deswegen nicht vorstellen, dass Bibliotheken während des Nationalsozialismus nicht „entwickelt” worden wären. Vielmehr gab es bis in die Jahre des Weltkrieges hinein massive Entwicklungen, Neubauten, Aufbau von Infrastrukturen – ganz abgesehen davon, dass in der Zeit selbstverständlich auch in der Schweiz und Liechtenstein Bibliotheken weiterentwickelt wurden.) Aber immer gab es eine Entwicklung. Und niemals eine dahin, dass die Bibliothek nur Bücher „speichern” sollten.

  • Das gilt gerade auch für Bibliotheken und Bibliothekstypen, die wir heute als unmodern und veraltet ansehen. Aber auch die „Thekenbibliotheken” der 1910er – egal ob mit oder ohne Lesesaal – hatten nicht einfach die Aufgabe, Bücher zu speichern. Sie sollten als moderne Einrichtungen wirken. Der Bestand, das ganze Sammeln, Auswählen, Managen, Vermitteln von Beständen war diesen Aufgaben untergeordnet. Es gab zu anderen Zeiten mehr Bücher in Bibliotheken als heute, aber das hatte auch mit den jeweils vorhandenen Medien zu tun – und es gab auch immer wieder Diskussionen über andere Medienformen. Das ist nicht neu.

  • Was es auch gab, waren immer Bibliotheken, die den gerade aktuellen Ansprüchen an moderne Bibliotheken nicht genügten, die schlecht ausgestattet waren, sich langsamer entwickelten und so weiter. (Und es gab lange auch solche, die aus anderen Bibliotheken heraus abgelehnt wurden, weil sie die falschen Ziele verfolgten.) „Veraltete” Bibliotheken gab es immer, aber daneben – das ist für die folgende Argumention wichtig – immer, immer Diskussionen darüber, wie moderne Bibliotheken auszusehen hätten, wie sie einzurichten wären und was für Leistung von ihnen erwartet werden könnten.

Der Unterschied ist nochmal wichtig: Einen Diskurs um moderne Bibliotheken gab es immer. Mal mehr heftig, mal weniger; mal besser untermauert, mal weniger; mal mit mehr Beteiligung, mal mit weniger – aber irgendwie gab es ihn immer. Und daneben gab es immer eine bibliothekarische Realität, die diesen Diskussionen nicht perfekt entsprach – aber das ist ja auch logisch, sonst wären die Diskussionen nicht notwendig gewesen.

3.Was dieses Sprachbild verdeckt

Was passiert nun, wenn der Satz „Bibliotheken sind heute viel mehr als ein Bücherspeicher” benutzt wird? Es wird eine Entwicklung des Bibliothekswesens behauptet, die nicht stimmt. Es wird damit auch die Realität über die heutigen Diskussionen und Darstellungen davon, was eine moderne Bibliothek sei, verzerrt.

  1. Der Versuch, Bibliotheken modern zu gestalten, ist auch historisch der Normalfall. Das heute darüber diskutiert wird, dass sich Bibliotheken zur Gesellschaft öffnen sollten, dass sie einen bunten Medienmix anbieten sollten, aber auch Lern- und Arbeitsplätze, dass sie Veranstaltungen anbieten sollten – all das ist Teil einer Tradition. Es passt in die Geschichte des bisherigen Diskussionen und ist gerade nicht neu (und, so wie es aussieht, werden auch diese Diskussionen wieder von neuen Diskussionen abgelöst werden; sie brechen eigentlich mit nichts und fangen auch so richtig nichts Neues an).

  2. Die tatsächlichen Veränderungen sind nicht die, über die geredet wird. Das Sprachbild vermitteln den Eindruck, als hätte sich bislang niemand Gedanken darüber gemacht, was die Bibliotheken sein sollten, sondern als seien bislang vor allem Bücher „gespeichert” worden – ohne grosses Nachdenken, wozu. Mit dieser Behauptung im Hinterkopf kann dann auch das Einrichten eine Bibliothekscafés als radikal neue Entwicklung angesehen werden (oder, dass man die Nutzerinnen und Nutzer auch mal fragt, wie sie die Bibliothek sehen). Aber was sich wirklich verändert (hat) sieht man so nicht. Insoweit wird man auch immer wieder die realen Entwicklungen falsch einschätzen: Als Bruch mit einer Tradition, als radikal neu, als ganz anders, als modern – aber man kann gar nicht fragen, ob sie das wirklich sind, weil man so zum Beispiel nicht sehen kann, dass die Orientierung an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer schon lange Thema war.

  3. Die Vorstellung davon, wie die „alten Bibliotheken” waren, die jetzt verändert werden, basieren so also auf einer falsche „Rückprojektion”. Was nicht selten zu passieren scheint, ist, dass einzelne Personen ihre privaten Erfahrungen davon, wie Bibliothek „früher waren” (vielleicht zu ihrer Kindheit oder Jugend) als Basis dieser „Projektion” nutzen. Aber das ist falsch: Wie gesagt gab es immer „schlechte”, „veraltete” Bibliotheken; auch haben immer Menschen Bibliotheken etwas anders interpretiert, als die Bibliotheken selber. Es mag also sein, dass einer oder einem Jugendlichen die lokale Bibliothek damals…. 1983 (?)… als „Bücherspeicher” erschien (weil sie keine heissen Scheiben hatte?). Aber das ist nicht gleichzusetzen mit der tatsächlichen Diskussion im Bibliothekswesen, sondern vielleicht eher mit der Wahrnehmung Jugendlicher der unterfinanzierten Bibliotheken 1983 in XYZ-Stadt.

  4. Das ist auch relevant für Folgendes: Die Vorstellung, jetzt würden durch neue Diskurse die Bibliothek verändert, ist so nicht stimmig: Es ist erstmal nur eine Veränderung der Diskurse. Es scheint oft, als würde angenommen, der Diskurs sei schon eine Veränderung der Realität. Menschen stellen sich vor, zu wissen, was die Bibliothek 1983 (?) war („ein Bücherspeicher, da sind wir nie reingegangen”) und würden jetzt den Diskurs ändern („auf die Stadtgesellschaft zugehen, sie in die Bibliothek hineinholen”). Aber das sind zwei unterschiedliche Ebenen (die auf einander bezogen sind). Den Diskurs, nicht nur Bücher anbieten und nicht nur im Literaturbereich unterwegs zu sein, gab es auch schon 1983; Jugendliche, die das nicht wahrnehmen und nicht in die Bibliothek gehen, gibt es auch 2019 (vielleicht gibt es jetzt weniger davon, aber das mag eher mit den heutigen Jugendlichen zu tun haben).

  5. Man vergibt sich also, die Erfahrungen, welche schon in der Vergangenheit bei der Entwicklung von bibliothekarischen Diskursen und darauf basierenden Veränderungen der Bibliothekspraxis gemacht wurden, in die heutige Entwicklung zu integrieren. Zu vermuten ist, dass man deshalb auch bestimmt viele, viele Erfahrungen, die schon längst gesammelt wurden, noch einmal macht. Vor allem, weil nicht nachschaut wird, was schon gelernt wurde – weil man denkt, die Bibliothek früher sei „ein Bücherspeicher” gewesen, von dem man nichts zu lernen hätte.

  6. Daneben ist diese Vorstellung auch etwas beleidigend gegenüber den früheren Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die sich immer auch schon Gedanken um die Entwicklung von Bibliotheken – auf der Ebene einer Bibliothek oder aber des Bibliothekswesens – gemacht haben. Selbstverständlich waren die auch nicht dumm und selbstverständlich haben die auch nach sinnvollen Möglichkeiten gesucht, moderne Bibliotheken zu entwickeln. Das diskreditiert man, wenn man behauptet, erst jetzt würde man sich solche Gedanken machen. (Als ob Menschen heute, 2019, klüger wären als 1890.)

  7. Falsche Vorstellungen über die vergangene Bibliotheken scheinen ein Grund für falsche Vorstellungen über langfristige Entwicklung hin zu den heutigen Bibliotheken, den Diskussionen um die Entwicklung von Bibliotheken und der Realität in Bibliotheken zu sein. Solche falschen Vorstellungen können zu falschen Entscheidungen führen (wenn man zum Beispiel gar nicht fragt, warum bestimmte Dinge so geregelt wurden, wie sie geregelt sind, sondern sich einfach vorstellt, dass das immer eine mindestens veraltete Entscheidungen gewesen wären).

Sicherlich: Solche Sprachbilder können immer schnell in die Tasten gehauen werden – vor allem, wenn sie schon so oft zuvor gebraucht wurden. Mein Tipp wäre hier aber, einfach mal von Zeit zu Zeit in ältere bibliothekarische Zeitschriften zu schauen, ganz zufällig über die Jahrzehnte verteilt oder aber gezielt aus der Zeit, von der man denkt, dass Bibliotheken damals „Bücherspeicher” gewesen seien, und dort nachzuschauen, über was damals eigentlich wirklich diskutiert wurde. Nicht selten wurde sogar tatsächlich über „Bücherspeicher”, also Magazine, diskutiert, aber nie als Leitbild von Bibliotheken.

4.Fazit

Am Ende würde ich dafür plädieren, gerade dieses Sprachbild nicht mehr zu benutzen. Es ist einfach falsch und überdeckt zu viel. [Und es ist auch langweilig geworden. Wenn schon Sprachbilder, warum dann nicht ein paar neue? Die Lyrik schafft das ja auch.] Wirklich gut wäre, sich öfter mal Gedanken darüber zu machen, was man da eigentlich sowohl in die Bibliotheken hinein als auch aus ihnen heraus für Vorstellungen transportiert, wenn man bestimmte Sprachbilder nutzt und sich dann zu fragen, ob man das wirklich will. [Ich hätte da noch einige andere Beispiele: Was soll das beispielsweise mit dem „Sofa” oder „Wohnzimmer der Stadt”, das Bibliotheken sein sollen?]

Was man unbedingt tun sollte, ist, nicht so zu reden oder zu denken, als sei man, nur weil man gerade in 2019 aktiv ist, klüger als die Kolleginnen und Kollegen vorher. Selbstverständlich hatten die in vielem nicht Recht, selbstverständlich waren viel ihrer Annahmen falsch – aber die kann man nicht sinnvoll kritisieren, indem sie abqualifiziert als quasi dumm („nur Bücherspeicher”). Wenn wir hingegen deren Überlegungen und deren Bibliothekspraktiken ernst nehmen, können wir in der Auseinandersetzung mit diesen viel besser und viel genauer darüber nachdenken, was eigentlich unsere Vorstellungen sind, wo diese herkommen und wo die tatsächlich hingehen. Wenn wir hingegen behaupten, bisher sei einfach alles unmodern und falsch gewesen, aber jetzt, weil wir gerade in unserer Zeit leben und weil wir unsere Methoden anwenden, wüssten wir es einfach besser, halten wir uns (selber) vom Nachdenken darüber ab, was sich wirklich verändert und / oder verändern sollte. Es macht uns ehrlich gesagt dümmer und überheblicher, als wir sein müssten. Veränderung gab es immer – das macht unser Zeitalter nicht aus.3

Zu lernen ist auch, dass der Zusammenhang zwischen Diskurs und Realität wohl komplexer ist, als das man erwarten könnte, einfach mit einer Veränderung des Diskurses schon die Realität massiv zu verändern. Wie gesagt: Diskussionen darum, wie eine moderne Bibliothek sein sollte, gab es praktisch immer, seit die Gesellschaft über breitenwirksame Einrichtungen diskutiert. Aber offenbar, sonst wäre das Sprachbild von den „Bücherspeichern”, die Bibliotheken angeblich früher gewesen seien, nicht so überzeugend: Die Realität, zumindest die, die wahrgenommen wurde, war offenbar nicht immer so. Es gibt keinen Hinweis, das einfach durch eine Weiterentwicklung der Diskussionen die Wahrnehmung der Bibliotheken verändert wird.

 

Fussnoten

1 Liechtensteinische Landesbibliothek: Bibliotheksstrategie 2025. Vaduz 2018, S. 2, https://www.landesbibliothek.li/wp-content/uploads/2019/01/LiLB_Bibliotheksstrategie-2025_20190130.pdf.

2 Constantin Nörrenberg: Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform. Berlin 1895, https://archive.org/details/dievolksbibliot00nrgoog. Ich verlinke die hier auch, damit man gleich einmal mit dem im Fazit angesprochenen Nachlesen in älterer bibliothekarischer Literatur beginnen kann.

3 Auch die Behauptung, heute gäbe es mehr Veränderung als früher, stimmt nicht – einfach nochmal über die Veränderung 1880-1900 nachdenken und dann mit der Veränderung 1999-2019 vergleichen. Erstere war, was leicht zu sehen ist, massiver.

Ist das Bauchgefühl oder ist das eine Studie?

Zur Belastbarkeit von Aussagen, die im Bibliothekswesen zu Entscheidungen benutzt werden

Auf dem Bibliothekstag 2019, der jetzt auch schon ein paar Tage her ist, erhielt ich auf meinen Vortrag hin eine Frage, die mich doch irritierte. Ich habe etwas über sie nachgedacht und denke jetzt besser zu wissen, wieso. Mein Vortrag beschäftigte sich mit der Frage, warum so viele „partizipative Projekte” in Bibliotheken nicht funktionieren; warum so viele Angebote, die mit ihrer Hilfe aufgebaut werden, doch nicht die erhofften Ergebnisse bringen und warum so viele Kolleginnen und Kollegen in Bibliotheken, die solche Projekte durchführten, eher Negativ darüber berichten. Hauptthese meines Vortrages war, dass das strukturell bedingt ist. Die Frage bezog sich aber auf etwas anderes: Ich hatte am Anfang darauf verwiesen, dass es wirklich viele, viele negativen Beispiele solcher „partizipativen Projekte” in Bibliotheken gibt – wenn man nur genauer nachfragt. (Nur, dass die Projekte, die auf Bibliothekstagen präsentiert werden, ja gerade nicht diese Beispiele sind.) Mir scheint das wenig zu bestreiten zu sein.

Die Frage aus dem Publikum war jetzt, auf was ich diese Grundthese aufbaue: Sei das „durch eine wissenschaftliche Studie” untermauert oder sei das „eher so Bauchgefühl”?

Die Kollegin, welche die Frage stellte, betonte, dass es ihr darum geht, einzuschätzen, wie glaubwürdig die These sei. Aber es kam selbstverständlich als Zweifel herüber. Beziehungsweise, in der heutigen Zeit, schlimmer (ich hoffe, ich tue damit der Kollegin Unrecht): Aber es ist selbstverständlich eine Diskursstrategie des autoritären Teils der Gesellschaft, jede Aussage, die ihm missfällt, mit der Behauptung anzugehen, dass sei ja gar nicht wissenschaftlich untermauert. Einfach so, ohne Nachweis. Und dann, wenn sich jemand die Zeit nimmt und die Mühe macht, die Wissenschaftlichkeit zu untermauern, zu behaupten, dass das alles keine richtige Wissenschaft oder aber interessengesteuerte Wissenschaft sei. So viele Frauen und Nicht-Weisse, die sich öffentlich äussern, so viele Menschen, die sich zu feministischen Themen äussern, kennen diese Strategie, die angewendete wird, um ihre Aussagen abzuwerten, die selbstverständlich nicht am Wahrheitsgewinn orientiert ist, sondern nur darauf, die Zeit deren zu verschwenden, die sich auf diesen Diskurs einlassen und sie gleichzeitig zu diskreditieren. Daran erinnert so eine Frage auf dem Bibliothekstag, auch wenn sie gar nicht so gemeint ist (was wohl ein weiteres Beispiel für die „Vergiftung des Diskurses” in der heutigen Zeit ist). Vielleicht war ich deshalb in diesem Moment etwas sehr verdutzt.

Wissenschaftliche Studien im Bibliothekswesen

Aber nehmen wir an, dass es wirklich um die Frage von Glaubwürdigkeit ging und wirklich um Erkenntnisinteresse: Dann war die Frage trotzdem nicht fair gestellt.

Ich möchte das kurz erklären.

Wie werden Entscheidungen im Bibliothekswesen getroffen und wie wird das Wissen generiert, um diese Entscheidungen zu treffen? Genauer: Wird das Wissen, das genutzt wird, um Entscheidungen im Bibliothekswesen zu treffen, aus Forschung gezogen? Und wenn ja: Aus welcher Forschung? Die Antwort auf diese Fragen ist – jetzt dreht sich die Argumentation ein wenig im Kreis – schwierig, weil sie wenig erforscht ist. Aber es gibt Hinweise. Schaut man sich zum Beispiele die Konzept- und Strategiepapiere, die im Bibliothekswesen erstellt und publiziert werden daraufhin an, wie dort die jeweiligen Aussagen und Entscheidungen begründet werden, fällt sehr schnell auf:

  1. Zumeist sind das Behauptungen, die ohne weitere Begründung angegebenen werden. Die Gesellschaft verändert sich so und so; die Bibliotheken müssen sich auf diese und jene Herausforderung einstellen; die Nutzerinnen und Nutzer verändern Ihre Ansprüche und zwar auf diese Weise oder auf jene Weise. Selbstverständlich gibt es Gründe, warum diese Aussagen angebracht werden. Man braucht gar nicht zynisch darauf reagieren, auch wenn man immer wieder Aussagen findet, bei denen man den Kopf schütteln muss: Die Aussagen, die in solchen Papieren angebracht werden, sind wohl solche, von denen die Personen, die in den Bibliotheken entscheiden, überzeugt sind – oder aber von denen sie überzeugt sind, dass andere – die Träger, die Nutzerinnen und Nutzer, die Öffentlichkeit – davon überzeugt sind oder überzeugt werden können. Wären sie nicht überzeugend, dann würde sie wohl nicht so einfach als Argument (aus dem ja jeweils etwas folgt, zum Beispiel strategische Entscheidungen, Verschiebung von Ressourcen, Veränderung des Arbeitsalltags in Bibliotheken, Umbauten) angebracht, sondern wohl mehr begründet.

  2. Es gibt Argumente, die näher begründet werden, bei denen tatsächlich auf Studien, Umfragen, Bücher verwiesen wird. Aber wenn man sich diese Quellen anschaut, bleibt die Beliebigkeit oft erhalten. Die Umfragen sind oft nicht wissenschaftliche basiert, sondern von Interessensgruppen durchgeführt oder aber aus diesen gesellschaftlichen Bereichen, wo alle sich gegenseitig befragen und das dann als Ergebnis präsentieren. (Ich durfte gerade in einen anderen Studiengang hineinschauen, wo es eher um Startups geht, und wo ständig Startups befragt werden – als „ExpertInnen” – um daraus Studien zu erstellen, die dann wieder für Entscheidungen in Startups benutzt werden sollen, ungefähr in dem Stil, dass gesagt wird „in einer Umfrage unter XYZ Startups sind 90% der Meinung, dass diese Technologie in Zukunft einen wichtigen Trend ausmacht – also sollte man darin investieren”. So ungefähr lesen sich oft die Studien und Umfragen, auf die in den bibliothekarischen Strategiepapieren verwiesen wird.) Auch wenn einmal auf tiefergehende Arbeiten verwiesen wird, ist oft nicht ersichtlich, warum gerade auf diese. Oft gibt es dann in den jeweiligen Bereichen hunderte, tausende Arbeiten mit unterschiedlichen Aussagen – und eine wissenschaftliche Arbeit wäre es, die zusammenzufassen und daraufhin zu überprüfen, was den jetzt verfestigte Erkenntnisse sind. Aber in den bibliothekarischen Strategien wird oft eine kleine Anzahl ausgewählt, die halt die, die sie auswählen, überzeugen, und dann als Argument angeführt.

  3. Was sich viel, viel öfter findet, ist, dass bestimmte Beispiele – die sich dann auch oft für eine Anzahl von Jahren wiederholen – angeführt werden, welche dann als Vorbildhaft gelten. Aus dem Vorhandensein dieser Beispiele wird dann oft abgeleitet, dass dies und das in denen gezeigt worden wäre und deshalb auch für unsere Bibliothek / das Bibliothekswesen im Allgemeinen und so weiter zu gelten hätte. Auch hier würde sich die Frage stellen, wieso gerade diese Beispiele ausgewählt wurden und warum nicht andere; auch warum auf bestimmte Dinge in ihnen geachtet wird und nicht auf andere. Aber grundsätzlich auch hier: Die Beispiele überzeugen offenbar oder es wird vermutet, dass sie andere überzeugen würden.

Man kann sich jetzt Gedanken darum machen, ob das wirklich gut ist; ob es nicht vielleicht besser ginge. Aber erstmal geht es mir darum: Im Bibliothekswesen ist die eigentliche Argumentationsbasis im Allgemeinen sehr schwach. Entscheidungen werden nicht auf der Basis von wirklich überprüftem, nachvollziehbaren, systematisch erworbenen Wissen getroffen, sondern auf Wissen, dass aus anderen Gründen überzeugt. Nicht der Nachweis, dass etwas theoretisch sinnvoll, empirisch abgesichert und so weiter ist, überzeugt – sondern anderes. Positive Bilder, hübsche Aussagen, Behauptungen, die mit der jeweils eigenen Weltsicht übereinstimmen sind wohl alle überzeugender als forschend erworbene Kenntnisse.

Und es funktioniert ja, einigermassen. Die Bibliotheken gehen nicht unter, sie verändern sich, vielleicht werden sie sogar besser. Sie könnten vielleicht, wenn anders gehandelt würde, noch viel besser werden, aber das ist hier nicht der Punkt. Offenbar sind sie eher geprägt von Überzeugungen einzelner. (Und wir wissen auch nicht, wie diese einzelnen zu diesen Überzeugungen gelangen. Es gibt selbstverständlich Kolleginnen und Kollegen, die versuchen, ihre Entscheidungen besser abzusichern. Aber der Tag hat nur so viele Stunden, die Wochen nur so viele Tage, es gibt auch andere Dinge zu tun und der Rest des Bibliothekswesens, mit dem mithalten will, ist vielleicht schneller bei Entscheidungen, weil es eher auf den Alltag fokussiert.) Vielleicht funktioniert dies ja, weil auch andere Teile der Gesellschaft so funktionieren. (Die Klagen, das Politik oft fern jeder wissenschaftlicher Erkenntnis betrieben wird, sind zum Beispiel ja auch Legion.)

So ist aber die Situation.

Wenn jetzt die Frage gestellt wird, ob bestimmte Aussagen wissenschaftlich untermauert wären oder ein Bauchgefühl darstellen würden, dann ist das halt nicht fair. Solange das, was im Bibliothekswesen als positiv und überzeugend gilt, nicht auf der Basis theoretisch und empirisch untermauerter Arbeiten steht, sondern einfach nur überzeugend behauptet wird; solange muss auch das, was nicht so positiv ist, was vielleicht die eigenen Hoffnungen und Erwartungen, die man so an bestimmte Entscheidungen und Projekte hat, hinterfragt, auch auf der Basis von überzeugenden Behauptungen akzeptiert werden. Aber die nächstbeste neue skandinavische Bibliothek ohne intensive Beschäftigung mit ihr und dem Kontext, in dem sie steht, als Vorbild für Entscheidungen anzunehmen, dann aber gleichzeitig die Aussage, dass es eine grosse Unzufriedenheit im Bibliothekswesen über bestimmte Dinge gibt, zu bestreiten, weil das nicht wissenschaftlich untermauert wäre (wie auch?), dass ist weder fair noch sinnvoll. So kommt man nicht über bestehende Probleme hinweg. Vielleicht sollte man beides als Debattenbeiträge, die man selber überprüfen kann, ansehen. Das wäre realistischer.

Exkurs: Warum macht das die Forschung nicht?

Man könnte auch fragen, warum die Forschung nicht mehr Studien durchführt, die überzeugen und mehr Fakten liefert? Das ist aber, bezogen darauf, wie Debatten im Bibliothekswesen geführt und wie Entscheidungen getroffen werden, keine sinnvolle Forderung.

  1. Ich habe jetzt schon mehrfach an unterschiedlichen Stellen betont, dass das Bibliothekswesen die vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten praktisch nicht benutzt. Das gilt für die Forschungen über Bibliotheken und es gilt auch für Studien aus anderen Bereichen, die für Bibliotheken relevant sein könnten (Leseforschung, Soziologie, Literaturwissenschaft, Ethnologie und so weiter). So viele Abschlussarbeiten, die so viele wichtige Fakten erarbeiten, meist ganz praxisnah, stehen zum Beispiel in Bibliotheken und liegen auf den Repositorien von Fachhochschulen und werden nicht in die Entscheidungen einbezogen… Wenn das anders wäre, wäre die Frage nach einer wissenschaftlichen Basis für bestimmte Aussagen vielleicht sinnvoll. Aber solange im Bibliothekswesen die Forschung, die existiert, nicht genutzt wird, ist es auch nicht sinnvoll, nach noch mehr Forschung zu verlangen.

  2. Abgesehen davon kostet Forschung. Und die Forschungspolitik ist heute so, das Hochschulen und Fachhochschulen nicht einfach grundfinanziert werden und dann losforschen können, sondern das Forschung praktisch immer durch Drittmittel finanziert werden muss. Die müssen irgendwoher kommen. Wenn das Bibliothekswesen also Forschung will, muss es diese finanzieren (oder Wegen finden, sie zu finanzieren, zum Beispiel über Stiftungsgelder oder indem sich dafür eingesetzt wird, dass die Hochschulen grundfinanziert werden) – dann kann es auch Forderungen stellen. Oder aber Forschende forschen in ihrer Freizeit auf eigene Kosten, weil sie etwas wissen wollen. Das passiert – und zwar öfter als man vielleicht denkt (ich selber habe zum Beispiel meine 10-Jahre Studie zu Schulbibliotheken in Berlin so durchgeführt und auch meine ganzen bibliotheksgeschichtlichen Lektüren, die ich gerade betreibe, finden in meiner Freizeit statt, nicht in meiner Arbeitszeit). Aber da ist klar, dass dann auch die Forschenden bestimmen, was und wie geforscht wird – es sind ja dann ihre Zeit und ihre Ressourcen.

  3. Und ob Forschung genutzt wird, um Entscheidungen zu treffen – das liegt nicht in der Hand der Forschung. Egal, wie diese durchgeführt, präsentiert, zugänglich gemacht wird: Am Ende müssten die Bibliotheken beziehungsweise das Bibliothekswesen die nutzen, in ihre Arbeit und ihre Entscheidungsprozesse einbeziehen. Das kann nicht die Forschung machen. (Sie könnte dabei unterstützen, aber ich weise auf Punkt (2) zurück: Das müsste finanziert werden und es müssten auch noch andere Dinge gelten, beispielsweise keine Gefälligkeitsgutachten zu fordern.)

Was kann sonst gegen das Bauchgefühl tun?

Ich fände es gut, sich diese Situation einmal einzugestehen: Das Bibliothekswesen ist geprägt von Behauptungen, die überzeugen oder weniger überzeugen. Es funktioniert so auch nicht so schlecht, dass daran Bibliotheken zugrunde gehen würden.

Aber ich hätte auch einen Vorschlag, wie man gegen das „Bauchgefühl” angehen könnte, wenn man damit wirklich ein Problem hat: Selber Aussagen oder Behauptungen überprüfen, die man bezweifelt. Um beim Beispiel von ganz oben zu bleiben: Wenn die Kollegin daran zweifelt, dass es in Bibliotheken eher negative Haltungen zu den tatsächlich durchgeführten „partizipativen Projekten” gibt, könnte Sie einfach selber Personen aus vielleicht 10 Bibliotheken dazu fragen, informell (und vielleicht nicht gerade Personen aus der Leitung). Das kann so schwer nicht sein, man kennt sich im Bibliothekswesen.

Sicherlich, dass ist der Witz: Wenn sie dabei systematisch vorgeht, also wirklich zehn Kolleginnen und Kollegen zu einer Frage, die sie umtreibt, befragt und am Ende daraus ein faires Fazit zieht (also sich beantwortet, ob ich meine Behauptung zu Recht aufgestellt habe oder nicht) – dann wäre das schon ein wenig Forschung. Und wenn man anfinge, ähnliches auch bei Behauptungen, die einer oder einem zusagen, zu unternehmen, würde man fair handeln. Denn: Forschung ist keine Hexerei. Es ist nur ein systematisches Vorgehen bei Erstellen von Wissen, unter anderem beim Beantworten von Fragen.

(Worum es mir aber auch ging, war, mehr auf die kritischen Stimmen, die im Personal von Bibliotheken zu finden sind, zu hören. Sicherlich kann man die schnell als „Meckern” oder „absichtlich Störung”, vor allem als „Leute, die die Entwicklung aufhalten wollen”, um – was weiss ich – „ein einfaches Leben in Bibliotheken zu haben bis zur Rente” diskreditieren. Aber man kann sie auch nutzen, um innezuhalten und darüber nachzudenken, ob sie nicht Reaktionen auf strukturelle Probleme darstellen. Mir scheint oft zweiteres zu stimmen.)