Eine Sache, die mich ehrlich gesagt immer wieder irritiert, ist, welche Begriffe und Konzepte im Bibliothekswesen eine Karriere hinlegen – und welche gerade nicht. Es scheint mir unbestreitbar, dass im Bibliothekswesen immer wieder neu Begriffe eingeführt werden, um entweder die (neuen?) Aufgaben der Bibliotheken zu beschreiben oder aber um zu beschreiben, wie sich Bibliotheken verändern sollten. Je länger je mehr scheint mir, dass es sinnvoll wäre, dieses ständige Übernehmen und Besetzen von Begriffen als eine Geschichte zu schreiben – vor allem um zu schauen, was eigentlich ihr Sinn ist. Ich habe meine Zeit gebraucht das zu verstehen; aber offenbar ist es im Bibliothekswesen normal, Begriffe aus anderen Zusammenhängen zu borgen und dann umzudeuten. Die heissen dann nicht mehr das, was sie im Originalzusammenhang heissen – Kompetenz heisst nicht Kompetenz, wie in der Erziehungswissenschaft, sondern irgendwas mit Fähigkeiten oder Qualifikation; Best Practice heisst nicht Best Practice sondern Beispiele, die irgendwer aus irgendwelche Gründen gut findet; Innovation heisst nicht neu und innovativ, sondern irgendwie „interessant“; der „Dritte Ort“ hat nichts mehr dem Originalkonzept zu tun sondern beschreibt offenere Bibliotheken und so weiter. Vor allem scheinen diese Begriffe, wenn sie dann einmal im Bibliothekwesen eingeführt sind, als Mantelbegriffe zu wirken, da sich auch Bibliotheken untereinander nicht einig sind, was sie genau bedeuten, sondern sich gerne daran versuchen, sie immer wieder umzudeuten und anzupassen.
Spätestens, wenn man sich in die originalen Zusammenhänge einarbeitet, wird oft schnell sichtbar, dass der bibliothekarische Diskurs und die Originaldiskurse etwas anders meinen. (Mein Gefühl ist auch, dass gerade die kritischen Funktionen, die in manchen dieser Begriffe im Originaldiskurs noch vorhanden sind, bei der „Übersetzung“ in den bibliothekarischen Rahmen fallengelassen werden – aber um das zu überprüfen, wäre halt eine Begriffsgeschichte notwendig.) Gleichzeitig scheint es manchmal, als wüssten das alle am Diskurs Beteiligten, fänden das aber auch okay, weil… Ich weiss nicht. Weil Mantelbegriffe notwendig sind? (Eine weitere Aufgabe für eine Begriffsgeschichte: Was ist die Aufgabe dieser Begriffe im Diskurs? Geht es um die Identität der Bibliotheken? Sind sie notwendig, um innerhalb der „Bibliotheksszene“ zu kommunizieren? Warum dann mit so offenen Begriffen und nicht mit genaueren? Warum gerade mit geborgten, die „um-übersetzt“ werden und nicht mit eigenen?) Denn, egal wie sehr mich (und offenbar auch ein paar andere) das immer wieder irritiert, manchmal auch ärgert, gilt auch im Bibliothekswesen das erstaunliche Wirken von sozialen Systemen: Irgendwie funktionieren sie, ohne zusammenzubrechen. (Luhmann und „seine“ Sozialen Systeme helfen sehr gut, dass zumindest verständlich zu machen – auch, warum ein Begriff, wenn er erstmal in den bibliothekarischen Diskurs inkorporiert ist, nicht mehr wirklich als Brücke in den Originaldiskurse funktioniert, sondern wieder „übersetzt“ werden muss, um zum Beispiel an pädagogische oder soziologische Diskurse und Forschungen anzuschliessen. Man muss halt das Bibliothekswesen einfach als soziales System verstehen.)
Aber genau weil es diese Tendenz im Bibliothekswesen zu geben scheint, Begriffe aus anderen Zusammenhängen zu „borgen“, um dann sich selber und die eigenen (zukünftigen?) Aufgaben zu beschreiben, bin ich oft auch überrascht, welche Möglichkeiten zur Übernahme von Begriffen einfach übergangen werden. Einer dieser Begriffe, die ich schon längst im Bibliothekswesen neben „Informationskompetenz“ und „sozialer Ort/Dritter Ort“ erwarten würde ist der der „Commons“.
Commons – so gemeinsam Handeln, irgendwie gegen Profit sein
„Commons“ sind ein Konzept, welches meinem Eindruck nach aktuell in zwei gesellschaftlichen Szenen hoch im Kurs steht, die sich irgendwie lose um die Grünen (in der Schweiz wohl eher den „linken Grünen“, nicht der glp) und in einem geringeren Masse irgendwie lose um die Piratenpartei gruppieren. Das sind ja zwei unterschiedliche Szenen, wenn auch mit Überschneidungen.
Commons meint das gemeinschaftliche Handeln, gruppiert um gemeinsam geteilte Infrastruktur, bei dem die Kommunikation der Beteiligten im Vordergrund steht. Als Beispiel für (funktionierende) Commons werden auf der einen Seite immer wieder Formen der Allmende (von Dörfern/Gemeinschaften gemeinsam genutzte und verwaltete Felder, Wälder oder andere landwirtschaftliche Infrastrukturen) genannt, die sich teilweise seit Jahrhunderten halten sollen und auf der anderen Seite immer wieder Open Source Software-Projekte und die Wikipedia.
Ein Hauptakteur der – nun ja – Diskussion um „Commons“ ist offenbar Bundesstiftung der (deutschen) Grünen, die Heinrich Böll Stiftung. Diese hat auch ein aktuelles Sammelwerk zu den Commons vorgelegt [Helfrich, Silke ; Bollier, David ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2015). Die Welt der Commons: Muster gemeinsamen Handelns. Bielefeld: transcript Verlag], das die „Höhe“ der intellektuellen Auseinandersetzung gut wiederzugeben scheint: Ein paar Theorieschnipsel, die kaum Verbindung zur eigentlichen Diskussion haben, viel Gefühltes „wir Handeln / Planen / Machen gemeinsam – also verändern wir uns und die damit die Welt“ (ich musste immer wieder „Hippie“ an den Rand schreiben, weil viele Beispiele, obwohl bestimmt nett gemeint, in quasi-spirituelle Erzählungen darüber abglitten, wie sich die Menschen, die an Commons beteiligt sind, dadurch verändern und zu offenen, kommunikativen und aktiv zuhörenden Menschen werden – anstatt tatsächlich etwas zu erklären), viele, viele Beispiele aus sehr, sehr, sehr unterschiedlichen Zeiten, Orten, Räumen, Szenen, die darstellen sollen, dass es unglaublich viele Commons gäbe, die funktionieren würden, aber die bei mir vor allem den Eindruck einer unglaublichen Beliebigkeit hinterlassen – irgendwie ist alles Commons, was irgendwie gefühlt „gemeinsames Handeln“ ist: Bäuerliche Betriebe, die sich zusammenschliessen, weil es besser für sie ist; sozial enge Gemeinden, die sich absprechen; Bio-Bauernhöfe, bei die Leute sich aktiv dazu entscheiden, dahin zu ziehen; historisch eingespielte Verwaltungssysteme an staatlichen Regelungen vorbei… eigentlich alles, was sich irgendwie gut anfühlt, wo irgendwas gemeinsam gemacht wird und irgendwie nicht alleine auf Profit ausgerichtet zu sein scheint.
Die HerausgeberInnen wollen Commons offenbar als Strukturen beschreiben, welche durch aktive Entscheidungen von Menschen, die innerhalb gegebener gesellschaftlicher Strukturen an einer „besseren Welt“ basteln wollen, hervorgebracht wird. Dabei übergehen sie auch viele kritische Positionen: Beispielsweise werden Biobauernhöfe alle in einen Topf geworfen; die, die es ernst meinen und die, die sich dem offensichtlichen anthroposophischen Unsinn von Demeter verschreiben genauso. Oder: wenn in einem Beitrag der Mindestlohn von Angestellte auf Bauernhöfen mehr oder minder abgelehnt wird, weil auf einem Bauernhof, der Commons ist, ja alle super miteinander auskommen würde und deshalb keine bürokratische Einmischen haben wollen, wird das einfach abgedruckt und akzeptiert und nicht gefragt, ob das nicht einfach ein Diskurs ist, um tatsächlichen Ausbeutungsverhältnisse in der Landwirtschaft zu ignorieren.
Aber am Ende passt das selbstverständlich alles zur Heinrich-Böll-Stiftung und dem grünen Umfeld: Irgendwie sozial, irgendwie gefühlt „auf der guten Seite“, mit einem hohen Anteil an Gefühl und einem eher kleineren an eigentlicher Theorie und/oder Erklärungskraft, irgendwie gegen das Profitmachen aber irgendwie auch nicht – und vor allem irgendwie offene Begriffe, die viel gefüllt werden könnten.1
Die Bibliothek ist doch ein Commons
Trotzdem mir der Begriff zum Teil sehr abenteuerlich begründet erscheint, wäre er meiner Meinung nach für die Selbstbeschreibung der Bibliotheken passend. Gerade Öffentliche Bibliotheken sind ja Infrastrukturen, die irgendwie von vielen geteilt und genutzt werden. (Nicht so, wie auf kleine Bauernhöfen, wo sich alle absprechen können; aber es gibt immer auch Beispiele für Commons, die über soziale Absprachen funktionieren, die hunderte oder tausende Menschen umfassen.) Gleichzeitig sind sie gefühlt immer wieder auf der „guten Seite“, nicht nur im Gefühl der Bibliotheken selber, sondern auch in der Öffentlichkeit, die vielleicht manchmal Bibliotheken langweilig, aber nie so richtig schlecht findet. (Zumindest heutzutage.) Trotz aller Versuche, betriebswirtschaftliche Steuerungsmodelle einzuführen, sind Öffentliche Bibliotheken in den Augen der Öffentlichkeit und grosser Teile des Bibliothekswesens nicht direkt auf Profit ausgerichtet. (In der Schweiz zählen sie sich gerne zum Teil des schön benannten Service public.) Und, auch wenn sich das in Laufe der Jahrzehnte vom Ziel her gewandelt hat, geht es Bibliotheken oft darum, Menschen dabei zu unterstützen, sich zu ändern, etwas zu lernen etc.
So offen, wie der Begriff „Commons“ ist, scheint mir, gerade Öffentliche Bibliotheken könnten sich diesen Begriff sehr einfach aneignen, um zu beschreiben, was sie sein wollen. (Im genannten Buch geht es tatsächlich um Bibliotheken, aber um die Digitalen Commons, nicht um die Öffentlichen Bibliotheken.) Aber das passiert nicht. Ganz selten ist etwas von „Learning Commons“ zu lesen, dann aber vor allem im Bezug auf Online-Learning und Lernlandschaften – manchmal im Zusammenhang mit Bibliotheken. Aber das war es auch schon.
Am Ende bin ich gar nicht dafür, dass der Begriff übernommen wird. Ich finde ihn, gerade nach der Lektüre des genannten Buches, ganz schrecklich unanalytisch und aussagelos.2 Aber das scheint bislang noch niemand davon abgehalten zu haben, Konzepte und Begriffe in den Bibliotheksbereich zu übernehmen – zumal ja klar wäre, dass der Begriff in kurzer Zeit im bibliothekarischen Diskurs umgedeutet würde, ohne das die Heinrich Böll Stiftung oder andere Gruppen, die den Begriff heute verwenden, etwas dagegen tun könnten.
Mir ist es nur nicht einleuchtend, warum es nicht passiert. (Ebenso wenig wie ich nicht verstehe, warum „Kundinnen und Kunden“ weite Verbreitung gefunden hat, aber nicht „Klientinnen und Klienten“. Und es gibt noch einige andere Begriffe, von denen ich erwarten würde, dass sie übernommen werden.) Vielleicht wäre es tatsächlich sehr sinnvoll, sich einmal hinzusetzen, und eine Begriffsgeschichte der Hypes und Schlagworte des (deutschsprachigen) Bibliothekswesens zu schreiben. Ich bin mir sehr sicher, dass die auch einiges zu Machtfragen (Wer schafft es, Begriffe zu prägen? Wer nicht?) im Bibliothekswesen zu sagen hat.
Fussnoten
1 Habe ich schon erwähnt: Im Leben bin ich nie auf die Idee gekommen, Grüne zu wählen. Nicht, weil ich etwas gegen Ökologie hätte – bei weitem nicht -, aber weil mich die Dehnbarkeit der Begriffe abstossen. (Neben dem Kriegeführen und Hartz-Gesetze-Einführen.) Das hat bestimmt meine Interpretation der „Commons“ geprägt; deshalb empfehle ich ja auch, das Buch selber zu lesen.
2 Wie halt „die Grünen“ auch; vielleicht geht da mein politisches Unbehagen mit dieser Szene und Partei etwas mit mir durch. Es gibt selbstverständlich auch immer schlimmere Menschen und Parteien.