Die Schulbibliothek (1988): Eine weitere Broschüre aus der Schweiz (Geschichte der Schulbibliotheken VIII)

Der Schweizer Bibliotheksdienst gab 1973 die Broschüre „Planung von Schulbibliotheken“ heraus, die zuletzt hier besprochen wurde (Link). Diese Broschüre folgte in grossen Teilen den bundesrepublikanischen Diskussionen um Schulbibliotheken, allerdings in einer sehr schweizerischen Version. 1988 folgte, ebenfalls vom Schweizer Bibliotheksdienst verlegt, die Broschüre „Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare“. (Müller, 1988) [1] Der Autor dieser Publikation – oder ein Namensvetter, was trotz des relativ unauffälligem Namens Hans A. Müller, nicht wahrscheinlich ist – hat in den 1970er Jahren schon im Kanton Luzern mindestens zwei Publikationen zu Schulbibliotheken vorgelegt. Im Jahr 1988 unternahm er, einen Text vorzulegen, der offenbar Schulen davon überzeugen soll, einerseits moderne Schulbibliotheken – modern im Kontext der späten 1980er Jahre – einzurichten und diese andererseits von bibliothekarischem Fachpersonal betreuen zu lassen.
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Aufbau der Broschüre

Die reich bebilderte, 50-seitige Broschüre in einem Sonderformat (im Hochformat bedruckte Seiten, die etwas kleiner als A6 sind und immer, ausser bei Deck- und Endblatt, als Doppelseite layoutet wurden) machen offenbar Werbung für Schulbibliotheken, die bibliothekarisch ausgerichtet arbeiten. 24 Themen werden jeweils auf einer Doppelseite behandelt, wobei mindestens zehn dieser Themen explizit bibliothekarische Inhalte darstellen (Siehe weiter unten, “Bibliothekarische Anleitungen”), während sich zur pädagogischen Nutzung nur einige wenige Sätze finden. (Siehe Weiter unten, “Pädagogische”) Dafür ist die gesamte Broschüre geprägt von Abgrenzungen zu anderen Einrichtungen und Forderungen nach bestimmten Kriterien für Schulbibliotheken. (Siehe weiter unten, “Forderungen und Abgrenzungen”) Ersichtlich ist, dass diese Kriterien als Voraussetzung für gute Schulbibliotheken angesehen werden, allerdings wird dies weder explizit benannt noch werden sie nachvollziehbar begründet. Relativ offensichtlich ist aber, dass die Broschüre auch als Werbung für die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes genutzt wurde. (Siehe weiter unten, “Werbung für den  Schweizerischen Bibliotheksdienst”)

Auffällig an der Broschüre ist die intensive Nutzung von graphischen Elementen, vor allem, aber nicht nur, Bildern. Diese sind offensichtlich explizit für dies Broschüre erstellt, so wie sich in der gesamten Gestaltung eine durchdachte Planung zeigt. [2] Mehrfach werden Bilder, die ungestellt wirken sollen, dafür genutzt, Fakten darzustellen, beispielsweise auf Seite 30-31 und 32-33, wo Hinweise zur Möblierung direkt in zwei Bilder hineingeschrieben sind. Gerade im Vergleich zur Broschüre 1973 (Schweizer Bibliotheksdienst, 1973) – aber auch zu den “Lehrbriefen Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), die drei Jahre zuvor in der BRD erschienen – wird deutlich, dass für diese Publikation explizit eine professionelle Gestaltung stattfand. Dafür ist der Text selber relativ knapp und direkt gehalten.

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Forderungen und Abgrenzungen

Broschüren wie diese stellen immer wieder mehr oder minder direkte Forderungen dazu auf, wie eine Schulbibliothek auszusehen hätte. Gleichzeitig grenzen sie sich von anderen Einrichtungen ab. Interessant ist, von was sich in dieser explizit abgegrenzt wird: Nicht etwa von Schulen ohne Schulbibliothek, kaum von Schulen mit Schulbibliotheken, welche nicht den Forderungen der Broschüre entsprechen oder von in der Schweiz zumindest heute verbreiteten kombinierten Schul- und Gemeindebibliotheken, die ausserhalb der Schulen angesiedelt sind; sondern vor allem gegen Klassenbibliotheken, also kleinen Beständen, die in einzelnen Schulzimmern unterhalten werden. Dies wird mehrfach thematisiert, zum Beispiel:

“Sie [die Schulbibliothek, KS.] ersetzt die Klassenbibliotheken

Das zu dürftige Bücherangebot herkömmlicher Klassenbibliotheken, das sich zudem oft in schlechtem Zustand befindet, vermag weder die Schüler zum Lesen zu motivieren, noch bietet es die Möglichkeit, Literatur in Schulalltag und Lernprozess einzubauen.” (S. 2)

“Alle Druckschriften und audiovisuellen Informationsträger der Schule stehen in der Bibliothek Schülern und Lehrern übersichtlich, erschlossen und leicht zugänglich zur Verfügung. Lehrer-, Stufen-, Abteilungs- und Fachbibliotheken erübrigen sind.” (S. 3)

Diese Abgrenzung vermittelt zumindest den Eindruck, als sei in den späten 1980er Jahren die Praxis der Klassenbibliotheken in der Schweiz verbreitet gewesen. (Andere Dokumente aus den 1970er und 1980er Jahren thematisieren auch Klassenbibliotheken, in den Texten aus Deutschland wird sich aber eher gegen Schulen abgegrenzt, die zu unprofessionelle Schulbibliotheken unterhalten würden.) Wenn dem so gewesen ist, hätte man auch fragen können, ob dies dann nicht für die Schulen am sinnvollsten erscheint – sonst würden sie die Klassenbibliotheken ja nicht führen. Insbesondere dessen, dass die anderen aufgezählten Möglichkeiten, gegen die sich abgegrenzt hätte werden können, gar nicht erwähnt werden, erscheint dies aber eher eine Zuschreibung darzustellen: Klassenbibliotheken werden als unmodern angesehen, eine organisierte Schulbibliothek für die gesamte Schule als modern. Begründet wird dies, wie auch andere Aussagen, nicht.

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Eine andere Abgrenzung ist ebenso erstaunlich: Es wird explizit eine Freihandbibliothek gefordert, also eine Einrichtung, in welcher der Bestand für die Schülerinnen und Schüler frei zugänglich ist. Dies wird tatsächlich einmal begründet und zwar mit dem Hinweise, dass Lernende das, was sie selber auswählen, auch wirklich lesen und lernen würden. (S. 3-4) Erstaunlich daran ist, dass Freihandbibliotheken zumindest bei den Öffentlichen Bibliotheken in den 1980er Jahren Normalität waren. Offenbar herrschte der Eindruck vor, das dies in den Schulen nicht der Fall wäre.

Ansonsten wird sehr klar die Forderung erhoben, dass Schulbibliotheken sich wie Öffentliche Bibliotheken organisieren sollten. Es werden explizit Hinweise gemacht auf die auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz genutzten “Arbeitstechnik für Schul- und Gemeindebibliothek”, auf die Dezimalklassifikation, wie sie in den Öffentlichen Bibliotheken genutzt wird, sowie auf bibliothekarische Hilfsmittel und Techniken. Teilweise wird sogar in diese Techniken eingeführt. Nur wenig unterscheidet sich in der Broschüre die Schulbibliothek von einer Gemeindebibliothek; einzig das in einigen Punkten explizit Lehrende und Lernende genannt werden und das eine andere Aufteilung des Bestandes vorgeschlagen wird (50% Belletristik: 10% Bilderbücher, 10% Kinderbücher, 30% Jugendbücher; 50% Sachbücher: 5% Nachschlagewerke, 10% Kinderbücher, 35% Jugendbücher, S. 11), scheint diese beiden Einrichtungen zu unterscheiden. Dies wirft allerdings die Frage auf, was das Besondere an Schulbibliotheken wäre, die in dieser Broschüre allerdings nicht behandelt wird.

Bibliothekarische Anleitungen

Auffällig zahlreich sind die Abschnitte, die sich mit bibliothekarischen Themen beschäftigen. Explizit sind dies die Folgenden:

  • “Die Bibliothek ist eine Freihandbibliothek”, S. 4-5
  • “Bücher für alle über alles”, S. 6-7 [inklusive Erneuerungsquote und Unterteilung in Präsenz- und Ausleihbestand]
  • “Der Bibliothekar wählt die Bücher aus”, S. 8-9
  • “So werden die Bücher eingeteilt”, S. 10-11
  • “Bibliotheksbücher tragen Erkennungsmerkmale”, S. 12-13 [Signaturen und Farbzeichen für Signaturen]
  • “Die Dezimalklassifikation (DK)”, S. 14-15
  • “So werden audiovisuelle Medien präsentiert”, S. 18-19
  • “Kataloge geben Auskunft”, S. 22-23
  • “So sehen Katalogkarten aus”, S. 24-25
  • “Die Ausleihkontrolle”, S. 26-27 [Beschreibung von Ticketsystem, Buchtaschen, Buchkarte, Fristblatt und Fristenstempel]

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Dabei wird zum Beispiel kurz die Erstellung von Katalogkarten und die Handhabung von Buchkarten geschildert, so wie man es von einer Ausbildungsbroschüre für den bibliothekarischen Unterricht erwarten würde. Die Auswahl der Medien wird explizit dem “Bibliothekar” als Aufgabe zugeschrieben – nicht Lehrenden oder Lernenden – und dabei auf Hilfsmittel verwiesen, die so auch in Öffentlichen Bibliotheken verwendet werden können (Listen des Schweizer Bibliotheksdienstes, des Buchhandels, Besprechungsdienste des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur und von Kommissionen, die in kantonalen Schulblättern veröffentlicht würden), die vorgeschlagenen Farben für Signaturen finden sich auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz wieder (Kinder: gelb, Jugend: hellrot, Erwachsene: hellblau, Französisch: grün, Italienisch: braun, Englisch: grau, Andere: weiss) und so weiter.

Immerhin vier Seiten (S. 16-19) beschäftigen sind mit “modernen Entwicklungen auf dem Gebiet der audiovisuellen Kommunikation” (S. 16), wie Tonfilme, Dias und Diaprojektoren, Kassettenabspielgeräte, Videorekorder; wobei diese selbstverständlich heute nicht mehr neu sind. Der Tenor ist recht einfach: Alle neuen Medien – genauer alle Medien, auch Spiele, Karten, Zeitungen und Zeitschriften – gehören in die Schulbibliothek und müssen dort auch benutzt werden. Dies ist relevant, weil auch heute gerne beklagt wird, dass Schulbibliotheken sich oft auf Bücher und gedruckte Medien konzentrieren würden. Offenbar ist der Diskurs dazu schon älter, zumindest ähneln sich die Argumente: Neue Medien würden ermöglichen, dass Lernende mit unterschiedlichen Lerntypen die jeweils für sie geeigneten Lernwege einschlagen könnten. Dies klingt sehr nach “individualisiertem Lernen”, nur dass es 1988 geäussert wurde, nicht erst in den letzten Jahren. [3]

Kurzum: Laut dieser Broschüre ist die Schulbibliothek eine kleinere Öffentliche Bibliothek, keine besondere Einrichtung.

Pädagogisches

Während bibliothekarische Themen über die gesamte Broschüre verteilt besprochen werden, finden sich Aussagen zur pädagogischen Nutzung fast nur am Rande und in Nebensätzen. Ganz offensichtlich wird davon ausgegangen, dass Schulbibliotheken zwar von Lehrenden und Lernenden genutzt werden, aber das es nicht notwendig wäre, dazu längere Ausführungen zu präsentieren. Das Lehrerinnen und Lehrer die Schulbibliothek führen könnten oder das Wege gesucht werden könnten, die Bibliothek direkt mit der jeweiligen Schulgemeinschaft zu verbinden, scheint für den Autor kein Thema gewesen zu sein. [4]

In einem Nebensatz wird von einem – nicht näher ausgeführten – “verantwortungsvollen pädagogischen Auftrag” (S. 36) gesprochen; kurz wird, wie schon dargestellt, erwähnt, dass unterschiedliche Medien gut für unterschiedliche Lerntypen seien. Zudem gibt es eine kurze Aufzählung von möglichen Nutzungen der Bibliothek durch Lernende:

“Im Informationszentrum findet der Lehrer optimale Voraussetzungen, um seine Schüler in den verschiedenen Fächern mit abwechslungsreichen und sinnvollen Aufgaben zu beschäftigen, sei es in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit. Für breit angelegte Projektunternehmungen steht umfangreiches Forschungs- und Anschauungsmaterial zur Verfügung.

Einzelaufträge

Lieblingsbücher vorstellen […]

Werbung für ein Buch […]

Leserwünsche […]

Gruppenarbeit

Sie können folgendermassen organisiert werden:

Ein umfassendes Thema wird als Klassenthema gewählt.

Die Gruppen tragen die verschiedenen Informations- und Anschauungsmittel zum Thema zusammen […]

Verarbeitung der Informationen.

Vortrag der Forschungsergebnisse vor der Klasse […]

Die Ergebnisse werden möglicherweise zu einem schriftlichen Bericht verarbeitet.” (S. 40)

Einerseits klingen die Vorschläge dazu, wie Schulbibliothek prinzipiell genutzt werden sollten, heute nicht viel anders. Andererseits sind die Angaben recht allgemein gehalten und auch erstaunlich: In der Broschüre wird nämlich nicht darauf eingegangen, wie der Bestand so aufgebaut werden kann, dass er sich für diese Übungen eignet, es wird offenbar einfach davon ausgegangen, das eine ausreichend grosse Anzahl von Medien genügend Material beinhalten würde.

Trotzdem sind die Hinweise aus der Broschüre nicht einfach mit den heutigen gleichzusetzen: Es zeigt sich immer wieder, dass der Schulbildung eine andere Aufgabe zugeschrieben wird, die mit den Schulbibliothek besser zu meistern wäre, als heute. Während aktuell der spätere Arbeitsmarkterfolg oder Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler im Fokus steht, ist es in der Broschüre das heute kaum noch besprochene “kritische Denken”, welches mit der Schulbibliothek gefördert werden soll:

“Die moderne Schule kehrt sich von der rein verbalen Stoffvermittlung, dem Frontalunterricht, ab. Sie wendet sich sozialen Lernformen und selbständigem, forschendem Arbeiten im Partner-, Gruppen- und Klassenverband zu; dazu bedarf sie neuzeitlicher Hilfsmittel und Einrichtungen. Unerlässlich ist eine gut eingerichtete Bibliothek im eigenen Hause: Hier kann der Schüler dazu geführt werden, Informationen selbständig zu erwerben und damit sein kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln; hier kann er lernen, sich ein Leben lang selbständig weiterzubilden.” (S. 3)

Erstaunlich ist an diesem Abschnitt vor allem, dass das gleiche – inklusive der Behauptung, dass sich die Schule jetzt gerade vom Frontalunterricht abwenden würde -, aber mit einer anderen Zielsetzung, heute auch oft geschrieben wird. Während 1988 das “weiterbilden” und die Gruppenarbeit das kritische Denken fördern sollte, wird es heute oft als Einübung von sozialen Kompetenzen beschrieben. Die Frage ist, ob sich der Diskurs geändert hat – und einfach behaupten muss, die Tools wären neu – oder ob die pädagogischen Grundsätze und Mittel wirklich neu sind und nur gleich heissen wie 1988.

Es gibt in der Broschüre einen weiteren Abschnitt, dem heute eine andere Bedeutung zugeschrieben würde, nämlich der – sehr funktional verstandenen – Informationskompetenz, während er 1988 fast schon zur Erziehung zu einer Ideologiekritik erklärt wird:

“Die audiovisuellen Medien ermöglichen dem Lehrer, seine Schüler zu richtigem Sehen und Hören zu erziehen. Er kann sie durch selbständige Bearbeitungen, wie Tonaufnahmen, Fotografieren, Schneiden, Montieren hinter die Geheimnisse der Medienfabrikanten blicken lassen.” (S. 16)

Eine ähnliche Kehrtwende scheint der Diskurs im Bezug darauf gemacht zu haben, ob die Kinder und Jugendlichen, die da in die Schulbibliothek kommen oder kommen könnten als Kundinnen und Kunden mit schon fertigen Interessen kommen, die zu erfüllen wären, oder ob ihre Identität mit von der Bibliothek mitgeprägt werden kann und sollte. Auf Seite 6 wird zum Beispiel “Brückenliteratur” (“anspruchslose Unterhaltungsschriften, auch Comics”, S. 6) als Mittel besprochen, um “Leser zu gewinnen und heranzubilden”. In der Broschüre wird es offenbar als sinnvoll angesehen, wenn die Schulbibliothek die Kinder und Jugendlichen zu Leserinnen und Lesern bildet, was auch damit einhergeht, Literatur als anspruchslos und anspruchsvoll einzuteilen und erstere offenbar nur als Übergang zu akzeptieren.

Spiralcurriculum

Ein anderer erstaunlicher Abschnitt findet sich auf Seite 38-39. Dort wird vorgeschlagen, Kinder und Jugendliche nach Jahrgangsstufe gestaffelt in die Bibliothek einzuführen, wobei Themen für die Klassenstufe 1. bis 9. vorgeschlagen werden. Dabei bauen die Themen aufeinander auf: Im ersten Schuljahr soll zum Beispiel der Ausleihvorgang durchgespielt werden, im zweiten Jahrgang sollen Bücher eingeordnet werden und so weiter. Ziel ist es, dass am Ende der Schule die Schülerinnen und Schüler “sich in der Bibliothek zurechtfinden, Nachschlagewerke zu konsultieren [in der Lage sind, KS], Informationsträger zu handhaben [wissen, KS].” (S. 38)

Oder in anderen Worten: Es wird ein Spiralcurriculum vorgeschlagen, so wie es vor einigen Jahren in Öffentlichen Bibliotheken für die Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken diskutiert und teilweise umgesetzt wurde. Dabei ist nicht erstaunlich, dass sich dieser Vorschlag in der Broschüre findet. Er ist gewiss ein naheliegender und auch nicht falscher. Interessant ist eher, dass er vor einigen Jahren in Deutschland als neues Konzept, welches lange angestaute Probleme lösen würde, angepriesen wurde. (Hachmann & Hoffmann, 2007) Dies scheint ein weiterer Fall des “Vergessens” von Bibliotheksgeschichte darzustellen: Lösungen, die offenbar schon einmal vorgeschlagen wurden, werden als neu präsentiert, ohne aus dem möglichen Scheitern einige Jahre zuvor zu lernen.

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Werbung für den  Schweizerischen Bibliotheksdienst

Genauso wie die Broschüre von 1973 (Schweizerischer Bibliotheksdienst, 1973) ist auch diese Broschüre durchzogen von mehr oder minder dezenten Hinweisen auf die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes, wenn auch in dieser Broschüre weitere Einrichtungen wie das Schweizerische Jugendbuchinstitut oder das Schweizerische Jugendschriftwerk erwähnt werden. Hauptsächlich werden Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes als grundlegend notwendig für eine moderene Schulbibliothek angepriesen: Bibliotheksfertige Bücher, Besprechungslisten des Bibliotheksdienstes und vor allem Einrichtungsvorschläge, die so eigentlich nur vom Bibliotheksdienst geleistet werden konnten. Beispielsweise wird der Abschnitt zur Planung von Schulbibliotheken wie folgt eingeleitet:

“Wie man mit Vorteil vorgeht

Wer eine Bibliothek einrichten will, wird gut daran tun, sich vorbildliche Lösungen anzusehen und sich durch Bibliotheksfachleute eingehend beraten zu lassen. Nur die Planung durch bewährte Fachleute verspricht einwandfreie Resultate.” (S. 34)

Was wie ein gut gemeinter Vorschlag klingt, überspielt, dass die “bewährten Fachleute” in der Schweiz die waren, die für den Bibliotheksdienst arbeiteten. Ebenso macht die Broschüre Vorschläge zur Ausstattung (“Nur erprobtes Spezialmöbiliar, das in Form, Farbe und Ausmass aufeinander abgestimmt ist, ermöglicht, Freihandbibliotheken funktionell, qualitativ und ästhetisch einwandfrei und attraktiv einzurichten.”, S. 30), denen am einfachsten durch das Angebot des Bibliotheksdienstes gefolgt werden konnte, weil dieser nämlich genau solche Möbel verkaufte und weiterhin verkauft.

Wie auch schon 1973 reagierte diese Werbung nicht unbedingt auf eine Konkurrenzsituation – da es keine wirklich Konkurrenz für den Schweizer Bibliotheksdienst gab -, sondern scheint sich eher aus der Überzeugung hergeleitet zu haben, dass das, was der Dienst bietet, für eine professionelle Bibliothek notwendig sei und deshalb Bibliotheken dazu gebracht werden müssten, diese Angebote auch zu nutzen, um professionell zu werden.

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Fazit

Zusammengefasst ist die Broschüre stark autoritativ geschrieben: Es werden vor allem Behauptungen dazu aufgestellt, wie moderne Schulbibliotheken auszusehen hätten; die nur selten begründet werden. Dabei wird kaum darauf eingegangen, wie Ende der 1980er Jahre eigentlich die Situation von Schulbibliotheken in der Schweiz tatsächlich aussah. An einer Stelle wird behauptet, es gäbe “hunderte” (S.44) Einrichtungen wie die in der Broschüre beschriebenen, gleichzeitig wird gegen Klassenbibliotheken geschrieben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es auch 1988 in der Schweiz zahlreiche Schulbibliotheken, die gemessen an den Anforderungen, die in der Broschüre aufgestellt werden, nicht als professionell gegolten hätten, obgleich sie keine Klassenbibliotheken darstellten. Auffälig ist, im Vergleich zu anderen Broschüren dieser Art, dass auf konkrete Beispiele von Schulbibliotheken in dieser Publikation vollkommen verzichtet wird.

Zudem versteht die Broschüre Schulbibliotheken vor allem als kleine Öffentliche Bibliotheken und schenkt der Besonderheit, dass sie in Schulen situiert sind, kaum Aufmerksamkeit. Pädagogische Fragen werden kaum, bibliothekarische hingegen umfangreich besprochen. Was allerdings besprochen wird, scheint in weiten Teilen relativ modern, obgleich heute zum Beispiel individualisiertes Lernen oder Gruppenarbeit als Unterrichtsmethode als relativ neu dargestellt werden, ebenso wie die Hinwendung zu neuen Medien. Gleichzeitig gibt es Unterschiede, die nicht nur mit dem technischen Fortschritt zu erklären sind, sondern mit Veränderungen im Verständnis der Aufgaben von Schulbildung.

Eine Frage, die sich trotz des Untertitels “Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare” ergibt, ist: Für wen ist die Broschüre eigentlich geschrieben? Wen sollte sie  von was überzeugen? Sollte sie die Schulen überzeugen, die Angebote und Beratungen des Schweizerischen Bibliotheksdienstes anzunehmen? Sollten Sie die Behörden überzeugen, von den Schulen solche Schulbibliotheken, wie sie in der Broschüre beschrieben werden, zu fordern? Lehrerinnen und Lehrer werden mit der Broschüre kaum angesprochen, eher scheint es, als wären Behörden und Politik angesprochen, die Mittel zur Verfügung zu stellen und dann bibliothekarisch ausgebildetes Personal einzustellen (wobei die Einbindung in die pädagogische Aus- und Weiterbildung explizit gefordert wird, S. 37, und die bibliothekarische Grundausbildung in der Schweiz noch heute in einem Grundkurs, der von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken zertifiziert ist und neu 124 Lektionen á 45 Minuten umfasst, absolviert werden kann). In anderen Teilen scheint die Broschüre aber selber in die bibliothekarische Arbeit einführen zu wollen. Wie bei anderen Texten zu Schulbibliotheken ist auch bei diesem nicht ganz klar, mit welchem Ziel und für welches Publikum dieser erstellt wurde.

Literatur

Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung. (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung

Hachmann, Ute ; Hoffmann, Helga (Hrsg.) (2007). Wenn Bibliothek Bildungspartner wird… : Leseförderung mit dem Spiralcurriculum. [Ohne Ort] Expertengruppe Bibliothek und Schule im Deutschen Bibliotheksverband; Expertengruppe  Kinder- und Jugendbibliotheken im Deutschen Bibliotheksverband

Müller, Hans A. (1988). Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare. Bern : Schweizer Bibliotheksdienst

Papendieck, Andreas (Hrsg.) (1985). Lehrbriefe Schulbibliothek. Berlin [West] : Deutsches Bibliotheksinstitut

Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3

 

Fussnoten

[1] Erstaunlicherweise erschien “Planung von Schulbibliotheken” genau drei Jahre nach “Die moderne Schulbibliothek” von Doderer et al. (1970) – dem ersten grossen Überblick zu Schulbibliotheken in der BRD -, und “Die Schulbibliothek” genau drei Jahre nach “Lehrbriefe Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), einem weiteren grossen Publikationsprojekt für Schulbibliotheken in Deutschland. Vielleicht ist dies Zufall, aber die drei-jährige Spanne ist erstaunlich – wobei die schweizerischen Publikationen niemals die deutschen direkt abschreiben, sondern jeweils eigenständige Publikationen darstellen.

[2] Verantwortlich zeichnet laut Impressum François G. Baer (Gestaltung), Rosi Troxler (Photos) und Max Kräuchi (Planzeichnung).

[3] Eventuell ist also die Konzentration auf gedruckte Medien in Schulbibliotheken, wenn sie überhaupt wirklich so vorkommt, wie behauptet wird, dann auch nicht Ausdruck einer Rückwärtsgewandtheit, sondern Ergebnis von gescheiterten Versuchen, andere Medien zu nutzen – und damit sinnvoll.

[4] Genauer: Es wird explizit gefordert, dass eine “Schulbibliothekarin oder Schulbibliothekar angemessen zu besolden; ihre Arbeit mindestens dem Erteilen von Werkunterricht gleichzustellen [sei, KS]” (S. 36).

Schulbibliotheken in Berlin, 2015. Wie stetig sind die existierenden Schulbibliotheken?

Schulbibliotheken sind – abgesehen von ihrem möglichen Wert für den Alltag und Unterricht in Schulen und den Potentialen, die sie für die Schülerinnen und Schüler bieten – ein interessanter Gegenstand für die Untersuchung der Bedeutung von Bibliotheken in der Gesellschaft. Sie sind, auch da kaum verlässliche Infrastrukturen zur Unterstützung von Schulbibliotheken – insbesondere der kontinuierlichen Finanzierung von Personal und Bestand – existieren1 und der Unterricht in den deutschen Schulen so organisiert ist, dass per se keine Schulbibliothek benötigt wird, um erfolgreich zu unterrichten, Einrichtungen, die dann gegründet oder weitergeführt werden, wenn sich Schulen und Schulgemeinschaften für diese Einrichtungen interessieren und sie als Bereicherung ihres Alltags ansehen, wobei es recht unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Bereicherung heisst. Es bedeutet immer einen Aufwand, Schulbibliotheken einzurichten, insoweit werden sie erst aufgebaut, wenn es für sie in der Schule genügend Unterstützung gibt. Gleichzeitig schreiben sich dabei die jeweiligen Engagierten in die Schulbibliothek ein. Während die bibliothekarische Literatur die Schulbibliothek vor allem als Einrichtung begreift, die auch nach bibliothekarischen Regeln geführt werden muss – inklusive Katalog, ständig erneuertem Bestand, Reglementen für die Nutzung – werden sie in den Schulen teilweise sehr anders begriffen. Wie, dass bestimmt sich auch immer daraus, wie Bibliotheken im Allgemeinen verstanden werden. Ein Beispiel sind Schulbibliotheken mit einem festen, unveränderlichen Bestand, der aber vom Personal als ausreichend und qualitativ gut angesehen wird.

Methode und Interesse hinter der Sammlung

Jährlich im April wird an dieser Stelle über die Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin und deren Verteilung in den unterschiedlichen Schulformen berichtet. Diese Sammlung ist Teil einer Untersuchung zu Strukturen der Verteilung von Schulbibliotheken, die dabei vor allem als Einrichtungen verstanden werden, die gegründet werden, wenn sie den Schulen – als Teil der Gesellschaft – als sinnvoll erscheinen. Die fortlaufende Ergebnisdarstellung wird in diesem Beitrag mit einer im Gegensatz zu den Vorjahren umfangreicheren Auswertung für 2015 fortgesetzt.

Diese Angaben entstehen mit einer relativ einfachen, aber kontinuierlich angewandten Methode: die Homepages der, laut Schulverzeichnis des Berliner Senats, im April (innerhalb des jeweiligen Schuljahres) existierenden Schulen werden aufgesucht und nach Hinweisen auf Schulbibliotheken durchsucht.2 Dabei werden alle Hinweise gezählt, auch wenn es sich nur um kurze Erwähnungen, beispielsweise als Anstrich unter „Ausstattung der Schule“, handelt. Genutzt werden dabei alle Möglichkeiten der jeweiligen Homepage, inklusive zur Verfügung gestellter Suchfunktionen und eingestellter Dokumente. Ausgeschlossen werden Einrichtungen, die erkenntlich für die Schülerinnen und Schüler nicht zur freien Nutzung offenstehen (beispielsweise explizit keine Öffnungszeiten haben oder nur in Begleitung von Lehrpersonen besucht werden können) und Einrichtungen, die reine Lehrbuchsammlungen darstellen.

Dabei wird darauf vertraut, dass Schulen sich über ihre Homepages einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren, was allerdings durch die Notwendigkeit, jährlich neue Schülerinnen und Schüler zu gewinnen und durch die Vorgaben der Berliner Schulpolitik auch zu erwarten ist. Allerdings werden mit dieser Methode Schulbibliotheken erst dann sichtbar, wenn sie auch auf den Homepages erwähnt werden. Allerdings ist zu vermuten, da Schulen regelmässig möglichst viele ihrer Angebote auf den eigenen Homepages präsentieren, so dass Einrichtungen, die zwar existieren, aber nicht erwähnt werden, im Alltag der jeweiligen Schule auch wenig Relevanz haben. Gleichzeitig sind über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die Homepages des Schulen aussagekräftiger geworden.

Grundidee hinter der Untersuchung ist es, die Entwicklung des Schulbibliothekswesens in einem Bundesland über einen längeren Zeitraum zu betrachten. Dabei bietet sich Berlin unter anderem wegen den Unterschieden im Bibliotheks- und Schulwesen in seinen Bezirken sowie die relativ schnellen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur in seinen Quartieren an. Bislang gibt es, soweit sichtbar, im deutschsprachigen Raum keine solchen Zeitreihen über die Verteilung von Schulbibliotheken für einen grösseren Raum wie ein Bundesland. Für Berlin selber liegen gar keine anderen Daten über die Verbreitung von Schulbibliotheken vor. Die Daten, die von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft im Schulverzeichnis vorgelegt werden, enthalten zum Beispiel keine konsistenten Angaben. Bislang wurden in Deutschland, zumindest soweit veröffentlicht, nur Daten über die Verteilung von Schulbibliotheken zu jeweils einem Zeitpunkt erhoben.

Der Vergleich der Verteilung von Schulbibliotheken über einen längeren Zeitraum – geplant sind mindestens zehn Jahre, wobei jetzt Daten für acht Jahre vorliegen – ermöglicht, andere Phänomene mit zu untersuchen:

  • Aus Kontakten zu Schulen und anderen Untersuchungen ist bekannt, das viele Schulbibliotheken, wenn sie eröffnet werden, keine Neugründungen darstellen, sondern oft eine Wiedereröffnung von ehemals vorhandenen Bibliotheken bedeuten. In vielen Schulen existieren offenbar in mehr oder minder verschlossenen Räumen oft noch alte Bestände und Möbel von Bibliotheken; eine Aufgabe bei der Neueröffnung besteht dann oft darin, diese Bestände und Möbel zuerst zu sichten. Mit einer Betrachtung der Verteilung über einen längeren Zeitraum ergeben sich mehrere Möglichkeiten: So lässt sich untersuchen, ob es Muster in der Eröffnung und Schliessung von Schulbibliotheken gibt, beispielsweise ob bestimmte Einrichtungen eine gewisse durchschnittliche Lebensdauer haben und wenn ja, wie sich diese erklären liesse. Zu denken wäre zum Beispiel an die Fluktuation der Schülerinnen und Schüler, da Schulbibliotheken oft von deren Mitarbeit oder aber in Grundschulen der Mitarbeiter ihrer Eltern abhängig sind, die dann nicht mehr vorhanden sind, wenn die Lernenden die Schulen verlassen. Gleichzeitig lässt sich untersuchen, ob und wie viele Schulbibliotheken längerfristig existieren, beispielsweise über den gesamten Untersuchungszeitraum.

  • Eine Momentaufnahme, also die Erhebung der vorhandenen Schulbibliotheken zu einem bestimmten Zeitraum, kann Auskunft über die momentane Verteilung geben. Beispielsweise wurde bei der ersten Erhebung in dieser Untersuchung klar, dass in Berlin die Chance in der Sekundarstufe eine Schulbibliothek nutzen zu können, grösser war, wenn Schülerinnen und Schüler Gymnasien besuchten anstatt andere Schulen der Sekundarstufen. Untersucht über einen längeren Zeitraum lässt sich sehen, ob solche momentanen Tendenzen strukturell angelegt sind oder zufällig vorhanden waren. Daraus liessen sich unter anderem für politisches Engagement wichtige Aussagen generieren, aber auch weiterführende Fragen zur Wirkung von Schulbibliotheken stellen.

  • Daten, die über einen längeren Zeitraum gesammelt werden, ermöglichen es auch, Hinweise zur Wirksamkeit bestimmter Interventionen zu geben. Sicherlich sind im schulischen Rahmen einzelne Interventionen nie alleine ausreichend, um Veränderungen durchzusetzen, insoweit liefern Datenreihen keinen Beweis für Wirksamkeiten, dennoch gibt es alleine im jetzigen Untersuchungszeitraum mindestens folgende drei Interventionen, die eine Wirkung auf die Anzahl der Schulbibliotheken erwarten liessen: Die Schulreform in Berlin, welche Haupt-, Real- und Gesamtschulen abschaffte und bis 2011 in Integrierte Sekundarschulen zusammenführte sowie die weitmöglichste Inklusion unterschiedlich befähigter Schülerinnen und Schüler anstrebt; die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken in Berlin und Brandenburg, insbesondere deren Wettbewerb „Schulbibliothek des Jahres“, der 2011 und 2013 durchgeführt wurde sowie die Publikation von insgesamt drei Monographien, die sich mit der Gründung und dem Führen von Schulbibliotheken befassen (nachdem die letzte vergleichbare Schrift in den 1980er Jahren erschien) und Schulen sowie einzelne Engagierte dabei unterstützen wollen, Schulbibliotheken zu betreiben.3

  • Geht man von den Publikationen zu Schulbibliotheken in Deutschland seit den 1970er Jahren – dem Jahr, in welchem in einem Projekt der Goethe Universität, welches den Aufbau von modernen Schulbibliotheken in Deutschland organisieren wollte, die erste umfassende Übersicht diesen Einrichtungen entstand4 – und anekdotischen Evidenzen aus Bibliotheken aus, scheint es Phasen des massiven Aufbaus von Schulbibliotheken und unterstützenden Einrichtungen gegeben zu haben, die von Phasen des massiven Rückbaus dieser Einrichtungen gefolgt wurden. Mit einer längeren Datenreihe lässt sich nach Hinweisen dafür suchen, ob dies (weiterhin) zutrifft und ob sich der Status und damit auch die Stellung von Schulbibliotheken zeittypischen Veränderungen unterworfen ist.

Ergebnisse: Schulbibliotheken in Berlin, 2015

Unter den Voraussetzungen der weiter oben genannten Grenzen der genutzten Methode der Datensammlung, stellt sich die Verteilung der Schulbibliotheken in Berlin, erhoben vom 01.-03. April 2015, wie folgt dar:5 („Schulen mit Förderschwerpunkten“ sind dabei solche, die nicht in anderen Schulen integriert sind. Grundsätzlich sinkt deren Zahl aufgrund der Inklusionsbemühungen in Berlin über die Jahre.)

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Sichtbar ist, das eine grosse Zahl von Schulen Schulbibliotheken unterhält, gleichzeitig aber über 50% der Schulen aktuell offenbar keine solche Einrichtungen anbieten. Angesichts dessen, dass die Literatur zu Schulbibliotheken davon ausgeht, dass sich solche für alle Schulen anbieten und die Möglichkeit eröffnen, Unterricht und Schulalltag zu verbessern, gleichzeitig aber betont wird, dass Schulbibliotheken nur dann sinnvoll sind, wenn sie auch in der Schule genutzt werden – was das Engagement der Lehrenden voraussetzt – ist dies eine sinnvolle Verteilung. Schulbibliotheken stehen immer in Konkurrenz zum möglichen Engagement des Lehrkörpers oder anderer Engagierter für andere ergänzende Einrichtungen wie zum Beispiel Biotope oder musikalische Angebote, insoweit ist nicht zu erwarten, dass sie aktuell in allen Schulen sinnvoll wären. Eine Verteilung von 31,8 % also rund einem Drittel – der Schulen in Berlin, die eine Schulbibliothek betreiben, ist also beachtlich.

Gleichzeitig fällt die ungleiche Verteilung über die unterschiedlichen Schultypen auf: Schulbibliotheken finden sich öfter in Grundschulen – die in Berlin bis zur sechsten Klasse geführt werden – als in anderen Schulen, dass heisst auch, dass die dort tätigen Personen auf die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Grundschulen orientiert sind. In den weiterführenden Schulen steigt die Chance der Schülerinnen und Schüler, eine Schulbibliothek nutzen zu können, mit dem gesellschaftlichen Status der Schulen: 36,3% der Gymnasien, aber nur 20,7 % der Integrierten Sekundarschulen und 20,0% (der im Berliner Schulverzeichnis gesondert geführten Walddorfschulen) haben solche Einrichtungen. Das heisst ausserhalb der Gymnasien haben rund 1 von 5 weiterführende Schulen eine Schulbibliothek, bei den Gymnasien sind es 2 von 5. Dies weisst hin auf eine an den sozialen Status gebundene Chance, eine Schulbibliothek nutzen zu können.

Vergleich der Daten über den Zeitraum 2008-2015

Wie erwähnt werden die Daten zu Schulbibliotheken jetzt über acht Jahre erhoben, was es ermöglicht, die Daten für 2015 mit den vorhergehenden Jahren zu vergleichen. Dies geschieht hier in einer graphischen Darstellung, wobei die angegebenen Wert die jeweiligen Prozentwerte (wieviel Schulen dieses Schultyps in Berlin hatten in betreffenden Jahr eine Schulbibliothek im Vergleich zur Gesamtheit dieses Schultyps in Berlin):6

diagramm_gesamt_2015

Anzumerken ist hier, dass im Jahr 2011 die Entwicklung der Zahlen für Haupt-, Real- und Gesamtschulen abbrechen, da diese in diesem Jahr ausliefen, dafür startet im gleichen Jahr eine Angabe für Integrierte Sekundarschulen, die ab diesen Jahr eingeführt wurden (mit einer Übergangszeit, genau 2011, in der alle diese Schulformen existierten). Die meisten dieser Integrierten Sekundarschulen entstanden durch eine Zusammenführung von je einer Haupt- und Realschule oder aber durch die Umwandlung von Gesamtschulen.

Die Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin ist in konkreten Zahlen (2014: 226, 2015: 251) leicht gestiegen, in Prozentzahlen (2014: 32,4%; 2015: 31,8%) leicht gesunken, weil zugleich die Zahl der zugelassenen Schulen in Berlin gestiegen ist. Gleichzeitig ist diese Steigerung über den gesamten Zeitverlauf gesehen wenig auffällig. Ein Teil dieser Veränderung kann auch auf neu gestaltete oder inhaltlich bestückte Homepages von Schulen zurückgeführt werden. Es wurden sowohl Schulbibliotheken neu eröffnet oder zumindest für so wichtig begriffen, dass neu auf den Homepages eingestellt wurden, als auch Schulbibliotheken nicht mehr erwähnt werden, die noch in den letzten Jahren auf den Homepages zu finden waren, und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen wurden. Das ist sinnvoll, da sich auch die Berliner Schullandschaft in ständiger Bewegung befindet: Einerseits verändert sich kontinuierlich die Bevölkerungsstruktur, auch im Bezug auf das Alter, im gesamten Stadtraum, so das Schulen teilweise geschlossen oder zusammengeführt werden, während andere erweitert oder neubegründet werden müssen. Andererseits sind Schulen in Berlin dazu angehalten, sich als Einrichtungen in ständiger Veränderung zu begreifen und diese Veränderung auch planend zu gestalten. Beginnend 2006 müssen Schulen in Berlin in einem schulinternen Prozess Schulprogramme verfassen, in welchem sie ihre Potentiale und Probleme identifizieren und gleichzeitig realistische Veränderungen planen. Diese Programme müssen regelmässig fortgeschrieben werden, setzen also einen ständigen Veränderungsprozess als gegeben voraus, wollen ihn aber immer auch selber motivieren.7

These: 30%-35% als zu erwartender Wert

Grundsätzlich stieg die Zahl der Schulbibliotheken in Berlin von 2008 bis 2011 – also dem Jahr, in welchem die oben erwähnten Schulreformen in Berlin im Bezug unter anderem im Bezug auf Integrierte Sekundarschulen direkt umgesetzt wurden – auf 31,6% an. Seitdem bewegen sie sich im Rahmen von 31,6% (2011) und 34,7% (2013), grob gefasst also in einem Korridor zwischen 30% und 35% der Schulen in Berlin. Angesichts dessen, dass das Vorhandensein von Schulbibliotheken immer das Ergebnis von Entscheidungsprozessen in Schulen und deren Umfeld (Fördervereine, Freiwillige, Vereine) darstellt, kann aufgrund dieser Datensammlung die (noch schwach begründete) These aufgestellt werden, dass unter den jetzt gegebenen Voraussetzungen (teil-autonome Schulen, differenzierte und ständig fortgeschriebene Schulprofile, nur geringe Unterstützungen für Schulbibliotheken aus den Öffentlichen Bibliothekswesen, bestimmte Strukturen der Freiwilligenarbeit und der relativen Praxisorientierung des Schulunterrichts etc.) stetig rund ein Drittel der Schulen in Berlin eine Schulbibliothek betreibt und betrieben wird. Stimmt dies, dann wird sich eine Änderung dieser Zahl nur durch eine Änderung der Umstände, die zu den Entscheidungen der Schulen und Schulgemeinschaften führen, bewerkstelligen lassen.

Soziale Spreizung bei der Chance, Schulbibliotheken nutzen zu können

Beunruhigender sind die Entwicklungen zwischen Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen. Letztere wurden eingeführt, um die oft kritisierten Probleme des gegliederten deutschen Schulsystems zu überwinden. In ihnen wurden Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammengeführt. Die Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, die Integrierten Sekundarschulen mit den Abschlüssen aller drei Schulstufen zu verlassen. Die Zusammenfassung hebt zum Beispiele die relative Undurchlässigkeit der Haupt- und Realschulen nach oben auf. Es wird sich erhofft, dass Schülerinnen und Schüler durch das Vorbild der anderen Lernenden und durch die einfache Möglichkeit, länger in der Schule zu verbleiben, verstärkt höhere Schulabschlüsse anstreben werden. Dies ist konsistent mit den Entwicklungen in anderen Bundesländern.

Im Bezug auf die Schulbibliotheken wurde weiter oben schon festgestellt, dass sich die Chance, eine Schulbibliothek nutzen zu können, sich mit der Wahl eines Schultyps verändert: Entscheiden sich Schülerinnen und Schüler, und mit ihnen zusammen zumeist ihre Eltern, für ein Gymnasium, ist die Chance fast doppelt so hoch, wie bei der Entscheidung für eine Integrierte Sekundarschule. Geht man davon aus, wie es zum Beispiel die bibliothekarische Literatur zu Schulbibliotheken tut, dass das Vorhandensein einer Schulbibliotheken einen positiven Einfluss auf den Lernergebnisse von Schülerinnen und Schüler haben kann, bedeutet dies, dass die ehedem schon mit überdurchschnittlichen Chancen ausgestatteten Schülerinnen und Schüler am Gymnasium (in Berlin) auch im Bezug auf Schulbibliotheken strukturell besser unterstützt werden, als andere.

Ein Blick in die Datenreihe zeigt nun, dass dies Teil einer längerfristigen Entwicklung zu sein scheint. Vergleicht man nur die Zahl der Integrierten Sekundarschulen und der Gymnasien (genauer: die Prozentzahl dieser Schultypen) mit Schulbibliothek, ergibt sich folgendes Bild:

diagramm_sekundar_2015

Die Differenz zwischen den beiden Schulformen (hier in Schwarz dargestellt) ist in den letzten drei Jahren – also nachdem die ersten Verwerfungen im Rahmen der Schulreform selber ausgestanden waren – rasant gewachsen. Setzt sich dieser Trend in den folgenden Jahren fort, dann würde die eine wachsende schulische und damit auch soziale Spaltung im Bezug auf Schulbibliotheken bedeuten.

Gleichzeitig könnte dies aber auch auf ein anderes Phänomen hindeuten: Schulbibliotheken fördern als Einrichtungen bestimmte Formen des Lernens und der Gestaltung des Alltags, nämlich stark textlastiger. Diese Formen der Lernens sind in Gymnasien, die ja direkt für das Studium und intellektuell basierte Karrieren ausbilden, eventuell stärker vertreten und in gymnasialen Rahmen auch erfolgreicher, als weniger textlastige – zum Beispiel mehr praxisorientierte – Formen des Lernens. Die Verbreitung der Schulbibliotheken – die ja, wie gesagt, immer als Entscheidung der Schulgemeinschaften entstehen – könnte dies reflektieren. Schulbibliotheken könnten auch verstärkt da sinnvoll erscheinen, wo mit Texten gearbeitet wird. Aber auch dies wäre ein Hinweis auf eine zunehmende soziale Spaltung, da intellektuell basierte Karrieren in der heutigen Gesellschaft zu besseren Lebenschancen, besseren Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens und auch ganz basal Jobs mit besseren Löhnen und höherer gesellschaftlicher Absicherung führen.8

Lebensdauer von Schulbibliotheken

Möglich wird durch die Datensammlung, die hier genutzt wird, auch, Aussagen über die Kontinuität der Existenz von Schulbibliotheken zu machen. Auch hierzu gibt es unterschiedlicher anekdotische Evidenzen. Einerseits gibt es Berichte von Schulbibliotheken, die von bestimmten Schülerinnen und Schülern begründet wurden und nur solange existierten, solange diese die jeweilige Schule nicht verlassen hatten. Dies wird von Berichten unterstützt, die auf die Wiedereröffnung und -belebung von Schulbibliotheken berichten. Gleichzeitig gibt es Schulbibliotheken, die auf Jahrzehnte der Existenz verweisen können. Insoweit ist das Bild nicht einheitlich.

Die Daten der konkreten Schulen wurden dafür in einer einfachen SQL-Datenbank gesammelt und strukturiert (wobei die Entwicklung der Schullandschaft in Berlin, bei der Schulen zusammengelegt, wieder aufgetrennt und zudem oft Umbenannt werden, dies unerwartet kompliziert machte). Die Sammlung dieser Daten zeigt eine Unstetigkeit in der Datensammlung auf, die allerdings so oft auftritt, dass sie nicht einfach mit einem Fehler in der Datensammlung zu erklären ist: Eine ganze Anzahl von Schulen geben kontinuierlich an, dass sie eine Schulbibliothek besitzen, ausser in einzelnen „Zwischenjahren“, beispielsweise die Mövensee-Grundschule und die Lynar-Grundschule, die beide 2008-2009 und 2011-2015 eine Schulbibliothek angeben, aber nicht für 2010. Es ist zu vermuten, dass eine Anzahl der Schulen bei Umstrukturierungen ihrer Schulhomepages Schulbibliotheken ausblenden und erst später hinzutragen. Gleichzeitig gibt es ganz offensichtlich Schulen, in den Schulbibliotheken geschlossen wurden. Die Kurt Schwitters Oberschule oder die Friedrich Ebert Oberschule geben zum Beispiel beide von 2009 bis 2011 an, eine Schulbibliothek zu haben, danach aber nicht mehr. Da beide von 2012 bis heute keine Schulbibliothek erwähnen, ist davon auszugehen, dass die einmal vorhandene geschlossen wurde.9 Eine Anzahl von Schulen bestätigt diese Annahme: Vier Schulen (die Grundschule am Pegasuseck, das Lilienthal Gymnasium, die Grundschule an der Pulvermühle und die Fritz Kühn Schule) gaben 2008 an, eine Schulbibliothek zu besitzen, anschliessend über Jahre nicht mehr. Zwischen April 2014 und 2015 eröffneten alle vier ihre Schulbibliotheken offenbar neu, zumindest tauchten sie wieder auf den Homepages auf. Das Wald-Gymnasium (ehemals Wald-Oberschule), welches 2010 einmal eine Schulbibliothek aus wies, dann aber nicht mehr, spricht jetzt, 2015, explizit von „Neubelebung unserer Schul-Bibliothek [sic!] als einem einladenden Ort zum Lesen mit aktueller Jugendliteratur.“10

Angesichts dieser Überlegungen wurde die Datenbank bezüglich der Kontinuität der Schulbibliotheken in Berlin ausgewertet. Dabei wurde wie folgt vorgegangen: Wurde die Schulbibliothek in einem Jahr erwähnt, im darauf folgenden nicht, dann im nächsten Jahr aber wieder (also, anders ausgedrückt, wenn ein Jahr „übersprungen“ wurde), wurde davon ausgegangen, dass diese Schulbibliothek weiterhin existiert hatte.11 Wurde sie aber zwei Jahre hintereinander nicht erwähnt, wurde davon ausgegangen, dass sie geschlossen wurde. Bezieht man dies ein und unterstellt zudem den Bibliotheken, die 2014 erwähnt wurden, aber nicht 2015, dass sie 2016 wieder erwähnt werden, ergeben sich folgende Daten (bei, zur Zeit, 765 Schulen in Berlin):

schulbibliotheken_2015_kontinuität

Dabei kann bei den Bibliotheken, die in diesem oder dem letzten Jahr das erste Mal erwähnt wurden, noch nicht wirklich von einer Kontinuität ausgegangen werden kann. Gleichzeitig zeigt sich über die Jahre, dass sich eine relativ hohe Anzahl von Schulbibliotheken (2008 bis 2013 zusammengenommen immerhin 197, was erstaunliche 81,1% der 2015 gezählten Schulbibliotheken darstellt) kontinuierlich etabliert hat.

Insgesamt enthält die Datenbank 479 Schulen, die in den Jahren 2008 bis 2015 mindestens einmal angegebenen hatten, eine Schulbibliothek zu besitzen. Diese Zahl lässt sich nicht direkt mit der Zahl der heute vorhandenen Schulen in ein Verhältnis setzen, da einige der Schulen inzwischen geschlossen oder mit anderen Schulen zusammengelegt wurden. Aber grundsätzlich ist zu sehen, dass innerhalb der untersuchten acht Jahre rund 60% der Schulen in Berlin einmal mit einer Schulbibliothek ausgestattet waren und ein grosser Teil von diesen heute keine Schulbibliothek mehr hat.

Daraus können, bei aller Vorsicht, zwei Schlüsse gezogen werden:

  • Die Schulbibliotheken, die sich fest in den Schulen etablieren, existieren dann über einen längeren Zeitraum und bieten damit einen verlässlichen Punkt im Schulalltag.

  • Viele Schulen führen Schulbibliotheken ein, aber ein relevanter Teil der Schulen entscheidet sich auch dafür, diese relativ schnell wieder zu schliessen. Offenbar überzeugen diese – oder zumindest der Aufwand, der für sie nötig ist – die Schulgemeinschaften nicht.

Dies ist wieder relevant für Fragen des Engagements für Schulbibliotheken: Schulbibliotheken, die langfristig existieren, können auch beginnen, auf einen Erfahrungsschatz zurückzugreifen und diesen untereinander auszutauschen. Sie haben mit hoher Wahrscheinlichkeit eine relativ gesicherte Position in der jeweiligen Schule (immer im Rahmen der Möglichkeiten), und können es deshalb auch wagen, bestimmte Experimente einzugehen. In anderen Worten: Diese Schulbibliotheken – die aktuell den Grossteil der existierenden Schulbibliotheken darstellen – können, insbesondere in Zusammenarbeit mit ähnlichen Einrichtungen, eine Professionalisierung vorantreiben. Sie können sich auch mit anderen Fragen beschäftigen, als der, wie Schulbibliotheken begründet werden können.

Gleichzeitig gibt es offenbar immer eine Anzahl von Schulbibliotheken, die nur eine kurze Zeit offen sind. Hier wäre es interessant zu wissen, was diese Einrichtungen auszeichnet. Ist es zum Beispiel tatsächlich vor allem ein Ergebnis des Engagements einzelner Schülerinnen und Schüler, die dann irgendwann die Schule verlassen? Ist es abhängig von der Laufzeit einzelner Förderungen, beispielsweise für geringfügig Beschäftigte? Entscheidet sich die jeweilige Schulgemeinschaft explizit gegen diese Schulbibliotheken? Insbesondere, wenn diese Schulbibliotheken tatsächlich das Projekt einzelner Schülerinnen und Schüler ist, sollte das nicht zu gering geachtet werden: Sie hätten dann in prägenden Jahren ihrer Jugend mit dem Führen einer Bibliothek gewiss wertvolle Kompetenzen erworben und eine grosse Selbstwirksamkeit erfahren. Eventuell müssen solche Projekte dann immer wieder beendet und andere begonnen werden, damit nachfolgende Generationen von Lernenden die gleich Selbstwirksamkeit erfahren können.

Interessant wird dann für eine Auswertung nach zehnjähriger Laufzeit sein, wie lange solche Bibliotheken, die wieder geschlossen werden, im Durchschnitt existieren.

Einfluss von Interventionen

Weiter oben wurden Interventionen angesprochen, deren Wirkung sich eventuell in den gesammelten Daten zeigt könnte. Überprüft man dies nun, ergibt sich ein – wie immer mit extremer Vorsicht zu geniessendes – uneinheitliches Bild.

  • Die Schulreform in Berlin, die lange Zeit vorbereitet wurde und somit die Schulen auch nicht unerwartet traf, fällt quasi mit dem Ende der massiven Steigerung der Zahl von Schulbibliotheken zusammen. Nachdem 2011 alle Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Integrierte Sekundarschulen zusammengeführt wurden und sich die Schulen anschickten, die 2006 das erste Mal erstellten Schulprogramme zu überarbeiten, also auch dieses Steuerungsmittel langsam Routine entwickelte, wurde der weiter oben angesprochene Korridor von 30%-35% der Schulen in Berlin, die eine Schulbibliothek betreiben, erreicht. Offenbar erzeugt die nach der Reform gegebene Struktur dieses Ergebnis mit, obwohl ein kausaler Zusammenhang nicht zu bestehen scheint. Einzig, dass Schulen eine Verantwortung für ihre Angebote übernehmen müssen – ausgedrückt in den Schulprogrammen – und deshalb unter Umständen regelmässig über das Einrichten oder Schliessen von Schulbibliotheken nachdenken.

  • Der Wettbewerb Schulbibliothek des Jahres, der 2011 und 2013 von der Arbeitsgemeinschaft der Schulbibliotheken in Berlin und Brandenburg durchgeführt wurde, zeigt sich nicht in den Daten selber. Auf einer Anzahl der Homepages von Schulbibliothek und Schulen finden sich allerdings die Urkunden dieses Wettbewerbs, insbesondere, aber nicht nur, bei Bibliotheken, welche in diesem gewonnen haben. Der Wettbewerb selber, der erklärtermassen auch dazu beitragen soll, gute Schulbibliotheken als Vorbild zu präsentieren und Schulbibliotheken dazu anzuregen, dass sie sich nach aussen präsentieren, fällt in die Zeit, in der sich die Zahl der Schulbibliotheken zu stabilisieren scheint. Das heisst nicht, dass der Wettbewerb keinen Einfluss haben muss: Gezählt wird in dieser Untersuchung ja nur die Anzahl und Verteilung der Schulbibliotheken, nicht die Qualität der Arbeit der vorhandenen Einrichtungen. Gleichzeitig lässt sich die These aufstellen, dass ein solcher Wettbewerb auf eine gewisse Höhe der Professionalisierung der Schulbibliotheken und der Arbeitsgemeinschaft schliessen lässt.

  • Interessant sind die Zeitpunkte des Erscheinens der weiter oben genannten Praxisbücher für Schulbibliotheken. Diese sind alle mit dem Anspruch publiziert worden, das Eröffnen und das Weiterführen von Schulbibliotheken zu unterstützen. Allerdings erschienen sie allesamt zu einem Zeitpunkt, in welchem sich die Zahl der Schulbibliotheken in Berlin zu stabilisieren scheint. In gewisser Weise erscheinen sie für ihren eigenen Anspruch einige Jahre zu spät. Wieder sagt dies nichts darüber aus, ob sie nicht dabei geholfen haben, die Qualität der schulbibliothekarischen Arbeit zu unterstützen (oder in anderen Bundesländern wirksam waren). Eine andere mögliche Interpretation liegt allerdings ebenso nahe: Die drei Bücher könnten auch als Ergebnis einer bestimmten Professionalisierung der Schulbibliotheken gedeutet werden, also als Ausdruck einer gewissen Entwicklung, die inhaltlich eher darstellen, was Schulbibliotheken heute sein können oder sollen – und weniger als Einführungen für bislang nicht mit Schulbibliotheken vertraute Personen.

Einige Beispiele

Zum Abschluss sollen einige bemerkenswerte Beispiele für die Entwicklungen in Schulbibliotheken in Berlin gezeigt werden, um ein Bild von der Lebendigkeit, die hinter den einfachen Zahlen verschwindet, zu vermitteln. Dabei steht hinter allen Schulbibliotheken immer eine Anzahl von äusserst engagierten Personen, die diese Arbeit selbstverständlich nicht für die Zahlen in diesem Beitrag leisten, sondern aus guten, anderen Gründen: Weil sie Schulbibliotheken sinnvoll finden.

Neue Schulbibliotheken

  • Die offenbar neuste Gründung einer Schulbibliothek fand offenbar am 13.03.2014 in der Schule am Fennpfuhl (einer Schule mit besonderen Förderschwerpunkten statt).12 Die Meldung dazu besteht aus vier Bildern, die immerhin eine Lesetreppe, Sitzsäcke und einen kleinen Bestand. Das erscheint vielleicht wenig, ist aber mehr an Information, als zu vielen anderen Schulbibliotheken zu finden ist.

  • Das Rosa Luxemburg Gymnasium hat seiner Schulbibliothek eine eigene Homepage kreiert, nachdem die Bibliothek erst im letzten Jahr neu angekündigt wurde.13 Die Homepage umfasst neben den Angaben zur Schulbibliothek selber auch Hinweise zu Veranstaltungen und zum Team der Einrichtung.

  • Während einige Schulbibliotheken geschlossen werden, bauen andere ihre Infrastruktur so weit aus, dass sie eigene Online-Kataloge schaffen. Stellvertretend steht dafür die Grundschule an Bäke.14 Solche OPACs stellen selbstverständlich auch eine Verpflichtung dar, die Bibliothek längerfristig zu betreiben.

Artefakte ehemaliger Schulbibliotheken

Gleichzeitig, die ist schon mehrfach angedeutet worden, schliessen Schulbibliotheken. Manchmal hinterlassen sie für eine gewisse Zeit auch auf den Homepages – und nicht nur in den Schulen selber – Artefakte. Auch diese gehören zu einer lebendigen (aber offenbar nicht auf ein Ziel wie „Schulbibliotheken in allen Schulen“ zulaufenden) Schulbibliothekslandschaft.

  • Die Hermann Schulz Grundschule erwähnt unter der Eigendarstellung eine „Schülerbücherei (im Aufbau)“.15 Ob dieser Aufbau jemals fertig wird, ist nie abzuschätzen. Teilweise verschwinden solche Erwähnungen auch nach einigen Jahren einfach wieder.

  • Die Hauptmann von Köpenick Schule (eine Grundschule) erwähnt in ihrem schulinternen Curriculum explizit die Schliessung ihrer Bibliothek, inklusive des Schliessungsgrundes: „Schülerbibliothek wurde wegen Personalmangel eingestellt“16 Mit hoher Wahrscheinlichkeit heisst dies, dass der Bestand der geschlossenen Bibliothek noch vorhanden ist. Hinweise mit dem Verweis auf fehlendes Personal finden sich relativ oft.

  • Sehr schön ist folgende Meldung aus der Historie des Fördervereins der – nota bene! – Till Eulenspiegel Grundschule: „2008 Es werden Bücher für die geplante Schulbücherei in der SaPh angeschafft.“17 Diese Schulbibliothek scheint bislang nicht zu existieren, was heissen könnte, dass irgendwo bei einem Mitglied des Fördervereins die einst gekauften Bücher lagern könnten – oder, dass die Schulbibliothek zwar existiert, aber der Schule nicht wichtig genug ist, um auf der schuleigenen Homepage erwähnt zu werden.

 

Liste der Schulen mit und ohne Schubibliotheken in Berlin, 20105

Beiträge zur Anzahl der Schulbibliotheken in Berlin aus den letzten Jahren

 

Fussnoten

1 In Berlin sichtbar ist nur die „Schulbibliothekarische Arbeit“ in Treptow-Köpenick, die dem Schulamt untersteht, und die Unterstützung der Stadtbibliothek Spandau für einige Schulen in diesem Bezirk.

2 Dabei gibt es immer eine Differenz zwischen der Anzahl der Schulen im Schulverzeichnis und der Anzahl der Schulen, die in der amtlichen Schulstatistik erwähnt werden. Wieso, ist unklar.

3 Wolf, Sabine ; Schuldt, Karsten (2011): Praxisbuch Schulbibliotheken. Schwalbach/Ts. : Wochenschau (inhaltsgleich mit dies. (2013): Schwalbach/Ts. : Debus Pädagogik); Holderried, Angelika ; Lücke, Birgit (Hrsg.) (2012): Handbuch Schulbibliothek : Planung – Betrieb – Nutzung. Schwalbach/Ts. : Debus Pädagogik; Kirmse, Renate (2013): Schulbibliothek (Reihe Praxiswissen). Berlin : De Gruyter Saur. Hinzu kommt: Schlamp, Günther K. (2013): Die Schulbibliothek im Zentrum: Erfahrungen, Berichte, Visionen. Berlin : BibSpider, das allerdings nicht den Anspruch einer Praxishilfe erhebt, sondern als Erfahrungsberichts und Argumentation für einen nicht-bibliothekarischen Blick verstanden werden will.

4 Doderer, Klaus et al. (1970): Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung ; Ergebnisse einer Teamarbeit des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main (1970) (Schriften zur Buchmarktforschung, 19). Hamburg : Verlag für Buchmarktforschung.

5 Erhoben wurde dies in allen vom Senat für das deutsche Schulwesen zugelassenen Schulen der Primar- und Sekundarstufen, was sowohl staatliche Schulen als auch private Ersatzschulen einschliesst, aber sowohl Ergänzungs- und Berufsschulen als auch ausländische Schulen (ausser denen, die auch deutsche Abschlüsse anbieten) ausschliesst.

6 Für die genauen Zahlen sei auf die Beiträge aus den anderen Jahren verwiesen, die im Anhang dieses Beitrags verlinkt sind.

7 Festzustellen ist allerdings, dass die Schulen in Berlin diese Schulprogramme heute weniger als früher auf ihren Homepages publizieren. Wurden diese in den letzten Jahren relativ oft verlinkt und konnten als Quelle für die Ausstattung der Schulen genutzt werden, sind sie heute oft verschwunden, teilweise mit dem Hinweis, dass sie überarbeitet würden.

8 Wobei diese Aussage als Hinweise auf eine mögliche Entwicklung zu betrachten ist. Entgegen steht dem zum Beispiel, dass in den rund zehn Freien Waldorfschulen in Berlin kontinuierlich nur zwei bis drei Schulen (insgesamt über die Jahre sind es auch nur drei der zehn) Schulbibliotheken ausweisen, obwohl die Schülerinnen und Schüler in diesen Schulen bekanntlich aus relativ hohen Sozialschichten stammen. Ebenso vermitteln die Privatschulen ein uneinheitliches Bild. Auch hier sind vor allem Kinder und Jugendliche aus hohen Sozialschichten zu finden und einige der Einrichtungen weisen relativ kontinuierlich Schulbibliotheken aus, aber bei Weitem nicht alle und auch nicht alle grossen. Man kann also nicht hohe Sozialschicht direkt mit der Möglichkeit der Nutzung einer Schulbibliothek gleichsetzen, zumal gerade in Grundschulen, die darauf hinweisen, sich in sozialen Brennpunkten zu befinden, Schulbibliotheken existieren.

9 Was noch nichts darüber sagt, wie diese Räume jetzt genutzt werden, ob dort zum Beispiel noch immer die alten Bestände stehen, die bei einer Neueröffnung durchgesehen werden müssten oder ob die Räume vollständig umgestaltet und die Bestände entsorgt oder in einen Keller verschoben wurden.

11 Zumal dies immer auch ein Fehler bei der Aufnahme darstellen könnte.