Der Schweizer Bibliotheksdienst gab 1973 die Broschüre „Planung von Schulbibliotheken“ heraus, die zuletzt hier besprochen wurde (Link). Diese Broschüre folgte in grossen Teilen den bundesrepublikanischen Diskussionen um Schulbibliotheken, allerdings in einer sehr schweizerischen Version. 1988 folgte, ebenfalls vom Schweizer Bibliotheksdienst verlegt, die Broschüre „Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare“. (Müller, 1988) [1] Der Autor dieser Publikation – oder ein Namensvetter, was trotz des relativ unauffälligem Namens Hans A. Müller, nicht wahrscheinlich ist – hat in den 1970er Jahren schon im Kanton Luzern mindestens zwei Publikationen zu Schulbibliotheken vorgelegt. Im Jahr 1988 unternahm er, einen Text vorzulegen, der offenbar Schulen davon überzeugen soll, einerseits moderne Schulbibliotheken – modern im Kontext der späten 1980er Jahre – einzurichten und diese andererseits von bibliothekarischem Fachpersonal betreuen zu lassen.
Aufbau der Broschüre
Die reich bebilderte, 50-seitige Broschüre in einem Sonderformat (im Hochformat bedruckte Seiten, die etwas kleiner als A6 sind und immer, ausser bei Deck- und Endblatt, als Doppelseite layoutet wurden) machen offenbar Werbung für Schulbibliotheken, die bibliothekarisch ausgerichtet arbeiten. 24 Themen werden jeweils auf einer Doppelseite behandelt, wobei mindestens zehn dieser Themen explizit bibliothekarische Inhalte darstellen (Siehe weiter unten, “Bibliothekarische Anleitungen”), während sich zur pädagogischen Nutzung nur einige wenige Sätze finden. (Siehe Weiter unten, “Pädagogische”) Dafür ist die gesamte Broschüre geprägt von Abgrenzungen zu anderen Einrichtungen und Forderungen nach bestimmten Kriterien für Schulbibliotheken. (Siehe weiter unten, “Forderungen und Abgrenzungen”) Ersichtlich ist, dass diese Kriterien als Voraussetzung für gute Schulbibliotheken angesehen werden, allerdings wird dies weder explizit benannt noch werden sie nachvollziehbar begründet. Relativ offensichtlich ist aber, dass die Broschüre auch als Werbung für die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes genutzt wurde. (Siehe weiter unten, “Werbung für den Schweizerischen Bibliotheksdienst”)
Auffällig an der Broschüre ist die intensive Nutzung von graphischen Elementen, vor allem, aber nicht nur, Bildern. Diese sind offensichtlich explizit für dies Broschüre erstellt, so wie sich in der gesamten Gestaltung eine durchdachte Planung zeigt. [2] Mehrfach werden Bilder, die ungestellt wirken sollen, dafür genutzt, Fakten darzustellen, beispielsweise auf Seite 30-31 und 32-33, wo Hinweise zur Möblierung direkt in zwei Bilder hineingeschrieben sind. Gerade im Vergleich zur Broschüre 1973 (Schweizer Bibliotheksdienst, 1973) – aber auch zu den “Lehrbriefen Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), die drei Jahre zuvor in der BRD erschienen – wird deutlich, dass für diese Publikation explizit eine professionelle Gestaltung stattfand. Dafür ist der Text selber relativ knapp und direkt gehalten.
Forderungen und Abgrenzungen
Broschüren wie diese stellen immer wieder mehr oder minder direkte Forderungen dazu auf, wie eine Schulbibliothek auszusehen hätte. Gleichzeitig grenzen sie sich von anderen Einrichtungen ab. Interessant ist, von was sich in dieser explizit abgegrenzt wird: Nicht etwa von Schulen ohne Schulbibliothek, kaum von Schulen mit Schulbibliotheken, welche nicht den Forderungen der Broschüre entsprechen oder von in der Schweiz zumindest heute verbreiteten kombinierten Schul- und Gemeindebibliotheken, die ausserhalb der Schulen angesiedelt sind; sondern vor allem gegen Klassenbibliotheken, also kleinen Beständen, die in einzelnen Schulzimmern unterhalten werden. Dies wird mehrfach thematisiert, zum Beispiel:
“Sie [die Schulbibliothek, KS.] ersetzt die Klassenbibliotheken
Das zu dürftige Bücherangebot herkömmlicher Klassenbibliotheken, das sich zudem oft in schlechtem Zustand befindet, vermag weder die Schüler zum Lesen zu motivieren, noch bietet es die Möglichkeit, Literatur in Schulalltag und Lernprozess einzubauen.” (S. 2)
“Alle Druckschriften und audiovisuellen Informationsträger der Schule stehen in der Bibliothek Schülern und Lehrern übersichtlich, erschlossen und leicht zugänglich zur Verfügung. Lehrer-, Stufen-, Abteilungs- und Fachbibliotheken erübrigen sind.” (S. 3)
Diese Abgrenzung vermittelt zumindest den Eindruck, als sei in den späten 1980er Jahren die Praxis der Klassenbibliotheken in der Schweiz verbreitet gewesen. (Andere Dokumente aus den 1970er und 1980er Jahren thematisieren auch Klassenbibliotheken, in den Texten aus Deutschland wird sich aber eher gegen Schulen abgegrenzt, die zu unprofessionelle Schulbibliotheken unterhalten würden.) Wenn dem so gewesen ist, hätte man auch fragen können, ob dies dann nicht für die Schulen am sinnvollsten erscheint – sonst würden sie die Klassenbibliotheken ja nicht führen. Insbesondere dessen, dass die anderen aufgezählten Möglichkeiten, gegen die sich abgegrenzt hätte werden können, gar nicht erwähnt werden, erscheint dies aber eher eine Zuschreibung darzustellen: Klassenbibliotheken werden als unmodern angesehen, eine organisierte Schulbibliothek für die gesamte Schule als modern. Begründet wird dies, wie auch andere Aussagen, nicht.
Eine andere Abgrenzung ist ebenso erstaunlich: Es wird explizit eine Freihandbibliothek gefordert, also eine Einrichtung, in welcher der Bestand für die Schülerinnen und Schüler frei zugänglich ist. Dies wird tatsächlich einmal begründet und zwar mit dem Hinweise, dass Lernende das, was sie selber auswählen, auch wirklich lesen und lernen würden. (S. 3-4) Erstaunlich daran ist, dass Freihandbibliotheken zumindest bei den Öffentlichen Bibliotheken in den 1980er Jahren Normalität waren. Offenbar herrschte der Eindruck vor, das dies in den Schulen nicht der Fall wäre.
Ansonsten wird sehr klar die Forderung erhoben, dass Schulbibliotheken sich wie Öffentliche Bibliotheken organisieren sollten. Es werden explizit Hinweise gemacht auf die auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz genutzten “Arbeitstechnik für Schul- und Gemeindebibliothek”, auf die Dezimalklassifikation, wie sie in den Öffentlichen Bibliotheken genutzt wird, sowie auf bibliothekarische Hilfsmittel und Techniken. Teilweise wird sogar in diese Techniken eingeführt. Nur wenig unterscheidet sich in der Broschüre die Schulbibliothek von einer Gemeindebibliothek; einzig das in einigen Punkten explizit Lehrende und Lernende genannt werden und das eine andere Aufteilung des Bestandes vorgeschlagen wird (50% Belletristik: 10% Bilderbücher, 10% Kinderbücher, 30% Jugendbücher; 50% Sachbücher: 5% Nachschlagewerke, 10% Kinderbücher, 35% Jugendbücher, S. 11), scheint diese beiden Einrichtungen zu unterscheiden. Dies wirft allerdings die Frage auf, was das Besondere an Schulbibliotheken wäre, die in dieser Broschüre allerdings nicht behandelt wird.
Bibliothekarische Anleitungen
Auffällig zahlreich sind die Abschnitte, die sich mit bibliothekarischen Themen beschäftigen. Explizit sind dies die Folgenden:
- “Die Bibliothek ist eine Freihandbibliothek”, S. 4-5
- “Bücher für alle über alles”, S. 6-7 [inklusive Erneuerungsquote und Unterteilung in Präsenz- und Ausleihbestand]
- “Der Bibliothekar wählt die Bücher aus”, S. 8-9
- “So werden die Bücher eingeteilt”, S. 10-11
- “Bibliotheksbücher tragen Erkennungsmerkmale”, S. 12-13 [Signaturen und Farbzeichen für Signaturen]
- “Die Dezimalklassifikation (DK)”, S. 14-15
- “So werden audiovisuelle Medien präsentiert”, S. 18-19
- “Kataloge geben Auskunft”, S. 22-23
- “So sehen Katalogkarten aus”, S. 24-25
- “Die Ausleihkontrolle”, S. 26-27 [Beschreibung von Ticketsystem, Buchtaschen, Buchkarte, Fristblatt und Fristenstempel]
Dabei wird zum Beispiel kurz die Erstellung von Katalogkarten und die Handhabung von Buchkarten geschildert, so wie man es von einer Ausbildungsbroschüre für den bibliothekarischen Unterricht erwarten würde. Die Auswahl der Medien wird explizit dem “Bibliothekar” als Aufgabe zugeschrieben – nicht Lehrenden oder Lernenden – und dabei auf Hilfsmittel verwiesen, die so auch in Öffentlichen Bibliotheken verwendet werden können (Listen des Schweizer Bibliotheksdienstes, des Buchhandels, Besprechungsdienste des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur und von Kommissionen, die in kantonalen Schulblättern veröffentlicht würden), die vorgeschlagenen Farben für Signaturen finden sich auch in Öffentlichen Bibliotheken der Schweiz wieder (Kinder: gelb, Jugend: hellrot, Erwachsene: hellblau, Französisch: grün, Italienisch: braun, Englisch: grau, Andere: weiss) und so weiter.
Immerhin vier Seiten (S. 16-19) beschäftigen sind mit “modernen Entwicklungen auf dem Gebiet der audiovisuellen Kommunikation” (S. 16), wie Tonfilme, Dias und Diaprojektoren, Kassettenabspielgeräte, Videorekorder; wobei diese selbstverständlich heute nicht mehr neu sind. Der Tenor ist recht einfach: Alle neuen Medien – genauer alle Medien, auch Spiele, Karten, Zeitungen und Zeitschriften – gehören in die Schulbibliothek und müssen dort auch benutzt werden. Dies ist relevant, weil auch heute gerne beklagt wird, dass Schulbibliotheken sich oft auf Bücher und gedruckte Medien konzentrieren würden. Offenbar ist der Diskurs dazu schon älter, zumindest ähneln sich die Argumente: Neue Medien würden ermöglichen, dass Lernende mit unterschiedlichen Lerntypen die jeweils für sie geeigneten Lernwege einschlagen könnten. Dies klingt sehr nach “individualisiertem Lernen”, nur dass es 1988 geäussert wurde, nicht erst in den letzten Jahren. [3]
Kurzum: Laut dieser Broschüre ist die Schulbibliothek eine kleinere Öffentliche Bibliothek, keine besondere Einrichtung.
Pädagogisches
Während bibliothekarische Themen über die gesamte Broschüre verteilt besprochen werden, finden sich Aussagen zur pädagogischen Nutzung fast nur am Rande und in Nebensätzen. Ganz offensichtlich wird davon ausgegangen, dass Schulbibliotheken zwar von Lehrenden und Lernenden genutzt werden, aber das es nicht notwendig wäre, dazu längere Ausführungen zu präsentieren. Das Lehrerinnen und Lehrer die Schulbibliothek führen könnten oder das Wege gesucht werden könnten, die Bibliothek direkt mit der jeweiligen Schulgemeinschaft zu verbinden, scheint für den Autor kein Thema gewesen zu sein. [4]
In einem Nebensatz wird von einem – nicht näher ausgeführten – “verantwortungsvollen pädagogischen Auftrag” (S. 36) gesprochen; kurz wird, wie schon dargestellt, erwähnt, dass unterschiedliche Medien gut für unterschiedliche Lerntypen seien. Zudem gibt es eine kurze Aufzählung von möglichen Nutzungen der Bibliothek durch Lernende:
“Im Informationszentrum findet der Lehrer optimale Voraussetzungen, um seine Schüler in den verschiedenen Fächern mit abwechslungsreichen und sinnvollen Aufgaben zu beschäftigen, sei es in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit. Für breit angelegte Projektunternehmungen steht umfangreiches Forschungs- und Anschauungsmaterial zur Verfügung.
Einzelaufträge
Lieblingsbücher vorstellen […]
Werbung für ein Buch […]
Leserwünsche […]
Gruppenarbeit
Sie können folgendermassen organisiert werden:
Ein umfassendes Thema wird als Klassenthema gewählt.
Die Gruppen tragen die verschiedenen Informations- und Anschauungsmittel zum Thema zusammen […]
Verarbeitung der Informationen.
Vortrag der Forschungsergebnisse vor der Klasse […]
Die Ergebnisse werden möglicherweise zu einem schriftlichen Bericht verarbeitet.” (S. 40)
Einerseits klingen die Vorschläge dazu, wie Schulbibliothek prinzipiell genutzt werden sollten, heute nicht viel anders. Andererseits sind die Angaben recht allgemein gehalten und auch erstaunlich: In der Broschüre wird nämlich nicht darauf eingegangen, wie der Bestand so aufgebaut werden kann, dass er sich für diese Übungen eignet, es wird offenbar einfach davon ausgegangen, das eine ausreichend grosse Anzahl von Medien genügend Material beinhalten würde.
Trotzdem sind die Hinweise aus der Broschüre nicht einfach mit den heutigen gleichzusetzen: Es zeigt sich immer wieder, dass der Schulbildung eine andere Aufgabe zugeschrieben wird, die mit den Schulbibliothek besser zu meistern wäre, als heute. Während aktuell der spätere Arbeitsmarkterfolg oder Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler im Fokus steht, ist es in der Broschüre das heute kaum noch besprochene “kritische Denken”, welches mit der Schulbibliothek gefördert werden soll:
“Die moderne Schule kehrt sich von der rein verbalen Stoffvermittlung, dem Frontalunterricht, ab. Sie wendet sich sozialen Lernformen und selbständigem, forschendem Arbeiten im Partner-, Gruppen- und Klassenverband zu; dazu bedarf sie neuzeitlicher Hilfsmittel und Einrichtungen. Unerlässlich ist eine gut eingerichtete Bibliothek im eigenen Hause: Hier kann der Schüler dazu geführt werden, Informationen selbständig zu erwerben und damit sein kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln; hier kann er lernen, sich ein Leben lang selbständig weiterzubilden.” (S. 3)
Erstaunlich ist an diesem Abschnitt vor allem, dass das gleiche – inklusive der Behauptung, dass sich die Schule jetzt gerade vom Frontalunterricht abwenden würde -, aber mit einer anderen Zielsetzung, heute auch oft geschrieben wird. Während 1988 das “weiterbilden” und die Gruppenarbeit das kritische Denken fördern sollte, wird es heute oft als Einübung von sozialen Kompetenzen beschrieben. Die Frage ist, ob sich der Diskurs geändert hat – und einfach behaupten muss, die Tools wären neu – oder ob die pädagogischen Grundsätze und Mittel wirklich neu sind und nur gleich heissen wie 1988.
Es gibt in der Broschüre einen weiteren Abschnitt, dem heute eine andere Bedeutung zugeschrieben würde, nämlich der – sehr funktional verstandenen – Informationskompetenz, während er 1988 fast schon zur Erziehung zu einer Ideologiekritik erklärt wird:
“Die audiovisuellen Medien ermöglichen dem Lehrer, seine Schüler zu richtigem Sehen und Hören zu erziehen. Er kann sie durch selbständige Bearbeitungen, wie Tonaufnahmen, Fotografieren, Schneiden, Montieren hinter die Geheimnisse der Medienfabrikanten blicken lassen.” (S. 16)
Eine ähnliche Kehrtwende scheint der Diskurs im Bezug darauf gemacht zu haben, ob die Kinder und Jugendlichen, die da in die Schulbibliothek kommen oder kommen könnten als Kundinnen und Kunden mit schon fertigen Interessen kommen, die zu erfüllen wären, oder ob ihre Identität mit von der Bibliothek mitgeprägt werden kann und sollte. Auf Seite 6 wird zum Beispiel “Brückenliteratur” (“anspruchslose Unterhaltungsschriften, auch Comics”, S. 6) als Mittel besprochen, um “Leser zu gewinnen und heranzubilden”. In der Broschüre wird es offenbar als sinnvoll angesehen, wenn die Schulbibliothek die Kinder und Jugendlichen zu Leserinnen und Lesern bildet, was auch damit einhergeht, Literatur als anspruchslos und anspruchsvoll einzuteilen und erstere offenbar nur als Übergang zu akzeptieren.
Spiralcurriculum
Ein anderer erstaunlicher Abschnitt findet sich auf Seite 38-39. Dort wird vorgeschlagen, Kinder und Jugendliche nach Jahrgangsstufe gestaffelt in die Bibliothek einzuführen, wobei Themen für die Klassenstufe 1. bis 9. vorgeschlagen werden. Dabei bauen die Themen aufeinander auf: Im ersten Schuljahr soll zum Beispiel der Ausleihvorgang durchgespielt werden, im zweiten Jahrgang sollen Bücher eingeordnet werden und so weiter. Ziel ist es, dass am Ende der Schule die Schülerinnen und Schüler “sich in der Bibliothek zurechtfinden, Nachschlagewerke zu konsultieren [in der Lage sind, KS], Informationsträger zu handhaben [wissen, KS].” (S. 38)
Oder in anderen Worten: Es wird ein Spiralcurriculum vorgeschlagen, so wie es vor einigen Jahren in Öffentlichen Bibliotheken für die Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken diskutiert und teilweise umgesetzt wurde. Dabei ist nicht erstaunlich, dass sich dieser Vorschlag in der Broschüre findet. Er ist gewiss ein naheliegender und auch nicht falscher. Interessant ist eher, dass er vor einigen Jahren in Deutschland als neues Konzept, welches lange angestaute Probleme lösen würde, angepriesen wurde. (Hachmann & Hoffmann, 2007) Dies scheint ein weiterer Fall des “Vergessens” von Bibliotheksgeschichte darzustellen: Lösungen, die offenbar schon einmal vorgeschlagen wurden, werden als neu präsentiert, ohne aus dem möglichen Scheitern einige Jahre zuvor zu lernen.
Werbung für den Schweizerischen Bibliotheksdienst
Genauso wie die Broschüre von 1973 (Schweizerischer Bibliotheksdienst, 1973) ist auch diese Broschüre durchzogen von mehr oder minder dezenten Hinweisen auf die Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes, wenn auch in dieser Broschüre weitere Einrichtungen wie das Schweizerische Jugendbuchinstitut oder das Schweizerische Jugendschriftwerk erwähnt werden. Hauptsächlich werden Angebote des Schweizerischen Bibliotheksdienstes als grundlegend notwendig für eine moderene Schulbibliothek angepriesen: Bibliotheksfertige Bücher, Besprechungslisten des Bibliotheksdienstes und vor allem Einrichtungsvorschläge, die so eigentlich nur vom Bibliotheksdienst geleistet werden konnten. Beispielsweise wird der Abschnitt zur Planung von Schulbibliotheken wie folgt eingeleitet:
“Wie man mit Vorteil vorgeht
Wer eine Bibliothek einrichten will, wird gut daran tun, sich vorbildliche Lösungen anzusehen und sich durch Bibliotheksfachleute eingehend beraten zu lassen. Nur die Planung durch bewährte Fachleute verspricht einwandfreie Resultate.” (S. 34)
Was wie ein gut gemeinter Vorschlag klingt, überspielt, dass die “bewährten Fachleute” in der Schweiz die waren, die für den Bibliotheksdienst arbeiteten. Ebenso macht die Broschüre Vorschläge zur Ausstattung (“Nur erprobtes Spezialmöbiliar, das in Form, Farbe und Ausmass aufeinander abgestimmt ist, ermöglicht, Freihandbibliotheken funktionell, qualitativ und ästhetisch einwandfrei und attraktiv einzurichten.”, S. 30), denen am einfachsten durch das Angebot des Bibliotheksdienstes gefolgt werden konnte, weil dieser nämlich genau solche Möbel verkaufte und weiterhin verkauft.
Wie auch schon 1973 reagierte diese Werbung nicht unbedingt auf eine Konkurrenzsituation – da es keine wirklich Konkurrenz für den Schweizer Bibliotheksdienst gab -, sondern scheint sich eher aus der Überzeugung hergeleitet zu haben, dass das, was der Dienst bietet, für eine professionelle Bibliothek notwendig sei und deshalb Bibliotheken dazu gebracht werden müssten, diese Angebote auch zu nutzen, um professionell zu werden.
Fazit
Zusammengefasst ist die Broschüre stark autoritativ geschrieben: Es werden vor allem Behauptungen dazu aufgestellt, wie moderne Schulbibliotheken auszusehen hätten; die nur selten begründet werden. Dabei wird kaum darauf eingegangen, wie Ende der 1980er Jahre eigentlich die Situation von Schulbibliotheken in der Schweiz tatsächlich aussah. An einer Stelle wird behauptet, es gäbe “hunderte” (S.44) Einrichtungen wie die in der Broschüre beschriebenen, gleichzeitig wird gegen Klassenbibliotheken geschrieben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es auch 1988 in der Schweiz zahlreiche Schulbibliotheken, die gemessen an den Anforderungen, die in der Broschüre aufgestellt werden, nicht als professionell gegolten hätten, obgleich sie keine Klassenbibliotheken darstellten. Auffälig ist, im Vergleich zu anderen Broschüren dieser Art, dass auf konkrete Beispiele von Schulbibliotheken in dieser Publikation vollkommen verzichtet wird.
Zudem versteht die Broschüre Schulbibliotheken vor allem als kleine Öffentliche Bibliotheken und schenkt der Besonderheit, dass sie in Schulen situiert sind, kaum Aufmerksamkeit. Pädagogische Fragen werden kaum, bibliothekarische hingegen umfangreich besprochen. Was allerdings besprochen wird, scheint in weiten Teilen relativ modern, obgleich heute zum Beispiel individualisiertes Lernen oder Gruppenarbeit als Unterrichtsmethode als relativ neu dargestellt werden, ebenso wie die Hinwendung zu neuen Medien. Gleichzeitig gibt es Unterschiede, die nicht nur mit dem technischen Fortschritt zu erklären sind, sondern mit Veränderungen im Verständnis der Aufgaben von Schulbildung.
Eine Frage, die sich trotz des Untertitels “Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare” ergibt, ist: Für wen ist die Broschüre eigentlich geschrieben? Wen sollte sie von was überzeugen? Sollte sie die Schulen überzeugen, die Angebote und Beratungen des Schweizerischen Bibliotheksdienstes anzunehmen? Sollten Sie die Behörden überzeugen, von den Schulen solche Schulbibliotheken, wie sie in der Broschüre beschrieben werden, zu fordern? Lehrerinnen und Lehrer werden mit der Broschüre kaum angesprochen, eher scheint es, als wären Behörden und Politik angesprochen, die Mittel zur Verfügung zu stellen und dann bibliothekarisch ausgebildetes Personal einzustellen (wobei die Einbindung in die pädagogische Aus- und Weiterbildung explizit gefordert wird, S. 37, und die bibliothekarische Grundausbildung in der Schweiz noch heute in einem Grundkurs, der von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für allgemeine öffentliche Bibliotheken zertifiziert ist und neu 124 Lektionen á 45 Minuten umfasst, absolviert werden kann). In anderen Teilen scheint die Broschüre aber selber in die bibliothekarische Arbeit einführen zu wollen. Wie bei anderen Texten zu Schulbibliotheken ist auch bei diesem nicht ganz klar, mit welchem Ziel und für welches Publikum dieser erstellt wurde.
Literatur
Doderer, Klaus ; Aley, Peter ; Merz, Velten ; Müller, Helmut ; Nicklas, Hans W. ; Nottebohm, Brigitte ; Schulze-Guttermann, Jutta & Siegling, Luise (1970) / Die moderne Schulbibliothek : Bestandsaufnahme und Modell ; Untersuchungen zur Situation der Schulbibliotheksverhältnisse in der Bundesrepublik und in West-Berlin ; Vorschläge zu ihrer Verbesserung. (Schriften zur Buchmarkt-Forschung; 19). Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung
Hachmann, Ute ; Hoffmann, Helga (Hrsg.) (2007). Wenn Bibliothek Bildungspartner wird… : Leseförderung mit dem Spiralcurriculum. [Ohne Ort] Expertengruppe Bibliothek und Schule im Deutschen Bibliotheksverband; Expertengruppe Kinder- und Jugendbibliotheken im Deutschen Bibliotheksverband
Müller, Hans A. (1988). Die Schulbibliothek : Eine Orientierung für Behördenmitglieder, Lehrer, Schulbibliothekare. Bern : Schweizer Bibliotheksdienst
Papendieck, Andreas (Hrsg.) (1985). Lehrbriefe Schulbibliothek. Berlin [West] : Deutsches Bibliotheksinstitut
Schweizer Bibliotheksdienst (1973). Planung von Schulbibliotheken. In: Informationsblatt der Genossenschaft Schweizer Bibliotheksdienst (Oktober 1973) 3
Fussnoten
[1] Erstaunlicherweise erschien “Planung von Schulbibliotheken” genau drei Jahre nach “Die moderne Schulbibliothek” von Doderer et al. (1970) – dem ersten grossen Überblick zu Schulbibliotheken in der BRD -, und “Die Schulbibliothek” genau drei Jahre nach “Lehrbriefe Schulbibliothek” (Papendieck, 1985), einem weiteren grossen Publikationsprojekt für Schulbibliotheken in Deutschland. Vielleicht ist dies Zufall, aber die drei-jährige Spanne ist erstaunlich – wobei die schweizerischen Publikationen niemals die deutschen direkt abschreiben, sondern jeweils eigenständige Publikationen darstellen.
[2] Verantwortlich zeichnet laut Impressum François G. Baer (Gestaltung), Rosi Troxler (Photos) und Max Kräuchi (Planzeichnung).
[3] Eventuell ist also die Konzentration auf gedruckte Medien in Schulbibliotheken, wenn sie überhaupt wirklich so vorkommt, wie behauptet wird, dann auch nicht Ausdruck einer Rückwärtsgewandtheit, sondern Ergebnis von gescheiterten Versuchen, andere Medien zu nutzen – und damit sinnvoll.
[4] Genauer: Es wird explizit gefordert, dass eine “Schulbibliothekarin oder Schulbibliothekar angemessen zu besolden; ihre Arbeit mindestens dem Erteilen von Werkunterricht gleichzustellen [sei, KS]” (S. 36).