Wenn Zahlen geliefert werden müssen, kann man dann nicht neue Metriken erfinden?

In den letzten Wochen, und zuletzt beim 2. Bibliothekspädagogischen Forum in Hamburg Ende Januar, sind mir wieder einmal relativ viele Fälle untergekommen, in denen Kolleginnen und Kollegen aus Bibliotheken ungefähr wie folgt argumentierten: Es wäre sinnvoll, XYZ zu machen / mehr von XYZ zu machen, aber wir müssen Zahlen liefern; die sind mit XYZ nicht zu bringen. Das ist keine irrelevante Argumentation. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass alle Metriken, an denen sich Bibliotheken, mehr oder minder gezwungen, orientieren, einen vereinheitlichen Effekt haben. Sie sind keine einfachen Zahlen, sondern sie bestimmen, was Bibliotheken machen können oder nicht machen können. Das ist keine neue Erkenntnis, aber gerade auf dem Forum schien es wieder einmal, als würde sich die Unzufriedenheit mit der Situation steigern. Das Thema klang in unterschiedlichen Zusammenhängen und Workshops durch; Wünsche, etwas zu ändern – beispielsweise Lernberatung zu machen – oder für Dinge, die schon getan werden, anerkannt zu werden – also auch in den Zahlen widergespiegelt zu sehen –, waren häufig.

Die Metriken repräsentieren was?

Dabei sind diese Metriken selbstverständlich nicht einfach aus dem Nichts geschaffen worden. Alle Metriken, denen Bibliotheken – und andere Einrichtungen, beispielsweise Museen – ausgesetzt sind, haben einen Grundgedanken: Über das Erfassen bestimmter Zahlen und Werte sollen die Bibliotheken Leistungen anzeigen, gesteuert werden oder sich selber besser steuern können. Die Zahlen sollen also immer etwas anderes ausdrücken, oft sollen sie eine gewisse Leistung oder Qualität repräsentieren. Eigentlich werden sie also nicht als Selbstzweck erhoben, sondern es steht zum Beispiel die Vorstellung dahinter, dass eine hohe Ausleihzahl eine qualitätsvoll arbeitende Bibliothek repräsentieren würde. Damit sie erhoben werden können, müssen sie so oder so im Vorfeld definiert und normiert werden (Was zählt als Ausleihe? Wie sind Verlängerungen zu zählen? und so weiter). Dieser Akt der Definition ist ein Ort, wo sich das Denken über Bibliotheken niederschlägt. An sich ist das auch bekannt: So geht man in Bibliotheken davon aus, dass die Bedeutung des Raumes, der kommunikativen Funktion, der Veranstaltungen und Lernunterstützung zunehmen wird und die Bedeutung der Medien selber abnehmen wird; die Zahlen, die durch die Vorgaben von Verwaltungen erhoben werden müssen gehen aber bislang weiter davon aus, dass die Hauptaufgabe von Bibliotheken in der Medienausleihe liegt und beispielsweise in Öffentlichen Bibliotheken oft nur durch Veranstaltungen zur Leseförderung oder Bibliothekseinführungen flankiert werden dürfen. Nicht mehr. Das ist so einer der Fälle, wo klar wird, dass die Metriken, nach denen sich viele Bibliotheken richten müssen, mit der Realität und vor allem der Weiterentwicklung von Bibliotheksarbeit nicht übereinstimmen.

Wie gesagt: Das trifft nicht nur Bibliotheken, dass trifft auch andere Einrichtungen. Jugendarbeit, Museen, Schulen, Kindergärten, Seniorinnen- und Seniorentreffs, soziale Arbeit, Krankenpflege und viele mehr klagen immer wieder über die normierenden und realitätsfremden Vorgaben durch Metriken, also den „Zahlen, die zu bringen sind“. In der Jugendarbeit oder der sozialen Arbeit, wo es ja immer auf die Arbeit mit sehr speziellen Menschen, an speziellen Aufgaben und individuellen Problemstellungen geht, die fast immer auch individuelle Lösungen oder Angebote benötigen, wo aber trotzdem in möglichst einfachen Metriken abgerechnet werden soll, ist das noch auffälliger. Bei Bibliotheken kann man sich immerhin leichter vorstellen, dass eine Lösung wirklich für viele gleich gut ist.

Versprechen der Metriken

Dabei sind diese Metriken und ihre heutige Verwendung auch als Fortschritt verstanden worden. Sie sollten nicht nur die Steuerung von Einrichtungen vereinfachen, sondern auch die Einrichtungen selber autonomer machen. Statt klaren, unveränderlichen Vorgaben, die den Kolleginnen und Kollegen in den unterschiedlichen Einrichtungen von oben – von Amts wegen – möglichst alles vorgaben (egal, ob aus der Überzeugung, dass nur die autoritäre Führung berechtigt wäre, Entscheidungen zu treffen oder ob aus der Überzeugung, mit einem aufgeklärten, planerischem Blick von oben bessere Entscheidungen treffen zu können und so zum Beispiel Einheitlichkeit von Angeboten herzustellen), sollten die Einrichtungen allesamt eine grössere Autonomie erhalten. Sie sollten bestimmte Werte erreichen, diese Werte sollten Qualität ausdrücken, aber wie sie zu den jeweiligen Werten kamen, also welche Wege sie wählten, um diese Qualität zu erreichen, blieb ihnen mehr und mehr überlassen. Namen für diese Form der Steuerung über Zahlen gibt es einige. In der Bildungforschung spricht man von „neuer Steuerung“, in der Soziologie haben das Luc Boltanski und Ève Chiapello als „Neuer Geist des Kapitalismus“ beschrieben. Sicherlich hat die BWL dafür auch noch einen Begriff.

Grundsätzlich geht das Denken aber dahin, dass (a) Qualität der Arbeit einer Institution gemessen werden kann, (b) dass diese Messung quantitativ – also über Zahlen – zu erfassen ist, wobei (c) diese Zahlen immer mehr ausdrücken sollen, als sich selber – Ausleihzahlen sollen so auf die Qualität der bibliothekarischen Arbeit verweisen und sich nicht nur Ausleihen darstellen – und (d) oft auch, dass über diese Zahlen Einrichtungen zu steuern wären, beispielsweise Vorgaben dazu gemacht werden könnten, dass die Qualität in bestimmten Bereichen erhöht werden muss.

Kritik

Gleichzeitig gibt es immer Kritik an diesen Zahlen. Wie lange schon und wie stark, kann ich nicht sagen. Ich habe das Gefühl, dass die Kritik im Bibliotheksbereich mal wieder wächst, aber das kann ein subjektiver Eindruck sein.

Die Kritik besagt zum Beispiel:

  • Das die zu erhebenden Zahlen falsch sind, also das gerade solche Werte nachgewiesen werden müssen, die nicht wirklich Qualität darstellen. Damit erscheinen die Metriken als nicht passend, was immerhin leicht geändert werden könnte.

  • Das bestimmte Dinge nicht über Zahlen zu erheben sind oder aber, dass die zu erhebenden Zahlen – beispielsweise um die Nutzung des Raumes Bibliothek zu bestimmen – nicht erhoben werden können, weil dies zu schwierig ist. Gerne wird dann gefordert, qualitative Elemente einzufügen, zum Beispiel die Aussagen von Nutzerinnen und Nutzer über ihre Nutzung der Bibliothek oder anekdotesches Wissen der Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in die Qualitätsmessung mit hineinzunehmen; aber dieser Vorschlag – wie gut er auch jeweils begründet ist – unterläuft auch immer die Grundidee der Metriken. Die sollen ja gerade in wenigen Zahlen Qualität darstellen.

  • Das die zu erhebenden Zahlen veraltet sind, also beispielsweise bestimmte Tätigkeiten oder Funktionen überhaupt nicht beachten, weil die früher nicht wichtig waren. Zum Beispiel wenn ersichtlich wird, dass das neue Bibliothekscafe eine immer wichtigere Rolle für die Nutzerinnen und Nutzer einnimmt einer Bibliothek einnimt, aber in den Zahlen noch nicht mal nach der Auslastung des Cafes oder nur nach der Kostendeckung gefragt wird.

  • Das die zu erhebenden Zahlen viel zu eng gefasst sind. Eigentlich sollen solche Zahlen ja ermöglichen, dass die einzelnen Einrichtungen eigene Wege gehen können, sich den lokalen Gegebenheiten und Möglichkeiten anzupassen, nur halt am Ende die gleichen Werte liefern müssen. Das zu erreichende Ergebnis wird vorgegeben, nicht der Weg dahin. Wenn aber die Zahlen zu zahlreich sind, die vorhandenen Mittel zu sehr eingeschränkt, die Zahlen zu direkt auf bestimmte Angebote et cetera zugeschnitten, dann gibt es auch die Autonomie der einzelnen Einrichtungen nicht. Wenn zum Beispiel klar definiert ist, dass Führungen von Schulklassen je als eine Stunde Arbeitszeit abzurechnen ist, ist es schwer möglich, andere Formen der Arbeit mit Schulen als einstündige Klassenführungen anzubieten, auch wenn sie lokal sinnvoll sein (oder auch einfach mal Abwechslung bringen) könnten.

  • Das die zu erhebenden Zahlen auf einem falschen, eingeschränkten, veralteten Bild der Bibliotheksarbeit (oder der anderen Einrichtungen wie Museen, Jugendarbeit und so weiter) beruhen oder aber Ziele anvisieren, die nicht von den Bibliotheken geteilt werden. Wenn die Bibliothek, wie eine auf dem Bibliothekspädagogischen Forum diskutierte Definition lautete (ungefähr, nicht als Zitat), eine Bibliothekspädagogik für die Förderung der demokratischen Gesellschaft anstrebt, aber die Zahlen, „die zu bringen sind“, davon ausgehen, dass die Bibliothek vor allem das Lesen lernen unterstützt und deshalb nach Anzahl und Erfolg von Vorlesestunden und Schulklassenführungen fragt, dann verhindern die Metriken eine bestimmte bibliothekarische Arbeit oder erzwingen eine Arbeit, die vielleicht von immer weniger Personen als wichtig angesehen wird. (Beziehungsweise als nicht so wichtig, wie sie durch die Zahlen gemacht wird. Es hat ja niemand per se etwas gegen Leseförderung.)

Es gibt noch mehr Kritiken, die sich teilweise auf spezifische Probleme – insbesondere die Frage, wie bestimmte Dinge abgerechnet werden – bezieht, teilweise strukturell ist und die Grundidee – das alles irgendwie messbar ist und das es gut ist, wenn Einrichtungen über die Definition und das „Erbringen“ von Zahlen gesteuert werden – hinterfragen. Aber gehen wir der Einfach halt halber einmal davon aus, dass wir, und wenn es strategisch ist, die Realität von Metriken akzeptieren. Es gibt sie, es wird sie noch eine Weile oder auch immer geben.

Doch wenn die Kritik an den Metriken wächst (vielleicht), wenn das Gefühl vorhanden ist, dass die vorhandenen Metriken eine sinnvolle bibliothekarische Arbeit – und wenn es nur in bestimmten Bereichen ist – verhindert, was soll man dann tun? Aufgeben und einfach das tun, was durch die Metriken mehr oder minder vorgegeben ist? Einfach weiter in Veranstaltungen wie dem Bibliothekspädagogischen Forum gemeinsam diskutieren, was möglich wäre und sich beschweren, dass es in der Realität doch nicht möglich ist? Wohl kaum.

Eine einfache, aber schwere Lösung

Eigentlich ist es ganz einfach aber auch schwer: Wenn die Metriken nicht stimmen, müssen die Metriken geändert werden. Und zwar so, dass sie besser werden, am besten auf alle Kritiken eingehen. Wie gesagt, das klingt wie eine einfache Lösung; aber selbstverständlich ist sie nicht so einfach:

  • Wer kann überhaupt die Metriken ändern? Sicherlich die, die sie vorgeben, also vor allem die Kommunen und Verwaltungen. Aber können die Bibliotheken alleine etwas tun? Ja. Ich denke ich schon. Sicherlich können die Bibliotheken den Kommunen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, aber sie können einen Gegendiskurs erzeugen. Das ist das, was politische Gruppen ständig tun und ja, es ist Politik. Man muss Positionen beziehen. Aber Bibliotheken können, wie andere Einrichtungen auch, daran arbeiten, die Metriken im Kleinen und im Grossen zu verändern. Klein wäre zum Beispiel, die eigene Verwaltung davon zu überzeugen, dass ein bestimmtes neues Angebot auch in die Metrik mit aufgenommen werden muss. (Zum Beispiel das oben erwähnte Bibliothekscafé und seine Nutzung durch bestimmte Gruppen.) Wenn das an einer Stelle durchgesetzt ist, kann man von anderen Bibliotheken darauf verweisen und versuchen, andere Verwaltungen auch davon zu überzeugen. Je näher ein Angebot an der traditionellen Bibliothek ist, umso einfacher wird das bestimmt sein: E-Books wurden ja zum Beispiel recht schnell in die aktuellen Metriken aufgenommen, allerdings auch sehr angelehnt an die Metriken für andere Medien (was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass E-Books in Öffentlichen Bibliotheken als Einzelstücke „verliehen“ werden und viele Bibliotheken, trotz anderslautender Kritik, damit einverstanden sind). Viele Bibliotheken haben durchgesetzt, dass unterschiedlichen Veranstaltungsformen, die nicht zur Leseförderung und Literaturvermittlung dienen, in bestimmter Menge in die Metriken aufgenommen werden. Das Problem scheint eher, dass sich Bibliotheken über solche Erfolge wenig gegenseitig informieren und sich auch kaum gegenseitig beistehen. Aber grössere Änderungen in den Metriken, die radikalere Schnitte bedeuten, sind dann möglich, wenn Bibliotheken darin übereinkommen, was genau sie eigentlich in den Metriken haben wollen, wie die aussehen sollen und das dann gemeinsam – zum Beispiel als Verbände oder in anderen Gruppen – und längerfristig einfordern. Gut wäre wohl, solche Metriken auch schon zur Hand zu haben, wenn man sie fordert. Man darf nicht erwarten, dass solche Gegendiskurse, die von Bibliotheken erzeugt werden, sofort Erfolge zeitigen. Oft laufen unterschiedliche Metriken nebenher. Aber mit der Zeit, insbesondere wenn man sich regelmässig auf „die eigenen Metriken“ bezieht, wird es einfacher die Öffentlichkeit und dann auch die Verwaltungen et cetera zu überzeugen, dass bestimmte Zahlen, Werte und so weiter wichtig sind. Teilweise scheint einfach die Übereinkunft zu fehlen, dass die Metriken, also die Zahlen, „die zu bringen sind“, nicht einfach nur die bibliothekarische Arbeit behindern, sondern auch geändert werden müssen – und das es eher Aufgabe der Bibliotheken ist, die gewünschten Änderungen zu konkretisieren und einzufordern, als darauf zu hoffen, dass es wer anders tut.

  • Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie man verhindern will, dass die Metriken mit der Zeit wieder die gleichen Probleme aufwerfen, wie die jetzt existierenden. Wenn die Kritik stimmt, dass die Metriken auf veralteten Vorstellungen von Bibliotheksarbeit beruhen und man also neue Metriken, auf der Basis neuer Vorstellungen von Bibliotheksarbeit verfasst und durchsetzt, ist dann nicht vorherzusehen, dass diese Metriken in ein paar Jahren selber veraltet sind? Kann man Metriken ständig ändern (und wenn ja, wie)? Läuft das nicht dem Sinn dieser Systeme zuwider? Oder wenn die Kritik stimmt, dass die vorhandenen Metriken bestimmte Arbeiten erzwingen, weil sie abgerechnet werden können, und andere Arbeiten unmöglich machen, weil sie nicht abgerechnet werden können, wie verhindert man, dass neue Metriken letztlich genau das Gleiche tun, nur für andere Arbeiten; dass sie also nicht bestimmte Dinge erzwingen und andere verunmöglichen? (Einfacher ist es, wenn man per se kein Problem damit hat, durch Metriken bestimmte Dinge zu ermöglichen und andere zu verunmöglichen und sich nur die Frage stellt, welche das jeweils sein sollen. Aber selbst das wäre eine explizite Entscheidung, die man erst einmal treffen muss, am Besten mit Begründungen und Mitbestimmungsmöglichkeiten.)

  • Es stellt sich auch die Frage, wie man die beiden Kritiken, dass Metriken immer Dinge übersehen, die sich halt nicht mit Zahlen messen lassen würden und dass Metriken immer nur dann Autonomie ermöglichen, wenn es auch genügend Mittel und Freiräume für unterschiedliche Wege zum Erreichen der geforderten Zahlen gibt, reagieren können. Kann man in Metriken überhaupt Spielräume für Dinge einbauen, die nicht zu messen sein sollen? Welche sind das? Wie geht man mit denen um? Und wie verhindert man, dass Metriken irgendwann dazu genutzt werden, die möglichst geringsten Kosten zu errechnen, die notwendig sind, um diese Zahlen zu erreichen und dann nur noch die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden?

Man muss halt anfangen, dass Problem als bibliothekspolitisches Problem zu behandeln

Ich habe wenig Antworten auf diese Fragen. (Genauer, ich tendiere eher zu einer systematischen Kritik solcher Metriken, auch weil es schon so viele gescheiterte Beispiele von Planungsphantasien und Steuerungsversuchen durch Metriken gegeben hat. Vielleicht ist einfach grundsätzlich etwas falsch. Aber solche Kritik habe ich ja vorhin um des Argumentes willen einmal beiseite gelassen.) Ich bin vor allem verwundert, warum dieses Thema so wenig im Bibliothekswesen besprochen wird. Offensichtlich ist ja, dass es eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Systemen des Abrechnens von bibliothekarischer Arbeit gibt. Eventuell muss es auch einfach mal als ein Thema gefasst werden, an dem gearbeitet werden kann oder muss. Mir fallen dazu genügend Forschungsfragen ein. (Mich würde zum Beispiel interessieren, auf welchen Wegen die Kolleginnen und Kollegen die jeweiligen Metriken „umgehen“. Das ist eine Erkenntnis aus der Bildungsforschung: Wirklich vollständig hält sich niemand an solche Vorgaben, vielmehr entwickeln gerade die erfolgreichen Einrichtungen Strategien, die Metriken mehr oder minder in ihrem Sinne „umzubiegen“.) Aber für die Bibliothekswesen selber scheint mir eher wichtig, darauf zu verweisen,

  • dass das Problem ein systematisches ist und keines, dass nur in einer Bibliothek zu finden wäre.

  • dass das Problem gemeinsam angegangen werden kann, wenn man sich darauf einigt, was genau man will und von wem, also im grossen und ganzen: mit Bibliothekspolitik.

  • Das es dafür notwendig ist, die Auswirkungen, Kritiken et cetera an den vorhandenen Metriken zusammenzutragen und darauf mit neuen Metriken und neuen Diskursen – beispielsweise dem, dass moderne Bibliothekspädagogik wichtig ist, wie das als Grundthese im Bibliothekspädagogischen Forum vertreten und dort offenbar von vielen geteilt wurde – zu reagieren.

Ist es möglich, damit Erfolg zu haben? Ich würde schon sagen, wenn auch immer in dem Rahmen, dass man das Vorhandensein von Metriken mehr oder minder akzeptiert. (Ein Grund für solche Metriken ist ja zum Beispiel, dass die Bürokratie, auch oder gerade im New Public Management, nur über solche Metriken funktioniert. Eine Verwaltung und Steuerung ohne solche Metriken würde auch eine ganz andere Verwaltung erfordern.)

Einerseits denke ich, dass die Museen in den letzten Jahren relativ erfolgreich dabei waren, neue Diskurse zu etablieren, die auch zu neuen Metriken zur Messung und Steuerung ihrer Arbeit geführt haben. Sicherlich: Einige Teile der Museen werden immer schrecklicher (insbesondere die Museumsshops, aber das ist ein anderes Thema), aber anderseits scheinen sie etabliert zu haben, dass sie langfristig wirkende Bildungseinrichtungen und Standortfaktoren darstellen. Keine Ahnung, wie die das gemacht haben und ob es ein Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung war. Aber es ist sichtbar, dass sich Diskurse um die Aufgabe von Museen und „Zahlen, die zu bringen sind“ geändert haben. Wenn es bei Museen geht, warum nicht auch bei Bibliotheken?

Anderseits haben Bibliotheken in den letzten Jahren schon einmal den Versuch gestartet, eine neue Metrik zu etablieren. Die Idee kam nicht von ihnen, auch hiess es nicht Metrik, aber letztlich ist der BIX nichts anderes, als eine solche Metrik. Der BIX versuchte auch, auf bestimmte Kritiken zu reagieren: Er sollte moderne Bibliotheken repräsentieren, er sollte aktuelle Formen der Bibliotheksarbeit darstellen und so weiter. Die Idee kam von der Bertelsmann Stiftung und das merkt man dem BIX auch an: er ist geprägt vom Denken des „New Public Management“ und marktliberalen Vorstellungen und Zielsetzungen. Auf andere Kritiken, beispielsweise dass bestimmte Dinge nicht zu messen seien, wurde in ihm gar nicht erst eingegangen. Es war auch eine eher kleine Gruppe, die den BIX ausgearbeitet hat, nicht das Bibliothekswesen in einer gemeinsamen Diskussion. Und die Probleme mit dem BIX häufen sich. (Um das zu bemerken reicht ein Besuch des Bibliothekstages. Da tauchen immer wieder Diskussionen darüber auf, was man im BIX nicht eintragen kann oder Kritiken daran, dass Einrichtungen sich mit ihren Ergebnissen falsch dargestellt fühlen; aber kaum mal ein gutes Wort.) Nicht zuletzt scheint die Verbreitung des BIX zu stagnieren, in der Schweiz ist er zum Beispiel fast gar nicht angekommen, obwohl es eigentlich keinen richtigen Grund dafür geben sollte, dass nicht auch zumindest die Bibliotheken in der deutschsprachigen Schweiz teilnehmen könnten. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass der BIX einigermassen erfolgreich darin war, einen bestimmten Gegendiskurs zu anderen Metriken aufzubauen. Es gibt Bibliotheken – die, die „gewinnen“ – welche teilweise mit Erfolg versuchen, die Angaben aus dem BIX anzuführen, wenn sie mit den eigenen Verwaltungen verhandeln. Es gibt einige Ideen, die sich mit dem BIX und dem damaligen Engagement der Bertelsmann-Stiftung in der Diskussion um Bibliotheken bemerkbar gemacht haben, beispielsweise die nach strukturierten Kooperationen mit Schulen. Es geht also. Und bestimmt nicht nur für Metriken, die sich am New Public Management orientieren, sondern auch für andere. Ob die erfolgreicher werden als der BIX hängt bestimmt auch davon ab, wie sehr die auf die Interessen der Bibliotheken reagieren, überzeugend sind und vor allem von den Bibliotheken selber als „ihre Metriken“ getragen werden. (Ich bin mir nicht sicher, dass der BIX als eine solche wahrgenommen wird.)

So oder so: Wenn es ein Problem ist, das „Zahlen gebracht werden müssen“ und wenn dieses Problem die Weiterentwicklung von Bibliotheken behindert beziehungsweise sie zu sehr auf „traditionelle“ Arbeiten festlegt, sollte es angegangen werden. Mir scheint immer wieder, dass die Klagen nicht unberechtigt sind, aber die Konsequenz nicht gezogen wird.

Nein, sorry. Die neue, grosse Zentralbibliothek ist wohl doch kein Third Place. Vielleicht etwas anderes.

In the absence of an informal public life, Americans are denied those means of relieving stress that serve other cultures so effectively. We seem not to realize that the means of relieving stress can just as easily be built into an urban environment as those features which produce stress. To our considerable misfortune, the pleasures of the city have been largely reduces to consumerism. We don’t much enjoy our cities because they’re not very enjoyable. […] Our urban environment is like an engine that runs hot because is was designed without a cooling system. (Oldenburg, 1989, p. 10)

Eine Aussage, die man aktuell recht oft hört, wenn es um den Neu- und Umbau von Bibliotheken sowie der Neuausrichtung von Bibliotheken geht, ist die, dass Bibliotheken heute Dritte Orte werden müssen, um zu überleben. Dritte Orte ‒ oder, lassen wir es englisch, Third Places ‒ sind dabei definiert als Orte, die weder privat sind (Wohnung) noch zur Arbeit (oder, bei Lernenden, zur Ausbildung) gehören. Das sind beides der Erste und der Zweite Ort. Dritte Orte dagegen sind offen, flexibel, sozial zu nutzen. Wenn Bibliotheken es schaffen, so ein Ort zu werden, werden sie erfolgreich sein. Das wird recht oft geglaubt; Bibliotheken werden deshalb umgebaut, es wird mehr Wert auf Veranstaltungen gelegt, als auf den Bestand an sich, die Möbel werden flexibel, es wird versucht, unterschiedliche Nutzungsweisen zu ermöglichen. Nutzerinnen und Nutzer würden, so offenbar die Vermutung dahinter, gerne zwischen unterschiedlichen Rollen wechseln, mal alleine lernen, dann sich unterhalten, dann spielen, dann gemeinsam lernen et cetera. Die meisten dieser Umbauten und strategischen Ausrichtungen sind oft auch wirklich nicht zum Schlechtesten der betreffenden Bibliotheken.

Aber ein paar Zweifel scheinen mir doch angebracht zu sein: Wieso eigentlich gibt es in dieser Erzählung nur drei Orte? Ist die Welt nicht komplexer? Als ob die Welt nicht auch in drei dutzende Orte eingeteilt werden könnte. Wieso müssen Bibliotheken solche Orte werden? Wie genau erreichen sie es? Das bleibt in der Erzählung oft aussen vor. Es wird behauptet, Nutzerinnen und Nutzer würden heute so leben und wenn die Bibliotheken nicht nachziehen würden, würden die Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr kommen. Wie gesagt: Gegen das, was die Bibliotheken aufgrund der Idee vom “Dritten Ort” machen, kann man oft gar nicht viel sagen. Was soll daran schon schlecht sein, wenn sie offener werden, wenn sie einen grösseren Medienmix haben, wenn sie mehr Cafés anbieten? Aber: Woher kommt eigentlich die Überzeugung, dass Nutzerinnen und Nutzer gerade das so wollen? Gibt es eine nachvollziehbare Begründung oder ist es nur ein allgemeines Bauchgefühl?

In Chur werden wir ‒ Rudolf Mumenthaler und ich ‒ nächstes Semester ein Seminar geben, in welchem wir schauen werden, ob (schweizerische) Bibliotheken wirklich die Dritten Orte sind, die sie sein wollen. In Vorbereitung darauf bin ich auf der Suche nach der Herkunft dieser Idee. Schaut man sich die Texte zu Bibliotheken und Dritter Raum an, findet sich entweder kein Hinweis darauf, woher die Idee kommt (es wird recht oft einfach behauptet, dass es so ist, weil viele es sagen ‒ was nicht gerade überzeugend ist) oder aber der Verweis, dass der US-amerikanischer Soziologe Ray Oldenburg den Begriff Third Place geprägt hätte. Dies tat er schon 1989 in einem Buch. Dieses Buch sollte doch ein guter Ausgangspunkt für die Suche nach dem Ursprung der Idee sein. Schauen wir doch mal.

Oldenburg’s Lob der europäischen Cafés

Es gibt dieses Buch, The Great Good Place: Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart of a Community. Es muss sich auch gut verkauft haben, denn obwohl es immer wieder als Begründung für das Konzept “Third Place” angeführt wird, steht es kaum (noch) in Bibliotheken. (Der Swissbib weisst für die Schweiz zwei Exemplare nach, der KVK zeigt neun Nachweise für Deutschland.) Insoweit müssen es viele bei sich daheim haben. Oder aber — es wird und wurde gar nicht so oft gelesen, wie es zitiert wird. Das wäre zwar wissenschaftlich unsauber, aber nachdem ich es selber gelesen habe, drängt sich mir der Eindruck auf, dass viele, die vom “Dritten Ort” reden, mindestens von etwas ganz anderem reden, als Oldenburg selber, der ja immerhin als Quelle angegeben wird.

Der Third Place ist bei Oldenburg nicht eine strategische Ausrichtung, die Bibliotheken im 21. Jahrhundert wählen müssen um modern zu sein, schon gar nicht die grossen Einrichtungen und vor allem nicht in Europa. Third Place ist auch nichts, was sich der Meinung von Oldenburg nach von den Menschen als Ort gewünscht oder von ihnen gefordert würde; schon gar nicht (darauf werde ich später nochmal eingehen) von Menschen, die als Kundinnen und Kunden begriffen werden.

Es geht ihm um etwas ganz anderes: Oldenburg identifiziert für die US-amerikanische Gesellschaft der späten 1980er Jahre (wie gesagt, dass Buch erschien 1989) einen eklatanten Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion. Die Menschen wären immer mehr vereinzelt, auf Konsum ausgerichtet und immer weniger in der Lage, kommunikativ als gesellschaftliche Wesen zu funktionieren. Das würde die Qualität des Lebens der Menschen ebenso bedrohen wie den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Er will eine bessere Gesellschaft, eine, in der Menschen offener, sozialer und kommunikativer sind, in denen sie ein besseres Leben führen würden, als er es in den späten 1980ern in den USA wahrnimmt. Das ist seine grosse Sorge.

Das Gegenbild findet er in Europa; genauer vor allem in einigen europäischen Städten: Paris, Wien, Rom, London, ein wenig Barcelona, ein wenig andere französische und englische Städte. Die Lebensqualität dort wäre viel besser als in den USA und zwar, weil sie funktionierende Third Places hätten. Sehr wichtig: Nicht, weil sie sie erst herstellen müssen, sondern weil sie schon da sind. Zudem findet er funktionierende Third Places in der US-amerikanischen Vergangenheit, gerade in Deutsch-Amerikanischen Biergärten und in der Mainstreet früherer kleiner Gemeinden. Insoweit sind Third Places immer auch vom Verschwinden bedroht.

Aber es ist wichtig, die Perspektive nochmal klar zu machen: Immer geht es Oldenburg darum, die damalige zeitgenössische US-amerikanische Gesellschaft zu kritisieren. Europa ‒ zumindest bestimmte Teile, aber zum Beispiel nicht die Schweiz ‒ sind ihm dabei immer Vorbild. Der Begriff Third Places wird von ihm in diesem Kontext geprägt. Thrid Places sind für Oldenburg die Lösung für ein Grundproblem der US-amerikanischen Gesellschaft der 1980er Jahre. Bis zu der Aussage, Bibliotheken (in Europa, das für ihn ja Vorbild ist) müssten versuchen, Third Places zu werden, ist es da ein langer Weg.

Zudem sind die prototypischen Third Places für Oldenburg nicht Bibliotheken, sondern französische Cafés, englische Pubs und wienerische Kaffeehäuser; Orte, die offen und sozial sind. Das sind nicht alle Cafés, sondern nur solche, bei denen der Zugang für alle gegeben ist, dass heisst, die recht billig sind; die eine Community entwickeln, also “regulars”, Stammgästinnen und -gäste haben; die langfristig und regelmässig die ähnlichen Leute anziehen und die einen Austausch zwischen Menschen motivieren. Und es sind immer urbane Orte. Ausserdem haben die Third Places, die Oldenburg in seinem Buch und dem Nachfolger (Oldenburg, 2001) hervorhebt, alle mit Getränken zu tun, entweder solchen mit Alkohol ‒ aber eher geringem Alkoholgehalt ‒ oder Koffein.

Aufgabe dieser Third Places ist es, Gesellschaft herzustellen. Dadurch, dass sie weit mehr sind als rein Konsumorte, bilden sie nicht nur den Nukleus von Communities, sondern auch den Ort, an dem Menschen lernen, sich gesellschaftlich zu verhalten, Freundschaften zu finden, Beziehungen zu knüpfen und aufrecht erhalten. Vor allem bieten sie auch Ausstiege aus den beiden anderen Orten (privater Raum und Arbeit/Ausbildung) an. Solche Orte bieten für Oldenburg Einrichtungen, an dem Menschen auch lernen, sich über ihre Interessen zu verständigen, über den eigenen Kreis von Familie und Bekannten sowie der eigenen Schicht hinauszugehen. Oder anders: Sie sind für ihn Grundlage funktionierender Demokratien. Diktaturen würden solche Orte zu unterbinden versuchen. Eine der gefährlichen Entwicklungen in den USA sieht er darin, dass Third Spaces kaum noch existieren würden; dass sich die USA selber dieser Orte zerstören würde und so zu einer Vereinzelung gelangen würde, die sonst eben in Diktaturen herrschen würde. Auch hier sieht man, dass das Buch von Oldenburg ‒ auf das sich, um das nochmal zu betonen, heute berufen wird, um die strategische Umgestaltung von Bibliotheken zu begründen ‒ sich mit damit beschäftigt, seine wirklich destrastöse Sicht auf die US-amerikanische Gesellschaft zu untermauern und das auch mit recht polemischen Aussagen.

Ich als jemand, der in seinem kurzen Leben schon in mehr als einem halben Dutzend Cafés in Berlin und Zürich über eine längere oder kürzere Zeit zu den “regulars” gehört habe, konnte mich in dem Buch immer wieder einmal wieder finden. Aber ich fand auch die eher kahlen Kaffeehäuser in Wien, wo man von Kellnern angeschnautzt wird oder die Bierhallen in Köln mit ihren lauten Atmosphären super erholsam und anregend. Mir leuchtet ein, dass der tägliche Besuch solcher Einrichtungen, als ich nur in Berlin wohnte oder jetzt, wenn ich da bin, wichtig für meine individuelle Sozialität, gesellschaftliche Kompetenz und Produktivität war und ist. Aber ich bin mir auch bewusst, dass das gute Bild, dass ich von meinen “verlängerten Wohnzimmern” habe, nicht von allen geteilt wird. Oldenburg hat solche Ablehnung aber offenbar schon härter erfahren und nutzt auch einen guten Teil seines Buches dazu, die positiven Aspekte hervorzuheben und falschen Vorstellungen zu widersprechen.

Eine der Fragen, die er sich dabei vorlegt, ist, warum so viele Menschen sich mit schlechten Substituten für Third Spaces oder gar einem Leben nur “in zwei Orten” zufrieden geben. Seine Antwort ist, dass sie es oft nicht besser kennen. Sehr viel Disrespekt hat er für Orte, die auf den ersten Blick wie Third Places funktionieren wollen, aber nicht verstehen, das ein solcher Ort davon lebt, Gesellschaft im Kleinen zu ermöglichen und immer wieder neu herzustellen. Insbesondere die Versuche, US-amerikanische Dinners, Bars und so weiter so zu führen, dass die Gästinnen und Gäste als Kundinnen und Kunden verstanden werden ‒ als Personen, die ständig mit neuen Dingen umworben werden müssen, deren Verhalten vorgeplant und auf Gewinn pro Quadratmeter berechnet werden ‒ sind ihm dabei ein negatives Beispiel. Solche Orte würden dazu führen, dass entweder Menschen nebeneinander her trinken würden (und zwar ohne Kultur möglichst viel und harte Getränke), in kurzfristig existierenden, aufs schnelle Trinken orientierte Gruppen sinnlos feiern würden (er sagt nicht “kulturlos”, aber ich würde es so nennen; halt Club-Crawl statt Genuss) oder im Besten Falle als “Bring Your Own Friends”-Bars funktionieren würden, in denen die Gruppen, die gemeinsam kommen auch immer unter sich bleiben. Third Places würden hingehen so funktionieren, dass Menschen alleine kommen und dann von den gerade Anwesenden aufgenommen und eingebunden würden ‒ halt ordentliche Stammkneipen, Bistros oder Kaffeehäuser; aber zum Beispiel nicht Starbucks, in denen alle in den Gruppen bleiben, in denen sie kamen oder halt so alleine bleiben, wie sie beim Eintritt waren. Wie gesagt: Es geht darum, dass Menschen in den Third Places lernen, eine Gesellschaft zu bilden; nicht unbedingt darum, schon bestehende Freundeskreise zu pflegen. Da aber viele Menschen überhaupt keine funktionierenden Third Places kennen, würden sie auch nicht (mehr) wissen, was sie verpassen und sich mit viel zu wenig zufrieden geben. (Wobei Oldenburg da sehr hart mit seiner Gesellschaft ins Gericht geht: Menschen, die sich mit schlechten Kneipen zufrieden geben, die an Pub Crawls teilnehmen, die zu viel Fernsehen schauen… alle kritisiert er.)

Kriterien von Third Places

Was Oldenburg in seinem Buch auch liefert, sind Kriterien für Third Places. Das ist relevant, weil Texte zu Bibliotheken und Third Places da eher zurückhaltend sind. Was ein Third Place ist, wird in solchen Texten sehr grob umschrieben — halt nicht erster und nicht zweiter Ort. Auch die Kriterien bei Oldenburg stellen keinen harten ISO-Standard dar, aber sie sind viel konkreter. Irgendwo zwischen diesem Buch und der heutigen Verwendung scheinen diese Kritierien verlohren gegangen zu sein. Dabei sind sie wichtig, weil sie bei Oldenburg zeigen, warum die Third Places als soziale Orte funktionieren.

  • Third Places sind Orte für unabgesprochene, nicht oder wenig zu planende Treffen. Praktisch: man entscheidet sich hinzugehen und geht direkt hin. Oder: Man trifft zufällig jemand auf der Strasse und kann einfach hin. Oder: Man geht hin und trifft irgendjemand. (Und nicht, wie das zum Beispiel in der Schweiz zumindest an Freitag und Samstag normal ist: man verabredet sich, dann reserviert man für später in einem Restaurant und geht dann zusammen essen und / oder trinken, in der Konstellation, für die reserviert wurde.)
  • Third Places sind explizit nicht die anderen beiden Orte. Das explizit ist wichtig: Sie sind keine Verbindung von zweitem Ort und drittem Ort. Sie sind dritte Orte. (Selbstverständlich muss irgendwer die Arbeit im Third Place tun, zum Beispiel hinterm Tresen stehen, was sie für ihn oder ihr zum ersten Ort machen. Darauf geht Oldenburg nicht ein.)
  • Third Places sind neutral; niemand muss Gastgeberin oder Gastgeber sein.
  • Third Places sind eher nicht schön, sondern “plain”. Schönheit hat selbstverständlich immer seine subjektive Komponente. Es geht Oldenburg aber darum, dass funktionierende Third Places eher einfach, teilweise vernutzt sind. Dieses Benutzsein ‒ das man in ordentlichen Wiener Kaffeehäusern, Pariser Cafés oder Berliner Kneipen ja auch findet ‒ ist offenbar für die Third Place-Funktion ein Pluspunkt. Oft, aber nicht immer, lassen sich so zum Beispiel aufgepimpte Tourifallen ‒ die sich in Wien eben auch Kaffeehäuser, in Paris Café und in Berlin Kneipe zu nennen pflegen ‒ von Third Places unterscheiden. Third Places muss praktisch sein, nicht schön.
  • Third Places sind “Leveler”, Gleichmacher. Ihr Zugang ist wirklich offen, dass heisst, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. (Wieder ein Unterschied zum Starbucks. Der ist zu teuer, um wirklich offen zu sein. Die Berliner Kneipen, die mir einfallen, sind zum Beispiel viel billiger; aber sie ermutigen auch, vorbeizukommen, ohne etwas zu erwerben. Oder aber ohne schlechtes Gewissen wirklich wenig zu erwerben, ein Getränk für drei Stunden. In mehr als einer ist es zum Beispiel explizite Politik, die Gästinnen und Gäste zu ermutigen, ihr eigenes Essen mitzubringen; trotz Angeboten in der Kneipe selber. Das sollte mal wer im Starbucks versuchen.) Sie haben die Tendenz, dass sich in ihnen die Menschen vermischen und die Persönlichkeit mehr zählt, als Status, Einkommen und so weiter. (Hier denke ich auch immer wieder an die niedrigen Preise in Berliner Kneipen, die dazu führen, dass es recht egal ist, dass ich da jetzt mit schweizerischem Gehalt drin sitze: Viel mehr als früher kann ich mir davon dort auch nicht kaufen. Wenn ich dort mit meinem Freundinnen und Freunden sitze, die knapp über den Existenzminimum verdienen, geben wir immer noch ähnlich viel aus, wie früher, als wir alle knapp über dem Existenzminimum verdienten.) Je weniger Statussymbole zählen, um so mehr ist der Third Place ein Gleichmacher. Wenn in Berliner Kneipen Symbole wie Kreditkarten (werden nicht genommen), Uhren (werden ignoriert) oder Anzüge (haben wir Vintage, nichts besonderes) nichts zählen oder wenn sie in Wien ins Lächerlicher überspitzt werden (so die Darstellung von Oldenburg), dann macht das die Menschen freier, untereinander zu interagieren. Solange sie sich sozial benehmen sind alle willkommen. (Was nicht alle schaffen, auch weil sie zum Teil keine Übung darin haben, ist, sich abzuschauen, was in einem bestimmten Ort als sozial gilt. Da hätte ich einige Geschichten, gerade mit Jugendgruppen aus Zürich und St. Gallen in Berlin zu erzählen.)
  • Kommunikation ist die Hauptaktivität in Third Places. Das ist nur folgerichtig, wenn sie sozial sein sollen. Aber Kommunikation heisst auch immer, dass diese Orte zumindest von Zeit zu Zeit laut werden. Was laut heisst, ist unterschiedlich. (Oder, um nochmal auf meine Erfahrungen zurückzugreifen: Verändert sich über den Tag.) Auch ist Kommunikation etwas, dass erlernt wird; beispielsweise die Fähigkeit, nahe bei anderen Leuten zu sitzen, aber deren Gespräche nicht mitzuhören. Es ist eine Kulturtechnik.
  • Third Places müssen dann offen und zugänglich sein, wenn die Menschen mit ihren Aufgaben in den ersten und zweiten Orten fertig sind. Wann genau das ist, ist bekanntlich auch unterschiedlich. Manchmal ist es sehr einheitlich, wie in vielen Teilen der Schweiz; manchmal eher flexibel, wie in Berlin. Aber oft heisst das, spät Abends offen zu haben.
  • Third Places werden unregelmässig, aber oft aufgesucht. Das unterscheidet sie zum Beispiel von Tennisclubs, die zu festgelegten Zeit aufgesucht werden. Aber Third Places müssen nicht jeden Mittwoch oder so besucht werden, trotzdem kann man darauf vertrauen, dort jemand oder etwas zu tun zu finden.
  • Third Places sind nearby, was oft heisst, sie sind fussläufig zu erreichen. Halt eher die Kneipe auf der anderen Seite des Platzes als die mit einer halben Stunde Fahrtzeit.
  • Third Places haben die “richtigen” Besucherinnen und Besucher, wobei richtig immer heisst, individuell zu Einer oder Einem passend. Es bilden sich immer Gruppen von Regulars, die oft einen bestimmten Ort benutzen. Regular wird man, indem man oft vorbeikommt und damit sowie mit richtigem Verhalten Vertrauen bei den anderen Regulars und z.B. dem Kneipenpersonal aufbaut. Regulars kommen zum Teil täglich vorbei, aber auch teilweise lange Zeit nicht. Sie wechseln “ihre” Third Places oder sind zugleich an mehreren Orten Regulars. Zugleich zeichnet Third Places aus, dass sie “Neue” willkommen heissen und ihnen ermöglichen, leicht zu Regulars zu werden. Jeder Third Places lebt davon, wer sein Regulars sind.
  • Third Places sind nicht nur plain, sie sind auch zumeist nicht als Third Places geplant, sondern entwickeln sich zu solchen dadurch, dass ein Gruppe von Regulars beginnt, sie als solche zu nutzen. Oldenburg deuten an, dass dieser Prozess unterstützt werden kann. (Er hat dazu ein zweites Buch geschrieben, in dem er eine Anzahl von Beispielen für funktionierende Third Places in den USA beschreibt: Celebrating the Third Place. Unter diesen gibt es zahlreiche Caés und Restaurants, einen Photo Shop, eine Buchladen, aber keine Bibliothek.) Grundsätzlich kann man Menschen zu Regulars machen, indem man sie als Menschen behandelt ‒ und weniger als Konsumentinnen und Konsumenten ‒, beispielsweise indem das Thekenpersonal Interesse an ihnen zeigt. Oldenburg geht davon aus, dass Third Places immer das Ergebniss menschlicher Interaktionen darstellt, nicht den Erfolg von Planungen.
  • Third places are playful, im Sinne von recht offen und recht umnutzbar. Es ist wenig vorgegebenen und es ist okay, Dinge zu ändern, zu spielen.
  • Third places are “home away from home”. Man kennt sich untereinander, oft gibt es für Stammgäste Privilegien, und zwar solche, die auf Vertrauen und Freundschaft basieren, nicht auf Quasi-Verträgen wie Sammelkarten, die eingelöst werden können. Sie bieten emotionalen Support und man darf in ihnen man-selbst-sein.
  • Third Places geben den einzelnen Menschen Anregungen und Unterhaltung, eben weil sie auf Kommunikation basieren. Sie bieten auch einen Ort, an dem man lernt, über sich selber zu lachen; die Kommunikation in ihnen ist oft humorvoll und ruppig. Third Places sind “gemütlich” (bei Oldenburg explizit deutsch geschrieben), im Sinne von heimeligen Orten mit einer gewissen Wärme und Sicherheit. In ihnen blüt der “Amateurism”, also das Singen, Diskutieren, die laute Selbstdarstellung ohne grossen Ernst. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn dies ausserhalb des Dritten Ortes verpöhnt ist, was in einigen Gesellschaften und Städten mehr und in anderen weniger der Fall ist. Third Places fördern viele, dafür aber eher oberflächliche Freundschaften und Bekanntschaften. Durch die Masse an Bekannten sind Menschen in der Lage, engere Freundinnen und Freunde aus einer grösseren Anzahl und aus mehr Lebenssituationen zu wählen, als es ihnen ohne Third Places möglich wäre.
  • Third Places übernehmen deshalb auch, wie schon erwähnt, eine wichtige Funktion in demokratischen Gesellschaften. Trotz ihrem schlechten Leumund, beispielweise bei Stadtplanerinnen und -planern, die sie gerne verbieten wollen, sind sie für Oldenburg die Basis für eine menschliche Gesellschaft.

Das ist doch keine Bibliothek

Es sollte klar geworden sein: Die gut durchmischte Kneipe in Berlin, das Kaffeehaus in Wien, dass in fast keinem Touriführer steht, das namenlose Bistro in Paris oder Lyon sind für Oldenburg dritte Orte. Ich bin mir nicht sicher, ob das überzeugt. Ich kann mich in dem Buch  gut wiederfinden; aber ich habe auch den Eindruck, dass das daher kommt, dass mein Leben von solchen Orten geprägt ist. Ein guter Teil meines Studiums und meiner Arbeiten fand in und durch solche Orte statt. Auch heute noch. Insoweit können sie so schlimm nicht sein. Aber: Vielleicht bin ich da auch die Ausnahme. Oldenburg lässt die Third Places hochleben, um seine eigene Gesellschaft (am Ende der 1980er, im zweiten Buch am Ende der 1990er) zu kritisieren. Vielleicht hat der Begriff auch einfach ausgediehnt. Vielleicht hat der nicht-wirklich-dritte-Ort Starbucks gewonnen und die Kommunikation, die sonst am Dritten Ort stattfand, wird heute im Internet geübt? Oder vielleicht gibt es auch andere Orte, an denen kommunikative Kulturtechniken eingeübt werden? So gerne ich auch eine Begründung für meine eigenen Vorlieben hätte: mir ist klar, dass die von einer guten Anzahl an Menschen geteilt werden (mit denen ich diese Orte teile), von vielen aber auch nicht. Das Buch von Oldenburg ist nicht so überzeugend, wie man sich erhoffen könnte. Er mag Sozialwissenschaftler sein, aber das Buch selber kommt mit wenig Zahlen, dafür aber vielen Geschichten, die Oldenburg selber erlebt hat, aus.

Doch selbst wenn das Konzept von Oldenburg nicht zu 100% überzeugt, ist doch eines klar: Das, was Oldenburg unter Third Place versteht (und für eine demokratische Gesellschaft als wichtig beschreibt), ist nicht das, was heute in Bibliotheken gebaut wird. Oldenburg selber schreibt zu Bibliotheken, dass sie zu komplex sind, um ein Third Place zu sein (Oldenburg, 1989, p. 203), aber das eher im Vorübergehen.

Schaut man sich seine Kriterien an, kann man sich schon vorstellen, das bestimmte Bibliotheken von einer Gruppe von Regulars als Third Place genutzt werden. Aber: von einer eher kleineren Gruppe und vor allen viel eher kleine Bibliotheken und Filialen und gerade nicht grosse, neugebaute Bibliotheken. Es scheint mir ein wenig der Unterschied (den ich hoffentlich lange genug im Text aufgebaut habe) zwischen ordentlicher Kneipe und Starbucks zu sein: die lokale Branch-Library, die als Third Place wirken kann (weil sie fussläufig zu erreichen ist, weil sich eine Gruppe von Regulars bilden kann, die einfach “hereinschneien” können, auch ohne etwas “bibliothekarisches” zu tun und so weiter) die ein wenig wie eine Kiez-Kneipe funktioniert auf der einen Seite und auf der anderen Seite die grosse Zentralbibliothek, ob jetzt in Amsterdam oder Stuttgart, die eher wie ein Starbucks wirkt (ohne richtige Regulars, die “reinschneien”, weil zu gross, die nicht fussläufig zu erreichen ist, die eher zu bestimmten Aufgaben und in Gruppen besucht wird et cetera). Worauf Oldenburg Wert legt, ist, dass an der Tür zum Third Place “der Status und die Welt abgeben” wird. Ist das etwas, was in Bibliotheken möglich ist? Mir scheint eher, dass Bibliotheken etwas anderes sind, als das, was Oldenburg als Third Place beschreibt.

Selbstverständlich lassen sich auch die einzelnen Kriterien von Oldenburg diskutieren. Etwas, dass sich aber nicht wegdiskutieren lässt, ist, dass er funktionierende Third Places als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft beschreibt. Wer Third Places nutzt, lernt nicht nur leichter zu leben, sondern auch mit anderen zu kommunizieren, hat ein grösseres Feld von Erfahrungen, auf die er oder sie zurückgreifen kann, hat eher gelernt, andere “zu verstehen” und so weiter. Im Umkehrschluss heisst dies auch, dass, wer aktiv demokratische Prozesse fördern will, Third Places im Sinne von Oldenburg fördern kann / muss. Machen und wollen das die Bibliotheken, die heute unter dem Label “Dritter Ort” agieren? Mir scheint eine relevante Verschiebung vorgekommen zu sein: Was bei Oldenburg als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft gilt, erscheint heute, als wäre es einfach eine Anforderung von Nutzerinnen und Nutzern, dessen gesellschaftliche Auswirkungen zumindest im Bibliotheksbereich gar nicht diskutiert werden. Die Begründung für die Umbauten wurde auf “die Nutzerinnen und Nutzer wollen es” abgeschoben.

Was ist dann die “Bibliothek als Dritter Ort”?

Ich hoffe, es ist klar geworden, dass gerade den gerne angeführten Bibliotheken, die als “Dritter Ort” wirken sollen ‒ zum Beispiel die Zentralbibliothek der Openbare Biblioteek Amsterdam, die Bibliothek 21 Stuttgart oder neue Central Library Birmingham ‒, wichtige Eigenschaften eines Third Places fehlen: sie sind nicht “nearby”, sie sind nicht etwas explizit anderes als der zweite Ort, sie fördern nicht die Kommunikation zwischen Regulars und / oder Fremden (sondern eher das Starbucks-Verhalten des “Bring your own friends”), sie sind nicht besonders playful. Wenn überhaupt, dann können kleine, lokal verankerte Bibliotheksfilialen einen Dritten Ort darstellen. Aber auch nur, wenn sie lange offen haben, als sozialer Treffpunkt ‒ auch für Besuche, die nichts mit Bibliotheksmedien zu tun haben ‒ wirken und so weiter. Das kann es geben, aber vielleicht nicht so oft, wie man glaubt.

Doch: Was sind dann eigentlich all die anderen Einrichtungen; gerade die schönen, grossen, multifunktionalen, auf neue Medien, Veranstaltungen, Makerspaces und Kooperationen bauenden Bibliotheken? Nur weil sie nicht den Kriterien von Oldenburg entsprechen, heisst das ja nicht, dass sie nicht funktionieren. Meiner Meinung nach werden diese Bibliotheken mit bestimmten Hoffnungen und aus guten Gründen so neu ausgerichtet oder gar gebaut. Die Frage ist aber, mit welchen Hoffnungen und aus welchen Gründen? Die, ein Third Place zu werden, wie ihn Oldenburg beschreibt, bestimmt nicht. Oder wollen Bibliotheken wirklich die Aufgabe übernehmen, Communities zu bilden, mit all der “grundlosen” Kommunikation, all dem Trinken, all der Lautstärke die dazu gehört? So sehen die grossen, neuen Gebäude nicht gerade aus.

Offenbar reden Bibliotheken von etwas anderem, wenn sie “Dritter Ort” sagen. Sie nehmen wahr ‒ oder glauben wahrzunehmen ‒, dass Nutzerinnen und Nutzer die Bibliotheken flexibel nutzen wollen, das sie “soziale Flächen” haben wollen, dass ihnen mehr zugetraut werden soll, als einfach nur wie Kundinnen und Kunden Angebote zu nutzen. Wie gesagt: Das, was dann rauskommt an neuen Bibliotheken ist nicht schlecht. Doch es gibt vielleicht gar nicht die Basis, welche die Bibliotheken immer wieder dafür anführen. Eventuell wäre es ganz klug, wenn die Bibliotheken sich einmal klar werden, was sie eigentlich genau unter “Third Place” verstehen und dann nachschauen, ob die Anforderungen seitens der Nutzerinnen und Nutzer (oder aber der Gesamtgesellschaft) überhaupt wirklich existieren. Das würde viel zur Klärung der Frage beitragen, was “Bibliotheken als Dritter Ort” wirklich heisst.

Was aber nicht geht, ist zu behaupten, Oldenburg hätte den Begriff “Third Place” geprägt und deshalb müssten grosse, helle, flexible Bibliotheken gebaut werden. Das passt nicht zusammen. Man kann das auf Berlin beziehen: Als die Zentrale Landesbibliothek auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof ein solches Gebäude hinstellen wollte und behauptet, damit würde die Bibliothek zum Third Place, hatte sie damit Umrecht. (Ob es falsch wäre, in Berlin für die Zentralbibliothek ein neues, grosses Gebäude zu bauen, ist eine andere Frage.) Als in den letzten Jahrzehnten in Berlin von den Stadtbezirken immer mehr kleine und kleinste Bibliotheksfilialen geschlossen wurden, da wurden eher Bibliotheken, die wie Third Places wirkten, geschlossen ‒ gerne mit der Begrüdung, dass sie nicht mehr nötig wären.

So oder so: Offen bleibt noch, wie und wann eigentlich die Transformation von Oldenburgs “Third Place” als Lösung für von ihm wahrgenommene Probleme in der US-amerikanischen Gesellschaft in “Bibliotheken müssen Dritte Orte” werden, und damit auch die gänzliche Umwertung des Begriffs “Third Place”, stattfand. Da bin ich noch hinterher.

Literatur

Oldenburg, Ray. The Great Good Place: Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart of a Community. New York: Marlowe & Company, 1989

Oldenburg, Ray. Celebrating the Third Place. Inspiring Stories about the “Great Good Places” at the Heart of Our Community. New York: Marlowe & Company, 2001

Bewegen sich Bibliotheken vielleicht einfach mit der Gesellschaft mit?

Silvester 2014/2015 und die Tage drumherum verbrachte ich in Amsterdam. Für Bibliothekarinnen und Bibliothekare ist diese Stadt bestimmt auch wegen der Openbare Bibliotheek Amsterdam bekannt, beziehungsweise dem 2007 bezogenen neuen Gebäude der Zentralbibliothek dieser Stadtbibliotheken auf dem Oosterdok gleich um die Ecke von der Centraal Station. Dieser Neubau erhielt nach der Eröffnung reichlich Beachtung, beispielsweise ‒ allein auf deutsch ‒ mit Beiträgen von Gernot U. Gabel in der B.I.T. online, von Sarah Dudek in der BuB oder Hermann Romer in der SAB-Info/Info-CLP (S. 6). In fast jeder Publikation zu Bibliotheksbauten in Europa, die in den letzten Jahren erschienen ist, kommt die Bibliothek ebenso vor. Der Ruf ist gut: Jung ist die Bibliothek, attraktiv, innovativ, mit einem grossen Angebot von Veranstaltungen.

Da meine Begleitung zum Glück ebenso bibliotheksaffin ist wie ich, war es überhaupt kein Problem, dass Gebäude gleich am ersten Abend zu besuchen. Und ja: es ist eine schöne, passende und attraktive Bibliothek; die in der offenen und liberalen Grossstadt Amsterdam offenbar gut funktioniert. Gross, hell, mit vielen flexibel zu nutzenden Arbeitsplätzen, mit vielen Veranstaltungen.

Ausgeschilderter Weg zu Bibliothek.
Ausgeschilderter Weg zu Bibliothek.
Ordentliche Öffnungszeiten.
Ordentliche Öffnungszeiten.

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Obwohl wir am 30.12. vorbeigingen, war die Bibliothek in voller Nutzung. Und es gibt in ihr wirklich vieles, was heute in Öffentlichen Bibliotheken zur Innovation gezählt wird: flexibel zu nutzende Flächen, Ausstellungen (sowohl im Untergeschoss, als auch zwischen den Beständen, teilweise passend zu den jeweiligen Teilbereichen), ein Veranstaltungsprogramm, das mit Workshops, Konzerten und vielem mehr über die einfache Lesung hinausgeht, freundliches Personal, dass auf der gleichen Höhe wie die Nutzerinnen und Nutzer sitzt, Plätze mit viel Licht und Ruhe zum Arbeiten und Plätze mit gemütlichen Sitzgelegenheiten und Blick über die Stadt; Medienstationen für Musik, ein kleines Kino mitten im Bestand, Kunst in der Kunstabteilung, eine lockere und liberale Atmosphäre. Es gibt nichts auszusetzen.

Und dennoch: als wir am Ende unseres Rundgangs im Restaurant im Stockwerk über der Bibliothek (mit gesundem, nachhaltigen und im Vergleich zu den Preisen in der Altstadt durchschnittlichen Preisen; obwohl es von einer Kette betrieben wird) sassen, hatte ich das Gefühl, dass alles schon zu kennen. Dieses übermässige Weiss überall; diese Einbindung unterschiedlicher Medien; diese lockere Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. Ich denke es ist Folgendes: Nichts an dem, was zu sehen ist, war besonders grossartig, innovativ oder neu. Alles war okay, aber bei allem Respekt hatte ich überhaupt kein Neuigkeitsgefühl in dieser Bibliothek.

Wie gesagt: Ich finde sie gut. Soweit ich das mit einem Besuch (an einem etwas untypischen Tag) bewerten kann, ist es eine gut integrierte und gut funktionierende Bibliothek, die sich aktuell hält.

Musikabspielstation.
Musikabspielstation.
Kleines Kino für Bibliotheks-DVDs
Kleines Kino für Bibliotheks-DVDs
Radio direkt in der Bibliothek gemacht.
Radio direkt in der Bibliothek gemacht.
Das Restaurant auf dem Dach, mit direktem Zugang aus der Bibliothek.
Das Restaurant auf dem Dach, mit direktem Zugang aus der Bibliothek.

Weiterentwicklung

Genau das war, glaube ich, mein Problem mit dieser Bibliothek, beziehungsweise mit dem Bild von der Bibliothek im Vergleich mit ihrer Realität: Die Zentralbibliothek der Openbaren Biblioteek Amsterdam ist eine moderne Bibliothek, die sich an die aktuellen Möglichkeiten anpasst. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich, als ich letztens in Köln den Makerspace in der dortigen Stadtbibliothek besuchte. Ich kannte ihn vorher aus Texten (s. 295-297) und Vorträgen, in denen er als etwas erstaunlich Innovatives und Neues dargestellt (und mit der Q-thek im unteren Stock der Bibliothek verbunden) wurde. In der Realität ist der Raum erstaunlich klein, der 3D-Drucker ist vor allem am Samstag in Betrieb, die Workshops sind zahlreich, bewegen sich aber meist auf der Ebene “Einstieg in…” beziehungsweise “Einführung in…”. Gleichwohl funktioniert der Raum, die vorhandenen Geräte sind sinnvoll und beschriftet. Das Angebot passt in die Bibliothek. Vielleicht ist es das, was genau in diese Stadt passt.

Sowohl in Amsterdam als auch in Köln hatte ich den Eindruck (allerdings jeweils nur von kurzen Besuchen während Kurzurlauben), dass es sich um sinnvolle Weiterentwicklungen handelte. Wenn zum Beispiel Musik vor allem elektronisch vorhanden ist, ist es für einen Bibliothek nur sinnvoll, wenn es Abspielstationen wie in Amsterdam (oder der Q-thek in Köln) gibt. Das ist in den Medienformen angelegt. Wenn die Aufgaben der Bibliotheken breiter werden, ist es nur sinnvoll, dass es auch mehr und andere Workshops gibt, wie das in Amsterdam und Köln der Fall ist. Man kann sich wohl bei all diesen Angeboten streiten, welche Entwicklung genau sinnvoll ist, ob zum Beispiel (so würde ich das behaupten) bestimmte Angebote in bestimmten Städten oder Gemeinden funktionieren und in anderen nicht. Aber so oder so sind all diese Weiterentwicklungen genau das: Weiterentwicklungen von schon vorhandenen Angeboten. Manche Dinge kommen uns in Deutschland und der Schweiz vielleicht unerhört neu vor, zum Beispiel Radio in der Bibliothek, wie das in Amsterdam gemacht wird. Aber auch da scheint mir oft, dass unser Blick einfach zu sehr auf spezifisch deutsche oder schweizerische Traditionen eingeengt ist. Ich hatte kurz vorher “L’action culturelle en bibliothèque” von Bernard Huchet und Emmanuèle Payen (edit.) gelesen, das ein Standardwerk für kulturelle Veranstaltungen in französischen Bibliotheken ist und fand, dass das Radiostudio in Amsterdam gut als weiteres Beispiel in dieses Buch gepasst hätte.

Nicht Innovation

Warum das alles hier erzählen? Weil es (wieder einmal) zu dem Punkt führt, dass ich ein grosses Unbehagen mit dem Begriff “Innovation” und seiner Verwendung im Bibliothekswesen habe. Die Bibliothek in Amsterdam und der Makerspace in Köln wurden in der deutschsprachigen bibliothekarischen Literatur beide als neu und innovativ vorgestellt. In der Realität scheinen sie aber vor allem sinnvoll auf neue Anforderungen und Möglichkeiten zu reagieren, immer im Rahmen ihrer lokalen Gegebenheiten. Mir ist nicht klar, warum man das nicht auch einfach so darstellen und begreifen kann. Ist es etwa etwas Schlechtes, sich “einfach” weiterzuentwickeln?

Der Begriff Innovation impliziert eine bis dato nicht bekannte Veränderung, hin in Richtung Zukunftsfähigkeit und ‒ in der Wirtschaft ‒ auch einem grösseren Gewinn. Er impliziert, dass Einrichtungen in einer Konkurrenz stehen und das eine Einrichtung mit Innovationen einen Vorteil gegenüber den anderen Einrichtungen erlangen kann. Aber: Darum geht es im Bibliothekswesen doch überhaupt nicht. Die Openbare Biblioteek Amsterdam hat mit ihrem neuen Gebäude keinen Vorteil gegenüber der Biblioteek Rotterdam. Sie hat auch keinen Vorteil gegenüber den Buchläden oder Restaurants in Amsterdam. Ebenso hat die Stadtbibliothek Köln mit dem Makerspace keinen Vorteil gegenüber den Stadtbüchereien Düsseldorf oder der Stadtbibliothek Bonn. Niemand nimmt sich etwas weg oder gewinnt etwas an Vorsprung gegenüber den anderen Bibliotheken.

Versteht man die Weiterentwicklung als Normalität, dann würden solche Beispiele wie Amsterdam oder Köln auch die Möglichkeit bieten, gemeinsam als Bibliothekssystem über die normalen Weiterentwicklungen zu diskutieren. Solche Weiterentwicklungen sind notwendig, aber selten so aufregend neu und unvorhergesehen, wie gerne behauptet wird. Beispielsweise die hellen, weissen Bibliotheksräume, die in fast allen neugebauten Bibliotheken der letzten Jahre zu sehen sind: die sind weder überraschend neu, noch anders als zum Beispiel Buchhandlungen und Einkaufzentren, noch sind sie falsch. Sie sind auch nicht aufregend. Aber sie sind passend für den Habitus einen modernen, offenen Bibliothek. Passend, sinnvoll ‒ nicht weniger, nicht mehr.

Wenn man davon ausgeht, dass Bibliotheken immer dann, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, neu zu bauen oder grundsätzlich etwas zu verändern beziehungsweise zu erneuern, auch versuchen, jeweils zeitgenössisch gute und sinnvolle Lösungen zu finden, dann wird der Diskurs auch anders. Ohne die Konkurrenzsituation, die über den Begriff “Innovation” hergestellt wird, lässt sich viel besser gemeinsam diskutieren, was notwendige Weiterentwicklungen sind. Ein Beispiel: Jetzt hat die Stadtbibliothek Köln einen Makerspace und ist damit innovativ. Wenn jetzt eine andere Bibliothek einen Makerspace baut, ist das dann altbacken, falsch, unmodern? Selbstverständlich nicht. Ein Makerspace kann auch in anderen Städten angebracht sein, aber es lässt sich nicht so einfach verbreiten. Innovation kann per Definition nur einmal vorkommen. Sicherlich kann man tricksen, denn Innovation ist immer innovativ im Bezug auf ein System. Demnächst wird einen schweizerische Bibliothek einen Makerspace eröffnen, damit ist sie dann die erste in der Schweiz und für das schweizerische Bibliothekssystem innovativ. Aber danach? Darf das dann niemand mehr in der Schweiz? Oder schlimmer: Wenn einen weitere Bibliothek einen Makerspace einrichtet, verlieren dann Köln und “die erste schweizerische Bibliothek mit Makerspace” irgendetwas? Sicherlich nicht.

Das ist der Punkt, der mir in Amsterdam, am Ende, auf dem Dach der Bibliothek, wieder einmal aufstiess: Wenn in den deutschsprachigen Bibliotheken nicht der Diskurs von Innovation (und Krise, die durch Innovation zu lösen sei) vorherschen würde, könnten sich (a) die Diskussionen um die Entwicklungen von Bibliotheken beruhigen und weniger aufgeregt, dafür mehr gemeinsam geführt werden, (b) würde es weniger grosser Versprechen benötigen, um Neuerungen und Weiterentwicklungen vorzustellen und durchzusetzen (weniger Bling-Bling und mehr Realness, um die Metapher aus dem Hip-Hop aufzugreifen). Gleichzeitig würden sich (c) Debatten um Veränderungen in den einzelnen Bibliotheken wohl einfacher führen lassen. Genügend oft führen Veränderungsprozesse in Bibliotheken zu internen Konflikten, die auch damit zu tun haben, dass die Veränderungen als alles verändernde und umwerfende Innovation verkauft werden, teilweise um der Innovation willen. Das ist nicht notwendig, wenn man gemeinsam über normale Weiterentwicklungen diskutieren und andere Bibliotheken als Beispiele, die man nicht unbedingt übertreffen muss, sondern von denen man lernen darf, nutzen kann. Zudem: (d) Wenn man akzeptiert, dass Bibliotheken sich per se entwickeln, wird auch der Dikursort für tatsächlich radikale Änderungen, also Innovationen, wieder frei, weil die dann sinnvoll von anderen Veränderungen abgegrenzt werden können.

Gleichzeitig hatte ich da auf dem Dach in Amsterdam, aber auch beim Rundgang durch die Bibliothek, nicht das Gefühl, dass die Nutzerinnen und Nutzer irgendein Interesse daran hatte, ob ihre Bibliothek jetzt innovativ war oder nicht. Sie schienen einen Bibliothek zu wollen, die für sie funktioniert, in ihrem Alltag und in ihrer Stadt. Wie die sein soll, wissen die wohl auch nicht. (Sichtbar war aber, dass Bereiche, die als “überraschend” konzipiert waren, zum Beispiel mit von der Decke hängenden Sitzgelegenheiten, kaum genutzt wurden, während die “klassischen” Arbeitsplätze gut belegt waren.) Jetzt, nicht in Zukunft. Nicht mehr, nicht weniger.