Am letzten Sonntag auf dem Flohmarkt gefunden: Liebigbilder. Es gibt zu ihnen Kataloge, auch ein paar Texte. (Und auch einen Wikipedia-Eintrag: hier.) Ich kannte die aber nicht, fand sie aber grossartig, einerseits grossartig absurd, andererseits grossartig fragenstellend.
Liebigbilder waren Werbebilder, die ab Ende des 19. Jahrhunderts (1880) bis Anfang der 20. Jahrhunderts für eine Anzahl von Produkten als Sammelbilder verteilt wurden. Die Bilder, ungefähr in Spielkartengrösse, waren beidseitig bedruckt, die Vorderseite vielfarbig, die Rückseite offenbar ein- oder zweifarbig. Gedruckt wurden sie – zumindest die, die ich jetzt habe – auf stärkerem Karton. Alle Karten enthalten Werbung, aber nicht nur Werbung. Gleichzeitig waren sie als Sammlungen von zumeist sechs Karten zusammengefasst (es gab auch Sammeltüten), die in bunten Bildern ein „wissenswertes“ Thema darstellten und gleichzeitig auf der Rückseite – neben der Produktwerbung – textlich einordneten.
Liebigbilder heissen sie – offenbar – nach Liebig’s Fleisch-Extrakt, dem Produkt, zu dem die meisten dieser Werbebilder zu existieren scheinen. Es müssen hunderttausend gedruckt worden sein. Das Angebot auf ebay ist riesig und die Preise wirklich niedrig, was nur zeigt, dass die Zahl der Karten, die bis heute „überlebt“ haben, immer noch recht gross ist.1
Hier ein Beispiel:



Diese Serie ist sehr stereotyp. Niederländische Kinder sind bestimmt auch Ende des 19. Jahrhunderts nicht ständig in „traditionellen“ Kleidungen rumgelaufen. Das Holland, das hier dargestellt wird, ist eine Idylle inklusive flachem Land, Windmühlen und Wasser. Aber das ist vielleicht auch der Punkt: Die Karten sind Werbemittel, deshalb sollen sie unterhalten. Aber gleichzeitig sollen sie doch etwas vermitteln und tun das auch: Ein aufgeklärtes, aber auch sehr idyllisches Bild. Damit passen sehr gut zu anderen Bildungsmedien für den Hausgebrauch, die es ansonsten im 19. Jahrhundert gab. Sie vermitteln nicht nur das faktische Wissen der damaligen Zeit, sondern auch das imaginäre Wissen wie zum Beispiel die Spiele unterschiedlicher Länder, von denen wir heute ausgehen, dass sie unter bestimmten sozialen und geschichtlichen Umständen entstanden sind und niemals von dem gesamten Land gespielt wurde – und auch nie nur in diesem einem Land – und deshalb auch keine festen Spezifika eines Landes oder Volkes darstellen. (Auch würden wir heute wohl mehr auf die „bunten“ Gesellschaften eingehen und nicht versuchen, jedes Land „rein“ erscheinen zu lassen, was es ja auch Anfang des 19. Jahrhunderts nicht wahr.) Deshalb scheinen die Bilder auch als ein Medium, in welchem sich das Denken um die Jahrhundertwende ablesen lässt. Immerhin wurden die Bilder in recht grossen Auflagen verbreitet, dass heisst es gab auch ein Interesse an ihnen.
Dabei versuchten die Bilder nicht einmal, altbacken zu sein. Obgleich es zahlreiche Serien zu biblischen Geschichten, römischen oder germanischen Sagen gab, galt es wohl vor allem, „spannende“ Themen zu finden. Ein Beispiel dazu:


Gerade bei diesem Beispiel stellt sich aber auch die Frage, für wen eigentlich was auf den Karten gedacht ist. Der erste Werbetext richtet sich offenbar direkt an Hausfrauen, die das Fleisch-Extrakt kaufen sollen. Aber die Bilder und Themen scheinen sich eher an jüngere Menschen zu richten, in Anbetracht der damaligen Gesellschaft wohl auch eher an männliche Kinder und Jugendliche. So oder so scheinen mir die Karten in einer Tradition der Volksbildung zu stehen, die allerdings – schaut man sich den Katalog, der weiter oben verlinkt ist – bestimmte Themen auch auslässt. Germanische und biblische Mythen finden sich oft, aber die Gesellschaft wird nie thematisiert. Es geht um „spannende“ Themen, aber immer in affirmativer Weise. Die bestehende Gesellschaft wird oft einfach nicht thematisiert oder wenn – beispielsweise bei Serien über Militäruniformen –, dann als gegeben akzeptiert. Diese Form von Bildung lässt die potentiellen Lernenden, die sich mit diesen Karten beschäftigen – wobei interessant wäre zu wissen, was damit eigentlich getan wurde – Wissen ansammeln, aber nicht wirklich verarbeiten oder hinterfragen.
Trotzdem: Die beiden Beispiele sind recht nett und insbesondere Bibliotheken, die sich mit älteren Bildungsmedien beschäftigen, könnten bestimmt Sammlungen dieser Karten unterhalten (mal abgesehen von der Frage, wie man sie richtig katalogisiert). Gerade deshalb musste ich noch eine dritte Serie mitnehmen, weil sie ein interessantes Problem aufwirft:


Bildung hat heute einen guten Ruf, Bildungsmedien auch. Diese Karten sind in gewisser Weise Bildungsmedien, immerhin wollen sie auch Wissen vermitteln. Aber was als sinnvoller Bildungsinhalt gilt, ist sehr zeitabhängig. Es gibt Serien solcher Karten, die inhaltlich noch weit schwieriger sind, als die Serie über Frankreichs Kolonien. Auf der Grundlage welcher Kriterien kann und sollte man die bewerten? Sind sie keine Bildungsmedien mehr, weil wir ihren Inhalt heute als unwahr kennen?
Fussnote
[1] Obwohl, wie ich auch auf dem Flohmarkt gelernt habe, die Preise für Briefmarken und Münzen unglaublich gefallen sind. Und die Verkäuferinnen und Verkäufer unglaublich alt. Sammelt niemand mehr? Jetzt kann man echte Ersttagsblätter aus den 60er und 70ern für ein Euro pro fünf Stück kaufen. Und ganze, vollständige, postfrische Bögen für 10 Euro. Das war in den 1990ern noch nicht so, auch wenn man die Preise von damals umrechnet.