Ist das Denken von der Bibliothek geprägt, die man nutzt?

Vor nicht allzu langer Zeit benötigte ich für einen Artikel die Lehrbriefe Schulbibliothek. Diese erschienen 1985 in einem Schuber, zuvor auch als Einzelhefte. Wer sich mit Schulbibliotheken in Deutschland auseinandersetzt, sollte diese Publikation kennen (oder ist halt dazu verurteilt, regelmäßig inhaltlich hinter das damals geschriebene zurückzufallen). Schon öfter benötigte ich diese Lehrbriefe und sei es nur, um kurz etwas nachzuschlagen oder sie neben mir auf den Tisch zu stellen, als Objekte, die Denken anregen. (Letzter Halbsatz für die, die Bruno Latour kennen.) Ich besitze sie aber nicht. Vielmehr habe ich sie immer in der Bibliothek genutzt. Als ich sie nun desletztens benötigte, fiel mir etwas auf, was ich vorhin mit einer Kollegin besprochen habe, aber auch weiteren Kreisen zur Kenntnis bringen muss.

Die Bibliothek als ein weiteres Büro?

Ich weiss genau, wo diese Lehrbriefe in Berlin im Grimm-Zentrum stehen: Etage, Regal, Ort. Fast traumwandlerisch finde ich sie dort. Nur: Jetzt bin ich (auch) in Chur. Wir haben diese Lehrbriefe in Chur nicht, vielmehr stehen sie – leider nicht im Schuber – in einem Magazin der ETH Zürich und wenn sich nicht das Team der Bibliothek der HTW Chur dankeswerter Weise darum gekümmert hätte, die ganzen Einzelhefte zu bestellen, ich hätte den Artikel wohl auf die lange Bank geschoben, bis „ich mal in Berlin genug Zeit habe“, d.h er wäre wohl nie geschrieben worden. (Auch so wollte die ETH die Hefte sofort nach vier Wochen zurück, obgleich die bestimmt niemand anders lesen wollte. Die Hefte in Berlin stehen auch seit Jahren immer da, wo sie stehen.)

Dabei fiel mir auf, dass dieses Verhalten gar nicht so selten ist. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zumindest in den Geisteswissenschaften, sind wir bestimmte Umgebungen gewohnt. Die Bücher und Zeitschriften, die wir öfter nutzen, stehen immer in den gleichen Bibliotheken an den gleichen Stellen. Wenn sie mal nicht dastehen, sind wir irritiert und schieben manchmal Arbeit einfach auf, bis wir sie wieder nutzen können. Mit Vorliebe nutzen wir bestimmte Arbeitsplätze in bestimmten Bibliotheken und wenn die mal nicht frei sind – meistens wegen Studierenden – können wir an den anderen Plätzen nicht so richtig arbeiten. Zumindest dann, wenn wir bestimmte Bibliotheken als Dritt-, Viert- etc. -arbeitsplatz nutzen, stellt sich offenbar eine Vertrautheit mit dem Gebäude, den Nutzungsweisen, den Beständen etc. ein. Wie gesagt: Es geht gar nicht darum, dass wir die gleichen Medien nicht auch anders bekommen könnten. Die Fernleihe funktioniert. Aber die Zugriffsweisen sind doch andere. Wir haben uns an bestimmte Dinge gewöhnt. Ich, z.B. daran, wo die Lehrbriefe Schulbibliothek und die BuB im Grimm-Zentrum steht, daran, wie die erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Zeitschriften in der Amerika Gedenkbibliothek geordnet sind. Und die Aussicht aus den Fenstern bei zwei bestimmten Arbeitsplätzen in der Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung beruhigen mich auch immer wieder und lassen mich konzentriert arbeiten. Sicherlich, mit der Zeit kommen andere Arbeitsorte hinzu. In der Zentralbibliothek Zürich habe ich auch zwei Arbeitsplätze, die mich zum ruhigen Arbeiten bringen und ich weiss mich fast blind in den dortigen bibliothekarischen Zeitschriften zu orientieren. Aber die alten Prägungen sind doch noch da. Ist das eine subjektive Macke? Zumindest die Kollegin, mit der ich mich über meine Beobachtungen unterhielt, konnte ähnliches aus Ihrer Forschungspraxis berichten. In Cambrigde, der Promotionsuni, war die Bibliothek ein Arbeits-Zuhause, in den weiteren Stationen dann immer weniger.

Hat Nietzsche Recht?

Hier stellt sich mir eine erste Frage: Wenn wir offenbar den Arbeitsweisen in den Bibliotheken hinterhängen, wie sehr prägt dann die Bibliothek, der Bestand, der Raum unsere Arbeit?

Wieder mein Beispiel zur Illustration: Früher wäre ich bei einer Frage, die sich auf die Geschichte der Schulbibliotheken bezieht, einfach ins Grimm-Zentrum gefahren – wo die meisten meiner diesbezüglichen Texte auch entstanden sind – und hätte dort in der Nähe der Lehrbriefe Schulbibliothek an der jeweiligen Frage gearbeitet. Dabei musste ich die Lehrbriefe noch nicht einmal benutzen. Sie waren Teil eines habituellen Raumes, der sich mit der Zeit mit schulbibliothekarischen Fragen verbunden hatte. (Oder hat. Ein Ergebniss meines letzten längeren Berlin-Aufenthalts war, mich wieder am Grimm-Zentrum einzuschreiben, nachdem ich die letzten Monate auch die Amerika-Gedenkbibliothek als Arbeitsort wiederentdeckt habe. Man kann ja nicht die ganze Zeit nur Frühstück Essen und in Clubs rumhängen.) Wie gesagt: Das kann meine persönliche Macke sein, aber ich denke, grundsätzlich können wir eine ähnliche Macke bei vielen Forschenden wiederfinden.

Es gibt eine empfehlenswerte Buchreihe mit dem schönen Titel Zur Genealogie des Schreibens, in der unter anderem gelernt werden kann, dass es medienwissenschaftliches Wissen ist, dass „unser Schreibzeug [mit]arbeitet […] an unseren Gedanken“ (Nietzsche). Das lässt sich erweitern: Auch dass das Labor an den „Gedanken“ der Naturwissenschaft „mitschreibt“ ist eine Erkenntnis, die man Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern nicht erzählen muss. Das ist Usus. Ich denke, wir können das zumindest als Hypothese erweitern: Die Bibliothek schreibt mit an den Gedanken der Geisteswissenschaften. Zu untersuchen wäre, wie. (Und hier empfiehlt sich die Lektüre der meisten Bücher der genannten Reihe, um auf Forschungsthesen zu gelangen. Und selbstverständlich immer Kittlers Aufschreibesysteme 1800/1900.)

Führt Mobilität zu schlechterer Wissenschaft?

Aber weiter: Wäre ich nicht aus Berlin (zum Teil) weitergewandert, mir wäre dieser Zusammenhang vielleicht nie aufgefallen. Allerdings: Das Herumwandern in der Welt ist zum Lebensinhalt von Forschenden geworden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind immer kürzer an einem Ort, einer Einrichtung. Diese Mobilität wird explizit gefordert, erzwungen (so darf man ja, außer man finanziert sich selber über Drittmittel, nicht länger als sechs Jahre als Wissenschaftliche Mitarbeiterin oder Wissenschaftler Mitarbeiter an einer deutschen Hochschule arbeiten. Entweder man hat dann die Professur oder man ist raus) und als positiv angesehen. Selbstverständlich gibt es an dieser Idee berechtigte Kritik. Menschen kommen nicht dazu, Familien zu gründen oder ordentliche Beziehungen zu führen und gleichzeitig Wissenschaft zu betrieben, weil sie sich nie richtig sozial verankern können. Menschen, die in kleinen Städten leben wollen, müssen auf einmal in Megacities und Menschen, die Grossstädte zum Leben brauchen, landen in kleinen Städten im ländlichen Raum. Ausserdem: Was ist das überhaupt für eine Vorstellung, dass alle Menschen in der Wissenschaft eine Professur haben wollen? Warum soll meine Forschung besser werden, wenn ich immer wieder den Arbeitsort wechsel? Und so weiter. Man kann lange darüber diskutieren.

Ich würde eine weitere Frage anfügen: Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich tatsächlich an bestimmte Bibliotheken als Arbeitsort gewöhnen und „nur da“ bestimmte Texte schreiben, Arbeiten durchführen, Gedanken haben können, führt dann dieses ständige Umherziehen nicht zu tendenziell schlechterer Wissenschaft? Viele Forschende können ja nicht einfach mal gleichzeitig in ihrer alten und neuen Heimat wohnen, wie ich das zwischen Berlin und Schweiz aktuell tun kann. Andere sind ja in Australien, den USA, Bolivien, Japan, Südafrika oder sonstwo angekommen. Und gerade wenn man animmt, dass diese habituelle Verbindung zu einzelnen Bibliotheken und Forschungsthemen mit der Zeit wächst (was ich wieder an meinem Beispiel mit den Lehrbriefen Schulbibliothek zeigen könnte), ist dann dieses ständige Umherziehen nicht gerade besonders negativ? Immerhin sehen wissen wir ja, dass immer mehr Forschende nie die ihnen zur Verfügung stehenden Bibliotheken nutzen. Kann das nicht auch damit zusammenhängen, dass sie gar keine Zeit haben, sich an diese zu gewöhnen? Wer gerade mal ein, zwei Jahre an der Uni XYZ arbeitet, wie soll der oder die eine habituelle Verbindung zu einer Bibliothek aufbauen? Es ist zumindest schwierig. (Mir fällt auf, dass ich weiter oben anhand der Zentralbibliothek Zürich beschrieben habe, wie das bei mir funktioniert hat. Aber hierbei muss man bedenken, dass ich per se bibliotheksaffin bin und zudem dieses Wandern in die Schweiz meine erste Wanderungsbewegung war. Die schon zitierte Kollegin hat bei ihrer ersten Wanderung auch noch eine Verbindung zur dortigen Bibliothek aufgebaut, aber mit dem weiteren Wandern immer weniger dazu geneigt.)

Man kann auch diese Frage noch einmal weiterdenken: Wenn Forschende eine habituelle Verbindung zu bestimmten Bibliotheken, Beständen, Raumen aufbauen und daraus sich Forschung ergibt, plant dann die Bibliothek richtig, wenn sie auf ständige Veränderung setzt? Auch dies ist wieder nicht trival. Die Lehrbriefe Schulbibliothek stehen in Berlin, wie gesagt, seit Jahren am gleichen Ort und sind bislang noch nie ausgeliehen gewesen, wenn ich sie nutzen wollte. Meine Nutzung aber schlägt sich in den Ausleihstatistiken überhaupt nicht nieder. Ich nehme sie an den Arbeitsplatz und lese das, was ich benötige. Was drinsteht weiss ich ja. Manchmal müssen sie, wie gesagt, auch einfach dastehen, damit ich mit dem Schreiben anfangen kann. Irgendwann aber wird die Bibliothek diese und andere Bestände vielleicht ins Magazin bringen oder ganz aussondern, weil: Sie sind alt und es nutzt sie ja offenbar niemand (zumindest des Ausleihstatistiken nach). Eine solche Entscheidung wird meine Produktivität im Bezug auf Texte zur Geschichte der Schulbibliotheken in Deutschland einschränken, aber woher soll die Bibliothek das wissen? (Zumal ich ja kein eingeschriebener Forschender der Humboldt-Universität mehr bin, sondern einer der Nicht-Universitäts-Angehörigen. Insoweit würde meine Meinung in Umfragen wohl auch weniger zählen, falls ich zufällig mal gefragt werde.)

Brauchen wir mehr Wissenschaftsforschung zu Bibliotheken?

Vielleicht ist diesem Problem nicht mit Bestands- und Bibliotheksmanagement beizukommen, sondern eher mit bibliothekspraktischem Wissen. Vielleicht können, bei allen Versuchen, objektiv zu sein, bestimmte wissenschaftliche Texte nur zu bestimmten Zeit geschrieben werden (in den Literaturwissenschaften ist das für bestimmte Texte von Autorinnen und Autoren ja auch Erklärungsansatz akzeptiert). Vielleicht müssen wir erst einmal mehr darüber herauskriegen, wie Nutzerinnen und Nutzer die Bibliotheken tatsächlich nutzen. Wir denken ja, geprägt durch einen betriebswirtschaftlichen Diskurs, den wir seit Jahren immer wieder mitproduzieren und produzieren lassen, eher in einfachen Zahlen: Ausleihe, Besuchszahlen, Auslastung, Zufriedenheit, Liefergeschwindigkeiten etc. Aber eigentlich könnten wir aus der Wissenschaftsforschung und unserer eigenen Praxis wissen, dass die wissenschaftliche Arbeit – genauso wie die pädagogische Arbeit oder das Lernen der Studierenden, um hier nochmal ein grosses Fass aufzumachen – viel komplexerer ist, als diese einfachen betriebswirtschaftlichen Modelle, wo sich alles in Zahlen ausdrücken lässt. Wenn es einen habituellen Gewinn gibt, betsimmte Bereiche und Bestände in Bibliotheken nicht ständig auszutauschen und zu verändern, der sich auf die Qualität von Wissenschaft niederschlägt, sollten die Bibliotheken davon erfahren.

Let’s talk about Änderung des Urheberrechtmodells. Maybe.

Aaron Swartz ist tot. Der Suizid des Internetaktivisten war in den letzten Tagen ein wichtiges Thema der betreffenden Presse. [1] [2] [3] [4] [5] [6] Sicherlich tragen zu einer Entscheidung, dass eigene Leben zu beenden, immer sehr viele unterschiedliche Situationen, Erfahrungen, Strukturen bei. Das ist niemals monokausal zu erklären. Dennoch scheinen sich Viele sicher zu sein – und das mit einigem Recht –, dass die aktuelle Urheberrechtssituation, die Umsetzung dieser Gesetze aber auch der Diskurs um sie, ein relevanter Grund für den Suizid von Swartz war. Seine Familie und Partnerin schreiben vom kriminellen Justizsystem und ihnen wird dabei breit zugestimmt. [7] [8] [9]

Hier soll gar nicht auf das Leben von Swartz und die betreffende Auseinandersetzung (eher Auseinandersetzungen) näher eingegangen werden. Das lässt sich anderswo nachlesen. Was ich hier kurz und unstrukturiert thematisieren will, weil es mir im Kopf herumgeht, ist etwas anderes: Wir haben einen Toten. Die ganze Problematik um Urheberrechte, Zugangsrechte, die gesellschaftliche Nutzung von Informationen, closed access, die Contentindustrie, die Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation, die Wege, wie wir als Bibliothekssysteme und wie die Menschen im Allgemeinen mit diesem Konstrukt Urheberrecht und dem Lobbyismus von Contentindustrie, Verlagen, Verwertungsgesellschaften und so weiter umgehen – all das, was in den letzten Jahren beständig thematisiert wurde, was Witze hervorgebracht hat, neue Verhaltensformen, neue bibliothekarische Strukturen und eine gesellschaftliche verbreitete Informationskompetenz, die sich über die Barrieren hinwegsetzt, all das scheint nicht mehr lustig.

Wie war das bisher? Lustig?

Sicher: Auch bislang war das kein reiner Spass. Menschen werden mit Knast bedroht oder hoch verschuldet, weil sie Kulturgüter getauscht haben (sollen). Wissen wurde nicht geteilt. Bibliotheken sind übervorsichtig, was sie anbieten und nicht anbieten. Die Bibliotheksetats sind von Zeitschriften und Datenbanken aufgebraucht, bevor auch nur ein Buch gekauft werden kann. Menschen haben tierischen Stress. Aber trotz allem fühlten wir uns doch immer auf der richtigen Seite in einem grossen Kampf, den die Gegenseite an sich schon verlohren hatte. All die Argumente der Contentindustrie, die Behauptung, Künstlerinnen und Künstler, die Qualität wissenschaftlicher Publikationen und was weiss ich zu sichern, haben doch immer auch ein mitleidiges Lächeln auf unsere Lippen gezaubert.

War es nicht das? Internetausdrucker vs. (irgendwie) Nerds. Hollywood und Gema vs. gesunder Menschenverstand. Verknöcherte Justiz und Politik, die die Welt nicht verstehen vs. Anonymous und Kim Dotcom und Richard Stallman und Linus Torvalds und Horden von hippen jungen Leuten, die sich doch downloaden, was sie wollen.

War es nicht das? Es war stressig. Wir haben uns aufgeregt, als Jammie Thomas 1.2 Millionen Dollar zahlen sollte, weil sie ein paar Musikstücke angeboten haben soll. Wir haben gerade in der Wissenschaftscommunity gerne vorgerechnet, welches Wissen der Welt vorbehalten bleibt. Und wenn sich Verlage dann einmal darauf einliessen, zu erklären, wie sie zu den hohrenden Summen für wissenschaftliche Zeitschriften kommen, haben wir innerlich den Kopf geschüttelt: Halt Leute von Vorgestern. o.o o.O O.O LOL ROFL n00bs :-) (^o^)

Das klang alles ärgerlich, aber irgendwie schien es, dass wir am Ende eh gewinnen würden. Vielleicht würde es ein paar Generationen dauern, aber es würde sich schon irgendwie regeln. Kein Medium bleibt ungeknackt. Kein Geschäftsmodell lebt auf ewig. (Jetzt erinnert das schon ein wenig an die Haltung, die Thomas Kuczynski in seinem Dialog mit meinem Urenkel schrieb, nämlich dass er als Kommunist nicht daran zweifelt, dass der Kommunismus kommen wird, sondern dass er sich nur fragt, wie lange es dauert und was getan werden kann, um dieses Kommen zu beschleunigen. Tja…)

Und sicher: Gerade bei der Wissenschaft konnten wir immer darauf verweisen, wie viele Krankheiten nicht geheilt, wie viel Wissen über das Heilen von Krankheiten oder das Verhindern von Unfällen et cetera nicht geteilt wurde, alles wegen den aktuellen Urheberrechtssystemen. Auch das wird Menschenleben gekostet und die Qualität des Lebens von anderen Menschen eingeschränkt haben. Zumindest einige von uns wird das wütend gemacht haben. Aber ehrlich: Das war inhaltlich richtig, allerdings schwer greifbar. Kim Dotcom in Neuseeland am Strand war ein viel greifbareres Bild.

Doch jetzt haben wir es: Ein Opfer des Urheberrechtssystems. Sicherlich: Niemand – nun ja, vielleicht ein bestimmter Staatsanwalt – wird daran ursächlich Schuld sein, dass Aaron Swartz seine schlussendliche Entscheidung traf. Und sicher werden viele, die wir hier, von „der guten Seite“ aus, als mitverantwortlich sehen, sich bestürzt zeigen.

Was soll das immer noch?

Aber seien wir doch einmal ehrlich, offen und direkt: Das ist doch Unsinn.

Das gesamte Urheberrechtssystem, die ganzen Argumente der Contentindustrie und Verlage, die ganzen Drohungen mit dem Gesetz, das ist alles einfach nicht mehr lustig. Es ist keine Auseinandersetzung um Geld und Macht mehr, es geht offenbar um Menschenleben. Und wir wissen es ja auch alle. Wenn wieder einmal behauptet wird, das Urheberrecht müsste dazu beitragen, Künstlerinnen und Künstlern, Autorinnen und Autoren fair zu entlohnen, denken wir doch alle, dass das Unsinn ist. Wir wissen es. Quasi niemand der oder die schreibt, singt, malt lebt vollständig davon. Quasi niemand hat es bislang getan. Dafür ist das Urheberrecht nicht da und dafür war es auch nie da. Es war einmal dazu da, die gesamte Gesellschaft und deren Fortschritt zu fördern und es ist heute dazu da, um Geld einzuspielen. Und gerade nicht für die kleinen, netten, kulturell oder politsch engagierten Verlage, Labels, Filmstudios und so weiter, die ständig um das Überleben kämpfen und niemand ordentlich bezahlen können und von ständiger Selbstausbeutung leben. Auch das wissen wir. Und wir wissen doch auch, dass es bei den Kosten für wissenschaftliche Publikationen nicht um Qualitätssicherung geht. Wir – jetzt als Studierende und Lehrende im Bibliothekswesen – haben es doch oft genug in unseren Seminaren durchgesprochen, gelehrt und irgendwie versucht, objektiv alle Seiten darzustellen. (Wobei wir einfach objektiv sagen könnten: Wenn BWLerinnen und BWLer Verlage leiten, machen sie halt das, was sie gelernt haben. Es ist nur nicht gut für die Gesellschaft, dass sie das tun.) Vielleicht ist es der Jahresanfang, aber mir scheint, dass wir – jetzt nicht unbedingt das Bibliothekswesen, aber die Leute, die wissen, was Chanspeak heisst und wieso Kim Dotcom lustig ist – zu lange gespielt haben. Mag sein, dass das Urheberrechtssystem und alles was daran hängt, irgendwann eingehen wird. Aber mir scheint, dass die Entscheidung von Aaron Swartz – die, um das klar zu sagen, eine persönliche war, die man nicht als Fanal umdeuten sollte – einen ersten Endpunkt markiert. Hier bringt sich jemand, der relevant war für die Entwicklung des Internets und der Open Access Bewegung, wie wir sie kennen, um, weil er wegen absurder und moralisch falscher Gesetze bedroht wird. (Wieder: Gewiss nicht nur deshalb, aber auch deshalb.) Das darf nicht sein. Das muss aufhören. So einfach ist das.

Vielleicht sind das viel zu unausgegorene Gedanken, vielleicht ist es auch die Midlifecrisis, aber mir scheint, dass jetzt ein Zeitpunkt ist, wo eine radikale Bewegung gegen dieses Urheberrechtssystem nötig und möglich wäre. Es wurde schon oft gesagt, aber: Menschen sterben deswegen. Das gesamte System ist unmoralisch. Alle, die es aufrecht erhalten oder verschärfen wollen, sind auf der moralisch falschen Seite. Alle, die es weiter nur reformieren wollen, sind auf der moralisch falschen Seite. Alle, die weiter implizit darauf hoffen, dass man es mit Witz umgehen kann und es schon absterben wird, haben nicht Unrecht, sollten sich aber fragen, ob es nicht moralisch richtiger wäre, endlich klare Forderungen zu erheben und die, die Unsinn reden, auch so zu nennen: Die, die Unsinn reden; weil sie zuviel Geld verdienen wollen, weil sie nicht wissen, was sie erzählen und / oder weil sie moralisch falsch sind.

Bei SOPA haben wir gesehen, dass sich Gesetze verhindern lassen. Jetzt gälte es zu beweisen, dass Urheberrechtssysteme – die ja, wie alles Recht, zuvorderst menschengemacht sind – abgeschafft werden können. Dieses ganze Gedöns, dass zum Beispiel die Piratenparteien veranstalten, mag ja manchmal nett sein, aber es ist nicht ausreichend. Was die Welt eigentlich bräuchte, wäre eine starke Bewegung, die mit Massenaufläufen und klaren Positionen zeigt, dass es Zeit ist, alle Inhalte zu befreien. (Dabei geht es nicht darum, in den Tod von Aaron Swartz im Nachhinein einen Sinn zu interpretieren. Es geht darum zu sagen, hier ist offenbar geworden, was das Urheberrecht und seine Durchsetzung anrichten.) Manchmal ist es vonnöten, angriffig zu sein. In einer solche Situation ist es vonnöten, angriffig zu sein.