Jemand macht Geld mit Google Books. Ist das schlimm?

Gleich im ersten Fachbeitrag der aktuellen B.I.T. Online behauptet Clemens Alexander Wimmer, dass sich die Bibliotheken, welche mit Google Books zusammenarbeiten, abschaffen würden. (Wimmer, Clemens Alexander (2012) / Die Bibliothek schafft sich ab oder wie Goole books zu Geld werden. In: B.I.T. Online 15 (2012) 4, 315-328) Das ist eine gerne einmal aufgestellte Behauptung, die sich trotzdem bislang nicht bewahrheitet hat. Bei diesem speziellen Artikel scheint mir aber zudem auch ein Unverständnis im Bezug auf Freie Daten vorzuherrschen. Wobei der Text selber nicht uninteressant ist.

Fakt: Google verdient Geld

Wimmer beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich mit den Büchern passiert, die Google digitalisiert. Zwar spricht er auch die bekannten Kritiken am Google Books Dienst an, sowohl die richtigen (vor allem, dass die Bibliotheken, welche Verträge mit Google schlossen, diese nicht veröffentlichen) als auch die komischen (dass Google zu den Medien keine bibliographischen Daten liefert, wobei nicht klar ist, wieso das die Aufgabe von Google sein sollte, schliesslich geht die Firma bei der Erschliessung von Dokumenten schon immer andere Wege als Bibliotheken). Darüber hinaus macht Wimmer aber vor allem ein Geschäftskonzept hinter Google Books aus, beziehungsweise mehrere.

Google ist keine gemeinnützige Organisation, die zum Wohl der Menscheit kostenlose E-books anbietet. Vielmehr verkauft Google Produkte und Dienstleistungen. Zu diesem Zweck sammelt Google Buchtitel und Digitalisate ebenso wie Daten von Internetnutzern. GBS [Google Book Suche, K.S.] ist ein gigantischer Versandhauskatalog, der zu jedem gefundenen Buch gewöhnlich mehrere Bestell-Links zu Firmen bietet. Diese Firmen gehören zu den Kunden, die Google finanzieren. (Wimmer 2012, S. 318)

Die Argumentation, dass Google eine Firma sei, die Geld verdient, wird im Zusammenhang von Bibliotheken und Google Books desöfteren angeführt. Einerseits ist das richtig, andererseits bleibt unklar, was daran eine Kritik wäre. Unternehmen, solange sie nicht als gemeinnützige konstituiert sind, sind als Organisationen dazu da, Gewinne zu erwirtschaften. Sowohl Wimmer als auch viele andere, die dieses Argument anführen, lassen Ausführungen dazu vermissen, wieso gerade dieser Fakt problematisch wäre. Auch Firmen, die Bibliotheken propreitäre Bibliotheksysteme lizenzieren sind Organisationen, die Geld verdienen wollen, ohne das daran wirklich Anstoss genommen würde.

Fakt: Firmen machen was mit Dingen

Der interessante Teil des Artikels von Wimmer beschreibt, wie Firmen (versuchen) mit den Digitalisaten von Google Books Geld zu machen. Im Grossen und Ganzen: Mit Nachdrucken. Wimmer stellt verschiedene Firmen vor, die mit unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichem Aufwand aus Digitalisaten, welche seiner Meinung direkt von Google bezogen würden (weil sie zumeist nicht vollständig in Google Books frei verfügbar seien), wieder Bücher machen.

Diese Verlage versuchen zumeist, über Quantität zu punkten, also möglichst viele gemeinfreie Bücher „nachzudrucken“, und setzen dabei oft auf eine möglichst billige Produktionsweise. (Irgendein Cover vorne drauf, eine generische Impressumseite, das Digitalisat, alles gebunden – et voilà, fertig ist das Buch.)

Wimmer stellt auch heraus, dass einige wenige dieser Verlage mit grösserer Sorgfalt vorgehen, eindeutige Auswahlen vornehmen et cetera. Aber er hat selbstverständlich Recht, darauf zu verweisen, dass solche Billig-Druck-Firmen ein Ärgerniss darstellen. Allerdings ist die Frage: Stellen sie wirklich mehr dar, als ein Ärgerniss? Sind sie wirklich, wie Wimmer behauptet, in Zusammenhang mit Google Books der Anfang vom Ende der Bibliotheken?

Auch Bibliotheken machen was

Die letzten Frage würde ich zweimal verneinen. Erstens zeigt Wimmer selber, dass auch die Bibliotheken, welche Geheimverträge mit Google geschlossen haben, nicht alles aus der Hand geben. Offenbar erhalten sie – zumindest in den USA – ebenfalls Digitalisate der Bücher, die aus ihrem Bestand kommen. Im Hathi Trust sind der Grossteil dieser Bestände zusammen als eine Digitale Bibliothek verfügbar und neu erschlossen (wenn auch nach der Meinung Wimmers in teilweise geringerer Qualität als bei Google Books).

Ausserdem werden seit Jahren Digitalisate von Google Books ins Internet Archive – genauer ins Unterprojekt Open Library – übertragen, wenn auch, wie Wimmer zurecht irritiert feststellt, mit kaum erklärbaren Qualitätsunterschieden. Das ist zwar keine Bibliothek, aber halt auch keine rein gewinnorientierte Firma.

Sicherlich ist es ärgerlich, dass Google selber nicht klarmacht, wie entschieden wird, welche Digitalisate welcher Bücher in welcher Qualität und Auswahl wann zugänglich sind. Gerne hätte man mehr Planungssicherheit, hingegen agiert Google eigenständig, stellt Digialisate nicht nur ein, sondern nimmt sie auch mal wieder aus dem Angebot heraus. Aber: Das macht eine Firma aus. Sie darf, solange sie nicht gegen Gesetze verstösst (okay, dass ist bei der Frage, ob Google nicht Copyright-Reglungen gebrochen hat mit Google Books, eine etwas defizille Aussage) und keine Verträge bricht, das Firmeneigentum so einsetzen, wie es gerade gewünscht ist.

Was ist nochmal das Problem?

Und genau hier liegt das Problem bei dem Artikel von Wimmer. Er skandalisiert etwas, was kein Skandal ist. Eine Firma agiert wie eine Firma. (Zumal er sich auch zu Behauptungen aufschwingt, die so richtig nicht sein müssen. So postuliert er, dass Firmen für die Verlinkungen bei Google Books gesondert zahlen würden, obgleich das auch einfach über das „normale“ AdWord-Programm per geklicktem Link geschehen kann.)

Einige Firmen verwenden gemeinfreie Digitalisate, um daraus neue Produkte zu machen und diese zu verkaufen. Diese Produkte sind oft von geringer Qualität. Aber so ist das mit freien Daten: Alle können damit erstmal machen was sie wollen. Egal ob die Daten zur Verbesserung der Welt genutzt werden, zur künstlerischen Auseinandersetzung oder zum Geldmachen – das ist alles möglich. Genauer: Daten werden auch freigestellt, damit neue Produkte und Geschäftswege gefunden werden können. Diese Produkte müssen einem nicht gefallen, dass ist richtig. Aber so funktioniert der Kapitalismus nun mal: Es wird auch viel Unsinn gemacht. Nicht nur, aber eben auch. Und man selber – ob jetzt als Person oder als Institution Bibliothek – muss damit umzugehen lernen. Wir zahlen ja auch Steuern, damit Strassen unterhalten werden, auf denen dann zu Gewinnzwecken komische Güter transportiert werden, die vielleicht kein Mensch braucht – aber das ist das unternehmerische Risiko.

Wimmer postuliert hingegen folgendes:

Dass die Bestände öffentlicher [sic!] Bibliotheken an Firmen zur kommerziellen Verwertung übergehen, ist eine Fehlentwicklung. Es entspricht nicht dem Auftrag öffentlicher [sic!] Bibliotheken, Unternehmen zu ermöglichen, mit ihren Ressourcen Geld zu verdienen. […] Diejenigen Bibliotheken, die ihre Bestände in die Hände von Google gegeben aben, tragen damit zur Schwächung und Marginalisierung aller Bibliotheken bei. (Wimmer 2012, S. 328)

Das stimmt nicht. Es ist nicht die Aufgabe von Bibliotheken zu schauen, was Menschen oder Institutionen mit den Beständen machen. Einige Leute lernen aus Beständen, wie man Geschäfte eröffnet und führt und machen dann mit den Geschäften Geld – und niemand würde sie dafür verdammen, vielmehr würde darauf verwiesen, welchen Beitrag Bibliotheken zur wirtschaftlichen Entwicklung leisten können. Oder genauer: Es ist sehr im Auftrag von Öffentlichen Bibliotheken enthalten, dazu beizutragen, dass Firmen Geld verdienen. Man muss es nicht mögen, aber eine der Hauptthesen der kapitalistischen Gesellschaft ist nun einmal, dass die unternehmerischen Aktivitäten zur Dynamik und Verbesserunng der Gesellschaft beitragen – persönliches Gewinninteresse führt zu einer besseren Gesellschaft, Liberalismus par excellence. (Wie gesagt: Dem kann man widersprechen, sehr gut sogar und ich mache da auch gerne mit. Aber darum scheint es Wimmer gar nicht zu gehen.)

Selbstverständlich dürfen Bestände in einem solchen Prozess nicht beschädigt und vernichtet werden; aber gerade das tut Google Books ja auch gar nicht. Die Bestände werden digitalisiert und dann – offenbar mit „Bibliotheksdigitalisaten“ – wieder an die Bibliotheken zurückgegeben. Das danach etwas mit den Digitalisaten geschieht, was nicht von den Bibliotheken kontrolliert werden kann, ist im Auftrag der Bibliothek angelegt. Es wäre ein Skandal, wenn die Bestände danach nicht mehr benutzt werden, weggesperrt würden. Aber – das ist ja die Schönheit der digitalen Kopie – das Original ist danach immer noch da (und vielleicht nicht mal das beste Stück der Reihe, vgl. von Gehlen, Dirk (2011) / Mashup : Lob der Kopie (edition suhrkamp, 2621). Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011.)

Insoweit ist auch der zweite Teil der These irritierend. Warum sollten Bibliotheken „zur Schwächung und Marginalisierung aller Bibliotheken“ (Wimmer 2012, S. 328) beitragen, wenn sie mit Google Books zusammenarbeiten? Schaffen sich dann auch Statistische Ämter ab, wenn sie statistische Daten zur freien Nutzung bereitstellen? Das wird im ganzen Text nicht klar. (Sicherlich tragen sie mit ihrem Einverständniss in geheime Verträge dazu bei, intransparente Praktiken bei öffentlich finanzierten Einrichtungen akzeptabler zu machen. Das ist zu kritisieren, aber auch darum scheint es Wimmer nicht vorrangig zu gehen.) Glaubt Wimmer, das jetzt weniger Menschen in die Bibliothek kommen? (Was nicht unbedingt schlecht für die alten Bestände wäre, wie wir wissen.) Glaubt er, dass Funktionen von Bibliotheken an andere Einrichtungen (i.e. Google) übergehen? Das müsste er (a) erst einmal zeigen und (b) nachweisen, dass das schlecht ist und nicht einfach eine weitere funktionale Differenzierung innerhalb der Gesellschaft. Bislang scheint es so, als würden Bibliotheken (ausser beim Thema Geheimverträge) genau das machen, wofür sie da sind: Der Gesellschaft Sammlungen zur Verfügung stellen. Was die Gesellschaft damit macht – und wenn es Geld ist – ist eine gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, nichts Negatives.

Insoweit scheint mir im Artikel von Wimmer eine interessante Beschreibung von Geschäftsprozessen rund um Google Books vorzuliegen, aber die angebrachte Kritik am Handeln von Bibliotheken auf einer Vorstellung zu beruhen, dass einmal gemeinfreie Werke, die in Bibliotheken angekommen sind, keinen kommerziellen Interessen dienen dürften. Das ist nicht richtig. (Gemein)frei Daten können selbstverständlich auch zur Produktion von Gewinn (Wenn er den überhaupt eintritt. Wir wissen nicht, wie viel die Nachdruckverlage verdienen, nur dass sie, wie Wimmer richtig bemerkt, noch nicht eingegangen sind, sondern vielmehr immer mehr Produkte auf den Markt werfen.) genutzt werden. Wem das nicht passt, der oder die muss die Gesellschaft sehr radikal ändern, aber – nochmal – darum scheint es Wimmer nicht zu gehen.

Problematisch wäre, wenn die gewinnorientierte Nutzung die weitere freie Verwendung von Daten – beziehungsweise hier Digitalisaten – verhindern oder einschränken würde. Das ist richtig, aber genau das passiert ja nicht. Die Bibliotheken können mit den Bibliotheksdigitalisaten machen, was sie wollen (inklusive eigener Nachdruckverlage, wenn sie es denn darauf anlegten); sie können weiter die Bestände vor Ort anbieten und auch selber weiter Digitalisieren.

Neu ist das nicht unbedingt (oder: Warum Bibliotheksgeschichte als Ideengeschichte ihren Sinn hat.)

Eine eher unangenehme Angewohnheit der heutigen Bibliothekswesen ist ihre grosse Ungeschichtlichkeit. Viel Geschichte der Bibliotheken ist den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren einfach nicht mehr präsent. Dabei geht es mir gar nicht um die Sammlungs- und Institutionengeschichte (im Sinne von: 1756 hatte die Bibliothek des Fürsten XYZ 352 Bücher, inklusiver dreier Papyri, 1892 als sie in die Bibliothek der Stadt ABC überführt wurde war sie auf 744 Bücher und zwölf Papyri gewachsen), sondern um Ideengeschichte. Soviele Debatten und Diskussionen im Bibliothekswesen sind vergessen worden, soviele Ansätze ausprobiert, ohne das noch jemand von den Ergebnissen weiss. Manchmal ist das erstaunlich, manchmal erschreckend.

So wird in Texten gerne davon geredet, dass irgendetwas zum ersten Mal getan wurde (eine Untersuchung, eine Veranstaltung, ein Angebot) oder total neu und innovativ ist, obwohl das oft nicht einmal stimmt. Aber das „erste Mal“ gilt offenbar als Wert an sich. Dabei wird verdrängt, dass wir die Vergangenheit nicht nur als Vergangen und Veraltet wahrnehmen müssen. Wenn wir zum Beispiel sehen, dass bestimmte Debatten immer wieder aufkommen, können wir auch sehen, welche Argumente und Lösungen funktionieren und welche nicht. Zudem können wir sehen, dass Probleme mit bestimmten gerade als innovati geltenden Lösungen gerade nicht gelöst wurden. Wir können auch oft viel genauer abwägen, was mittelfristig von bestimmten Trends und Debatten zu halten ist. Dabei geht es gar nicht darum, alles als Wiederholung verstehen zu wollen. Sicherlich gibt es immer wieder gewichtige Unterschiede. Aber so neu ist es meistens nicht.

(Wie Butters lernen musste, stimmt es vielleicht, dass die Simpsons alles schon längst getan haben, bevor Southpark es tut, aber es ist trotzdem anders, wenn es in Southpark getan wird.)

Zwei kurze Beispiele zu dieser Bemerkung.

Wiederkehrende Erwartungen

In Wiederkehrende Erwartungen schreibt Jan-Felix Schrape darüber, wie verwunderlich es ist, dass seit einigen Jahrzehnten mit neuen Medien immer wieder die gleichen Versprechen auf (a) Demokratisierung, (b) massenhafte und schnelle Verbreitung und (c) wirtschaftliches Potential aufkommen, obgleich sie sich im Zeitverlauf als ungenügend herausstellen. [Schrape, Jan-Felix / Wiederkehrende Erwartungen : Visionen, Prognosen und Mythen um neue Medien seit 1970 (Kleine Reihe). Boizenburg: vwh, 2012] Die Voraussagen bei Videorekorden, BTX und Web 2.0 waren ähnlich, die Ergebnisse auch: Die Medien hatten einen Einfluss, aber nie den, der vorhergesagt wurde. Weder trat mit ihnen alleine Demokratisierung ein, noch wurden sie zu den Geldmaschinen oder verbreiteten sich in der Geschwindigkeit, die vorausgesagt wurde. Und in gar nicht so langer Zeit waren sie dann wieder überholt. Trotzdem kamen die Versprechen jedesmal neu auf, so als hättte es ähnliche Hypes mit ähnlichen Argumenten nicht schon zuvor gegeben.

Schrapes argumentiert nun, dass es Aufgabe des Sozialwissenschaften sei, nicht einfach auf die Versprechen des nächsten Mediums aufzuspringen, sondern kritisch zu bleiben und auf die vergangenen Medienhypes zu verweisen, aber das kann man getrost auf Bibliotheken und Bibliothekswissenschaft übertragen. Hierzu allerdings muss ein Wissen über die Medienhypes, Versprechen und späteren Realitäten vorliegen, das – ohne die tatsächlichen Potentiale jeweils neuer Medien zu übersehen – bei den nächsten Medien (aktuell wohl wieder einmal E-Books und Patron Driven Acquision) erinnert werden müsste.

Dirk von Gehlen betonte desletzens in einer Veranstaltung in Zürich zu seinem Buch Mashup: Lob der Kopie, dass auch die negativen Versprechen sich bei vielen Medien widerholten. Als gedruckte Bücher aufkamen, so sein Beispiel, gab es mehrere Stimmen, die darauf hinwiesen, dass damit zuviele Informationen produziert würden, die weder von den Menschen gewünscht wären noch verarbeitet werden könnten, einfach weil es zuviele wäre. Das ist tatsächlich interessant, wenn heute bei weit grösserer Buchproduktion davon ausgegangen wird, dass das Internet eine Informationflut bedeuten würde (und nicht der Buchmarkt, der jetzt offenbar okay ist), die von den Menschen nicht bewältigt werden könnte.

Bücher und Bibliotheken

In der Broschüre Bücher und Bibliotheken versuchte Alfred Tschabold 1946 in die Nutzung von schweizerischen Bibliotheken einzuführen. [Tschabold, Alfred / Bücher und Bibliotheken : Eine praktische Wegleitung zum Benützen und Auswerten. Thalwil-Zürich: Emil Oesch-Verlag, 1946] In der Broschüre finden sich selbstverständlich viele veraltete Angaben zu Beständen und Ausleihbedingungen grosser Bibliotheken, es wird in Zettelkataloge eingeführt und Katalogisierungen vorgestellt, die heute nicht mehr vorgenommen werden. Aber es finden sich auch solche Absätze:

Die Berufsbildung liegt im Interesse des Einzelnen und des Staates. Das berufliche Lernen darf nicht mit der Lehre abgeschlossen werden. Weiterbildung fördert den Berufsmann und führt ihn vorwärts. […]

„Les voyages forment la jeunesse“, hiess es in der guten alten Zeit. Die Zeiten, da der junge Berufsmann auf die Wanderschaft ging, sind vorüber. Die Verhältnisse des Arbeitsmarktes haben sich gewandelt.

Bücher und Bibliotheken haben eine neue Aufgabe zu erfüllen. Die Weitung des Horizontes, das Vertrautmachen mit den Lebensgewohnheiten, der Kunst, Technik, Kultur und Wissenschaft fremder Städte und Länder muss weitgehend durch die Bücher vermittelt werden. „Les livres remplacent les voyages“ ist man heute versucht zu schreiben.

Schulung ist Pflege und Förderung der Verstandeskräfte, des Wissens und Könnens in Beruf und Leben. Die Jahre nach der Lehre müssen Jahre der Weiterbildung sein. Der Ueberdurchschnittliche [sic!] wird Fachkenntnisse erweitern, nach Neuerungen und Verbesserungen forschen wollen. Der fleissige, begabte Arbieter trachtet nach der Meisterprüfung; Strebsame werden sich Vorgesetzten-Fähigkeiten aneignen. Berufsmann und Bürger müssen die Zusammenhänge der Volkswirtschaft erfassen lernen. Das Wissen um die Rechte und Pflichten von Meister und Geselle verlangt das Studium von Büchern. Hausfrauen und Angestellte haben in Familie und Beruf Aufgaben zu lösen, wobei ihnen Bücher und Bibliotheken helfen können. (Tschabold 1946, S. 10f.)

Das ist zwar eine wenig andere Terminologie – halt noch sehr Geistige Landesverteidigung, ausserdem Hausfrauen ohne Hausmänner, Berufsmänner ohne Berufsfrauen –, aber eigentlich ist das genau die gleiche Idee, die heute als Lebenslanges Lernen verkauft wird. Weiterlernen nach der Ausbildung. Warum? Wegen der „Verhältnisse des Arbeitsmarktes“, die sich gewandelt hätten. Wozu? Um in „Beruf und Leben“ besser dastehen zu können. Vor allem Beruf, dann erst irgendwie das Leben. Und dies in einem Buch zur Benutzung der Bibliotheken, denen eine wichtige Aufgabe bei der Umsetzung dieses Gedankens zugeschrieben wird.

Wie kann das sein, dass 1946 (in der Schweiz, anderswo in Europa war die Situation etwas anders) etwas als sinnvoll verstanden wird, weil es ein neuer Gedanke wäre, während es auch 2012 als neuer Gedanke, der aufgrund der „Verhaltnisse des Arbeitsmarktes“ notwendig sei, gilt? Einfach weil es nicht neu im Sinne von einmalig ist, sondern weil man es als neu gegenüber einer Vergangenheit verstehen kann, die so, wie man sie darstellt bestimmt nicht gewesen ist. Das vorgeblich Neue, dass in Texten zu Lebenslangem Lernen und Bibliotheken als Ergebnisse einer vorgeblich neuen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt beschrieben wird, ist nicht per se neu. Deshalb wäre es auch sinnvoll, zurückzublicken und zu schauen, wieso dieses „Neue“ als neu formuliert wird, was sich wirklich gerade verändert und verändert hat, wie Bibliotheken früher auf diese Vorstellungen reagiert haben und vor allem, was diese früheren Strategien eigentlich gebracht haben.

(Das lässt sich mit der gleichen Broschüre und „Informationskompetenz“ übrigens auch zeigen, nur klingen die Zitate dazu nicht ganz so schön ungleichzeitig.)

Bibliotheksgeschichte neu fassen

Ausser zu zeigen, wie falsch manche Behauptungen über Neuheiten im Bibliothekswesen sind, sollte dieser Text eigentlich nichts. Sicherlich kann man tiefer hinabtauchen, aber darum geht es hier nicht. Kurz sollte nur gezeigt werden, welche Form von Bibliotheksgeschichte sinnvoll wäre, würde sie mehr betrieben: Eine, die sich nicht hauptsächlich auf einzelne Institutionen konzentriert, sondern auf Ideen, Konzepte und Diskurse. Es scheint, als wäre das ein lohnendes Feld der Bibliotheksgeschichte, die auch die heutige Praxis korrigieren und verbessern könnte.