Der arabische Frühling in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft?

In der Library Review 2/2012 erschien gerade ein Text von Essam Mansour von der South Vally University in Qena (Ägypten) über den Einfluss Sozialer Netzwerke in der ägyptischen Revolution. [Mansour, Essam (2012) / The role of social networking sites (SNSs) in the January 25th Revolution in Egypt. In: Library Review 61 (2012) 2, pp. 128-159.] Mansour berichtet über eine Reihe von Fokusgruppen-Interviews, die er mit Beteiligten an dieser Revolution gemacht hat.

Ein Spezifika der Revolutionen, die unter dem Label „Arabischer Frühling“ zusammengefasst werden, war und ist bekanntlich, dass es keine richtigen Anführer gibt. Kein George Washington, kein Fidel Castro, die man interviewen könnte. Selbst dort, wo mit der Zeit Leitungen auftauchten (Libyen, eventuell auch in der Freien Syrischen Armee), leiteten sie die Proteste und Kämpfe nicht wirklich an. Um also überhaupt an Personen zu kommen, die befragt werden konnten, ging Mansour selber während der Proteste auf den Tharir Platz in Kairo und fragte dort Menschen, ob sie an der Studie teilnehmen würden (und mehr Menschen kennen, die teilnehmen würden).1 Dies scheint mir eine der risikoreichsten Studien in der Geschichte der Bibliotheks- und Informationswissenschaft gewesen zu sein.

Sicherlich: Auf diese Weise kam kein repräsentativer Querschnitt der ägyptischen Bevölkerung oder auch nur der Protestierenden auf dem Tharir-Platz zustande; vielmehr werden sich Personen an der Studie beteiligt haben, die {a} für die Revolution waren und {b} aktiv soziale Netzwerke nutzen. Das mag nicht der normale Ägypter oder die normale Ägypterin sein, aber es ist eine sinnvolle Auswahl. Es führte aber zu einer wohl untypischen Gruppe: 37% über 30 Jahre alt, 33% Frauen, 37% an einer Universität arbeitend, 21% engineers, nur 5% arbeitslos.

Weiter berichtet Mansour über die Verbreitung von Kommunikationstechnologien in der arabischen Welt, insbesondere Ägypten. Hier steht Ägyptern im Mittelfeld (93% der Bevölkerung nutzen Fernseher, 66.69% haben statistische gesehen ein Mobiltelefon, 24.26% nutzen das Internet, 7.66% Facebook und 0.15% Twitter.), vorne liegen Staaten wie Bahrain, Qatar, Kuweit, Vereinigte Arabische Emirate und Saudi-Arabien. (Wo interessanterweise noch keine erfolgreichen Aufstände stattfanden, sondern, wenn überhaupt, wie in Bahrain, unterdrückt wurden.)

Mansour geht nun in seiner Studie von der Beobachtung aus, dass trotz der nicht flächendeckenden Verbreitung dem Internet eine fundamentale Kraft zugeschrieben wurde. Unvergessen wohl der 28.01.2011, als in Ägypten begonnen wurde, das gesamte Internet zu blockieren – offenbar weil das Regime dem Netz eine Bedeutung zuschrieb. Mansour fragt nun, wie die an den Protesten Beteiligten die Sozialen Netzwerke (denen bekanntlich noch mehr partizipative Funktionen zugeschrieben werden, als dem Internet allein) wahrnahmen. Relevant ist, dass die meisten Befragten angeben, Facebook et cetera schon vor den Protesten genutzt zu haben und zwar genau aus dem Grund, wozu es eigentlich da ist: Um soziale Kontakte zu pflegen, Bilder, Geschichten, Erfahrungen auszutauschen, Informationen zu finden. Obgleich sie auch andere Soziale Netzwerke nutzen, waren zumindest die Befragten auf Facebook konzentriert.

Von dieser Basis aus wurden die sozialen Netzwerke während der Revolution relevant. Die Beteiligten nutzen ihre sozialen Gepflogenheiten und Fähigkeiten, um sich zu beteiligen. Dies funktionierte, weil die Fähigkeiten vorhanden waren und Soziale Netzwerke eine Verbeitung gefunden hatten. Interessant ist, dass – im Gegensatz zu Studien, die darauf verweisen, dass ein Grossteil der Kontakte, die Online gepflegt werden, auch Offline existieren – Ägypterinnen und Ägypter während der Proteste ihre sozialen Zirkel per Sozialen Netzwerken erweiterten (was auch das Kennenlernen anderer Sichtweisen auf die Welt einschliessen kann).

Die Befragten geben an, dass ihnen die Netzwerke die Möglichkeit gaben, {a} Kontakte zwischen Protestierenden herzustellen und zu halten, {b} notwendige Informationen auszutauschen, {c} die ägyptische Bevölkerung zu mobilisieren, {d} das Regime zu schwächen und letztlich zu Fall zu bringen und {e} Sympathien für ihren Kampf in anderen Staaten herzustellen. „SNS helped greatly in the Egyptian Revolution, facilitating the people’s access to the events and news of the revolution around the clock.“ (Mansour 2012, p. 145)

Der Text von Mansour ist unbedingt zu empfehlen.

Und sonst?

Aber: Wie steht es eigentlich sonst mit dem Thema in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft? Irgendwie scheint Mansours Text alleine zu stehen. Auch bei näherem Hinschauen. Es gibt einige wenige Texte in fachnahen Zeitschriften, beispielsweise eine kurze Diskussion von John Charlton [Charlton, John (2011) / Tweeting a Revolution. In: Information Today 28 (2011) 6, p.p.12-13] in welcher er die These vertritt, dass Soziale Netzwerke für die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und (damals noch „laufend“) Libyen relevant wären, aber andere Faktoren (insbesondere eine Infrastruktur aus Protestgruppen) wichtiger seien.

Ashraf Darwish und Kamaljit I. Lakhtaria stimmen dem letztlich in einem kurzen Abschnitt eines Textes, welcher sich sonst eher mit Web 2.0-Kommunikation im allgemeinen beschäftigt, [Darwish, Ashraf ; Lakhtaria, Kamaljit I. (2011) / The Impact of the New Web 2.0 Technologies in Communication, Development, and Revolutions of Societies. In: Journal of Advances in Information Technology, 2 (2011) 4, 204-216] zu: „The role of the internet in Egypt’s revolution has definitely been overstated.“ (Darwish, Lakhtaria 2011, p. 214). Allerdings basieren sie diese Aussagen nur auf Daten über die Verbreitung von Kommunikationsgeräten in Ägypten, während Mansour Menschen, die sich an den Protesten beteiligten, befragte.

Aber daneben sieht es mau aus. Es scheint, als würde sich die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht mit den Revolutionen auseinandersetzen, obgleich die Forschungsfragen quasi auf den Tahrir-Plätzen herumlagen. Es gab massive gesellschaftliche Veränderungen; das Internet, mobile Kommunikationen, Informationsverteilung spielten dabei eine wichtige Rolle: Es läge nahe, wenn dies zu Forschungen führen würde. Aber nicht einmal solche Zeitschriften wie die FirstMonday, die sonst sehr nahe am Puls der Internetgemeinde sind, haben zum arabischen Frühling Artikel publiziert.

Der globale Norden

Sicherlich: Solche Aussagen mache ich auf einer leidlich unsicheren Basis. Ich beziehe mich auf Texte in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das sind lange nicht alle die Sprachen, die auf den Strassen Ägyptens, Tunesiens, Libyens oder Syriens gesprochen werden, nicht einmal die wichtigsten. Vielleicht gibt es in der Region eine lebhafte Forschung, die auf arabisch geführt wird. Wer weiss? (Also: Wenn es jemand weiss, würde ich es gerne wissen.) Ich meine: Es gibt ein Department of Library & Information Science an der South Valley University, Qena (wo Essam Mansour herkommt) – nicht einmal davon wusste ich, bevor ich den Text in der Library Review las. Was wissen wir schon über die Bibliotheks- und Informationswissenschaft Westeuropas, Kanadas und der USA?

Und sicherlich hätte das einen unguten Beigeschmack, wenn wieder nur der globale Norden über den globalen Süden forschen würde. Aber selbst dies müsste nicht sein. Nicht nur, dass das Thema ein guter Grund wäre, die Sprachgrenzen zu überwinden und mit Kolleginnen und Kollegen des globalen Südens zusammenzuarbeiten. Es gäbe auch hier, im globalen Norden, genug zu forschen. So war 2011 bei vielen auch das Jahr, wo aus Al Jazeera „der Sender, von dem man in anderen Sender mal gehört hat“ ein Al Jazeera „der krasse Sender, der manchmal ganz schon antisemitisch ist, aber auf der anderen Seite sich auch voll für die eigenen Sendungen in Zeug legt, moderne Kommunikationswege integriert, und unglaubliche Dinge veranstaltet, um über Proteste zu berichten“ wurde. Das alleine wäre schon mehrere Studien Wert: Wie wird und wurde Al Jazeera wäre der Revolutionen wahrgenommen, insbesondere da er als Internetsender funktionierte und Web 2.0-Angebote fliessen integrierte? Hat der Sender das Bild der Proteste im globalen Norden geprägt (beziehungsweise: klar hat er das, aber wie hat er sie geprägt). Was ging im Netz? Haben die Reaktionen der Internetnutzerinnen und nutzer im globalen Norden etwas beigetragen zu den Revolutionen? Was? Wie? Welche Rolle spielten dabei Informationen? Mir scheint, eine der wichtigen Lehren, die aus dem Text von Mansour gezogen werden können, ist, dass hier ein erstaunliches Forschungsdesiderat vorliegt. Oder interessiert einfach niemand die soziale und politische Seite der Nutzung von Informationen?

 

Fussnote 

1„This researcher participated in most of the demonstrations that took place in El-Tharir (Libration) square in the heart of Cairo, informing demonstrators of this study in person, in addition to announcing it on his Facebook page.” (Mansour 2012, p. 134).

Bibliothek der Skulpturen

Im Bündner Kunstmuseum in Chur – dem unter anderen grossartige Werke vom Angelika Kaufmann (weil in Chur geboren), Ernst Ludwig Kirchner (insbesondere dem Spätwerk, das er um die Ecke in Davos fertigte) und den Giacomettis (insbesondere Augusto Giacometti, den zu entdecken sich wirklich lohnt) gehören, weshalb ein Besuch unbedingt immer angeraten ist – findet aktuell die Ausstellung Library of Sculpture von Vaclav Pozarek statt.

Pozarek sammelt neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit seit Jahren Medien zu Skulpturen und Bildhauerei. Im Kunstmuseum, genauer in der Villa Planta, die selbst ein Kunstwerk aus der Neorenaissance darstellt, materialisiert der Künstler auf einer gesamten Etage diese Bibliothek. Sicherlich: Diese Bibliothek ist keine Bibliothek, wie sie von heutigen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren verstanden wird. Pozarek rekurriert vielmehr auf ein Bild der Bibliothek als Sammlung von Wissen (beziehungsweise Informationen, die als Wissen genutzt werden können) und Ort des Einfühlens, Lernens und Eintauchens in ein Thema.

Die Frage, welche sich dem Künstler offenbar stellt, ist, wie sich sich die Geschichte und Realität von Skulpturen vermitteln lässt. Eine Institution schwebt ihm vor, aber keine konkrete. Vielmehr unternimmt er mehrere Anläufe, die sich in jeweils einem weiteren Raum der Ausstellung finden. Insbesondere die Manie, Dutzende von Versuchen zu einem Logo der Library zu produzieren (etwas, was bei realen Bibliotheken eher am Ende steht), zeigt, wie unterschiedlich an die Institution herangegangen werden kann. Bedeutungsvoll ist, dass in allen Räumen der Versuch einer objektiven Darstellung und eines objektiven Zugangs an das Thema an der Subjektivität des Künstlers scheitert. Im ersten Raum findet sich beispielsweise ein Tisch mit einer repräsentativen Auswahl von zwölf Werken zur Bildhauerei. Das sieht auf den ersten Blick umfassend aus, aber es ist es nicht. Weder sind alle Stilrichtungen abgedeckt, noch ist klar, warum gerade bestimmte Werke bestimmte Themen repräsentieren (und warum gerade zwölf). Die subjektive Auswahl des Künstlers prädeterminiert die Objektivität. Selten wird so massiv klar, wie sehr alle objektiven Darstellungen von Wissensbeständen am eigenen Anspruch scheitern müssen – und wie wenig uns dies davon abhält, es doch immer wieder zu versuchen.

Gleichzeitig nutzt der Künstler die zahlreichen Bücher anders, als es Bibliotheken tun würden. Hier sind sie wieder Symbol für etwas, sondern stehen für ein Wissen, dass schon vorhanden sein muss, bevor man sich ihnen nähert. „Die Zürcher Konstruktivisten“ steht zum Beispiel unter einem Bild (in einem Raum, der den Zugang zum Thema über Porträts versucht), aber man darf nicht erwarten, das in der Ausstellung erklärt würde, wer das wäre oder was ihre Bedeutung war. Vielmehr sind die unterschiedlichen Medien Repräsentationen von Informationen, die immer wieder neu angeordnet werden. Bücher sind nicht zum Gelesen-werden da, sondern zum Darstellen von Etwas. Genauso wie Photos, Ausschnitte, Skulpturen, Sitzmöbel, eine Zeitung zur Ausstellung, ein Katalog. In einem Raum werden Bücher in einer Form aufgestellt, die sie selber zu Objekten einer Skulptur werden lässt. Hier siegt die Ästhetik über den Inhalt.

Dies liegt nicht nur im Gebiet dieser Bibliothek begründet. Sicherlich muss eine Library of Sculpture auch Skulpturen enthalten. Aber es zeigt sich auch ein nicht-bibliothekarisches Verständnis von Bibliothek, welches ernst genommen werden muss: Die Bibliothek wird nicht von den Medien her definiert, auch nicht von Wissen, das sich in ihr erarbeitet werden könnte, sondern als Erinnerungs- und Ordnungsraum (auch wenn diese Ordnung offenbar nie genügt, sondern immer neu angegangen werden muss). Dies schliesst an einem Verständnis von Bibliotheken als Fortführung der Wunderkammern an. Und obgleich Kunst nicht auf Aussagen zielen muss, lässt sich doch direkt etwas für den bibliothekarischen Diskurs ableiten: Diese Vorstellung von Bibliothek als Wunderkammer und Gelehrtenraum ist nicht tot. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage.

Library of Sculpture (18. Februar – 6. Mai 2012): Bündner Kunstmuseum, Chur, Postplatz (Eintritt 12 CHF)

Publikation: LOS. Vaclav Pozarek. Library of Sculpture, mit Texten von Stephan Kunz und Max Wechsler, Zürich: Scheidegger & Spiess, 128 Seiten, ca. 85 Abbildungen, CHF 48.- / CHF 40.- für BKV-Mitglieder. (Nach der Ausstellung CHF 54.-)

Öffentliche Führungen durch die „Library of Sculpture“: An den Donnerstagen, 23. Februar, 8. März, 29. März, 19. April , 26. April, 3. Mai, jeweils 18 Uhr

Vortragsreihe im Rahmen der Ausstellung „Library of Sculpture“ in Zusammenarbeit mit der Kantonsbibliothek Graubünden

Jan-Andrea Bernhard: Bibliotheken in Bündner Patrizierhäusern: Repräsentationsmittel der Adligen, oder Arbeitsmittel der Gelehrten?, Donnerstag, 8. März, 19 Uhr

Dorothée Bauerle-Willert: Aby Warburgs Bibliothek: ein Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte, Donnerstag, 15. März, 19 Uhr

Iso Camartin: Die Bibliothek von Babel. Die wirklichen und die erträumten Bücher des Jorge Luis Borges, Donnerstag, 19. April, 19 Uhr

Max Wechsler: Das Museum John Soane in London, Donnerstag, 26. April, 19 Uhr

Susanne Bieri: Dem Künstlerarchiv verschrieben: «… Darin alles was sonst mit Worthen gegeben auch den Augen vorgestellet wird», Donnerstag, 3. Mai, 19 Uhr