Bourdieu für die Bibliothekswissenschaft

Die Le Monde veröffentlichte am gestrigen Dienstag, 24.01., (eigentlich einen Tag zu spät) ein vierseitiges Dossier anlässlich des zehnjährigen Todestages von Pierre Bourdieu. Reflektiert wurde, wie es sich zu solchen Jahrestagen gehört, über die Bedeutung Bourdieus für die aktuelle Soziologie und Politik, sowie zu der Frage, was er wohl heute zu sagen hätte, beziehungsweise: wie er seine Arbeiten heute fortgeführt hätte, wäre er nicht gestorben. Getan wurde das, neben einem einleitenden Artikel, von Fachkolleginnen und Fachkollegen Borudieus. Axel Honneth verortet ihn beispielsweise im Kontext zwischen Marx, Kritischer Theorie und Max Weber, Nancy Fraser diskutiert die Forschung Bourdieus zur Frauenfrage und post-industrieller Gesellschaft. Diskutiert wird eigentlich alles wichtige aus Bourdieus Werk, außer vielleicht seine frühen ethnologischen Arbeiten in Algerien.

In der Schweiz und in Deutschland bekannt ist Bourdieu wohl vor allem mit „Das Elend der Welt“ [Bourdieu, Pierre et al. (1997) / Das Elend der Welt : Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. – Konstanz : UTB. franz.: La misère du monde (1993)], einer Studie über das Leben in den Banlieus (was aber eben auch als potentielle Zukunft des Lebens im Kapitalismus verstanden wird). Das Buch ist vor allem im Le monde diplomatique Milieu bekannt und wurde gerade während der Occupy-Proteste und der Berichterstattung über diese immer wieder referenziert. Auch in der Le Monde wurde es in diesem Zusammenhang noch einmal besprochen.

Aber: Bezogen auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft scheint mir das nicht das relevanteste Werk Bourdieus zu sein. Da allerdings diese, unsere Wissenschaft erstaunlich unsoziologisch ist (ganze Zweige kommen ja damit aus, nicht über die Gesellschaft zu reden, wenn sie über Information forschen), ist Bourdieu auch nicht wirklich bekannt.

Allerdings: Gerade bezogen auf die Forschungen zu Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken und Nutzungsweisen von Bibliotheken sind zwei andere seiner Werke relevant: Die feinen Unterschiede [Bourdieu, Pierre (1982) / Die feinen Unterschiede : Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. franz.: La distinction : Critique sociale du jugement] und (zusammen mit Jean-Claude Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit [Bourdieu, Pierre ; Passeron, Jean-Claude (1971) / Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. – Stuttgart : Klett, 1971. franz.: Les étudiants et la culture und La reproduction : Eléments pour une Théorie du Systéme d’Enseigenement]. Der zehnte Todestag scheint ein guter Zeitpunkt, auf diese beiden Werke noch einmal dezidiert hinzuweisen. Ich würde argumentieren, dass man beide gelesen haben sollte, bevor man versucht, etwas über Bildungswirkungen, Habitus oder gesellschaftlichen Barrieren auszusagen.

In Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu, zusammen mit einem Team an weiteren Forschenden, eine grundlegend einfache These empirisch: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung einer Person, deren Alltagsgestaltung, kultureller und sozialer Aktivitäten. Oder anders: Die Reichen leben auf die eine Weise, die Armen auf eine andere – und das weder vollständig selbst gewählt, noch erzwungen. Es lassen sich unterschiedliche Subgruppen ausmachen; aber allen ist gemein, dass sie ihren eigenen Lebensstil als quasi natürlich ansehen. Ins Museum gehen oder nicht ins Museum gehen, gebrauchte Möbel kaufen oder handgefertigte, viel reden und aushandeln oder lieber viel schweigen: was wie eine individuelle Disposition wirkt, ist immer eine Wahl innerhalb eines sozial verorteten Rahmens.

Das ist die Grundthese, die bei Bourdieu mittels mehrere tausend Interviews (und dabei Beobachtungen der Wohnungen der Befragten) untersucht wird. Dabei geht es nicht nur darum, die These zu testen, sondern auch darum, die Befunde in einer Theorie zu erklären. Hierbei führen Bourdieu et al. die Konzepte soziales Kapital und Bildungskapital ein. Diese Konzepte sind anschließend trivalisiert worden. In der heutigen Verwendung fehlt ihnen eine wichtige Grundtendenz, nämlich die Überlegungen zur Akkumulation, Reproduktion und Transformation dieser Kapitalarten. Deshalb sollte man, neben der empirischen Herleitung, die Herleitung der Kapitalarten bei Bourdieu direkt nachlesen. Dann wird nämlich klar, dass es nicht einfach möglich ist, Kapital „nachzuschießen“, also beispielsweise einige Unterstützungsangebote für sozial Schwache anzubieten und damit Chanchengleichheit im sozialen Rahmen herzustellen. Ebenso wird klar, dass es bei sozialen Ungleichheiten größtenteils um systemische Probleme geht und nicht um individuelles Fehlverhalten.

Bezogen auf Bibliotheken bietet dieses Konzept eine viel bessere Möglichkeit, die unterschiedlichen Nutzungswiese oder Nicht-Nutzungsweisen von Bibliothek und bibliothekarischen Angeboten zu verstehen, als die zumeist aus dem Marketing geborgten Methoden.

In der Illusion der Chancengleichheit gehen Passeron und Bourdieu dem Phänomen nach, dass das (hier französische) Bildungssystem auf der einen Seite Chancengleichheit bieten soll und anstrebt, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Gleichheit der Chancen auch einigermaßen hergestellt wäre – und gleichzeitig doch Ungleichheit produziert, die sich zudem auf soziale Strukturen zurückführen lassen. Heutzutage ist zumindest der Fakt anerkannt, dass Bildungssysteme diese Ungleichheiten systematisch produzieren und dass dies eine Skandal ist. Allerdings gilt auch hier wieder: Die Erklärungsansätze sind relativ theorielos und verbleiben oft bei der Annahme, dass sozial Schwachen etwas nachgeholfen werden, gleichzeitig individuelle Aufmerksamkeit geschult werden müsse und dann würde sich das Skandalon lösen. So einfach ist das leider nicht (obgleich nichts gegen solche Unternehmungen nichts gesagt sein soll).

Passeron und Bourdieu kommen letztlich zu dem einfachen Grundsatz: Auch ein chancengerechtes System, dass in einer sozial ungleichen Gesellschaft funktioniert, produziert – weil eben keine Chancengleichheit am Beginn steht und zudem das System nicht unabhängig von der Gesellschaft agiert – Ungleichheit. Vielmehr: Durch die potentielle Blindheit (wenn diese Fakten vom System verleugnet werden und beispielsweise behauptet wird, die Schulzensuren wären für alle Schülerinnen und Schüler gleich und würden die gleichen Anforderungen stellen) verstärkt das vorgeblich gerechte Bildungssystem die bestehenden Ungleichheiten noch – ohne böse Absicht einzelner Individuen. Passeron und Bourdieu führen das schöne Beispiel des Bauernjungen an, für den in der Abschlussprüfung Nachsicht geübt wird, weil niemand der Prüfenden es ihm schwerer machen will, als unbedingt notwendig; aber gleichzeitig nicht gefragt wird, wo und wie sich dieser Bauernjunge überhaupt auf dem Weg zu dieser Prüfung in den zahlreichen Jahren zuvor durchsetzen musste.

Die Illusion der Chancengleichheit öffnet die Augen für solche unintendierten Effekte gutgemeinter Bildungsanstrengungen und Annahmen über das Lernen. Was für Schulen gilt, gilt für Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken und die dort (implizit) genutzten Annahmen über das Lernen und die vorgebliche Herstellung von Chancengleichheit bei der Nutzung von Bibliotheken, noch verstärkt.

Sichtbar ist: Beide Bücher wurden vor Jahrzehnten geschrieben, der Bezug ist Frankreich, nicht die Schweiz oder Deutschland. Und selbst in Frankreich hat sich die Situation gewandelt. (Siehe Das Elend der Welt) Zudem ist Bourdieu seit 10 Jahren tot, kann also auch nichts mehr fortschreiben. Dennoch sind die beiden Werke als Grundlage für das Weiterdenken weiterhin geeignet. Sie sind große Entwürfe, welche das Nachdenken anregen. Nicolas Truong und Nicolas Weill schreiben in ihrem Essay über Bourdieu in Le Monde, dass er in Frankreich quasi eine Soziologie zurückgelassen hätte, die jetzt wie ein Orchester ohne Dirigent funktioniert, obgleich diese Orchesterfunktion von Bourdieu nicht angestrebt war. Eben eine solche Wirkung kann man den beiden Werken für ein gesellschaftspolitisch interessiertes Nachdenken und Forschen über Bibliotheken zuschreiben. (Zumal das Leben Bourdieus gleich die Frage aufwirft, ob man als Nachdenkender über soziale Strukturen gesellschaftlich inaktiv bleiben darf., wobei er selbstverständlich in der Tradition engagierter Intellektueller – Zola, Satre, Foucault etc. – steht, was für die Bibliothekswissenschaft in der Schweiz und Deutschland, bei allem Respekt, nicht gesagt werden kann.)

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