Bibliothek der Holzbücher

Im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin findet zur Zeit unter anderem die Ausstellung Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald statt. Es sind in dieser Ausstellung kaum unerwartete Themen oder Exponate zu finden, vielmehr werden die Themen, die einem zum Wald einfallen, durchgearbeitet – insbesondere seine Entwicklung von der Naturromantik zum Symbol des Nationalismus, wo der Wald von tumben Toren bevölkert schien und gleichzeitig zum Mordplatz wurde. Aber auch der Umweltschutz, der Wald als Holz- und Rohstofflieferant, sowie als Ort harter Arbeit und künstlerischer Auseinandersetzung sind Thema. Eine eigene Abteilung ist dem Hirsch als Symbol von allem Möglichen gewidmet, was amüsant ist. (Leider hat das Museum hier die Chance verpasst, neben dem Hirsch als Symbol des Umweltschutzes, auch die Verwendung von Hirschen in antinationalen Protesten in Deutschland zu zeigen, obgleich jede größere Antifa in Deutschland mindestens ein Plakat mit umgefallenen Hirschen gemacht zu haben scheint. Die im DHM gezeigten Hirsche haben immer nur positiv gemeinte Bedeutungen, was so nun einmal nicht zutrifft.) Man kann sich die Ausstellung ruhig ansehen, muss es aber auch nicht.

ABER: Für Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Bibliothekswissenschaftlerinnen und Bibliothekswissenschaftler gibt es ein Ausstellungsstück, wegen dem sich der Besuch dennoch lohnt und angezeigt ist. Eine Holzbibliothek beziehungsweise Xylothek. Ich war verwundert, eine solche überhaupt zu sehen. Zumindest ich hatte bis anhin nichts von einer solchen gehört, nicht im Studium, nicht in der Praxis, nicht in der Literatur. In ihren ersten beiden Ausgaben berichtete damals (2008, 2009) die BRaIn über „besondere Bibliotheken“, aber auch dort fand sich nichts zu Xylotheken, obgleich das passend gewesen wäre.

Deshalb hier kurz: Was ist eine Xylothek? Eine Xylothek ist eine Bibliothek aus Holzbüchern über Bäume beziehungsweise mit Beispielen verschiedener Baumarten. Die Bibliothek, welche in Berlin ausgestellt wird, besteht von aussen aus Monographien, die ihrem Einband nach im 18. Jahrhundert verortet werden können. Beschriftet sind die Buchrücken mit den Namen verschiedener Baumarten, erschlossen sind sie durch Aufstellung, einfach alphabetisch. Da es sich um 140 Bücher handelt, ist das ausreichend. Schlägt man die Bücher allerdings auf, entpuppen sie sich als Holzkästen, in den jeweils innen, an beiden Deckeln Blätter, Nadeln, Zapfen, Äste und Holzbeispiele von Stämmen der jeweiligen Bäume angebracht sind.

Dabei handelt es sich nicht um eine Kunstaktion, wie man vermuten könnte, sondern um ein Nachschlagewerk und Arbeitsmittel für Waldarbeiter beziehungsweise Förster, welches in dieser Form offenbar im 18. Jahrhundert mehrfach angelegt wurden. Die Funktion ist relativ einfach erkennbar: Es ist quasi ein lebendes Bestimmungsbuch in 3D. Zudem ist eine Anzahl solcher Xylotheken auf uns hinterkommen. Obgleich sie selbstverständlich heute nicht mehr benötigt werden, sondern sich auch für die Forstarbeit elektronische Informationsmittel als praktischer erwiesen, sind sie denoch von Interesse. Zum einen berichten sie über den Zustand der damaligen Wälder sowie die Artenvielfalt. Zum anderen sind sie einfach schön anzuschauen.

Insoweit: Wer bis zum 04. März am DHM vorbeikommt, sollte einmal einen Blick darauf werfen. Wie gesagt: Ich habe leider von solchen Bibliotheken in der Ausbildung nie etwas gehört und vermute mal, andere auch nicht.

(Leider finden sich im Katalog zur Ausstellung keine weiteren Hinweise zu Xylotheken. Aber unter http://www.specula.at/adv/monat_9712.htm findet sich eine Liste mit anderen Xylotheken in Europa. Eine Forschungsarbeit, die einen breiteren Überblick zu Xylotheken, deren Verbreitung, Nutzung, Systematiken und heutigen Existenz existiert bislang noch nicht. Ein Leseinteresse daran sei hiermit angemerkt.)

Bourdieu für die Bibliothekswissenschaft

Die Le Monde veröffentlichte am gestrigen Dienstag, 24.01., (eigentlich einen Tag zu spät) ein vierseitiges Dossier anlässlich des zehnjährigen Todestages von Pierre Bourdieu. Reflektiert wurde, wie es sich zu solchen Jahrestagen gehört, über die Bedeutung Bourdieus für die aktuelle Soziologie und Politik, sowie zu der Frage, was er wohl heute zu sagen hätte, beziehungsweise: wie er seine Arbeiten heute fortgeführt hätte, wäre er nicht gestorben. Getan wurde das, neben einem einleitenden Artikel, von Fachkolleginnen und Fachkollegen Borudieus. Axel Honneth verortet ihn beispielsweise im Kontext zwischen Marx, Kritischer Theorie und Max Weber, Nancy Fraser diskutiert die Forschung Bourdieus zur Frauenfrage und post-industrieller Gesellschaft. Diskutiert wird eigentlich alles wichtige aus Bourdieus Werk, außer vielleicht seine frühen ethnologischen Arbeiten in Algerien.

In der Schweiz und in Deutschland bekannt ist Bourdieu wohl vor allem mit „Das Elend der Welt“ [Bourdieu, Pierre et al. (1997) / Das Elend der Welt : Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. – Konstanz : UTB. franz.: La misère du monde (1993)], einer Studie über das Leben in den Banlieus (was aber eben auch als potentielle Zukunft des Lebens im Kapitalismus verstanden wird). Das Buch ist vor allem im Le monde diplomatique Milieu bekannt und wurde gerade während der Occupy-Proteste und der Berichterstattung über diese immer wieder referenziert. Auch in der Le Monde wurde es in diesem Zusammenhang noch einmal besprochen.

Aber: Bezogen auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft scheint mir das nicht das relevanteste Werk Bourdieus zu sein. Da allerdings diese, unsere Wissenschaft erstaunlich unsoziologisch ist (ganze Zweige kommen ja damit aus, nicht über die Gesellschaft zu reden, wenn sie über Information forschen), ist Bourdieu auch nicht wirklich bekannt.

Allerdings: Gerade bezogen auf die Forschungen zu Öffentlichen Bibliotheken, Schulbibliotheken und Nutzungsweisen von Bibliotheken sind zwei andere seiner Werke relevant: Die feinen Unterschiede [Bourdieu, Pierre (1982) / Die feinen Unterschiede : Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. franz.: La distinction : Critique sociale du jugement] und (zusammen mit Jean-Claude Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit [Bourdieu, Pierre ; Passeron, Jean-Claude (1971) / Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. – Stuttgart : Klett, 1971. franz.: Les étudiants et la culture und La reproduction : Eléments pour une Théorie du Systéme d’Enseigenement]. Der zehnte Todestag scheint ein guter Zeitpunkt, auf diese beiden Werke noch einmal dezidiert hinzuweisen. Ich würde argumentieren, dass man beide gelesen haben sollte, bevor man versucht, etwas über Bildungswirkungen, Habitus oder gesellschaftlichen Barrieren auszusagen.

In Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu, zusammen mit einem Team an weiteren Forschenden, eine grundlegend einfache These empirisch: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung einer Person, deren Alltagsgestaltung, kultureller und sozialer Aktivitäten. Oder anders: Die Reichen leben auf die eine Weise, die Armen auf eine andere – und das weder vollständig selbst gewählt, noch erzwungen. Es lassen sich unterschiedliche Subgruppen ausmachen; aber allen ist gemein, dass sie ihren eigenen Lebensstil als quasi natürlich ansehen. Ins Museum gehen oder nicht ins Museum gehen, gebrauchte Möbel kaufen oder handgefertigte, viel reden und aushandeln oder lieber viel schweigen: was wie eine individuelle Disposition wirkt, ist immer eine Wahl innerhalb eines sozial verorteten Rahmens.

Das ist die Grundthese, die bei Bourdieu mittels mehrere tausend Interviews (und dabei Beobachtungen der Wohnungen der Befragten) untersucht wird. Dabei geht es nicht nur darum, die These zu testen, sondern auch darum, die Befunde in einer Theorie zu erklären. Hierbei führen Bourdieu et al. die Konzepte soziales Kapital und Bildungskapital ein. Diese Konzepte sind anschließend trivalisiert worden. In der heutigen Verwendung fehlt ihnen eine wichtige Grundtendenz, nämlich die Überlegungen zur Akkumulation, Reproduktion und Transformation dieser Kapitalarten. Deshalb sollte man, neben der empirischen Herleitung, die Herleitung der Kapitalarten bei Bourdieu direkt nachlesen. Dann wird nämlich klar, dass es nicht einfach möglich ist, Kapital „nachzuschießen“, also beispielsweise einige Unterstützungsangebote für sozial Schwache anzubieten und damit Chanchengleichheit im sozialen Rahmen herzustellen. Ebenso wird klar, dass es bei sozialen Ungleichheiten größtenteils um systemische Probleme geht und nicht um individuelles Fehlverhalten.

Bezogen auf Bibliotheken bietet dieses Konzept eine viel bessere Möglichkeit, die unterschiedlichen Nutzungswiese oder Nicht-Nutzungsweisen von Bibliothek und bibliothekarischen Angeboten zu verstehen, als die zumeist aus dem Marketing geborgten Methoden.

In der Illusion der Chancengleichheit gehen Passeron und Bourdieu dem Phänomen nach, dass das (hier französische) Bildungssystem auf der einen Seite Chancengleichheit bieten soll und anstrebt, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Gleichheit der Chancen auch einigermaßen hergestellt wäre – und gleichzeitig doch Ungleichheit produziert, die sich zudem auf soziale Strukturen zurückführen lassen. Heutzutage ist zumindest der Fakt anerkannt, dass Bildungssysteme diese Ungleichheiten systematisch produzieren und dass dies eine Skandal ist. Allerdings gilt auch hier wieder: Die Erklärungsansätze sind relativ theorielos und verbleiben oft bei der Annahme, dass sozial Schwachen etwas nachgeholfen werden, gleichzeitig individuelle Aufmerksamkeit geschult werden müsse und dann würde sich das Skandalon lösen. So einfach ist das leider nicht (obgleich nichts gegen solche Unternehmungen nichts gesagt sein soll).

Passeron und Bourdieu kommen letztlich zu dem einfachen Grundsatz: Auch ein chancengerechtes System, dass in einer sozial ungleichen Gesellschaft funktioniert, produziert – weil eben keine Chancengleichheit am Beginn steht und zudem das System nicht unabhängig von der Gesellschaft agiert – Ungleichheit. Vielmehr: Durch die potentielle Blindheit (wenn diese Fakten vom System verleugnet werden und beispielsweise behauptet wird, die Schulzensuren wären für alle Schülerinnen und Schüler gleich und würden die gleichen Anforderungen stellen) verstärkt das vorgeblich gerechte Bildungssystem die bestehenden Ungleichheiten noch – ohne böse Absicht einzelner Individuen. Passeron und Bourdieu führen das schöne Beispiel des Bauernjungen an, für den in der Abschlussprüfung Nachsicht geübt wird, weil niemand der Prüfenden es ihm schwerer machen will, als unbedingt notwendig; aber gleichzeitig nicht gefragt wird, wo und wie sich dieser Bauernjunge überhaupt auf dem Weg zu dieser Prüfung in den zahlreichen Jahren zuvor durchsetzen musste.

Die Illusion der Chancengleichheit öffnet die Augen für solche unintendierten Effekte gutgemeinter Bildungsanstrengungen und Annahmen über das Lernen. Was für Schulen gilt, gilt für Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken und die dort (implizit) genutzten Annahmen über das Lernen und die vorgebliche Herstellung von Chancengleichheit bei der Nutzung von Bibliotheken, noch verstärkt.

Sichtbar ist: Beide Bücher wurden vor Jahrzehnten geschrieben, der Bezug ist Frankreich, nicht die Schweiz oder Deutschland. Und selbst in Frankreich hat sich die Situation gewandelt. (Siehe Das Elend der Welt) Zudem ist Bourdieu seit 10 Jahren tot, kann also auch nichts mehr fortschreiben. Dennoch sind die beiden Werke als Grundlage für das Weiterdenken weiterhin geeignet. Sie sind große Entwürfe, welche das Nachdenken anregen. Nicolas Truong und Nicolas Weill schreiben in ihrem Essay über Bourdieu in Le Monde, dass er in Frankreich quasi eine Soziologie zurückgelassen hätte, die jetzt wie ein Orchester ohne Dirigent funktioniert, obgleich diese Orchesterfunktion von Bourdieu nicht angestrebt war. Eben eine solche Wirkung kann man den beiden Werken für ein gesellschaftspolitisch interessiertes Nachdenken und Forschen über Bibliotheken zuschreiben. (Zumal das Leben Bourdieus gleich die Frage aufwirft, ob man als Nachdenkender über soziale Strukturen gesellschaftlich inaktiv bleiben darf., wobei er selbstverständlich in der Tradition engagierter Intellektueller – Zola, Satre, Foucault etc. – steht, was für die Bibliothekswissenschaft in der Schweiz und Deutschland, bei allem Respekt, nicht gesagt werden kann.)

User Generated Metadata als Werbeeffekt?

[Zu: (Preprint) Hercher, Johannes; Ruhl, Marcel & Sack, Harald (2012) / Quo vadis nutzergenerierte Metadaten?. – In: Social Media and Web Science, 2. DGI Konferenz, 64. Jahrestagung der DGI, Düsseldorf, 22.-23. März 2012, Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis, Frankfurt, (2012, forthcoming). – http://www.hpi.uni-potsdam.de/fileadmin/hpi/FG_ITS/Semantic-Technologies/paper/Hercher2012.pdf%5D

Dies ist keine Rezension, sondern eher die Darstellung einer massiven Irritation.

Auf den Text von Hercher, Ruhl und Sack über ihre Umfrage zum Einsatz von Nutzerinnen- und Nutzergenerierten Metadaten wurde in den letzten Tagen relativ oft hingewiesen. Über diesen sollten wir vielleicht aber einmal reden und ihn nicht nur verbreiten. So grundsätzlich positiv, wie die Ergebnisse des Textes dargestellt werden, sind sie meines Erachtens nicht.

Hercher, Ruhl und Sack führten eine Online-Umfrage bei Bibliotheken, Archiven und Museen durch, bei der sie den Umgang dieser Einrichtungen mit user generated metadata erfragten. Der Text sollte über diese Umfrage berichten. 51 Einrichtungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nahmen an der Umfrage vollständig teil. Da es keine Ausgabe dazu gibt, wie viele Einrichtungen überhaupt von Nutzerinnen und Nutzern generierte Daten benutzen, ist nicht klar, wie repräsentativ diese Teilnahme war. Allerdings geben die Autoren selber an, dass die Umfrage 1.341-mal aufgerufen wurde. Dies bedeutet eine erstaunlich hohe Zahl (96,2%) von Abbrüchen, welche weit über Werten anderer Umfragen liegt und die von den Autoren nur mit relativ zweifelhaften Argumenten abgetan werden. Sicherlich kann, wie die Autoren argumentieren, ein Teil der Interessierten die Umfrage abgebrochen haben, weil die Software nicht funktionierte oder weil sie in ihrer Institution nicht in der Position waren, die Fragen zu beantworten. Aber das erklärt eine solche Abbruchrate nicht. Vielmehr hätten sich Hercher, Ruhl und Sack die Frage stellen müssen, was diese rabiate Selbstselektion der Teilnehmenden über das Thema der Umfrage oder die Umfrage selber aussagt. Eventuell wurde die Umfrage von Interessierten nicht als sinnvoll erachtet, eventuell gab es auch massive Probleme mit den konkreten Fragestellungen.1

So oder so muss man bei den gesammelten Daten davon ausgehen, dass diese das Ergebnis einer extremen Selbstselektion darstellen. Hier haben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nur noch die Individuen oder Einrichtungen geantwortet, die selber ein äußerst starkes Interesse am Thema haben. Es sagt etwas über die Wertigkeit des Themas aus, wenn gerade einmal 51 Einrichtungen aus drei Staaten etwas zu ihm zu sagen haben. Es scheint – im Gegensatz zu den Aussagen der Autoren –, dass sich nur wenige Bibliotheken, Archive und Museen überhaupt für user generated metadata interessieren. Dem steht eine relative breite Thematisierung in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft gegenüber. Für diesen Diskurs könnte die Umfrage ein Realitätscheck sein, denn selbstverständlich ist es von Interesse, wenn die Einrichtungen, über die Diskurse geführt werden, diese Diskurse mehrheitlich ignorieren oder von ihnen nicht erreichen werden.

Stattdessen nutzen die Autoren ihre Daten, als wäre sie repräsentativ, was sie nicht sind. Weitere Kritik ist anzubringen. Die Autoren ignorieren die wichtige Frage, wie stark die von Ihnen gesammelten Antworten sozial erwünscht sind. Dies ist allerdings bei Ihren Daten keine unwichtige Frage, kann man diese doch grob wie folgt zusammenfassen: Alle sind irgendwie dafür, die von Nutzerinnen- und Nutzern generierten Daten zu benutzen, aber vor allem wird ihnen einen Bedeutung bei der Bindung von Nutzerinnen und Nutzern zugeschrieben. Sozial erwünscht ist letztere Antwort gewiss nicht, zumindest nicht, wenn man sie etwas weiter denkt und „Bindung“ als Werbung und Werbemassnahme übersetzt. Erwünscht hingegen sind Antworten, die Kommentaren, Hinweisen von Nutzerinnen und Nutzern und weiterem eine Bedeutung zumessen – wir leben nun mal in Zeiten, in welchen das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern erwünscht ist (das sind fraglos nicht die schlechtesten Zeiten und Ziele). Bedenkt man dies alles, wertet die Abgabe sozial erwünschter Antworten als nicht so wichtig, die Abgabe sozial unerwünschter Antworten hingegen als wichtiger, dann sind die Ergebnisse von Hercher, Ruhl und Sack noch erstaunlicher. Offenbar wird von den wenigen Einrichtungen, die sich für das Thema user generated metadata interessieren, in ihnen vor allem ein Werbeeffekt gesehen. Ist das statthaft? Was sagt das aus?

Vielleicht ist das eine negative Wertung der Ergebnisse, aber sie erscheint nicht weiter hergeholt, als die von den Autoren vorgelegte. Diese weisen selber darauf hin, dass die antwortenden Einrichtungen – trotz aller Selbstselektion – eher enttäuscht von den Daten, die von den Nutzerinnen und Nutzern geliefert wurden, seien. Hier wäre ein Ansatz für weitere Forschungen, nämlich darüber nachzudenken, was genau die Bibliotheken, Archive und Museen eigentlich erwarten und welche Daten Nutzerinnen und Nutzer eigentlich erstellen sollten. Auch hier hätten die Daten der Umfrage eher dazu genutzt werden können, darüber nachzudenken, wie weit der Diskurs über die Daten und ihre Nutzungsmöglichkeiten von der tatsächlichen Nutzung in den Einrichtungen entfernt ist und warum.

Im letzten Teil ihrer Arbeit versuchen die Autoren dann aufgrund einer Literaturrecherche Barrieren bei der Verwendung von user generated metadata zu identifizieren. Das allerdings ist inhaltlich eher ein zweiter Artikel und es ist nicht so richtig klar, warum die Autoren diesen Teil mit den Daten zusammen publizierten. Aber auch so ist der Abschnitt erstaunlich: Die Autoren gehen explizit davon aus, „dass sich Nutzer unaufgefordert beteiligen, sofern die Barrieren dazu nicht zu hoch sind.“ (Hercher, Ruhl & Sack, 2011, S. 11) Dies wird zwar konsequent durchgeführt, aber es ist doch ein absonderliches Menschenbild: Die Nutzerinnen und Nutzer würden quasi darauf warten, sich an der Arbeit von Bibliotheken, Archiven und Museen zu beteiligen, nur würden sie zur Zeit davon abgehalten werden. Diese Vorstellung widerspricht nicht nur den Forschungen zum menschlichen Verhalten in so unterschiedlichen Feldern wie der Politik- und Sozialwissenschaft – insbesondere der Engagementforschung –, der Psychologie oder auch der Werbeindustrie; sondern selbstverständlich auch allen Alltagserfahrungen. Menschen engagieren sich, wenn sie sich engagieren wollen und dazu angehalten werden. Sicherlich gibt es Barrieren, die sie dann auch noch davon abhalten können, dass zu tun. Wenn, dann wäre es sinnvoll gewesen, nach einer Förderung des Engagements zu fragen. Die Möglichkeit zum Engagement – beziehungsweise der Lieferung von Daten – zu schaffen ist zwar eine Voraussetzung, aber das alleine wird keine neuen Daten hervorbringen.

Der Text ließt sich, als hätten die Autoren unter dem Druck gestanden, ihre Daten publizieren zu müssen, egal was die Ergebnisse sind. Dieses Problem ist bekannt und ein Ergebnis von bestimmten Strukturen der Forschungsförderung, von Deadlines und der bekannten Arbeitsüberlastung. Insoweit sollte das den Autoren nicht vorgeworfen werden. Dennoch wirkt es sich bei diesem Text eher negativ aus. Die von ihnen durchgeführte Umfrage hat Daten hervorgebracht, die weiter tiefer und anders hätten diskutiert werden müssten, als sie es tun. Dazu hätten sie ihre – ehedem nicht hergeleitete – These aufgeben und andere Fragen stellen müssen. Aber vielleicht kann dies im Nachhinein geschehen.

Diese Fragen wären meines Erachtens:

  • Gibt es (aktuell) überhaupt ein tatsächliches Interesse in Bibliotheken, Archiven und Museen zur Nutzung von Daten und Metadaten, die von Nutzerinnen und Nutzern erstellt wurden? Immerhin gibt es einen gewissen Diskurs über diese Möglichkeit. Oder gibt es nur eine sehr kleine Anzahl von Einrichtungen, die sich dafür interessieren? Wenn ja, warum?
  • Welche Vorstellungen und Wünsche haben die Einrichtungen, die sich auf diese Daten einlassen, überhaupt, wenn sie von den gelieferten Daten eher enttäuscht sind?
  • Haben die Einrichtungen überhaupt einen Workflow, um mit user generated metadata umzugehen? In der Umfrage wurde abgefragt, ob sie die Daten wichtig finden, aber nicht, ob sie sich auf diese überhaupt einlassen.
  • Haben die Einrichtungen überhaupt Vorstellungen davon, wie sie die Daten außer zu Werbezwecken einsetzen wollen? „Benötigen“ sie überhaupt Daten?
  • Was sagt der Riss zwischen den Diskurs über die Möglichkeiten dieser Daten und das eher geringe tatsächliche Interesse aus?

Ich weiß, eigentlich sollten Texte positiver besprochen werden. Aber dieser ließ mich eher erstaunt zurück und ich wollte dieses Erstaunen teilen. Vielleicht bin ich aber auch nur wieder der mit den zu großen Ansprüchen.

1Zu hinterfragen ist zumindest die Methodik, die Beantwortung der Fragen durch Individuen zuzulassen, aber diese für eine Einrichtung sprechen zu lassen.

Buchankündigung Randolph C. Head

Randolph C. Head hat ein Buch über Jörg Jenatsch geschrieben. Wer Jenatsch nicht kennt, sollte sich was schämen, immerhin ist er eine der bedeutendsten Personen in der Geschichte Graubündens (und damit meiner neuen Wahlheimat). Weil dieses Buch gerade ins Deutsche übersetzt wurde und der Verlag mit dem Autor eine Präsentation dieses Buches veranstaltete, findet sich in der hiesigen Umsonstzeitung (!) ein längeres Interview mit ihm. In diesem spricht er auch darüber, was er jetzt plant. Da es sonst wohl untergehen und übersehen würde, hier das Zitat (Aus: Buchli, Martina / "Jenatschs Axt": Eine neue Sicht auf den Bündnder Freiheitshelden". – In: Rheinzeitung, 7 (2012) 1, 04.01.2012, S. 3):

Ich arbeite jetzt an einem größeren Buch, das eher wissenschaftlich geschrieben ist. Es geht um die Geschichte der Archive, der Wissensorganisation und der Wissensaufbewahrung. Auch im Europa der frühen Neuzeit. (…) Es soll ein Buch werden, das auch einen Bezug zur Gegenwart hat. Heutzutage haben wir das Internet, Z. B. Google, Wikipedia, die unzählige Quellen zugänglich machen. Die Frage, was archiviert wird und wie man das organisiert, ist heute sehr relevant. Die Frage stellte sich angesichts der Papierflut aber auch in früheren Jahrhunderten.

 

Okay. Schauen wir doch mal, was da rauskommt.