Kleinverlage und Bestandsentwicklung

Immer, wenn wir in der libreas-Redaktion nach einem Schwerpunktthema für eine neue Ausgabe suchen und dann dazugehörigen Call for Paper verfassen, stellen wir uns vor, welche Beiträge zum jeweiligen Thema eingereicht werden könnten (bzw. welche wir bei wem anfragen können. Leider sind die Kolleginnen und Kollegen nicht so schreibbegeistert, dass sie in großer Masse Texte einreichen – mal so als Wink mit dem Zaunpfahl, wo der neue Call for Paper auch schon länger veröffentlicht ist). Leider gehen diese Gedankenspiele selten auf. Nicht, dass wir nicht gute und interessante Artikel erhalten würden und das darunter gerade auch solche sind, an die wir gar nicht gedacht hätten. Aber es gibt auch bei jeder Ausgabe Themen, die irgendwie auf der Hand liegen, dann aber „sterben“, weil sie niemand bearbeitet.

Bei unserer letzten Ausgabe gab es ein solches Thema, dass mich schon länger beschäftigt: Die Bestandsentwicklung. Zur Erinnerung: Das Thema der letzten Ausgabe war „Ethik und Zensur“. Mich interessiert die Frage, warum eigentlich welche Medien in den Bestand von Bibliotheken aufgenommen werden. Sicherlich: Bestandsentwicklungspläne, Orientierung am Profil der Bibliothek und den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer sowie Bedienung von Anschaffungsvorschlägen – das sind die Standardantworten. Aber sie befriedigen nicht. Sie sagen nämlich immer noch nicht aus, wieso bestimmte Medien ausgewählt und andere nicht ausgewählt werden. Grundsätzlich scheint mir die Frage, ob die Macht über die Bestandsentwicklung, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare – einen ausreichenden Etat vorausgesetzt – haben, auch als solche reflektiert wird. Dieses Thema taucht in der englischsprachigen Debatte immer wieder einmal, auch unter dem Schlagwort Zensur, auf. In der deutschsprachigen nicht so richtig.

Besonders auffällig scheint mir das, wenn man es auf Klein- und Kleinstverlage bezieht. Vielleicht ist das eine biographisch zu begründende Sichtweise, schließlich kenne ich eine ganze Anzahl von Menschen, die mithilfe solcher Kleinstverlage versuchen, ihr Leben zu finanzieren (was nicht so richtig klappt, aber das ist ein anderes Thema). Dennoch.

Klein- und Kleinstverlage werden oft von äußerst engagierten Menschen betrieben und zum Teil sind ihre Publikationen auch engagiert. Sicherlich: Ein Teil der Kleinverlage ist klein, weil die Literatur, die sie verlegen, einfach schlecht ist. Nicht einmal zu sehr spezialisiert oder so, sondern einfach schlecht. Aber auch nicht immer. (Zumal auch die größeren Verlage erstaunlich viel Schlechtes verlegen.) In vielem publizieren Kleinstverlage gerade Literatur und Meinungen, die nicht von den meist von Reihen und relativ klaren Profilen gekennzeichneten Angeboten großer Verlage abgedeckt werden. Zudem haben sie – trotz allen Open Access-Pubulikationsmöglichkeiten – die Funktion, Autorinnen und Autoren alternative Publikationsmöglichkeiten zu bieten. Ohne Kleinverlage noch mehr Langeweile auf dem Buchmarkt, noch mehr Reihen und Publikationen, die einmal erfolgreiche Medien zu reproduzieren versuchen. (So zumindest meine These.)

Gleichzeitig kämpfen quasi alle Kleinverlage ständig ums Überleben. (Nicht alle Kleinstverlage, weil die zum Teil tatsächlich mehr als Hobby neben anderen Unternehmungen betrieben werden. Das scheint mir ein Trend zu sein, der sich ja auch bei den Musiklabels zeigte.) Für sie zählt quasi jedes verkaufte Buch mehr als für die großen Verlage, die ja auch (zumeist) in größeren Auflagen rechnen und mehr Möglichkeiten haben, quer zu finanzieren. Während sich Auflagen in Kleinverlagen nahezu immer selber tragen müssen, können sich größere Verlage – was sie ja auch tun – die Herausgabe von einigen Werken erlauben, die das Profil schärfen und die Marke anreichern, aber sich nicht selber finanzieren.

Bezogen auf die Bibliotheken drängen sich meines Erachtens deshalb einige Fragen auf:

 

(a) Sollten Bibliotheken Klein- und Kleinstverlage bevorzugen? Wie gesagt, ist für den kleinen Verlage das eine verkaufte Buch wichtiger, als für den großen Verlag. So könnten Bibliotheken dafür mit Sorge tragen, dass kleine Verlage und eben nicht nur Suhrkamp überlebt.

 

(b) Nochmal: Sollten Bibliotheken Klein- und Kleinstverlage bevorzugen? Wäre es nicht zumindest aus ethischen Gründen wichtiger, Publikationen aus verschiedenen Quellen und Verlagen anzubieten und nicht, wie im Buchhandel aus ökonomischen Gründen, die großen Verlage noch durch die Überrepräsentation ihrer Angebote zu bevorzugen? Würde man nicht mit einer Auswahl aus mehr Verlagen auch ermöglichen, dass diese Verlage von den Nutzerinnen und Nutzern eher wahrgenommen werden?

 

(c) Wie kommen überhaupt Medien von Klein- und Kleinstverlagen in die Bibliotheken? Hier fehlt meiner Meinung nach das Wissen darüber, wie eigentlich Medien ausgewählt werden. Wenn Sie tatsächlich einfach per Stichworten aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher und den Rezensionen von Fachzeitschriften ausgewählt werden, mag man ja von einer Objektivität ausgehen können. Aber schon, wenn Kataloge der Verlage herangezogen werden, scheint mir das schwierig zu sein. Große Verlage können sich einfach mehr und dickere Kataloge leisten, als kleine. Das macht die Medien dieser Verlage nicht besser oder schlechter. Aber wenn X-Prozent des Erwerbungsetats für Medien ausgegeben werden, die aus den Katalogen von Verlagen, die sich das Drucken und Verschicken von Katalogen leisten können, ausgewählt wurden, wie sollen dann die Verlage, die sich das nicht leisten können, überhaupt zu Zug kommen? Werden dann Medien nicht eher gekauft, weil sie einem „interessanten“ Umfeld verlegt werden oder gerade mit auf einer Katalogseite abgebildet werden, als aus rein inhaltlichen Gründen? Zumeist ist das ja so, dass Kleinverlage Kataloge verschicken, wenn man sie darum bittet. Sollte nicht zumindest das aktiv von den Erwerbungsabteilungen getan werden?

 

(c1) Die gleiche Frage gilt dann auch für die Fachmedien: Wie wählen wir eigentlich die Medien aus, die rezensiert werden?

 

(d) Ist das Zensur? Die Frage, ob die strukturelle Bevorzugung großer Verlage als Zensur gegenüber kleinen Verlagen zu verstehen ist, beschäftigt einige englischsprachige Autorinnen und Autoren. Eine richtige Antwort scheint es nicht zu geben. Auf der einen Seite ist ersichtlich, das die ständige Bevorzugung großer Verlage tatsächlich dazu führen kann, dass kleine Verlage „unsichtbar“ werden (schließlich geht es nicht nur um die eine Entscheidung für oder gegen ein Medium, sondern um eine Haltung, die sich im Bestand selber niederschlägt); auf der anderen Seite scheint es nicht wirklich um eine aktive Zensur zu gehen (auch wenn große Wissenschaftsverlage, wie wir wissen, gerne versuchen, möglichst viel Etat einer Bibliothek zu binden, beispielsweise mit Reihen oder Standing Order, was aber erst einmal aus wirtschaftlichen Gründen passiert und nicht, weil die großen Verlage die kleinen zensurieren wöllten). Dennoch scheint es kein Thema zu sein, welches einfach mit einer Handbewegung fortgewischt werden kann.

 

(e) Als zugespitzte Frage: Ist Standing Order überhaupt ethisch zu verantworten? Wie soll ein Kleinverlage seine Medien überhaupt zur Kenntnis bringen, wenn der Bestand aus Standing Order-Angeboten zusammengestellt wird. Schon rechnerisch ist das oft unmöglich. Ein großer Verlag kann relativ gut für solche Präsentationen mal 50 oder 200 Exemplare eines Mediums bereitstellen und die Hälfte davon im Anschluss makulieren. Für kleine Verlage sind 200 Exemplare manchmal schon 50% der Auflage. Wenn Bibliotheken aber die Breite der Medien anbieten und reflektierten sollen, wie können sie dann zulassen, ihren Etat zum Teil an eine Angebotsform zu binden, die nicht von allen Verlagen angeboten werden kann (ohne, dass es inhaltliche Gründe hätte)?

 

Wie gesagt ist zu diesem Thema in der letzten libreas kein Artikel erschienen. Dabei scheint mir die Bestandsentwicklung ebenso relevant für ethische Diskussion im Bibliothekswesen zu sein, wie die Frage der Zugänglichkeit. Es geht ja nicht nur darum, den Zugang zu den Beständen, die schon in den Bibliotheken stehen, zu ermöglichen, sondern auch darum, zu fragen, was überhaupt in diesen Bestand kommt und was nicht. Aber vielleicht kann man das Thema anderswo aufgreifen.