Was würde eine Wirkungsforschung in Schulbibliotheken ermöglichen?

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Auf dem diesjährigen Bibliothekstag in Berlin wurde auf der Veranstaltung der Expertenkommission „Bibliothek und Schule“ von einem der Teilnehmer, die vom Podium per Namen angesprochen (also offenbar im Kreis der Kommission bekannt ist) wurde, die These aufgestellt, dass es für eine Verbesserung der Situation von Schulbibliothek in Deutschland notwendig wäre, eine Wirkungsforschung zu installieren, welche der Wirkungsforschung in den USA ähnlich sein sollte. Diese Aussage – der in der Veranstaltung mehr oder minder zugestimmt wurde – hat mich seitdem immer wieder beschäftigt, den sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wieso soll eine Wirkungsforschung für eine Verbesserung der Situation von Schulbibliotheken notwendig sein? Was soll in diesem Zusammenhang Wirkungsforschung heißen? Wer soll die durchführen?

Ich bin ein großer Freund der Wissenschaft, aber ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel an dieser Aussage – vielleicht auch gerade, weil ich die Wissenschaft der Bibliothekspolitik bevorzuge. Gehen wir die Fragen einmal kurz durch.

Warum macht niemand die geforderte Wirkungsforschung?

Eine kurze Anmerkung zu Beginn, die vielleicht etwas angriffig klingt, aber doch notwendig ist: Wenn im Umfeld der Expertenkommission Bibliothek und Schule offenbar die Vorstellung vorherrscht, dass Wirkungsforschung notwendig wäre, warum macht diese dann niemand aus deren Umfeld? Der Ruf nach einer Forschung, die – so wäre meine These – die Vorstellungen der Expertenkommission unterstützt, kann meines Erachtens nicht einfach aufgestellt und dann einer Bibliotheks- oder Bildungsforschung überlassen werden. Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, den Interessen von Interessensgruppen zu entsprechen. Das tut sie schon viel zu oft. Ein Großteil des bibliothekarischen Personals ist akademisch gebildet, der Kontakt zu Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen – also vor allem den Universitäten und Fachhochschulen –, um Unterstützung zu erhalten, ist ebenso leicht herzustellen. Falls es tatsächlich ein Interesse an Wirkungsforschung zu Schulbibliotheken gibt, dann stellt sich die Frage, warum niemand, der oder die ein Interesse an dieser hat, sie durchführt.

Dies ist keine einfache Abwehr von Ansprüchen an die Wissenschaft, es ist ein Verweis darauf, dass diejenigen, die solche Forderungen erheben, auch die Verantwortung haben, an der Umsetzung der Forderung zu partizipieren. Gut möglich, dass beim Entwurf einer Wirkungsforschung auch den Beteiligten auffallen würde, dass ihre implizite Hoffnung auf Unterstützung ihrer Position gar nicht mit wissenschaftlichen Studien zu erfüllen ist. Gerade deshalb wäre es notwendig, die Fordernden einzubinden.

Was soll Wirkungsforschung herausfinden?

Dies führt zu einer wichtigen Frage: Was soll Wirkungsforschung eigentlich untersuchen? Das ist nicht trivial, ich würde vermuten, dass gerade hier der Unterschied zwischen Wissenschaft und dem Anspruch des Umfelds der Expertenkommission zu suchen ist.

Zumindest auf der Veranstaltung auf dem Bibliothekstag entstand der Eindruck, dass es bei der geforderten Wirkungsforschung gerade darum gehen sollte, empirische Nachweise zu führen, dass Schulbibliotheken die Schulqualität verbessern würden. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das ist so einfach nicht. Zum einen müsste die Frage geklärt werden, was eigentlich Schulqualität – oder wie es auch immer benannt werden könnte – ausmachen soll: Die Noten und Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler bei anderen Leistungstests? Die Zufriedenheit der Lehrkräfte mit der Situation an ihrer Schule? Die Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler? Die Lernbereitschaft? Die Ergebnisse in extra für die Wirkungsforschung entworfenen Tests? Geht es um die Ergebnisse in bestimmten Themenbereichen – zum Beispiel Sprachen und Recherchekenntnissen – oder allen Fächern? Die Reduzierung der Abhängigkeit der Lernergebnisse von sozialen Status der Schülerinnen und Schüler? Die Zufriedenheit der Eltern? Die Zufriedenheit der Politik und Öffentlichkeit mit den jeweiligen Schulen? Die Zufriedenheit des Schulbibliothekspersonals mit der eigenen Arbeit und ihrem Einfluss in den Schulen? Die Reduzierung des Schulabsentismus und Gewalt in Schulen? Diese Frage lässt sich nicht mit einer einfachen Antwort bewältigen, zumal ihre Beantwortung immer eine politische Komponente enthält (Vgl. u.a Zymek et al., 2011) und zudem Gefahr läuft, entweder die Realität unterkomplex erfassen zu vollen oder aber für sinnvoll durchführbare Forschung zu komplex zu werden.

Doch selbst, wenn diese Frage geklärt wird, müsste weiterhin geklärt werden, wie überhaupt empirische Nachweise der Wirkung von Schulbibliotheken geführt werden sollen. Die Gegenüberstellung von Schulen mit und ohne Schulbibliotheken reicht dazu beispielsweise nicht aus. Selbst, wenn wir finden würden, dass Schulen mit Schulbibliothek durchschnittlich bessere Ergebnisse in bestimmten Feldern der Schulqualität aufweisen, als Schulen ohne Schulbibliotheken, [1] ist das kein Nachweis einer Wirkung. Es ist der Nachweis eines Zusammenhanges. Die Frage allerdings, wie diese eventuell besseren Ergebnisse zustande kommen, ist damit nicht zu beantworten. Sind es wirklich die Schulbibliotheken? Gibt es vielleicht andere Faktoren, die dazu führen, dass Schulbibliotheken unterhalten und gleichzeitig bessere Ergebnisse erzielt werden? Oder führt erst die höhere Schulqualität dazu, dass Schulbibliotheken unterhalten werden? Empirie ist immer nur ein Werkzeug, dass bei der Formulierung und Überprüfung theoretischer Modelle benutzt werden kann. Beachtet man die Einschränkungen dieses Werkzeugs, dann ist es fraglos sinnvoll. Aber Empirie alleine kann keine Aussagen oder gar Theorien produzieren, sie kann nur Nachweise erbringen.

Auch eine Wirkungsforschung, die sich fast vollständig Empirie stützt – wie dies bei den School Library Impact Studies, auf welche die Expertenkommission Bibliothek und Schule immer wieder einmal verweist und die wohl auch bei diesem Wunsch Pate standen, getan wird – kommt nicht umhin, zu benennen, wie sie sich Wirkung von Schulbibliotheken vorstellt. Also: Wie wird aus einem Bestand von XYZ Medien pro Schülerin / Schüler eine Notenverbesserung von 0 Komma XYZ? Wie wird aus XZY ausgebildeten Bibliothekarinnen / Bibliothekaren ein Unterschied in der Zufriedenheit der Lehrerinnen / Lehrer um XYZ Prozent? Wenn diese Modelle nicht benannt werden, dann wird mit der Empirie, die Schulen untereinander vergleicht, keine Wirkung nachgewiesen. Solche Modelle finden sich allerdings bislang für Schulbibliotheken in Deutschland kaum.

Was soll eine Wirkungsforschung bewirken?

Interessant ist auch die Frage, wofür die geforderte Wirkungsforschung dienen soll. Schließlich wurde auf dem Bibliothekstag der Zusammenhang zwischen dieser Forschung und der Verbesserung der Situation von Schulbibliotheken direkt hergestellt. Der Eindruck, dass sie vor allem den bibliothekspolitischen Interessen der Expertenkommission dienen soll, entsteht sehr leicht. Bislang ist dem auch niemand entgegengetreten. Dies allerdings würde mehrere Probleme aufwerfen. So kann es nicht die Aufgabe von Forschung sein, irgendein politisches Interesse zu unterstützen. Wissenschaft ist – auch wenn sie von diesem Ideal immer wieder abweicht – gerade ein Weise, Wissen so zu produzieren, dass es überprüfbar dargestellt, transparent erhoben und zudem im eigentlichen Forschungs- und Interpretationsprozess nicht durch politische Erwartungen geleitet wird. Forschung muss ergebnisoffen sein; Politik, auch Bibliothekspolitik, ist dass selbstverständlich nicht.

Man könnte eigentlich erwarten, dass Wirkungsforschung darauf abzielt, zu verstehen, was in Schulbibliotheken eigentlich passiert, wie die Arbeit dort organisiert ist, was die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehren und auch die Institution Schule – ganz abgesehen von weiteren Kooperationspartnern – dort tun, für sich mitnehmen und wie sie die Schulbibliotheken in ihren Alltag in der Schule einbinden. Eine solche Wirkungsforschung könnte über den vollkommen berechtigten Erkenntniswunsch hinaus die Schulbibliotheken darüber informieren, was sie und andere Schulbibliotheken eigentlich tun und wie sie sich verändern können. Ist das bei der Wirkungsforschung, welche die Expertenkommission und ihr Umfeld fordert, angedacht? Das ist nicht so richtig klar.

Die vorbildhaften School Library Impact Studies geben beispielsweise wenig Hinweise für die einzelnen Schulbibliotheken, sie informieren auch gar nicht über deren direkte Arbeitsweisen, sondern liefern Hinweise darauf, dass eine bestimmte Ausstattung von Schulbibliotheken mit bestimmten Ergebnissen in Schulleistungstest korrelieren. (Warum sie korrelieren ist eher selten eine Frage.)

Aber selbst, wenn man akzeptieren würde, dass die Wirkungsforschung vor allem die Thesen der Expertenkommission zur Bedeutung von Schulbibliotheken unterstützen soll, würde das ein großes Problem aufwerfen: Was tun, wenn die Wirkungsforschung gar nicht zu den erwarteten Ergebnissen kommt, wenn sie zum Beispiel keinen Zusammenhang zwischen Schulbibliothek und Ergebnissen der Schulen in Leistungstests feststellen kann? Wird die Expertenkommission dann dafür plädieren, aus diesen Ergebnissen zu lernen und Schulbibliotheken zu schließen? (Oder wenn gefunden wird, dass Schulbibliotheken mit besseren Ergebnissen korrelieren, aber die Arbeit von Öffentlichen Bibliotheken mit Schulen keinen Einfluss auf Noten hat? Soll Öffentliche Bibliotheken dann ihre Arbeit für Schulen einstellen?) Wenn man sich schon politisch der Forschung bedienen will, sollte dies aus Fairness eigentlich erwartetet werden. Eine kleinteilige Wirkungsforschung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu dem Ergebnis kommen, dass es zumindest bis zu einem bestimmten Größe des Bestandes relativ irrelevant für die „Wirkung“ einer Schulbibliothek ist, ob diese von bibliothekarisch ausgebildetem Personal oder von anderem Personal geführt wird. Der Effekt wird sich eher daran bemessen, ob es überhaupt eine Schulbibliothek gibt oder nicht. Würde dann die Expertenkommission die Forderung, in Schulbibliotheken Diplom-Bibliothekarinnen/Bibliothekare einzustellen, aufgeben? Was, wenn sich herausstellt, dass im Schulkontext die Leitung einer Schulbibliothek durch Lehrerinnen und Lehrer mehr Effekte hat, als die Leitung durch Bibliothekarinnen und Bibliothekare? Dies ließe sich mit einem sehr einfachen theoretischen Modell erklären, schließlich ergeben sich die Anforderungen an Schulbibliotheken aus dem Schulalltag und dem Unterricht, nicht aus der bibliothekarischen Praxis. Das würde die gleiche Frage aufwerfen.

Auch dies ist wieder keine triviale Frage. Eine Wirkungsforschung wird nicht zu den Ergebnissen kommen, die sich von den bibliothekspolitisch Interessierten erhofft werden. Das ist normal: Keine Wirkungsforschung zu irgendeiner Intervention in den Schualltag hat jemals die erhofften Ergebnisse erbracht. Egal ob Ganztagsschulen oder bewegter Unterricht, gegliedertes Schulsystem oder programmierter Unterricht, Projektarbeit oder Einsatz elektronischer Medien – durchgängig sind die Effekte geringer, als sie sich bei der Einführung erhofft werden. Warum ist das so? Zu vermuten ist, dass Schule und Lernen eine viel zu komplexe Struktur und ein zu komplexer Vorgang ist, um sie mit einer Intervention alleine vollständig zu verändern oder zu verbessern. Es geht offenbar immer wieder um graduelle Veränderungen, die zudem immer nicht intendierte Effekte – nicht unbedingt immer, aber oft, negative – zeitigen. Wer eine Wirkungsforschung zu Schulbibliotheken fordert, wird damit umgehen müssen, dass dieser Wirkungsforschung auch nachweisen wird, dass viele Hoffnungen, die in Schulbibliotheken gesetzt werden, sich nicht im großen Maße erfüllen.

Sind empirische Nachweise notwendig für eine bildungspolitische Entscheidung?

Ein kurzer Blick auf ein verwandtes Thema irritiert die implizite Hoffnung, mit einer Wirkungsforschung für Schulbibliotheken auch Argumente für Schulbibliotheken zu produzieren, noch mehr. Wir leben in Zeiten, in denen bildungspolitische Entscheidungen – und der großflächige Ausbau von Schulbibliotheken, zumal mit der Unterstellung unter das Bibliothekssystem, wäre eine solche – als rationale Entscheidungen präsentiert werden. Der aktuell stattfindende massive Ausbau von Ganztagsschulen wird beispielsweise nicht damit begründet, dass die politischen Parteien Ganztagsschulen als Teil ihrer Gesellschaftsvorstellungen ansehen, sondern es wird auf Studien verwiesen, aus denen sich ableiten ließe, dass Ganztagsschulen eine höhere Schulqualität aufweisen würden. Oder aber es wird behauptet, dass Ganztagsschulen eine logische Konsequenz aus den PISA-Studien darstellen würde. [2]

Es ist nicht uninteressant, in die empirische Forschung zu Ganztagsschulen zu schauen, die mit dem forcierten Ausbau von Ganztagsschulen in Deutschland in den letzten Jahren etabliert wurde. Hier zeigt sich nämlich eine erstaunliche Diskrepanz: Die Empirie unterstützt die Hoffnungen, welche mit dem Ausbau verbunden wurden, nicht. Dennoch wird der Ausbau fortgesetzt. Andreas Wiere hat kürzlich die vorhandenen Daten des Ganztagsschulforschung zusammengefasst und kommt zu folgendem Ergebnis:

Der empirischen Schulforschung dürfte es unter diesen Voraussetzungen [von unterschiedlichen Seiten zahlreich und zum Teil widersprüchlich formulierten Hoffnungen an Ganztagsschulen, K.S.] schwer fallen, die intendierte Wirksamkeit, sprich sämtliche Erwartungen, die an die Ganztagsschule gekoppelt sind, nachzuweisen. Sie ist damit auch kaum als argumentativer Steigbügelhalter für die Durchsetzung eines bereits in seinen Konturen absolut unscharfen Schulmodells geeignet. Selbstverständlich ist es möglich, Schülerzahlen zu erheben, die am Nachmittag im Rahmen des Ganztagsangebots betreut werden. Hiermit lässt sich eine Aussage hinsichtlich der Wirkung von Ganztagsangeboten in Bezug auf das Ziel der Verbesserung der nachmittäglichen Betreuungssituation formulieren. Darüber hinaus kann die erziehungswissenschaftliche Forschung mehr oder weniger verlässlich die Wirkung eines Ausschnitts der sich etablierenden Praktiken beschreiben, aber nicht mit Sicherheit Aussagen über erreichte intendierte Wirkungen formulieren, die allein auf die Existenz irgendeiner ganztätigen Organisationsform zurückzuführen sind. Die empirische Schulforschung ist deshalb von allen ein bedeutender ‚Seismograph‘ der Situation. Man kann von ihr aber keine abschließenden Urteile über das Funktionieren oder Scheitern einer mit vielen Erwartungen verbundenen Idee erhoffen, die zum einen in ihren Konturen verschwimmt und zum anderen lediglich Teil eines systemischen Bedigungskontextes ist.“ (Wiese 2011b, S. 36f.)

Die tatsächlich vorhandenen Ergebnisse zur Wirkung von Ganztagsschulen beschreibt er mit Bezug auf die mit der Ganztagsschule verbundenen Hoffnungen wie folgt:

„Im Hinblick auf die […] dargestellten sozial-, bildungs- und wirtschaftspolitischen sowie schul- und sozialpädagogischen Begründungen für mehr Zeit in der Schule erscheint die Lösung Ganztagsschule fast so unspezifisch und flexibel wie ein Gesundheitsbad. Das ist generell auch für alles gut. Wenn man nicht genau weiß, ob es hilft, kann es zumindest nicht schaden und hinterher fühlt man sich auch irgendwie besser.“ (Wiese 2011a, S. 30)

Oder anders gesagt: Zumindest im Fall der Ganztagsschulen ist es bislang relativ egal, was die Wirkungsforschung an Ergebnissen zeitigt. Diese Ergebnisse sind nicht für den Ausbau der Ganztagsschulen herangezogen worden, sie haben auch niemanden überzeugt, Entscheidungen zu treffen. Wiese (2011a) verweist sogar darauf, dass die aus den 1970er Jahren schon vorhandenen Ergebnisse der Ganztagsschulforschung, welche vielen Hoffnungen, die heute geäußert werden, widersprechen, einfach ignoriert wurden.

Insoweit wäre auch zu fragen, was eine Wirkungsforschung in Schulbibliotheken, die sich an den School Library Impact Studies orientieren würden, eigentlich bewirken könnte, selbst wenn sie die Hoffnungen aus dem bibliothekarischen Diskussionszusammenhang an Schulbibliotheken erfüllen würden. Es steht nicht zu erwarteten, dass solche Ergebnisse einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Warum das so ist, soll hier aufgrund der Komplexität der Frage gar nicht besprochen werden. Wichtig ist erst einmal der Hinweis.

Sind Wirkungsforschungen sinnvoll?

Ich hoffe, dass klar geworden ist, warum es besser wäre, einige Vorsicht walten zu lassen, wenn man Wirkungsforschung für Schulbibliotheken fordert. Das Problem dabei wäre gar nicht die Forschung, sondern die Hoffnungen, die damit verbunden werden.

Interessant ist allerdings, dass wir bei der Diskussion dieser Frage von einer Institution abgekommen sind: Den Schulbibliotheken selber. Forschung sollte sich nicht an den Interessen der erforschten Institutionen orientieren, sondern, solange sich dies forschungsethisch begründen lässt, am Erkenntnisinteresse der Forschenden. Dennoch lässt sich die Frage stellen, ob eine Wirkungsforschung in Schulbibliotheken auch Schulbibliotheken selber zu Gute kommen könnte. Hier wäre tatsächlich die kritische Anfrage an School Library Impact Studies und ähnliche empirische Forschung zu stellen, was diese den einzelnen Schulbibliotheken in deren Arbeit eigentlich bedeuten können. Kurz: Relativ wenig, eigentlich gar nichts, da sie ja meist einfach Vergleiche anstellen, anstatt theoretische Modelle zu überprüfen. Was soll eine Schulbibliothek damit anfangen, dass es einen Zusammenhang auf institutioneller Ebene zwischen dem Vorhandensein eines Schulbibliothek und bestimmten Testergebnissen oder Zensuren gibt? Das zeigt nicht, wie die Arbeit von Schulbibliotheken wirkt oder verändert werden kann.

Es gibt die Tendenz, Forschung durch die Praxis zu begründen: Forschung wird damit begründet, dass sie der Praxis ein Wissen produziert, welches die Praxis verwenden kann. Das muss man nicht gut finden. Allerdings: Wenn man sich einmal darauf einlässt, wird sichtbar, dass für die Schulbibliotheken selber eine ganz andere Form von Wirkungsforschung sinnvoll wäre, nämlich eine, welche die tatsächliche Arbeit in den einzelnen Einrichtungen untersucht. Auch dabei stellen sich hunderte von Fragen, die erst noch beantwortet werden müssten: Welche Arbeit? Wie soll welche Wirkung überprüft werden? Wie bildet man die Komplexität der Lern- und Lehrprozesse ab, um darin dann die Wirkung von Schulbibliotheken zu untersuchen? Bekanntlich gibt es die Tendenz, je näher man Forschung an den einzelnen Einrichtungen verortet, umso weniger Vergleichswerte wie Zensuren oder PISA-Ergebnisse heranzuziehen. Fragen danach, ob die Schülerinnen und Schüler sich in der Schule wohl fühlen und der Meinung sind, gut Lernen zu können, werden dann beispielsweise wichtiger, als die Frage, ob eine pädagogische Intervention zur Steigerung der Durchschnittsnote von 0,1 Zensurenpunkten führt. Dies wird auch passieren, wenn man eine Wirkungsforschung auf die einzelnen Schulbibliotheken bezieht und nicht auf übergreifende Entitäten wie „alle Schulen in Bundesland XYZ mit Schulbibliotheken“. Eine solche Wirkungsforschung kann sinnvoll sein, fraglos. Nur halt weniger für bibliothekspolitische Belange.

Literatur

Wiese, Andreas (2011a) / Warum Ganztagsschule? : Rekonstruktion einer bildungspolitischen Kampagne. – In: Gängler, Hans ; Markert, Thomas (Hrsg.) / Vision und Alltag der Ganztagsschulbewegung als bildungspolitische Kampagne und regionale Praxis. (Studien zur ganztägigen Bildung). Weinheim ; München: Juventa Verlag, 2011, S. 13-32.

Wiese, Andreas (2011b) / Wie wirkt die Ganztagsschule? : Forschungsfragen und Befunde. – In: Gängler, Hans ; Markert, Thomas (Hrsg.) / Vision und Alltag der Ganztagsschulbewegung als bildungspolitische Kampagne und regionale Praxis. (Studien zur ganztägigen Bildung). Weinheim ; München: Juventa Verlag, 2011, S. 33-58.

Zymek, Bernd; Wendt, Sabine; Hegermann, Moritz; Ragutt, Frank (2011) / Regional Governance und kommunale Schulentwicklungspolitik im Prozess des Rück- und Umbaus regionaler Schulangebotsstrukturen. – In: Zeitschrift für Pädagogik, 57 (2011) 4, S. 497-512.

Endnoten

[1] Selbstverständlich würde man in der Forschung weiter differenzieren zwischen Schulen mit unterschiedlichen Schulbibliotheken.

[2] Ganztagsschulen sind das hier gewählte Beispiel, aber fast alle bildungspolitischen Entscheidungen werden heute auf ähnliche Weise begründet. Diese vorgebliche rationale Grundlage – die allerdings immer wieder durch die unterschiedliche Interpretation der gleichen Daten und Studien irritiert wird – hat den bildungspolitischen Diskurs, in dem mit politischen Argumenten – also beispielsweise der Vorstellung, dass eine demokratische Gesellschaft ein demokratisches Schulsystem benötigt, weil sie sonst nicht demokratisch wäre – Politik gemacht wird, ersetzt. Allerdings heißt dies nicht unbedingt, dass die politischen Vorstellungen nicht doch die handlungsleitenden wären. Sie scheinen nur nicht mehr offen ausgesprochen zu werden.

Gesundheitsbildung, Gesundheitspädagogik

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Eine der aktuell beständig getroffenen Voraussagen über die Entwicklung des Bildungssystems lautet, dass die Gesundheitsbildung an Bedeutung zunehmen wird. Nicht nur in Schulen, sondern als Gesamtthema von formellem Bildungssystem, Weiterbildung und gesellschaftlicher Bildung. Selbstverständlich gibt es Gesundheitsbezogene Bildungsaktivitäten schon weit länger. Die „mach’s mit“-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Bildung ist dafür ein weithin bekanntes Beispiel. Die Vorhersage ist allerdings, dass die Bedeutung der Gesundheitsbildung – und damit auch der Umfang an Handelnden und Forschungen – weithin wachsen wird.

Bildung und Gesundheit

Dafür gibt es Gründe: Immer mehr wird Gesundheit – wie so vieles andere – als Bildungsthema definiert. Gesundes Handeln lässt sich, so die Vorstellung, zumindest zu großen Teilen erlernen. Eine ungesunde Lebensweise oder, im Bezug auf Kinder, eine ungesunde Erziehungsform, wird immer mehr als Problem mangelnder Bildung definiert. Das ist einerseits sinnvoll, weil den Individuen mehr Verantwortung zugestanden und damit zumindest theoretisch auch Macht gegeben wird. Andererseits ist es gefährlich, weil damit die Gefahr einhergeht, soziale Probleme und Strukturen zum Bildungsproblem und damit auch zum Fehlverhalten der Individuen zu erklären. Dabei ist weithin bekannt, dass Gesundheit und Krankheit auch eine gesellschaftliche Ebene hat. 2007, beim Streit mit und um Oswald Metzger, forderte Reinhard Bütikofer beispielsweise von Metzger, dass der zeigen solle, wie man mit 2,50 Euro pro Tag ein Kind gesund ernähren könne. Metzger hatte vorher impliziert, Hartz IV-Empfängerinnen und Empfänger seien einfach zu faul („antriebslos“) und nicht in der Lage, eine gesunde Ernährung für ihre Kinder sicherzustellen. Bütikofer – obgleich seine Partei Hartz IV mitzuverantworten hat – stellte ganz richtig klar, dass Armut einen Hauptgrund für eine ungesunde Lebensweise darstellt.

Dennoch gibt es unbestritten einen statistischen Zusammenhang zwischen Bildung, gesundem Leben und Gesundheitsempfinden. Liliya Leopold und Henriette Engelhardt stellen das in der aktuellen Ausgabe der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie anhand von Langzeitdaten aus den USA dar. (Leopold & Engelhardt, 2011) Bei diesen Daten zeigte sich, dass es, bezogen auf das erworbene Bildungsniveau, biographisch zu einer zunehmenden Divergenz zwischen Personen mit guter Bildung, einem relativ niedrigen Krankenstand und eine relativ hohem Gesundheitsempfinden auf der einen Seite und Personen mit einer relativ geringen Bildung, einen relativ hohen Krankenstand und einem niedrigen Gesundheitsempfinden auf der anderen Seite kommt. Oder anders gesagt: Personen mit einem hohen Bildungsstand – ausgedrückt in einer Bildungskarriere – sind länger und „mehr“ gesund, als Menschen mit niedrigem Bildungsstand. Und dies – so die Feststellung von Leopold und Engelhardt – nimmt mit der Lebenszeit sogar noch zu.

Geschichtslosigkeit

Sicherlich hat dies mehrere Ursachen. Trotz der verbreiteten Arbeitslosigkeit unter Akademikerinnen und Akademikern sind durchschnittlich Personen mit niedrigen oder keinen Bildungsabschlüssen auch ärmer, nur um daran zu erinnern. Dennoch liegt die Überlegung nahe, mit einer Gesundheitsbildung auch zu einem gesunderen – und damit auch besseren Leben – aller Menschen beizutragen. (Das eine gesundere Gesellschaft auch längerfristig weniger Kosten verursacht, ist richtig. Dies allerdings als einzigen Grund für den aktuellen Aufschwung und die Förderung von Gesundheitsbildung anzusehen, scheint mehr als zynisch.)

Auffällig ist dabei, dass die aktuelle Gesundheitsbildung erstaunlich unbeeindruckt von der Kritik an historischen Formen der Gesundheitsbildung – Stichwort Euthanasiedebatten im Kaiserreich und der Weimarer Republik – zu sein scheint. Insbesondere die Kritik der feministischen Bewegung an den unberechtigten Zugriffen von Ärzten, Ärztinnen und anderen Machtpersonen und Institutionen auf die Körper der Frauen, die beispielsweise in der Geschichte der Entwicklung von Verhütungsmitteln immer wieder nachzuweisen sind (siehe Nilsson, 2001, aber auch Heim & Schaz, 1996, insbesondere Seite 146-173), scheint die aktuelle Gesundheitsbildung, wenn, dann eher implizit aufgenommen zu haben. Bezugspunkte gibt es nicht, so dass die Gefahr, dass die Gesundheitsbildung sich wieder in Richtung Menschensteuerung entwickelt, nicht gänzlich auszuschließen ist.

Der pädagogische Blick

Dennoch: Das Thema Gesundheitsbildung nimmt Formen an. Die aktuelle Ausgabe von Der pädagogische Blick widmet sich mit seinem Schwerpunkt diesem Thema.

Heidrun Herzberg und Astrid Seltrecht beschäftigen sich im ersten Text des Heftes mit der Entwicklung der Gesundheitsbildung. (Herzberg & Seltrecht, 2011). Auch sie betonen, dass es schon längst eine Geschichte der Gesundheitsbildung gibt – obgleich sie die dunklen Seiten auszulassen scheinen –, dass allerdings die Bedeutung in den letzten Jahren zugenommen hätte. Insbesondere führen sie dies auf die Arbeit der Weltgesundheits-Organisation zurück. Interessanter als ihr historischer Ausflug ist allerdings die Übersicht der aktuellen Gesundheitsbildung. Der Begriff würde als Überbegriff für sehr verschiedene Ansätze und Ziele verwendet. Sie postulieren, dass eine Differenzierung in mindestens fünf Felder möglich wäre (S. 71):

  • Gesundheitsaufklärung (Bereitstellung von Informationen, beispielsweise die schon genannte „mach’s mit“-Kampagne)

  • Gesundheitsberatung (Direkte Beratung, beispielsweise die Gesundheitsberatung von Pro Familia)

  • Gesundheitsbildung (Bildungsangebote, die freiwillig besucht werden, beispielsweise an Volkshochschulen)

  • Gesundheitserziehung (Bildungsangebote in formalen Bildungseinrichtungen, also vor allem Kindergarten und Schule, an denen die Teilnahme obligatorisch ist)

  • Gesundheitsförderung (Aktionsprogramme, die explizit auf eine Verhaltensänderung abzielen, beispielsweise der „nationale Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten“ der Bundesministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie für Gesundheit (http://www.besseressenmehrbewegen.de/fileadmin/SITE_BEMB/content/grafiken/Nationaler-AktionsplanJuni08.pdf))

„Allein diese […] Ausführungen verdeutlichen, dass die gesundheitspädagogischen Angebote eine große Spannbreite an Interventionsmöglichkeiten aufweisen: von allgemeinen Informationen für die breite Öffentlichkeit bis zu konkreten Lösungen im Einzelfall; von einem freiwilligen Angebot zur Gesundheitserhaltung bis zu einer eher von außen erwarteten Veränderung des eigenen Handelns mit dem Ziel der Krankheitsvermeidung.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 71)

Diese Differenzierung impliziert, wie Herzberg und Seltrecht bemerken, unterschiedliche Zugriffe auf die jeweils zu Bildenden, aber auch auf die zu vermittelnden Themen. Zudem bemerken die Autorinnen, dass Gesundheitsbildung sich beständig an der Biographie als normativem Paradigma orientiert. Dies funktioniere in zwei Richtungen. Erstens wird Krankheit und Gesundheit (auch) als Ergebnis biographischer Prozesse begriffen und bearbeitet. Zweitens „wird davon ausgegangen, dass Gesundungsprozesse nur dann gelingen können, wenn an die biographischen Erfahrungen der Einzelnen angeknüpft wird.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 73) Das zu bildende oder zu beratende Individuum wird in den Mittelpunkt der Bildungsprozesse gestellt und es wird versucht, am Wissen der einzelnen Individuen anzuschließen. Somit schließt die Gesundheitsbildung am Paradigma der Kompetenzen an, trägt aber selbstverständlich auch deren Schwachpunkte mit: Das Individuum biographisch zu begleiten, übergibt die letztliche Entscheidung, was wie gelernt und an Wissen umgesetzt wird und was nicht, den Individuen selber. Zudem erhöht es den Anspruch an das pädagogische Personal:

„Grundvoraussetzung für die Anleitung von Biographiearbeit ist auf Seiten der professionellen Gesundheits- und PflegepädagogInnen eine verstehende Haltung gegenüber den biographischen Konstruktionen der KlientInnen. Eine solche Haltung setzt ein Zuhörenkönnen, eine Interaktion auf Augenhöhe sowie die Anerkennung des Anderen als Experten seiner Lebensgeschichte voraus.“ (Herzberg & Seltrecht, 2011, S. 75)

Das pädagogische Personal kann also beratend tätig werden, aber nicht wirklich vorschreibend (obgleich das zum Teil bei der Gesundheitsförderung impliziert ist). Insbesondere dann, wenn Gesundheitsbildung nicht als Grundlagenunterricht in Kindertagesstätten und Grundschulen verstanden wird, sondern als Teil des Lebenslangen Lernens, kann Bildungs- (und Gesundheits-)Erfolg nur bei den einzelnen Individuen bemerkt werden. So wird zum Beispiel der Nachweis einer Wirksamkeit von Gesundheitsbildung relativ schwer, zumal bekannt ist, dass vorhandenes Wissen über ein gesundes Leben nicht unbedingt auch in eine gesunde Lebensweise umgesetzt wird. (Vgl. u.a. die Beiträge in der Zeitschrift Prävention und Gesundheitsförderung)

Dieter Nittel reflektiert in seinem Text, der eine Forschungsprojekt vorstellt, lerntheoretische Fragen in der Gesundheitsbildung. (Nittel, 2011) Bezogen auf Gesundheit erinnert er an die auch anderswo angeführten vier Formen des Lernens: Neulernen, Umlernen, Verlernen und Nichtlernen. Während die ersten beiden Formen selbsterklärend sind, überraschen die anderen beiden unter Umständen. Verlernen heißt hier, die Situations- und Zeitgebundheit von Wissen zu akzeptieren und zu benennen. Dass heißt auch, dass Veränderungen immer einen Vergessen oder Verlernen von Handlungsroutinen und Einstellungen bedeutet. Nittel verweist auf Patientinnen und Patienten, die einen vor ihrer jeweils schweren Krankheit gewohnten Umgang mit Familie, Freundinnen und Freunden überwinden und gleichzeitig neu lernen mussten. Nichtlernen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Individuen selber die Entscheidung treffen, dass sie bestimmte Dinge nicht wissen wollen oder auch nicht benötigen. Dies sind aktive Entscheidungen, die selbstverständlich nur sinnvoll zu benennen sind, wenn überhaupt Lernmöglichkeiten bestehen. Des Weiteren differenziert Nittel die Aufgaben der Individuen im Bezug auf die Gesundheitsbildung: a.) Wissensaneignung, b.) Veränderung im Alltagsverhalten, c.) Identitätslernen. (Nittel, 2011, S. 85) Auch hier ist wieder sichtbar, dass sich bei der Gesundheitsbildung auf das einzelne Individuum konzentriert sowie eine biografische Perspektive eingenommen wird und zudem bemerkt wird, dass es um einen vielschichtigen Prozess geht, bei dem nicht die Vermittlung von Wissen sofort mit einer Verhaltens- und Identitätsänderung gleichgesetzt werden kann.

Weiterhin thematisiert Christian Hoppe die Veränderung im Arzt/Ärztin-Patientin/Patient-Verhältnis und in der selbstorganisierten Gesundheitsbildung, die durch das Web 2.0 zu beachten sind. Anhand von existierenden Netzangeboten, die unter dem Containerbegriff eHealth zusammengefasst werden, geht er auf die grundsätzlichen Fragen (Datenschutz, Beratungsmöglichkeiten, elektronische Kommunikation in der medizinischen Ausbildung und Praxis, Serious Games als pädagogisches Werkzeug) ein. Hauptsächlich interessant ist die Entstehung der „Souveränen Patienten und Patientinnen“, die sich über Netzangebote selber beraten und mit diesem Wissen über ihre jeweiligen Beschwerden und eigenen, mit Informationen unterfütterten, Gesundheitsstrategien, dem medizinischen Personal, insbesondere Ärztinnen und Ärzten, gegenübertreten. Diese Patientinnen und Patienten treten offenbar gehäuft auf. Sie haben den Anspruch der Gesundheitsbildung ernst genommen. Selbstverständlich besteht immer die Gefahr, dass sie mit halbrichtigen oder gar falschen Angaben und subjektiven Theorien hantieren. Wichtiger ist aber, dass sie mit dem Anspruch antreten, dem medizinischen Personal ebenbürtig zu sein.

Die traditionelle Rolle von Patientinnen und Patienten, nämlich passiv Handelnde bzw. Leidende in einem System mit hoher und in großen Teilen unhinterfragbarer Abhängigkeit gegenüber ‚health professionals‘ zu sein, hat sich n den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren geradezu rasant geändert. Der früher noch klar über die Ausbildung geregelte Zugang zu relevantem medizinischen Wissen wird durch das Web scheinbar immer offener. […] Die Zahl an ‚Gesundheitssurfern‘, die sich mit über das Internet in Eigeninitiative beschafften Informationen z.B. in die ärztliche Sprechstunde begeben, wächst stetig.“ (Hoppe, 2011, S. 93)

Dies ist allerdings ein, wenn auch vielleicht nicht intendierter, Effekt von verstärkter Gesundheitsbildung: Bestimmte Machthierarchien, die durch Wissen aufrecht erhalten werden, werden angegriffen. Das heißt nicht unbedingt, dass sie verschwinden werden – schon weil diese „Gesundheitssurfen“ nicht von allen Menschen betrieben wird –; aber sie führen zu einer Änderung des Verhaltens und des Argumentierens des medizinischen Personals. Diese gesundheitssurfenden Menschen leben nicht unbedingt gesünder, aber sie werden eigensinniger.

Der bibliothekarische Blick

Eine hier interessante Frage ist nun, ob und wenn wie Bibliotheken auf diesen Trend zur Gesundheitsbildung reagieren sollen und können. Das sie es tun werden müssen, sollte klar sein: Es geht gar nicht darum, wieder einmal ein neues Arbeitsfeld zu benennen, wie dies zum Beispiel mit der Teaching Library versucht wurde. Vielmehr handelt es sich bei der Gesundheitsbildung um einen gesellschaftlichen Trend, der zudem breit gefördert wird. Er wird auch eingefordert. Bibliotheken werden gar herum kommen, auf diesen Trend zu reagieren, da sie beispielsweise neben dem Internet als eine Quelle für die Gesundheitsbildung wahrgenommen werden. Sicherlich kann man hierauf versuchen, mit einer entsprechenden Bestandspolitik zu reagieren. Gleichzeitig ist die Einbindung von Bibliotheken in Kampagnen der Gesundheitsbildung ebenso möglich, wie das Aufstellen eigener Angebote.

Relevant scheint vielmehr zu sein, dass die Gesundheitsbildung an das pädagogische Beratungspersonal sehr hohe Anforderungen stellt, bei denen Empathie, Reflexionsfähigkeiten, medizinisches, gesundheitsbezogenes und pädagogisches Wissen verbunden werden sollen. Die Frage – auch im Blick darauf, dass es sich bei Gesundheitsbildung um einen direkten Einfluss auf das Alltagshandeln von Individuen handelt – ist, ob Bibliotheken eine solche Beratung leisten können (angefordert werden wird sie), bis zu welchem Punkt und wie auf weiter gehende Anforderungen reagiert werden soll. Das ist keine triviale Frage: Wohl niemand wird Bibliothekarin oder Bibliothekar, um Gesundheitsberatung zu betreiben; aber wenn die Voraussagen stimmen, dann wird es zumindest den gesellschaftlichen und individuellen Wunsch geben, in Bibliotheken Unterstützung für Gesundheitsbildung zu finden. Zumindest wäre eine Diskussion darüber, welche Felder abgedeckt und welche Bildungsprozesse von Individuen wie unterstützt werden können, sinnvoll. Die Differenzierungen, welche von Herzberg & Engelhardt (2011) vorgelegt wurden, könnten dafür eine gute Diskussionsgrundlage bieten.

Literatur

Heim, Susanne & Schaz, Ulrike (1996). Berechnung und Beschwörung : Überbevölkerung – Kritik einer Debatte. Berlin ; Göttingen : Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Straße.

Herzberg, Heidrun & Seltrecht, Astrid (2011). Von der Gesundheitsbildung zur Gesundheitspädagogik. In: Der pädagogische Blick 19(2), 68-79.

Hoppe, Christian (2011). Lernende Patienten und Ärzte im Web: Gesundheitspädagogische und mediendidaktische Betrachtungen. In: Der pädagogische Blick 19(2), 91-102

Leopold, Liliya & Engelhardt, Henriette (2011). Bildung und Gesundheitsungleichheit im Alter: Divergenz, Konvergenz oder Kontinuität? : Eine Längsschnittuntersuchung mit SHARE. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63(2), 207-236.

Nilsson, June (2001). Männer forschen, Frauen schlucken : moderne Empfängnisverhütung ; Tor zur Emanzipation oder Waffe des Patriarchats?. In: Penkwitt, Meike (Hrsg.). Perspektiven Feministischer Naturwissenschaftskritik (Freiburger Frauenstudien, Zeitschrift für Interdisziplinäre Frauenforschung, 11). Freiburg im Breisgau: jos fritz, 143-165.

Nittel, Dieter (2011). Die Aneignung von Krankheit: Bearbeitung lebensgeschichtlicher Krisen im Modus des Lernens. In: Der pädagogische Blick 19(2), 80-90.