Kompetenzen sind ein Thema, dass mich immer wieder ob seiner Verbreitung irritiert. Einerseits sind sie zur Standardvokabel geworden, auch im Bibliotheksbereich. Es gibt gefühlte zehntausend Forschungsprojekte in der Bildungsforschung, die XYZ-Kompetenzen von ABC (Kinder, Jugendlichen, Schülerinnen und Schülern in einer Klassenstufe oder Altersstufe oder im Quervergleich, von Lehrerinnen und Lehrern, von Erzieherinnen und Erziehern, von Eltern etc.) messen und dabei entweder vorhandene Kompetenzmodelle nutzen und weiterentwickeln oder gleich neue entwerfen. Andererseits hat dieses Wachstum der Verwendung des Wortes Kompetenz, insbesondere in zusammengesetzten Substantiven als XYZ-Kompetenz, und die ständige Neumodellierung und Weiterentwicklung nicht dazu geführt, das wirklich klar geworden wäre, was Kompetenz sein soll. Zumal dann nicht, wenn von der Förderung von Kompetenz oder Gestaltung von kompetenzenfördernden Lernorten et cetera geredet wird. Gerade dann, wenn sich aus der eigentlichen Schulforschung hinausbegeben wird und beispielsweise konzipiert wird, dass die Einrichtungen ABC (nicht nur Bibliotheken, auch die Soziale Arbeit, Kindertagesstätten, die berufliche und politische Weiterbildung, die Medienindustrie, NGOs und Vereine, die lokalen Bündnisse für Familien und so weiter) Kompetenzen fördern würden, scheint der Begriff Kompetenz relativ nach Gutdünken der jeweiligen Schreibenden genutzt zu werden. Mal als Fähigkeiten, mal als Potentiale der Individuen, mal als anwendungsbereite Fähigkeiten, mal als Qualifikationen, mal als notwendige Wissensbestände, mal ganz behavioristisch als klar abgrenzbar zu definierende Wissensbrocken, die direkt in die Lernenden hineingegeben werden, mal ganz konstruktivistisch als Bündel von Fähigkeiten, Potentialen und Motivationen von Personen, die sie sich selber als Lernende mit Unterstützung von Lernumgebungen und lernbegleitenden Personen angeeignet haben.
Diese Unterschiede in der Bedeutung von „Kompetenz“ sind nicht trivial. Vielmehr reden wir von sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was, wie, von wem, wann, wie lange und warum gelernt worden sein soll – und wie es gemessen werden könnte, wenn überhaupt – und das alles unter einem Containerbegriff. Das mag, wie ich in einem anderen Beitrag zum bibliothekarischen Verständnis von Kompetenzen schon einmal ausgeführt habe, nicht mehr zu ändern sein. Eventuell ist das einzige, was noch bleibt, einzufordern, dass die Texte, die mit dem Begriff Kompetenz operieren, jeweils offenzulegen haben, was sie damit genau meinen. Es scheint doch sehr schnell einsichtig zu sein, dass beispielsweise zwischen der Vorstellung, Lesekompetenz sei quasi Lesefähigkeit und der Vorstellung, Lesekompetenz sei ein abgestuft messbares Fähigkeits- und Motivationsbündel, welches in komplexen Zusammenhängen darauf Einfluss nimmt, wie ein Individuum welche Texte und Textsorten für welche Zwecke nutzt, ein unüberbrückbarer Unterschied besteht, den man zumindest anzeigen sollte. So würde auch deutlich, dass oft sehr unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden, wenn man von der Förderung von Kompetenzerwerb (oder gar von Kompetenzen) redet und dass es kein Wunder ist, wenn bestimmte Angebote, die Kompetenzen fördern sollen, das überhaupt nicht tun: Eben weil dann oft von zwei unterschiedlichen Dingen geredet wird.
Kompetenzen bei PISA beihalteten ein Versprechen
Es ist allerdings erstaunlich. Die PISA-Studien, die ja in Deutschland den Begriff Kompetenz als Teil von Bildung beziehungsweise als Bildungsziel etablierten, hatten eigentlich sehr klar ausgedrückt, dass Kompetenz ein Konzept sei, welches über die Konzepte von Fähigkeit, Schlüsselqualifikation oder einfach nur Lehrinhalt hinausgehen und die individuelle Verarbeitung von Wissen sowie die individuelle Disposition, es anzuwenden, mit einbeziehen würden. Zudem würden Kompetenzen tendenziell die Fachspezifika von Konzepten wie Fähigkeiten überwinden und als Potentiale begriffen werden, die über eine Anwendungsform von Wissen hinausgehen. Doch was ist davon im Diskurs angekommen? Er scheint, wenig bis gar nichts. Allerdings ist das auch mit zahlreichen anderen Aussagen der PISA-Studien geschehen, beispielsweise den Verweis darauf, dass die gemessenen Kompetenzen das Ergebnis von 15 Jahren Lernen der Schülerinnen und Schüler im gesamtgesellschaftlichen Kontext darstellen würden – und eben nicht nur der Schulbildung.
Seit ungefähr zehn Jahren ist der Kompetenzbegriff nun in der gesellschaftlichen Verwendung, was auch bedeutet, dass die ganzen Versprechen des Kompetenzbegriffes langsam überprüft werden können. Kompetenz sollte und soll es möglich machen, Bildung eher auf die tatsächlichen Lernprozesse der Individuen zu beziehen und gleichzeitig zukunftsfähig zu gestalten, dass Konzept sollte es ermöglichen, Qualität von Bildung zu steuern. Ist das geschehen? Was sind die Auswirkungen des Überhandnehmens des Kompetenzbegriffes? Zunehmend erscheinen Arbeiten, die gerade das zum Thema haben, ohne das ihnen – wie es am Anfang des letzten Jahrzehnts geschah – unterstellen zu können, einfach nur aus Radikalopposition „gegen Kompetenz“ zu sein. Sie untersuchen vielmehr vor dem Hintergrund eines Bildungssystems, dass seit einigen Jahren mit dem Kompetenzbegriff agiert, dessen Funktionsweise.
Kompetenzdiskurs ohne Widerstand?
Eines dieser Werke ist die Dissertation von Udo Haeske (Haeske, U. / ‘Kompetenz’ im Diskurs : Eine Diskursanalyse des Kompetenzdiskurses. – [Dissertation]. – Berlin : Pro Business, 2008), in welcher er mit dem Anspruch auftritt, eine Diskursanalyse des Kompetenzbegriffes zu leisten. Die Dissertation ist allerdings sehr langatmig, da sie sich beständig daran abarbeitet, in einer auch für Dissertationen unnötigen Länge und Breite die Diskursanalyse nach Foucault zu erläutern. Dabei geht das Thema „Kompetenz“ in weiten Teilen unter.
Dennoch sind die Ergebnisse zu erwähnen. Als Datenkorpus benutzt Haeske die rund 4000 Veröffentlichungen, die sich bis 2007 im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nachweisen ließen und die „Kompetenz“ oder eine Zusammensetzung mit diesem Wort [Wobei nicht klar ist, ob im Titel oder auch als Schlagwort. Recherchestrategien zu beschreiben weigert sich der Autor erstaunlicherweise.] beinhalteten. [Der Autor behauptet zudem, dass die zurückgemeldeten Daten der DNB nicht einheitlich gewesen seien und deshalb nachbearbeitet werden mussten. Das kann nicht stimmen, oder?]
In der ersten Sichtung und Ordnung dieses Korpus zeigt Haeske, wenn auch nicht unerwartet, dass die Verwendung des Begriffes Kompetenz keinen Regeln folgt, sondern quer über die Themenfelder, verbunden mit anderen Begriffe oder als eigenständiger Begriff genutzt wird. Zwar gibt es Häufungen im pädagogischen, politischen und ökonomischen Feld, aber keine erkennbaren einheitlichen Verwendungsweisen.
Im nächsten Schritt wertete Haeske die Monographien und Herausgeberwerke, die eine klarere Definition des Kompetenzbegriffes versprechen, inhaltlich auf genau das aus: die impliziten und expliziten Definitionen des Kompetenzbegriffes. Dabei stößt er erstaunlich oft auf das Eingeständnis, dass eine solche Definition nicht existiert und gegeben werden kann. Gleichwohl hält er – was im Anschluss an Foucault eigentlich selbstverständlich ist – fest, dass der Diskurs um Kompetenz eine Subjektivität schafft, auf welche die Individuen reagieren. Dieser Subjektivität ist eine beständige Reflexion der eigenen Handlungen, eine Verortung des eigenen Lernweges anhand von Zielbestimmungen und der Verantwortung, zu lernen eigen (Selbstorganisation der Subjekte). Gleichzeitig enthält der Kompetenzbegriff des Versprechens, Differenzen zwischen Bildung und Anforderungen (gesellschaftlichen und solchen des Arbeitsmarktes) in gewisser Weise zu heilen. Kompetenz würde beständig als Mittel beschrieben, sich an Anforderungen anzupassen. Dabei würde dem Kompetenzbegriff eigen sein, dem Subjekt immer wieder klar zu machen (oder es dazu zu bringen, sich selber klar zu machen), dass es noch nicht ausreichend kompetent sei. Es würde also ständig eine Differenz zwischen möglicher, besserer Kompetenz und der vorhandenen konstatiert, was zu einer fortgesetzten Aneignung und Transformation von Kompetenzen führen solle.
Schließlich weist Haeske auf dem Umstand hin, dass unter „Kompetenz“ immer wieder die Anpassung des Subjektes an Anforderungen verstanden und beschrieben wird, aber nicht die theoretisch wachsende Widerstands-Kompetenz. Wenn ein Subjekt, welches kompetent ist oder dabei ist, es zu werden, beständig zur Reflexion und Neuplanung des eigenen Entwicklungsweges gedrängt wird, wachsen selbstverständlich auch die Widerstandspotentiale der Subjekte. Wer darüber nachdenkt, was er oder sie lernt oder lernen soll, kann auch immer zu dem Ergebnis kommen, es nicht (mehr) tun zu wollen, etwas anderes lernen zu wollen oder aber seine Kompetenz anders zu verwenden. Der Fakt selber istnicht erstaunlich, sondern spätestens seit der Aufklärung immer Teil von Bildungsdebatten gewesen. Erstaunlich ist allerdings, dass dies tatsächlich kaum thematisiert wird, so als ob eine kompetenz-orientierte Bildung zu Subjekten führen würde, die alle bei ihren Zielen von Bildung übereinstimmen würden.
Die Offenheit des Kompetenzbegriffes in der Bildungspolitik
Der Vorwurf, den Anne Müller-Ruckwitt, am Ende ihrer Dissertation (Müller-Ruckwitt, Anne / „Kompetenz“ : Bildungstheoretische Untersuchungen zu einem aktuellen Begriff. – [Bibliotheca Academica, Reihe Pädagogik ; 6]. – Würzburg : Ergon Verlag, 2008) ausformuliert hat, lautet, dass der Kompetenzbegriff, so wie er von den PISA-Studien beziehungsweise dem PISA-Konsortium eingeführt wurde und dann in der Bildungspolitik und -planung verwendet wurde, keine bildungstheoretische Einbindung hat und den eigenen Ansprüchen durch seine relative Beliebigkeit nicht entsprechen kann.
Dabei vertritt sie die interessante, und bei ihr auch durch sprachgeschichtliche und konzeptionelle Fakten untermauerte, These, dass der Begriff Kompetenz gerade nicht, wie es gerne behauptet wird, ein international geteilter wäre, sondern vielmehr – ähnlich wie bei „Bildung“ – einen deutschen Containerbegriff darstellen würde, der zwar übersetzt werden könnte, aber in anderen Gesellschaften (wobei sie weder die österreichische noch die schwitzer Gesellschaft betrachtet) anders verstanden würde, als in Deutschland.
Die PISA-Studien seien auch angetreten, um in gewisser Weise – wie es die Autorin so blumig ausdrückt – den gordischen Knoten des „Zukunftsparadoxons“ zu durchschlagen. Bildung, insbesondere wenn sie längerfristig ist (wie bei Schulen), hat immer mit dem Problem umzugehen, dass sie Menschen jetzt für eine Gesellschaft ausbilden soll, die erst noch kommen wird. Sie muss Wissensbestände vermitteln, die später einmal relevant werden, in einer Zeit, in der die Gesellschaft anders sein wird. Das ist ein beständiges Problem. Wir können heute auf eine Anzahl gescheiterter Versuche zurückblicken, dass zu bewerkstelligen. Selbst die Versuche, direkt aus Berufsanforderung zu vermittelnde Wissensbestände abzuleiten, führten nicht zum gewünschten Ergebnis.
Die PISA-Studien würden nun mit dem Kompetenzmodell versuchen, dieses Problem zu lösen, indem sie eine Grundbildung definieren, die sich als Potentiale zur Lebensbewältigung definieren. Bildung würde, so Müller-Ruckwitt, funktionalistisch und auf die einzelnen Individuen bezogen verstanden. Damit, das alles als Kompetenzen nicht nur eingeteilt, sondern zudem als messbar begriffen wird, würde auch die Vorstellung vermittelt werden, dass praktisch alles lernbar sei und es nur von den Umständen (zum Beispiel der Schule oder der Unterrichtsgestaltung) und den Individuen abhängen würde, ob etwas gelernt oder nicht gelernt würde.
Allerdings, so Müller-Ruckwitt, würde das PISA-Konsortium sich nicht daran versuchen, diese Grundbildung herzuleiten oder gar zu begründen. Es würde auch kein Rückschluss zu Bildungstheorien versucht. Vielmehr würden im Laufe der unterschiedlichen PISA-Studien unterschiedliche Bildungskonzepte relativ beliebig beziehungsweise funktionalistisch aufgerufen. Das würde es allerdings sehr schwer machen, überhaupt über das Kompetenzmodell der PISA-Studien zu debattieren: Es steht ja nicht wirklich fest. Es würden vielmehr Fragen relativ pragmatisch offen gelassen:
„Inwieweit lassen sich Vorstellungen persönlicher und wirtschaftlicher Art miteinander vereinbaren? Handelt es sich um zumindest partiell kongruente Dimensionen oder werden in der Formulierung ‘in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht’ nicht zwei ganz unterschiedliche Referenzebenen bemüht?
Wie ist es zu verstehen, wenn von der anzustrebenden ‘aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben’ die Rede ist? Bemisst sich ‘aktive Teilnahme’ an der Fähigkeit zur Integration in ein im Vorhinein verfasstes gesellschaftliches Leben oder an der bewussten und reflektierenden Mitgestaltung desselben? Geht es in diesem Punkt um den Menschen in seiner gesellschaftlich-kulturellen Rolle und mit seiner berufsbezogenen Qualifikation oder dem Menschen in seinem Personsein?“ [Müller-Ruckwitt a.a.O., S. 34]
„Die PISA-Studien stellen aus sich heraus – entgegen dem selbstgesetzten Anspruch – keinen qualitativen Zugewinn für den Bildungsdiskurs dar. Dass sie aber sehr wohl zur Auseinandersetzung mit der Frage der Aktualität und Noch-Zeitgemäßheit des tradierten Bildungsbegriffs anregen, indem sie mit großer Nachhaltigkeit einen neuen Schlüsselbegriff, i.e. Kompetenz, in die Diskussion um Bildung einführen, ja dass sie mit ihren theoretischen Defiziten und der nachgewiesenen begrifflichen Unkontuiertheit geradezu dazu provozieren, zeigt das bildungs- und schulpolitische Echo, das PISA auslöst.“ [Müller-Ruckwitt a.a.O., S. 55]
Müller-Ruckwitt geht im weiteren Verlauf ihrer Arbeit auf die zahlreichen bildungspolitischen Projekte, die sich im Umfeld der PISA-Studien etablierten, ein und untersucht dort die Verwendung des Kompetenzbegriffes. Das Ergebnis ist, dass sich dort die Verwendung noch weiter als bei den Studien selber auf sehr unterschiedliche Vorstellungen bezieht.
Zudem weist sie auf ein Paradoxon des Kompetenzbegriffes hin: Einerseits geht der Kompetenzbegriff daran, engen Begriffen von Bildung (beispielsweise Qualifikation oder Schlüsselqualifikation) zu widersprechen. Das Individuum und dessen Potentiale soll im Mittelpunkt der komptenzbasierten Bildung stehen. Dies impliziert eine Individualisierung von Bildung. Gleichzeitig geht Kompetenz mit dem Versprechen einher, diese relativ offenen Bildungsinhalte, die ja beispielsweise auch Motivationen umfassen, messen und in unterschiedlichen Kompetenzstufen systematisieren zu können. Das ist tatsächlich paradox und bislang auch nicht aufgelöst. Die Kompetenzmessungen, die in der Bildungsforschung vorgenommen werden, entwerfen immer weiter quantitativ zu erhebende Daten, obgleich der Kompetenzbegriff qualitative Studien nahelegt.
Müller-Ruckwitt sieht im Kompetenzbegriff gerade wegen der Gegnerschaft zu engen Bildungsbegriffen auch Chancen für die Bildung, sobald der Begriff bildungstheoretisch rückgebunden wird. Gleichzeitig zeigt sie auf, dass er bislang relativ beliebig genutzt wird. Zudem zeigt sie, dass auch der Kompetenzbegriff historisiert werden kann und er deshalb gerade nicht, wie das teilweise implizit unterstellt wird, selbstverständlich ist.
Kritik der sozialen Vereinheitlichung
Eine kurze Anmerkung: Aufgabe der Kritik ist es, Kritik zu üben – nicht zu sagen, wie es richtig sein soll. Teilweise scheint dies heute vergessen zu sein. Kritik, im Sinne zum Beispiel der Kritischen Theorie aber auch der Machtanalytik von Foucault, ist immer dazu da, von der Gesellschaft zurückzutreten und ihre Wirkmechanismen zu verstehen, nicht (nur) um sie zu verändern, sondern auch um sich – wie es Max Horkheimer ausgedrückt hat – nicht dumm machen zu lassen. Eine solche Kritik – die sich radikal von Evaluationen unterscheidet, die heute auch gerne einmal als Kritik bezeichnet werden, aber auch von Flamewars – unternimmt Andreas Gelhard (Gelhard, Andreas / Kritik der Kompetenz. – Zürich : Diaphanes, 2011) für den Kompetenzbegriff, obgleich er sich dabei vor allem auf die berufliche Bildung und die berufliche Kompetenz bezieht.
Dabei versteht er Kompetenz und Kompetenztests als aktuelle Version der Kontrollgesellschaft, als Fortsetzung der von Foucault beschriebenen Transformation von Beichte zur Kontrolle im Sinne des benthamschen Panoptikums. Kompetenztests werden bei Gelhard verstanden als Kontrollmechanismen, welche Subjekte formt – beziehungsweise, auch wenn er das nicht so sagt, über Anrufung (nach Althusser) zur beständigen Selbstreflexion und Selbstformung anhält –, ohne direkten Zwang anzuwenden. Vielmehr würden Kompetenztest beständig, aber nachdrücklich auffordern, sich zu messen, zu beobachten und zu verändern. Wie schon Haeske festgestellt hat, wird eine beständige Differenz zwischen notwendig zu erwerbender Kompetenz und vorhandener Kompetenz behauptet, den Subjekten also klar gemacht, dass sie sich verbessern müssten. Dabei bezieht sich dieses Besser-werden gerade nicht allein darauf, besser auf Anforderungen des Arbeitsmarktes zu reagieren, sondern geht immer mit dem Anspruch einher, bessere, im Sozialkontext agierende Menschen zu formen.
„Die zeitgenössischen Testverfahren nehmen nicht das Urteil Gottes vorweg, sondern gleichen die Selbsteinschätzungen des Probanden mit der Beurteilung durch Vorgesetzte, Mitarbeiter und Kollegen ab.“ [Gelhard a.a.O., S. 64]
„Die rapide Verbreitung psychologisch instrumentierter Kompetenztests hat in diesem Zusammenhang also denselben Effekt wie die Verlagerung zahlreicher Prüfungssituationen ins Informelle: Sie erweitert den Bereich überprüfbarer Situationen, Handlungsmuster und seelischer Dispositionen.“ [Gelhard a.a.O., S. 111]
Die Besonderheit in Gelhards Analyse besteht darin, die Kompetenztests im beruflichen Feld zu untersuchen und ihre Wirkungsweisen zu beschreiben. Die Verbindung zwischen den Kompetenzbegriffen im pädagogischen Feld, dem beruflichen Feld und anderen Feldern (beispielsweise dem bibliothekarischen) wurde bislang offenbar noch nicht unternommen.
Gelhard beschreibt aber einige weitere Versprechen, die dem Kompetenzbegriff inhärent sind, aber selten ausgesprochen werden.
„Die Idee einer gerechten Kompetenzförderung [die von Luc Boltanski und Éve Chiapello in ‘Der neue Geist des Kapitalismus’ als moderne politische Forderung angesehen wird, K.S.] lebt von demselben Versprechen, das auch die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer in der ‘Projektpolis’ aufrechterhalten soll: dass bei noch so unsicheren Arbeitsbedingungen und noch so geringer Bezahlung immer auch etwas für das berufliche Fortkommen abfällt.“ [Gelhard a.a.O., S. 110]
Dieser Verweis ist ernst zu nehmen: Kompetenz wird immer wieder als positives Ziel begriffen, fraglich ist allerdings, ob das unbedingt zutrifft oder ob er nicht auch dazu benutzt wird, politisch zumindest umstrittene Entwicklungen zu begleiten. Gelhard verweist zudem auf die Schwierigkeit, dass der Kompetenzbegriff – und hier kann man sich auch direkt auf das pädagogische Feld beziehen – auf dem Bild einer konfliktlosen Gesellschaft aufbaut, die sich nicht mit dem Bild einer demokratischen Gesellschaft, in der Konflikte ja existieren, geäußert und gelöst werden sollen, deckt.
„Das politische Ideal dieses Systems ist die Auflösung aller politischen Antagonismen durch gezieltes social training oder, mit Arendt gesprochen, die Auflösung des Politischen im Sozialen.“ [Gelhard a.a.O., S. 147]
Dem muss man nicht unbedingt zustimmen. Allerdings kommt Gelhard – wenn auch über einen Umweg über Boltanski und Chiapello, denen zu widersprechen er sich offenbar vorgenommen hat – zu dieser Aussage, indem er etwas tut, was der Kompetenzdiskurs ansonsten gerade nicht zu tun scheint: Er historisiert und verortet den Kompetenzbegriff in der philosophiegeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Dem zu widersprechen ist eigentlich nur möglich, indem sich auch auf eine philosophische Ebene begeben und die Grundbegriffe des Kompetenzdiskurses dargelegt würde – was, wie Müller-Ruckwitt gezeigt hat, nicht so einfach möglich sein wird. Insoweit übernimmt Gelhard tatsächlich die weiter oben angesprochene Funktion der Kritik. Zumindest aber sollte man also aufpassen, was man „mitmeint“ und welche Grundaussagen über Menschen und Gesellschaft man trifft, wenn man den Begriff Kompetenzbenutzt. Er ist halt – im Guten wie im Schlechten – kein Synonym für Fähigkeit oder Qualifikation.