Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, II)

„Die Schülerbücherei ist eine notwendige Einrichtung jeder Oberschule. Sie hilft mit ihren spezifischen Mitteln – der Kinder- und Jugendlektüre – der Schule, der Pionierfreundschaft und der Grundeinheit der FDJ bei der Verwirklichung des Erziehungs- und Bildungsziels.“ [Sallmon (1962), S. 53]

Selten, aber doch beständig wird die Frage gestellt, wie es eigentlich mit Schulbibliotheken in der DDR aussah. Gab es sie? Wenn ja, wie viele? Wie sahen sie aus? Wie wurden sie genutzt? Von wem wurden sie betrieben? Heutzutage gibt es darauf kaum eine ausreichende Antwort. So richtig weiß es offenbar niemand (mehr). Manchmal wird auf eine Vereinbarung aus den 1960er Jahren verwiesen, in welchem sich Volksbildungs- und Kulturministerium grundsätzlich auf den Umgang mit Schulbibliotheken geeinigt hätten. Was genau in dieser Vereinbarung stand, weiß heute kaum jemand. [1] Teilweise wird auch auf einen 1990 in der Zeitschrift schulbibliothek aktuell erschienen Artikel verwiesen, in welchem berichtet wurde, dass es grundsätzlich keine Schulbibliotheken in der DDR gegeben hätte, aber in Ausnahmefällen doch. [2]

Die Geschichte allerdings ist anders. Nicht nur komplexer, weil selbstverständlich die jeweiligen Verhältnisse vor Ort jeweils einen Ausschlag über die Existenz oder Nicht-Existenz von Schulbibliotheken gaben. Vielmehr gab es ganz explizit Schulbibliotheken in der DDR, einige Jahrzehnte lang wurden sie sogar explizit gefördert. Sie waren keine Ausnahmen. Irmgard Dreßler, die bis Frühjahr 1989 am Zentralinstitut für Bibliothekswesen unter anderem für die Arbeit von Bibliotheken in der DDR für Kinder zuständig war, skizzierte in einem Interview sogar drei Phasen der Schulbibliotheksentwicklung in der DDR, wobei nur die letzte Phase in den 1980er Jahren dadurch gekennzeichnet gewesen wäre, dass die Allgemeinbibliotheken die eigenständigen Schülerbüchereien zu einem großen Teil durch Ausleihstellen in Schulen ersetzt hätten. [3] Man muss dieser Darstellung nicht einmal vollständig folgen. Wichtig an ihr ist, dass klar wird, dass es offenbar Schulbibliotheken in der DDR gegeben hat, was auch heißt, dass in diesen Erfahrungen gesammelt wurden, die man für die weitere Arbeit in heutigen Schulbibliotheken auswerten könnte.

Vergessene Anstrengungen in der DDR

Allerdings: dass alles soll in einem weiteren Text dargestellt werden, zu dem die Recherche noch nicht beendet ist. Hier soll eine Kuriosität aus dem Themenbereich dargestellt werden: Ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR. Dieses hat einen eigenen Text verdient.

Es gab tatsächlich eine Arbeit, die mit dem Anspruch antrat, eine Übersicht zu den Funktionen von Schülerbüchereien in der gesamten DDR zu liefern und zudem Hinweise zur Arbeit mit diesen Einrichtungen zu geben. Das ist auch deshalb interessant, weil eine ähnlich klingende Planung in der BRD in den 1970er Jahren, nachdem sie einige Jahre im Gespräch und auch in den Informationen für den Schulbibliothekar (1971-1974) bzw. danach in der schulbibliothek aktuell skizziert war, dann doch nicht umgesetzt wurden und spätestens seitdem die Vorstellung, es müsste einmal ein grundlegendes Werk zu Schulbibliotheken geschrieben werden, kontinuierlich in den Debatten und Gesprächen zu Schulbibliotheken auftaucht.

Das Buch, welches im Folgenden vorgestellt wird, eignet sich allerdings auch nicht als Vorbild für ein solches modernes „Schulbibliotheksbuch“. Es ist allerdings interessant, dass die Existenz dieses Werkes praktisch in der gesamten restlichen Literatur zu Schulbibliotheken nicht erwähnt wird, so als wäre es einfach nie erschienen.

Um das Werk einordnen zu können, ist es vielleicht wichtig, noch einen Fakt zu erwähnen, der im Rahmen der Diskussionen zu Schulbibliotheken heute nicht mehr bekannt zu sein scheint: Die DDR strebte in ihrer Gründungsphase und bis weit in die 1960er Jahre hinein an, in jeder Schule eine Schülerbücherei einzurichten und zu unterhalten. Im ersten Jugendgesetz der DDR [4] von 1950 wurde dies explizit als Ziel festgeschrieben, wenn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nie vollständig umgesetzt. Zudem wurde in der bibliothekarischen Presse immer wieder positiv auf die Schulbibliotheken in der Sowjetunion Bezug genommen. [5] Das heißt auch, dass in der DDR schon langjährige Erfahrungen mit der Arbeit in Schülerbüchereien vorlagen, als das hier besprochene Buch geschrieben wurde.

Aufgaben der Schülerbüchereien. Das Buch.

Geschrieben wurde das Buch als Diplomarbeit (an der Humboldt-Universität) von Heinz Sallmon, der späterhin offenbar zur Jugendliteratur publizierte. Der Titel des Buches lautet „Aufgaben der Schülerbüchereien an den zehnklassigen Oberschulen“. [6] Veröffentlicht wurde es als erster Band der kurzlebigen Reihe „Außerschulische Bildung und Erziehung“ des Verlag Volk und Wissen (nachgewiesen sind insgesamt drei Bände). Es handelte sich also um keine periphere Schrift, die in obskurem Format und kleiner Auflage vertrieben wurde, sondern sehr wohl um eine über den Buchhandel greifbare Monographie. [7]

Publiziert wurde das Buch 1962 und dies merkt man dem Werk auch an. Nicht nur, dass sich ein positiver Bezug auf den Mauerbau findet, [8] das Werk beschäftigt sich zudem ausgiebig mit der Frage der „Schundliteratur“, mit den angeblichen Versuchen der „Bonner Regierung“, Einfluss auf die Jugend in der DDR zu nehmen, mit der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu sozialistischen Menschen und der expliziten Lenkung der Lesestoffe der Schülerinnen und Schüler.

Selbstverständlich finden sich auch in dieser Arbeit die in der Sachliteratur der DDR üblichen Absicherungen der getroffenen Aussagen durch Berufung auf politische Autoritäten, hier Lenin, Chruschtschow und Ulbricht.

Gleichwohl – und dies sollte vielleicht wieder einmal zu denken geben – finden sich auch zahlreiche Hinweise und Formulierungen, welche sich von heutigen Texten zu Schulbibliotheken kaum unterscheiden.

Bevor die einzelnen Themen durchgegangen werden, sollen kurz noch zwei Besonderheiten angesprochen werden, die schon im Titel des Buches anklangen: Die Schulbibliotheken in der DDR hießen, zumindest in den 1960ern und davor, Schülerbüchereien. An dieser Benennung sollten man sich nicht stören, es sind allesamt Einrichtungen, welche heute als Schulbibliothek bezeichnet würden. Außerdem war die Grundform der Schulen in der DDR (damals) die zehnklassige Oberschule, also eine Einrichtung, in welcher die Kinder und Jugendlichen zehn Jahre lang gemeinsam unterrichtet wurden und nicht, wie heute, nach der vierten oder sechsten Klasse in unterschiedliche Schultypen differenziert werden. Dies hatte für Schülerbüchereien selbstverständlich die Auswirkung, nominell für die erste bis zehnte Klasse und für alle unterschiedlich lernstarken Schülerinnen und Schüler – die in einem differenzierten Schulsystem wie dem heutigen ja in unterschiedlichen Schultypen unterrichtet werden sollen – zuständig zu sein. Allerdings spiegelt sich dies im Buch von Sallmon nicht wirklich wieder.

Gute Literatur versus Schund

„Wie Rundfunk, Fernsehen, Film und andere Formen der Vermittlung von Kunst dient auch die Literatur zur Verbreitung bestimmter Ideologien. Für uns ist sie eine Waffe in der Auseinandersetzung zwischen den Ideen des Sozialismus und des Kapitalismus, für den Sieg des Sozialismus.

Die Literatur, einschließlich der Kinder- und Jugendliteratur, trägt in der Klassengesellschaft Klassencharakter. Sie hilft, in augenscheinlicher oder unauffälliger Weise die Interessen einer bestimmten Klasse von Menschen durchzusetzen.“ [Sallmon (1962), S. 9]

Das Buch von Sallmon ist eindeutig im Geist der Blockkonfrontation geschrieben. Die Doktrin der friedlichen Koexistenz, die in den Honecker-Jahren vertreten wurde, galt noch nicht. Vielmehr begriff Sallmon die Literatur als explizite Waffe in einem Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wobei Kapitalismus bei ihm umstandslos mit der BRD-Regierung gleichgesetzt wird. [9]

Gleichzeitig ist Sallmon von der Vorstellung geleitet, es gäbe tatsächlich so etwas wie eine Schundliteratur. Damit stand er damals nicht allein, vielmehr war es fast schon normal, dass Kampagnen gegen Schundliteratur geführt wurden. Und zwar nicht nur in der DDR oder den anderen sozialistischen Staaten, sondern auch in den westlichen Ländern. Allerdings verbanden sich in der DDR – und auch bei Sallmon – die beiden gerade angesprochenen Vorstellungen: Er behauptet, dass „die Bonner Regierung“ „Schundliteratur“ einsetzen würde, um die Jugend der DDR zu beeinflussen.

Die Bedeutung dieses Denkens sollte man nicht unterschätzen. Zwar ist der Abschnitt über den „verderbliche[n] Einfluß der Schmutz- und Schundlektüre“ [Sallmon (1962), S. 29] nur dreieinhalb Seiten lang, diese aber haben es in sich. Zudem wird sich im restlichen Text beständig auf das in diesen Seiten Dargelegte berufen. Der Abschnitt ist keine Pflichtübung, um das Buch durch die Zensur zu bringen, sondern für das Denken von Sallmon – zumindest in diesem Buch – und dessen Vorstellungen von den Aufgaben der Schülerbüchereien elementar. Ein längeres Zitat, welches die „Schundliteratur“ und ihre Wirkung beschreibt, wird dies klarer machen:

„Im Gegensatz zu wertvoller Lektüre, die sich positiv auf die Entwicklung des Lesers auswirkt, übt die Lektüre von minderwertigem Schrifttum besonders auf Kinder und Jugendliche einen ihre Entwicklung schädigenden Einfluß aus.

Zur Schmutz- und Schundlektüre zählen wir alle antikommunistischen, militaristischen, revanchistischen, rassen- und völkerdiskriminierenden Schriften. Dazu gehören weiterhin die Horror-, Sex- und unwissenschaflichen Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen.

Der gemeinsame Wesenszug der Schmutz- und Schundlektüre ist der in mehr oder weniger starker Form auftretende Antihumanismus, die Unwissenschaftlichkeit, die Ablenkung von den echten Lebensfragen und die Verbrecherromantik. Dieses literarische Gift hat seine ökonomische und ideologische Wurzel im System der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftsordnung. Er wird in Riesenauflagen gedruckt und an die Jugend herangebracht. […]

Ein immer stärker werdender Grundzug des Inhalts dieser minderwertigen Literatur ist der Antikommunismus. Er ist in vielfältigen, differenzierten Formen in der militaristischen Kriegsliteratur und auch in den Heimat-, Liebes- und Kriminalromanen zu finden. […]

Die Comics zum Beispiel bestehen aus einer Vielzahl greller, abstoßender Bilder. Der spärliche, dürftige Text vergewaltigt und mißbraucht die Sprache.

Mit den Schund- und Schmutzerzeugnissen auf literarischem Gebiet, die in ihrer Thematik bedeutend breiter sind als hier dargestellt, verfolgen die westlichen, besonders die Bonner ‚Literaten‘ das Ziel, den kalten Krieg zu schüren, die Jugend für einen Krieg gegen das sozialistische Lager reif zu machen. Die Bonner Regierung ist daran interessiert, daß sich ihre antihumanistische Ideologie mit Hilfe dieser Schmutz- und Schundschriften auch auf die Jugendlichen in der DDR Einfluß gewinnt. […]

Das verderbliche Gift wirkt schleichend und langsam, aber dafür um so sicherer. Ganz allmählich werden durch das Lesen solcher Schriften falsche Ideale erzeugt. Das Gefühl für Recht und Unrecht wird verwischt. Der Leser gewinnt falsche Erkenntnisse über das Leben und die Umwelt. […] Die jungen Menschen stumpfen ab, werden gewissenlos und sadistisch. Die systematische Vergiftung von Hirn und Herz treibt die Jugendlichen nicht selten zu verbrecherischen Handlungen. Die Verbrecherrollen und die Totschlägermoral ihrer ‚Vorbilder‘ machen sie zu ihrer eigenen, da sie sie für heldenhaft und nachahmenswert halten.

Das Lesen von Schund- und Schmutzliteratur stört die richtige Aneignung der Sprache, es mindert besonders das Gefühl für die Schönheit der Muttersprache.“ [Sallmon (1962), S. 29 ff.]

Um noch einmal die hier benannten Grundideen herauszustreichen: Schund sei fast jede Form „niederer“ Unterhaltung, [10] das Lesen dieser Literatur verwirre die Jugendlichen nicht nur, sondern mache sie fast schon zu Verbrechern. Es sei notwendig, die „Muttersprache“ in ihrer literarischen Hochform zu schätzen, was nicht möglich wäre, wenn man sich auch Schundliteratur einlässt. Zudem setze der „kapitalistische Block“ diese Literatur gezielt ein, um die Jugend der DDR zu beeinflussen.

Demgegenüber gibt es für Sallmon aber auch gute Literatur. Diese Literatur soll – im Gegensatz zur „Schundliteratur“ – dazu beitragen, Menschen zu erziehen. Sie gilt nicht nur als Gegenteil der Schundliteratur, sondern zudem als Werkzeug der Schule.

„Jede Kunst ist dazu berufen, erziehende und bildende Funktionen auszuüben.

Unsere Kinder- und Jugendliteratur dient dem gesellschaftlichen Fortschritt, weil ihr Inhalt wissenschaftlich, parteilich und in einer guten künstlerischen Form gestaltet ist.

Wenn diese Literatur der Auffassungskraft des lesenden Schülers entspricht, kann sie positiven Einfluß auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit ausüben. Gute Lektüre ist eine bedeutende Kraft. Sie erfasst die Bereiche des Gefühls und des Intellekts. Beim Lesen fühlt und denkt der Leser mit den literarischen Gestalten mit. Er verfolgt emotional und intellektuell das Geschehen und nimmt an der Entwicklung der Helden im Buch Anteil. In jedem Kunstwerk, wie es auch aufgebaut sein mag, ist eine moralische Tendenz enthalten. Durch die künstlerische Gestaltung und die inhaltsreiche Handlung wird der Leser zum Nachdenken und in einer unaufdringlichen indirekten Form zum guten Verhalten angeregt.

Es ist falsch, gute Lektüre nur als einen Faktor bei der ästhetischen Erziehung und Bildung anzusehen. Gute Lektüre wirkt über den Bereich der Ästhetik hinaus. Sie hilft bei der moralischen, wissenschaftlichen und polytechnischen Erziehung und Bildung. Sie kann entschiedenen Anteil an der Formung der allseitig entwickelten Persönlichkeit haben.“ [Sallmon (1962), S. 12f.]

Sallmon illustriert diese Aussagen im Folgenden mit zahlreichen Beispielen, in denen Kinder und Jugendliche mithilfe von Büchern anfingen, neue Hobbys für sich zu entdecken und aufgrund dessen zu besseren Menschen werden.

Wichtig ist aber vor allem die in diesen Ausführungen niedergelegte Vorstellung davon, dass jede Form der Literatur, jedes Buch eine explizite Wirkung hat. Es gibt für Sallmon keine Literatur, welche die Menschen nicht in die eine oder andere Richtung erziehen würde. Deshalb verbietet sich zum Beispiel eine rein ästhetische Bewertung von Literatur ebenso wie die Wertschätzung des Lesens als Lesen. Vielmehr ist Sallmon ein Freund großer Vereinfachungen: ein Buch wirkt entweder gut oder schlecht, handelt ein Buch nicht von praktischen Dingen oder guten Helden, dann wirkt es schlecht auf die Kinder und Jugendlichen. [11] Diese in der frühen DDR – und anderswo – verbreitete Vorstellung führte, wie bekannt ist, zu Büchern mit überpositiven Heldinnen und Helden, die gerade deshalb auch wenig oder gar keine Wirkung entfalteten, weil sie praktisch niemanden ansprachen. Gleichzeitig leitet sich aus einem solchen Denken die in bibliothekarischen Publikationen der frühen DDR immer wieder erhobene Forderung nach mehr Einführungswerken in Wissenschaft und Technik für Kinder und Jugendliche ab.

Dieses Denken bestimmt für Sallmon auch die Aufgabe der Schülerbüchereien: Sie sollen zuvorderst dafür sorgen, dass Kinder und Jugendlichen gute und richtige Bücher lesen. Auch das ist noch einmal näher auszuführen. Sallmon geht explizit davon aus, dass es immer Bücher gäbe, die genau für eine Altersstufe sinnvoll und zu verstehen seien. Er erläutert nicht, wie diese Bücher zu bestimmen seien, geht aber davon aus, dass alle Kinder und Jugendliche in einem Alter mehr und minder die gleiche Auffassungsgabe und das gleiche Leseniveau hätten. Das dieses Niveau in der Lektüre der Schülerinnen und Schüler eingehalten wird, ist für Sallmon eine weitere wichtige Aufgabe der Schülerbüchereien.

Dies wird in der Auswertung einer Fragebogenstudie zum Leseverhalten von 684 Schülerinnen und Schülern, die von Sallmon im Buch vorgenommen wird – obgleich nicht klar ist, wer diese Untersuchung konzipiert und ihre Durchführung initiiert hat – ersichtlich. Sallmon unterteilt zum Beispiel die „Leseeignung“ der gelesenen Bücher in geeignet, ungeeignet und nicht einzustufen. Als geeignet gelten „Lesestoffe, die unter Berücksichtigung der erworbenen Lesefähigkeiten und der Faßlichkeit von den Schülern der entsprechenden Altersstufen lesetechnisch bewältigt und inhaltlich erschlossen werden können“ [Sallmon (1962), S. 39], während als ungeeignet „Lesestoffe, die als verfrühte Literatur für die Schüler dieser Altersstufe gelten oder minderwertige Lektüre sind“ bezeichnet werden. [Sallmon (1962), S. 39]. Wie genau bestimmt werden kann, was von den Kindern und Jugendlichen wann „bewältigt“ werden kann, bleibt unklar. [12] In der Diskussion der Ergebnisse – die auch ansonsten erstaunliche Aussagen enthält, beispielsweise wenn Sallmon behauptet, die Literaturpropaganda hätte versagt, wenn die Kinder und Jugendlichen nicht in großer Zahl die jeweils für ihre Klassenstufe empfohlenen Bücher als Lieblingslektüre angeben – bezieht Sallmon eine eindeutige Position gegen jede Form von Peer-Education:

„Es besteht die Gefahr, daß durch den Tausch von Büchern und anderen Lesematerialien jüngerer und älterer Schüler untereinander die Kinder vielfach Literatur erhalten, die sie nicht verstehen bzw. die schädlich für ihre Entwicklung ist.“ [Sallmon 81962), S. 45]

Diese Angst vor der falschen Lektüre geht bei Sallmon noch weiter. So interpretiert er die Zustimmung der Schülerinnen und Schüler zu der Aussage: „Ich lese alles, was mir in die Finger fällt“ negativ als: „Ein Teil der Schüler liest völlig wahllos.“ [Sallmon (1962), S. 44] Er beschreibt sogar das Zuviel-Lesen als Gefahr:

„So mancher Schüler ist ein ‚Vielleser‘ oder ‚Bücherwurm‘. Er ‚verschlingt‘ jede Literatur, die ihm in die Hände fällt, ganz gleich, ob sie für ihn geeignet ist oder nicht. Jede freie Minute nutzt er, um sich mit der Lektüre zu beschäftigen. In der Regel liest dieser Schüler in einem zu schnellen Tempo und zu oberflächlich. Er verweilt nicht oder kaum beim Lesen, denkt nicht nach und hastet von einem Höhepunkt zum anderen. Solche ein Schüler isoliert sich vom Kollektiv und zeigt oft ausgeprägte individualistische Züge. Seine ‚Belesenheit‘ verführt ihn zu Überheblichkeit und Altklugheit gegenüber seinen Mitschülern. Zu vieles Lesen verhindert den gesunden Ausgleich zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit. Der Schüler wird nervös und gegenüber Krankheiten anfällig.“ [Sallmon (1962), S. 80] [13]

Und als wären diese Gefahren nicht ausreichend, stellt sich Sallmon zudem die Wirkung von spannender Literatur wie folgt vor:

„Wo die Schüler lesen, ist ebenfalls wissenswert. Ständiges Lesen im Bett und bei ungünstigen Lichtverhältnissen ist keine Seltenheiten. Ein Teil der Schüler liest besonders gern in den späten Abendstunden. Nach einer anregenden Lektüre wird solch ein Schüler keinen ruhigen Schlaf finden, da das Nervensystem zu sehr belastet wurde. Die Auswirkungen solches Lesens sind auf jeden Fall schädlich.“ [Sallmon (1962), S. 81]

Sallmon schreibt der Literatur also eine sehr große Wirkung zu, allerdings benennt er vor allem Gefahren: Schundliteratur, zu einfache oder zu komplizierte Literatur, zu viele Literatur und zu aufregende Literatur. Gleichzeitig insistiert Sallmon darauf, dass gelesen werden muss. Die Aufgabe sei es, insbesondere die Schülerinnen und Schüler auf diesem schmalen Pfad zu begleiten. Auch dies fasst klar zusammen:

„Es ist die Pflicht der Lehrer, Erzieher und Eltern, unsere Jugend vor Schmutz und Schund zu schützen.

Das geschieht am besten und sichersten, wenn mit guter Literatur gearbeitet wird. In der Schule bestehen dafür die besten Voraussetzungen. Lehrer und Erzieher müssen gemeinsam mit den Eltern die Kinder frühzeitig an die gute Lektüre heranführen. Die Gewöhnung und die Freude am Lesen guter Literatur sich entscheidend, wenn es darum geht, jeden Einfluss der Schmutz- und Schundliteratur auszuschalten. Dabei kann die Schülerbücherei der Oberschule gute Hilfe leisten.“ [Sallmon (1962), S. 32]

Lenkung der Lektüre

Hier nun kommt die Schülerbücherei ins Spiel. Sallmon verlangt eine Lenkung der Lektüre der Kinder und Jugendlichen und hierzu eine direkte Überwachung dieser Lektüre. Es geht dabei nicht um eine wie auch immer organisierte Zielgruppenarbeit. Eine solche wird erst im Nachgang thematisiert. Es geht darum, tatsächlich die Lektüre jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers wahrzunehmen, zu verzeichnen und in gewisser Weise vorzuschreiben. Dabei sieht er zuerst die Lehrerinnen und Lehrer in der Verantwortung:

„Jedem Lehrer sollte bekannt sein, welche Schüler in der Freizeit lesen, was der einzelne liest und woher er seine Lektüre bezieht. Wenn er sich dann noch Gedanken macht, wie er am besten das Lesen der Kinder lenken kann, sind wichtige Voraussetzungen gegeben, alle Schüler an bewußtes Lesen ihrer Lektüre zu gewöhnen.

Die Arbeit mit der Fibel, dem Lese- und dem Lehrbuch im Unterricht allein reicht heute nicht mehr aus. Der Lehrer und Erzieher muß es verstehen, bei seiner Arbeit das Lehrbuch und die Kinder- und Jugendliteratur zu vereinen und zu nutzen. Die sozialistische Kinder- und Jugendliteratur hilft ihm, den Unterricht und die gesamte Erziehungsarbeit interessanter zu gestalten und enger mit dem Leben zu verbinden.“ [Sallmon (1962), S. 35]

Wenn Sallmon davon spricht, dass „jedem Lehrer […] bekannt sein [sollte]“, was die Schülerinnen und Schüler lesen, ist damit nicht gemeint, dass sie sich ungefähr mit den Leseinteressen der Lernenden auseinandersetzen sollten. Es geht ganz konkret darum, jedem Wunsch nach Privatsphäre widersprechend, die Lektüre zu kontrollieren. So zitiert er zustimmend einen „Kollege Löffler aus Dresden“ [Sallmon (1962), S. 36]:

„Wenn ich eine Klasse in Deutsch übernahm, versuchte ich die Lage dadurch zu klären, daß ich von jedem Schüler zuerst die Liste der Bücher erbat, die sein persönliches Eigentum sind, und danach der, die er gelesen hat.“ [Sallmon (1962), S. 36]

Die Schülerbücherei soll nun die Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützen, die Lektüre der Schülerinnen und Schüler auf die „gute“ Literatur zu lenken, wobei diese Lektüre gleichzeitig nicht zu reichhaltig sein darf.

„Der Leiter der Schülerbücherei trägt bei der Betreuung dieser Schüler [die zu viel oder eine für sie noch nicht passende Literatur verlangen, K.S.] besondere Verantwortung. Er in erster Linie kann dazu beitragen, daß einer seiner Leser ein [sic!] Konsument von Schmutz- und Schundlektüre wird. Kein Schüler sollte in dieser Zeit seine Lesewünsche einseitig, nur in Richtung der sensationsgesteuerten Lektüre befriedigen. […]

Es ist seine Aufgabe, den Schülern vor allem die Bücher, die von bedeutender gesellschaftlicher Aussage sind, nahezubringen. Das ist zu erreichen, wenn der Schüler spürt, daß ihm ein Buch empfohlen wird, daß ihm seine Kenntnisse bereichern hilft und ihm Vorbilder für sein Leben gibt. […]

Vom methodischen Geschick des Leiters der Bücherei hängt es ab, ob auch beim letzten Schüler das Vorurteil gegen die wissenschaftlich-technische Literatur überwunden wird. […]

Der Leiter der Schülerbücherei legt besonderes Gewicht darauf, dem Schüler im Gespräch über aktuelle politische Ereignisse Literatur zu empfehlen, die sein politisches Wissen und seine Kenntnisse um die Zusammenhänge bereichert und ihn zu parteilicher Stellungnahme auffordert. Deshalb führt er den einzelnen oder mehrere Schüler zur Diskussion über diese Fragen und gibt Hinweise, wo mehr über die betreffende Problematik nachzulesen ist, um überzeugend argumentieren zu können.“ [Sallmon (1962), S. 76f.]

Gerade der letzte zitierte Abschnitt sollte noch einmal aufhorchen lassen. In diesem wird eine Praxis entworfen, die einer Gewissensprüfung gleicht: „zu parteilicher Stellungnahme auffordert“ ist eine Umschreibung dafür, dass die Schülerinnen und Schüler letztlich den Ansichten des Leiters der Schülerbücherei – der als guter Sozialist immer die richtige Meinung zu haben hat – zustimmen sollen. Es geht nicht um eine eigenständige Aneignung von Literatur oder auch technisch-wissenschaftlicher Texte durch die Lernenden.

Im praktischen Teil seines Buches beschreibt Sallmon sogar, wie ein „Leseheft“ geführt werden sollte. [14] In diesem sollen alle ausgeliehenen Medien der Schülerinnen und Schüler festgehalten werden. Auch hier zitiert Sallmon zustimmend ein Beispiel, diesmal aus der ČSSR, wo in einer Prager Schule eine Schulbibliothekarin sogar eine Übersicht pro Klasse erstellt. Er selber schlägt vor, mindestens einmal im Schuljahr mit dem Klassenleiter / der Klassenleiterin das Leseheft der jeweiligen Klasse „gründlich zu analysieren […], um festzustellen, was und wieviel jeder Schüler aus der Schülerbücherei liest.“ [Sallmon (1962), S. 60].

Selbstverständlich wäre eine solche Methode heute nicht einmal in Ansätzen denkbar. Nicht nur, dass sie gegen elementar gegen den Datenschutz verstößt, den Schülerinnen und Schüler ihre eigenständigen Lektürewege und -erfahrungen abspricht und zudem kontraproduktiv für das Erziehen zur Selbstständigkeit ist. Sie geht auch davon aus, dass den Leitern und Leiterinnen der Schülerbüchereien die gesamte Literatur bekannt sei – Wie sollten sie sonst Entscheidungen darüber treffen, was gute und was schlechte Literatur wäre? – und bei ihnen zudem Wissen über die für jede Altersstufe passende Lektüre vorhanden wäre.

Die Schülerbücherei in der Klassengesellschaft

Sallmon bewertet die Schulbibliotheken/Schülerbüchereien in der BRD und der DDR in einem kurzen Kapitel, auch wenn er dabei von kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaftsordnung spricht. Dieses Kapitel ist vor allem hervorzuheben, da es in diesem Buch einige Monate nach dem Mauerbau erschien und das Forcieren der Blockkonfrontation argumentativ unterstützt.

Die Argumentation selber ist sehr einfach: in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, so Sallmon, unterstützt eine Schülerbücherei die Reproduktion dieser Gesellschaftsordnung. In einer sozialistischen Gesellschaftsordnung trägt sie dazu bei, den Sozialismus zu entwickeln:

„Schule und Schülerbücherei in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind Einrichungen, die mithelfen sollen, die kapitalistische Ordnung zu sichern und zu erhalten und das Bildungsmonopol der herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten.“ [Sallmon (1962), S. 48]

„In einer Gesellschaftsordnung, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt ist, gehören auch Kunst und Literatur den schaffenden Menschen. […]

Mit Hilfe der Schülerbücherei bahnen wir allen Schülern den Weg zum Lesen guter Lektüre, versorgen sie ständig mit wertvoller Literatur und helfen so mit, daß alle Schüler frühzeitig zur selbstständigen Arbeit mit dem Buch befähigt werden.

Die sozialistischen Schülerbüchereien gehören den Schülern und verlangen ihre Mitarbeit und Mitverantwortung.“ [Sallmon (1962), S. 51ff.]

Diese Darstellung wird noch dadurch verschärft, dass Sallmon der Regierung in Bonn unterstellt, die Schülerbüchereien aktiv „als ein Mittel zur psychologischen Kriegsführung [einzusetzen]“. [Sallmon (1962), S. 50] [15] Es scheint für Sallmon nach dieser Klarstellung aber auch nicht mehr nötig zu sein, auf Erfahrungen aus den Schulbibliotheken aus der BRD oder dem restlichen westlichen Ausland einzugehen. Die Bockkonfrontation zieht sich für ihn auch durch die Schulen und Schülerbüchereien.

Funktionen der Schülerbüchereien

Im Anschluss an die Darstellung der Annahmen zur Lektüre der Schülerinnen und Schüler und den eben angeführten politischen Aussagen, kommt Sallmon in der zweiten Hälfte des Buches auf die Praxis in den Schülerbüchereien zu sprechen.

Zuvorderst verortet er Schülerbüchereien als Einrichtungen in den Oberschulen, die vor allem die Aufgabenstellungen dieser Schulen unterstützen – also nicht etwa eigenständig oder im Sinne der Interessen des Bibliothekswesens agieren – sollen:

„[Die Schülerbücherei] darf keine selbständige, von der Schularbeit losgelöste Institution sei, doch [sic!] sollte die Tätigkeit ihres Leiters so in den Schulablauf mit eingeplant werden, daß sie nicht den planmäßigen Unterricht und die außerunterrichtliche Arbeit beeinträchigt.“ [Sallmon (1962), S. 53]

„Die politisch-pädagogischen Schwerpunkte der Erziehungs- und Bildungsarbeit der Schule werden stets auch die Schwerpunkte für die Arbeit der Schülerbücherei sein.“ [Sallmon (1962), S. 55]

Gleichzeitig bezeichnet er die Büchereien als notwendige Einrichtung für jede Oberschule. Zudem schätzt er deren Aufgaben für so umfangreich ein, dass sie nur in Zusammenarbeit von Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern sowie „eines Aktivs der Schüler“ [Sallmon (1962), S. 56] zu bewältigen seien. „Aktiv“ ist hierbei ein anderer Name für Arbeitsgemeinschaft oder Gruppe. Interessant ist, dass Sallmon davon ausgeht, dass dieses für eine erfolgreiche Schülerbücherei notwendig wäre, wohingegen er kein Wort zu ausgebildeten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren verliert.

Die – übrigens auch für Eltern zugängliche – Bücherei soll eine unentgeltliche Ausleihe ermöglichen. Es wird vom Autor zudem dafür plädiert, nur eine Schülerbücherei pro Schule einzurichten, diese gleichzeitig aber von einer „Lehrerbücherei“ [Sallmon (1962), S. 54] zu trennen. [16] Sallmon verweist auf die Möglichkeit, Eltern die Leitung einer Schülerbücherei zu übertragen. Dies ist deshalb interessant, weil er dabei explizit von „nicht beruftätigen Müttern“ [Sallmon (1962), S. 59] spricht, die diese ehrenamtliche Aufgabe übernehmen könnten. Dies erinnert daran, dass das Leitbild der berufstätigen Frau, welches in der DDR vertreten und gefördert wurde, sich erst mit einer gewissen Verzögerung in der Realität durchsetzte (und auch dies nie zu 100%). In den frühen 1960er Jahren war dies offensichtlich noch nicht der Fall.

Weiterhin differenziert der Autor die Aufgaben der Leitung der Schülerbücherei von denen des – wie gesagt als notwendig angesehenen – Aktivs aus Schülerinnen und Schülern.

Der Leitung werden von ihm folgende Aufgaben zugeteilt:

  • „[…] die lebendige literarisch-pädagogische Arbeit mit den Schülern aller Altersstufen“ [Sallmon (1962), S. 59]
  • „[…] für den systematischen Aufbau und einen pädagogisch wertvollen Bestand der Bücherei zu sorgen.“ [Sallmon (1962), S. 59f.]
  • „Die […] direkte Hilfe für den Unterricht kann darin bestehen, daß der Büchereileiter für die einzelnen Fächer mit den Fachlehrern Buchtitel bespricht und zusammenstellt.“ [Sallmon (1962), S. 60]
  • „[…] die Bedingungen für eine geeignete Leseatmosphäre und eine entsprechende Lesekultur im Raum der Schülerbücherei oder im Lesezimmer der zu schaffen […]“ [Sallmon (1962), S. 61]
  • „[sich] um die Erledigung von mit der Tätigkeit der Schülerbücherei zusammenhängenden verwaltungs- und bibliothekstechnischen Arbeiten [zu] kümmern […]“ [Sallmon (1962), S. 61]

Dem Schülerinnen- und Schüleraktiv schreibt er folgende Aufgaben zu:

  • „Literaturpropaganda und -agitation“ [Sallmon (1962), S. 63], also das Anpreisen von Literatur, was beispielsweise durch Besprechungen an Wandzeitungen oder durch Gespräche mit anderen Schülerinnen und Schülern geschehen sollte
  • Das Erstellen von Bibliographien, Katalogen und Leselisten
  • Das Vorlesen von Geschichten für jüngere Klassen (Wobei noch einmal angemerkt werden muss, dass die Oberschulen 10. Jahrgänge umfassten, so dass tatsächlich möglich war, dass Jugendliche aus den 9. und 10. Klassen den Schülerinnen und Schülern der 1. und 2. Klasse vorlasen.)
  • Beratungen über den Bestand vor der Anschaffung neuer Bücher. Dabei ist die Argumentation interessant. Nicht, weil sie selber Schülerinnen und Schüler sind und sich deshalb vielleicht besser mit den Lektüreinteressen dieser Altersgruppe auskennen, sollen sie für Beratungen herangezogen werden. Vielmehr gilt: „Sie haben sich in der Regel intensiv mit der Literatur beschäftigt und kennen viele neue Bücher aus den Buchbesprechungen in der ‚Trommel‘ und der ‚Jungen Welt‘.“ [Sallmon (1962), S. 64] [17] Sie gelten also das diejenigen, welche die Lesearbeit der Rezensionen in den für sie bestimmten Zeitschriften unterworfen hätten. Vorausgesetzt wird dabei, dass diese beiden Zeitschriften die Lektüreinteressen der Jugendlichen abdecken würden.
  • „[…] die Erledigung notwendiger technischer Aufgaben.“ [Sallmon (1962), S. 64], namentlich das Einstellen und Verleihen der Bücher (inklusive des Eintrags in das Leseheft), die Ausbesserung kleinerer Schäden

Auch zur Zusammensetzung und Auswahl des Aktivs macht Sallmon Angaben:

„Vorraussetzungen für die Arbeit im Aktiv bringt der Schüler mit, der gute Leistungen im Unterricht zeigt, ein Freund guter Literatur und zu freiwilliger Arbeit im Aktiv bereit ist. Nach Möglichkeit sollten aus jeder Klasse, beginnend mit der vierter, ein bis zwei Schüler im aktiv mitwirken und so die Verbindung der Schülerbücherei mit ihrer Klassen herstellen.“ [Sallmon (1962), S. 65]

Sallmon, um das zusammenzufassen, betrachten die Schülerbücherei als Einrichtung, die sich den Aufgaben der Schule unterordnet, die auf die Mitarbeit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern angewiesen ist, aber offenbar nicht auf eine explizit bibliothekarische Leitung. Im weiteren Verlauf des Buches gibt er auch einige Hinweise auf bibliothekstechnische Abläufe, weit mehr interessiert ihn aber die Lenkung der Lektüre der Schülerinnen und Schüler.

Der Bestand

Relativ lange Ausführungen finden sich bei Sallmon zum Medienbestand der Schülerbüchereien. Der Bestand würde darüber mitbestimmen, was die Schülerinnen und Schüler lesen und wie sie die Schülerbücherei wahrnehmen. Im ersten Schritt kritisiert Sallmon den Bestand der bestehenden Schülerbüchereien. Diese seien an vielen Schulen „in den letzten Jahren nur äußerst gering und wahllos erweitert [worden]“ [Sallmon (1962), S. 66], setzten „sich zum Teil aus solchen Büchern zusammen, die nicht unmittelbar das Lernen und die sozialistische Erziehung unterstützen“ [Sallmon (1962), S. 66], würden auch teilweise „minderwertige Literatur [beinhalten]“ [Sallmon (1962), S. 66] [18], zudem „in der Zusammensetzung für die Schüler der verschiedenen Altersstufen nicht die richtigen Proportionen auf[weisen]“ [Sallmon (1962), S. 66] und zudem oft „nicht genügend Sachliteratur [umfassen], die die polytechnische Erziehung und Bildung der Schüler wirksam fördert“ [Sallmon (1962), S. 66]. Fehlen würden meist „wertvolle Abenteuer- und Kriminialliteratur sowie [Werke] mit utopischen Inhalt“ [Sallmon (1962), S. 67] sowie Lyrik.

Sallmon erwähnt zudem, dass im Altbestand einzelner Schülerbüchereien „Literatur, die vor 1945 erschienen ist“ [Sallmon (1962), S. 66] enthalten wäre. Dies lehnt er mit einem interessanten Argument (und eben nicht direkt, weil es sich um faschistische Literatur handelt, was nachvollziehbar wäre, aber auch nicht auf alle Literatur „vor 1945“ – die ja auch vor 1933 erschienen sein kann – zutrifft) ab: „Großzügigkeit auf diesem Gebiet [der Bestandspolitik, K.S.] aber kommt einer ideologischen Koexistenz gleich und ist gefährlich.“ [Sallmon (1962), S. 66] Die Schülerinnen und Schüler sollen also einerseits zu einem selbstständigen Umgang mit der Literatur angeregt, aber gleichzeitig nicht mit Literatur, die einen anderen ideologischen Hintergrund hat, als „unseren“ (ein Wort, dass Sallmon öfter benutzt, ohne es weiter auszuführen), verwirrt werden. Das ist selbstverständlich ein Widerspruch, der Sallmon aber zumindest in diesem Buch nicht zu stören scheint.

„An der Mehrzahl“, so eine Zusammenfassung des Autors, „der von uns besuchten Schülerbüchereien entspricht der Bestand nicht den Anforderungen, die an eine Schülerbücherei der sozialistischen Oberschule gestellt werden müssen.“ [Sallmon (1962), S. 65f.]

Anschließend gibt Sallmon Hinweise darauf, wie der Bestand einer Schülerbücherei aufzubauen ist, wobei sich einige Punkte (genügen Sachliteratur für den polytechnischen Unterricht, „wertvolle“ Literatur, Lyrik, eine proportional an den Altersstufen orientierte Zusammensetzung des Bestandes, keine Literatur, die „unseren“ ideologischen Grundlagen nicht entspricht) aus der Kritik an den vorhandenen Beständen ableiten lassen.

Weiterhin verweist Sallmon darauf, dass alle in der DDR verlegte Literatur ideologisch gute Literatur sei: „In der Deutschen Demokratischen Republik wird keine antihumanistische Literatur hergestellt.“ [Sallmon (1962), S. 67]. Dieser Umstand würde es für die Schülerbüchereien leicht machen, aus dem Angebot an Büchern zu wählen. In den Bestand aufzunehmen seien Bücher, „die unmittelbar der staatsbürgerlichen Erziehung und der Aneignung exakter wissenschaftlicher Kenntnisse durch die Schüler dienen“ [Sallmon (1962), S. 67], insbesondere solche, welche „die Liebe zur DDR, zur Partei der Arbeiterklasse und zu unserer Regierung entwickeln hilft“ [Sallmon (1962), S. 67] sowie die Schülerinnen und Schüler „zu gutem Lernen, zu guter Arbeit [anhält] und sie mit dem Leben, den Aufgaben und Taten der Soldaten der Nationalen Volksarmee bekannt machen und für den späteren Ehrendienst bei den bewaffneten Streitkräften [begeistert].“ [Sallmon (1962), S. 67] Oder mit anderen Worten: Der Bestand der Schülerbüchereien soll unter anderem einen Propagandazweck haben und sogar zur Wehrerziehung dienen. Zudem sollen in den Bestand auch Medien „aus der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern [eingestellt] werden.“ [Sallmon (1962), S. 67]

Neben diesem ideologischen Teil des Bestandes – dessen Vermittlung als Lektüre, wie oben dargestellt, den Leiterinnen und Leitern der Schülerbüchereien und den helfenden Schülerinnen und Schülern obliegt – verlangt Sallmon Sachliteratur, welche die polytechnische Bildung unterstützen soll, wobei unter polytechnisch eine möglichst breit angelegte technische und wissenschaftliche Kenntnis verstanden wurde. [19]

Kurz verweist Sallmon darauf, dass es „nicht möglich [ist], jede Schülerbücherei mit der von ihr gewünschten Literatur in ausreichender Menge kostenlos zu beliefern“ [Sallmon (1962), S. 68], was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass in den Anfangsjahren der DDR tatsächlich den Versuch gab, durch das zentrale Verschicken von Beständen kleine Bibliotheken, vor allem im ländlichen Raum, aufzubauen. Stattdessen plädiert Sallmon dafür, dass die „Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern“ die Schülerbüchereien in Eigenregie und auch mit eigenen Mitteln, bzw. Mitteln, die sie auf andere Weise erarbeiteten, aufbauen und unterhalten sollen. Er skizziert weiterhin folgenden Minimalbestand, bei dem er auf „eine ausreichende Staffelung der einzelnen Titel“ [Sallmon (1962), S. 69] besteht, da nur so ein sinnvolles Arbeiten im Klassenverband möglich wäre:

„a.) Bücher und Zeitschriften, die das Kernstück der sozialistischen Schule, die polytechnische Bildung und Erziehung, festigen und weiterentwickeln helfen.

Bücher, die mittel- und unmittelbar das Lernen der Schüler […] unterstützen.

b.) Kinder- und Jugendbücher, die im Lehrplan für die Klassen fünf bis zehn als obligatorische Literatur zur Behandlung im Deutschunterricht genannt sind.

c.) Bücher, die im Lehrplan als zusätzliche Lesestoffe für jede Klasse empfohlen werden. […]

d.) Bücher, die in besonderen Maße der patriotischen Erziehung und der Herausbildung der wissenschaftlichen Weltanschauung dienen.

e.) Literatur, die im Stufenprogramm der Pionierorganisation ‚Ernst Thälmann‘ genannt wid.

f.) ‚Bücher des Monats‘ der Pionierorganisation und der FDJ.

g.) Zeitschriften und Zeitungen für Kinder und Jugendliche, wie ‚ABC-Zeitung‘, ‚Trommel‘, ‚Junge Welt‘, ‚Jugend und Technik‘, ‚Armeerundschau‘ [sic!], ‚Sowjetunion‘ etc.

h.) Nachschlagewerke“ [Sallmon (1962), S. 69]

Auch dies schien dem Autor offenbar nicht ausreichend. Seine Arbeit wird abgeschlossen mit einem „Vorschlag für den Grundbestand der Schülerbücherei“ [Sallmon (1962), S. 104], in welchem er immerhin 195 Bücher, jeweils mit Autor/Autorin, Titel, Verlag, Verlagsort, Jahr und Annotation aufgezählt. Alle diese Bücher sind in der DDR erschienen und erfüllen offenbar die Anforderungen des Autors. An dieser Liste sollen sich die Schülerbüchereien beim Bestandsaufbau orientieren. [20]

Arbeit in den Schülerbüchereien

Als Bildungsziel der Arbeit in den Schülerbüchereien bestimmt Sallmon „den selbstständigen, bewußten Leser“ [Sallmon (1962), S. 70], allerdings unter all den Einschränkungen, die weiter oben schon angesprochen wurden. In einer ziemlich konkreten Liste beschreibt er, was einen solchen Leser auszeichnen würde.

„Er vermeidet jede Einseitigkeit und ist bestrebt, die Literatur der verschiedenen Gebiete kennenzulernen.

Er liest regelmäßig und systematisch mit dem Ziel, seine Kenntnisse, sein Wissen zu erweitern.

Er betrachtet die Literatur nicht als bloßes Mittel des Zeitvertreibs und der billigen Unterhaltung, sondern erkennt in ihr einen guten Ratgeber.

Er bedient sich der Lektüre, um die politische Ereignisse besser zu verstehen und seine Leistungen zu erhöhen.

Er versteht es, die ideologische Substanz der Lektüre zu erkennen, den Inhalt kritisch zu bewerten, neue Kenntnisse in sein Wissenssystem einzuordnen und Schlußfolgerungen für sein Verhalten zu ziehen.

Er ist fähig und bereit, mit anderen Schulkameraden und mit Erwachsenen ein Gespräch über die gelesene Lektüre zu führen und das Wesentliche richtig wiederzugeben.

Er kann aus der Vielfalt der Literatur bei Benutzung der grundlegenden Erschließungsmittel selbständig die benötigte Lektüre auswählen.

Er ist in der Lage, mit der Sachliteratur richtig zu arbeiten, kann den Extrakt der Lektüre schriftlich fixieren und ist bemüht, seine erworbenen Kenntnisse in der Praxis richtig anzuwenden.

Er ist sich bewußt, daß Lesen nicht nur Freude bereitet, sondern Anstrengung, Konzentration und Ausdauer verlangt.

Er ist ein Freund der Lektüre und geht mit ihr als einem Teil des gesellschaftlichen Eigentums sorgfältig um.

Der bewußte Leser ist bemüht, sich selbst auf dem Gebiet der Literatur schöpferisch zu versuchen.“ [Sallmon (1962), S. 70f.]

Oder auch wieder in anderen Worten: Der bewusste Leser ist für Sallmon einer, der Lektüre vor allem benutzt, um der Gesellschaft nützlich zu sein und zudem zu den gewünschten politischen Einschätzungen gelangt.

Zu erreichen wäre das, indem der Bestand beständig und immer wieder neu an die Schülerinnen und Schüler vermittelt wird. Und zwar, wie Sallmon zuvor dargelegt hat, lenkend und nicht auf freiwilliger Basis. Zudem – dies ist im polytechnischen Unterricht angelegt – sollen die Lernenden dazu angehalten werden, die Namen der Autorinnen und Autoren sowie die Titel der gelesenen Bücher zu memorieren, um auf diese Weise einen Respekt vor den schöpferischen Leistung, die nötig seien, um ein Buch herzustellen, zu lernen.

Zudem solle den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Formen von Katalogen (alphabetischer Katalog, Titelkatalog, systematischer Katalog) erläutert werden, damit diese selbstständig mit Beständen von Bibliotheken arbeiten könnten, obgleich Sallmon selber angibt, dass der Großteil der Schülerbüchereien ohne solche Kataloge arbeiten würden.

Ein großer Teil der von Sallmon beschriebenen Arbeit von Schülerbüchereien besteht aus außerunterrichtlichen Veranstaltungen. Er verweist auch auf die mögliche bibliothekarische Arbeit in Ferienlagern. [21] Ansonsten besteht er darauf, dass die Veranstaltungen „nie den strengen Charakter einer Unterrichtsstunde tragen [sollten].“ [Sallmon (1962), S. 84] Nicht zuletzt verlangt er vom Leiter und der Leiterin der Schülerbücherei, sich ausreichend auf die Veranstaltungen vorzubereiten und die Veranstaltung mit Hilfe moderner Technik (Tonbandgerät, „Bildwerfer“ und Schmalfilmgerät) „interessanter und eindrucksvoller [zu] gestalten“. [Sallmon (1962), S. 84]

Als Veranstaltungsformen führt er Vorlesestunden, verschiedene Formen der Buchbesprechungen und -diskussionen, einen „Erzählwettstreit“ [Sallmon 81962), S. 88] (das heißt einen Wettbewerb im Nacherzählen) sowie Buchausstellungen an.

An technischen Aspekten bespricht er Formen der Ausleihe, wobei er die Freihandausleihe als diejenige Form bewertet, welche – im Gegensatz zur Thekenausleihe und Klassenbüchereien – „am besten den Prinzipien der sozialistischen Schule entspricht.“ [Sallmon (1962), S. 92], außerdem die Benutzungsordnung, das Erstellen der Leseheft und eines „Verzeichnis[ses] über den Buchbestand“ [Sallmon (1962), S. 94] sowie die Ausgestaltung des Raumes. Dabei betont er, dass der Raum der Schülerbüchereien den pädagogischen Aufgaben der Einrichtungen funktional unterzuordnen wäre. „Die Ausgestaltung [ist] auch ein Kritierium für die Wertschätzung des Erziehungs- und Bildungsfaktors Schülerbücherei durch den Leiter und die Lehrer der Schule.“ [Sallmon (1962), S. 98]. Die Bücherei solle einen eigenen Raum zur Verfügung haben, der mindestens eine halbe Klasse aufnehmen können und in einem ruhigen Teil des Schulgebäudes untergebracht sein müsse, gute Lichtverhältnisse für das Lesen aufweisen und zudem eine beruhigende Atmosphäre bieten solle. Auszustatten sie die Bücherei mindestens mit Regalen, einem Tisch für Zeitschriften und Zeitungen, einem weiteren Tisch für „die Erledigung der bibliothekstechnischen Arbeiten“ [Sallmon (1962), S. 99], Sitzgelegenheiten und einem verschließbaren Schrank für Unterlagen.

Ein weiteres Unterkapitel widmet der Autor dem Umgang der Schülerinnen und Schüler mit den Medien, wobei auch hier die vertretene These relativ simpel ist:

„Die Literatur der Schülerbücherei ist gesellschaftliches Eigentum. […] Im Umgang mit der Literatur zeigt sich das Verhältnis der Schüler zum sozialistischen Eigentum, äußert sich ihre Einstellung zum guten Schrifttum.“ [Sallmon (1962), S. 100]

Schülerinnen und Schüler, die sich den herrschenden Ansprüchen unterordnen bzw. als Sozialistinnen und Sozialisten begreifen, würden auch gut mit den Büchern der Schülerbücherei umgehen. Um dies zu fördern, empfiehlt der Autor den Besuch in Druckereien oder das Gespräch mit Personen, die im Verlagsgeschäft arbeiten. Auch dies folgt den grundsätzlichen Überlegungen des polytechnischen Unterrichts.

Das kurze abschließende Kapitel widmet sich der Zusammenarbeit mit den Allgemeinbibliotheken, wobei Sallmon sehr klar davon ausgeht, dass es sich bei Schülerbüchereien und Allgemeinbibliotheken um zwei unterschiedliche Bibliothekstypen handelt. Diese Zusammenarbeit sei, trotzdem beide Bibliothekstypen das gemeinsame Ziel hätten, „bei der sozialistischen Bewußtseinsformung der Menschen mitzuwirken“ [Sallmon (1962), S. 101], bislang unzureichend. Er plädiert dafür, die Zusammenarbeit von jeder Oberschule aus anzustreben, Verbindung mit den Allgemeinbibliotheken aufzunehmen und eine Form der gemeinsamen Arbeit zu vereinbaren, „die keine Kompetenzstreitigkeiten zuläßt.“ [Sallmon (1962), S. 102] Unterordnen solle sich keine der beiden Bibliothekstypen.

„Lesekompetenz“

Auffällig ist in dem Buch von Sallmon, dass sich die Vorstellung davon, wie sich Lesen auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler auswirkt, kaum von den heutigen Aussagen zur „Lesekompetenz“ (wie sie in der bibliothekarischen Literatur gemacht werden, für die erziehungswissenschaftliche wäre das noch einmal zu differenzieren.) unterscheiden.

Das Lesen wird als Grundfähigkeit beschrieben, welche erst den Zugang zu weiteren Inhalten ermöglichen würde. Und zwar nicht nur als basale Technik, sondern als eine Fähigkeit, die quasi die Wirkung von Prozessen der Wissensaneignung potenzieren würde:

„Das Sprachverständnis und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit als eine Voraussetzung für erfolgreiche Wissensaneignung werden durch das Lesen unterstützt. […]

Eine Eigenart der Sachliteratur und der schöngeistigen Literatur besteht darin, daß sie als Kunstwerk nicht wie das Lehrbuch nur ein bestimmtes Unterrichtsfach unterstützt. Das Kinder- und Jugendbuch, das die Leser erfreuen und an die Literatur und Kunst heranführen soll, vermittelt vielfältige Kenntnisse und Erkenntnisse und schafft die Verbindung zu vielen Wissensbereichen.

Die sozialistische Gesellschaft benötigt kluge Menschen.“ [Sallmon (1962), S. 17f.]

„Die Beherrschung der Muttersprache in Wort und Schrift ist eine wesentliche Voraussetzung für die selbständige Lektüre. Sie führt zum Wissenserwerb und zur Gewinnung neuer Einsichten und Überzeugungen. Das Lesen vertieft, erleichtert, ja ermöglicht überhaupt erst die Beherrschung der Muttersprache und intensiviert ständig das Eindringen in das Wesen von Erscheinungen in Natur und Gesellschaft.“ [Sallmon (1962), S. 33]

Es gibt bei Sallmon – ebenso wie in der aktuellen bibliothekarischen Literatur, die das Lesen als Grundkompetenz beschriebt – die Vorstellung eines Transfer-Effektes von Lesen. Das Lesen von schöngeistiger Literatur würde sich beispielsweise direkt positiv auf die Fähigkeit auswirken, Sachliteratur zu lesen. Sicherlich geht man heute von einem gänzlich anderen Lektüreverständnis aus. Die Angst vor „Schundliteratur“, Comics und dem Zuviel-Lesen, die Sallmon umtreibt, gibt es heute fast nicht mehr. (Und selbst wenn, wird sie höchstens hinter vorgehaltener Hand geäußert.)

Das sich bis heute solche Transfereffekte – die es analog auch bei anderen Themen gibt, beispielsweise die Vermutung, dass sich das Lernen eines Instrumentes positiv auf das Lernen von schulischen Lernstoffen auswirken würde; dass sich das Lernen der lateinischen Sprache positiv auf das Lernen romanischer Sprachen auswirken würde oder aber, dass sich das Lernen von gesellschaftlicher Verantwortung bei der Arbeit in Vereinen positiv auf die demokratischen Grundüberzeugungen auswirken würde – kaum nachweisen lassen, dass sie wenn, dann nur sehr schwach vorhanden sind und sich auch immer wieder empirische Hinweise auf gegenteilige Wirkungen finden lassen, hat Sallmon in den 1960er Jahren ebenso wenig beeindruckt, wie es auch heute kaum wahrgenommen wird.

Gleichzeitig findet sich bei Sallmon eine Betonung des „Nützlichkeitsdenkens“, das auch heute die Argumentation für die Förderung von Lesekompetenzen stark prägt. So zitiert er beispielsweise zustimmend aus einem Schreiben des „Kollege[n] Zuber aus der Oberschule in Dittstädt, Kreis Suhl“ [Sallmon (1962), S. 19]:

„Es ist notwendig, daß die Kinder schon früh mit dem fachbetonen Buch bekannt gemacht werden, denn die Entwicklung der Technik in Industrie und Landwirtschaft verlangt gebieterisch von jedem Werktätigen den Gebrauch des Fachbuches zum Selbststudium.“ [Sallmon (1962), S. 20]

Selbstverständlich basiert die heutige Argumentation in der bibliothekarischen Literatur nicht auf dem Denken, welchem Sallmon in den 1960er Jahren anhing. Aber es ist doch auffällig, wie ähnlich, fast deckungsgleich die Argumente zum Teil sind. Dies sollte es Hinweise darauf verstanden werden, dass die Interpretationen der Schulleistungsvergleichsstudien und die Rezeption der politischen Texte zum Komplex Lebenslanges Lernen, auf denen die heutige Argumentation ja bekanntlich basiert, eben keine explizit „moderne“ oder gar wissenschaftliche untermauerte Position darstellt, wie das rhetorisch immer wieder impliziert wird. Es bleibt vielmehr zumeist bei Aussagen, die sich sozusagen aus dem „gesunden Menschenverstand“ ableiten, wobei diese „Verstand“ – was man eigentlich auch wissen sollte – oft daneben liegt oder zumindest komplexe Probleme zu sehr vereinfacht. Sallmons Aussagen zu den Transfer-Effekten des Lesenlernens ergaben sich folgerichtig aus dem Denken, welches er in seinem Buch niedergelegt hat. Und trotzdem war es nicht richtig, bzw. hat zumindest langfristig nicht unbedingt die Ergebnisse gezeitigt, die offenbar erhofft wurden. Ob man dies als Warnung für die heutige Argumentation nehmen sollte und wenn ja, was genau daraus zu lernen ist, stellt ein größeres Thema dar. Zumindest aber sollte man aufpassen, nicht alle möglichen Argumente als neu anzusehen und zu bezeichnen.

Fazit

„Aufgaben der Schülerbüchereien an den zehnklassigen Oberschulen“ von Heinz Sallmon ist ein Schulbibliotheksbuch aus der DDR, welches den Duktus und das Denken der frühen 1960er Jahre sehr treffend aufgreift und aus diesem heraus Hinweise für die Arbeit von Schülerbüchereien gibt. Diese Hinweise werden autoritativ gegeben und nur sehr schwach, wenn überhaupt, begründet.

Die Existenz dieses Buches ist ein relativ eindeutiger Hinweis darauf, dass es in der DDR nicht nur vereinzelte Schulbibliotheken gab, sondern vielmehr diese Einrichtungen in großer Zahl angedacht und auch betrieben wurden. Es ist deshalb erstaunlich, wie wenig darüber bekannt ist; auch wie wenig in der Debatten zu Schulbibliotheken in der BRD in den 1970er und 1980er Jahren darauf eingegangen wurde. In diesen finden sich immer wieder Hinweise auf Schulbibliotheken in den USA und in Skandinavien, nicht aber in der DDR oder – was vielleicht noch sinnvoller gewesen wäre, weil des dort ein ausgebautes Netz von Schulbibliotheken mit direkter bibliothekarischer Betreuung gab – in der Sowjetunion. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR wäre es vielleicht möglich, auch ohne die Blockkonfrontation, die damals die Wahrnehmung der Schulbibliotheken in den sozialistischen Staaten unmöglich gemacht haben mag, auch diese Geschichte zu schreiben.

Allerdings, und auch das wird am Buch von Sallmon offensichtlich, waren diese Schülerbüchereien explizit in den ideologischen Rahmen der damaligen Zeit eingebettet. Sicherlich: das was in diesem Buch steht wird nicht direkt so in den Schulen umgesetzt worden sein. Was dort tatsächlich geschah wäre gewiss weitere Forschungen Wert. Dennoch wird das Denken, welches Sallmon in seinem Buch niedergelegt hat, nicht spurlos an Ihnen vorbei gegangen sein. Sallmon hat den Diskurs um „Schundliteratur“ und die Idee, dass die Literatur von „der Bonner Regierung“ als Waffe gegen die DDR eingesetzt würde, nicht erfunden. Er hat diese Vorstellungen übernommen und – intern auch vollkommen folgerichtig – auf die Schülerbüchereien übertragen.

Interessant ist an seinem Buch, dass offenbar – auch wenn es im Text nur angedeutet wird – auch auf Erfahrungsberichten aus Schülerbüchereien und Besuchen in solchen basierte, die funktionierende Schülerbücherei nicht als bibliothekarische Einrichtung, sondern als schulinterne Einrichtung begriffen wird, die zwar einige bibliothekstechnische Aspekte (Ausleihe etc.) übernehmen muss, aber ansonsten von der schulischen Gemeinschaft zur Unterstützung der Aufgaben der jeweiligen Schule betrieben wird. Dies ist ein erstaunlicher Unterschied zu den Modellen von Schulbibliotheken, die dann seit den 1970er Jahren in der BRD propagiert wurden.

Literatur

Dreßler, I. (1998). Zur Bibliotheksarbeit mit Kindern: Irmgard Dreßler im Interview mit dem Herausgeber. In G. Helmut (Hrsg.), Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR : Erinnerungen und Analysen, Bibliothek und Gesellschaft (S. 65-78). Bad Honnef: Bock + Herchen.

Krupskaja, N. K. (1959). Über die allgemeinbildende polytechnische Schule: Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Marion und Werner Uhlmann. (Erziehung und Gesellschaft: Materialien zur Geschichte der Erziehung.) Berlin: Volk und Wissen.

Machnik, M. (1990). Schulbibliotheken in der DDR? schulbibliothek aktuell, 16(2), 113-115.

Ministerium für Volksbildung, & Ministerium für Kultur. (1964). Vereinbarung zwischen dem Ministerium für Volksbildung und dem Ministerium für Kultur über die Zusammenarbeit der Oberschulen (insbesondere Schülerbüchereien) mit den allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (insbesondere Kinderbibliotheken) in den Städten und Gemeinden. Der Bibliothekar, 18(2), 213-216.

Rentzsch, E. (1963). [Rezension] Sallmon, Heinz: Aufgaben der Schülerbücherei an den zehnklassigen Oberschulen. Der Bibliothekar, 17(7), 743-747.

Sallmon, H. (1962). Aufgaben der Schülerbüchereien an den zehnklassigen Oberschulen. (Schriftenreihe Außerunterrichtliche Bildung und Erziehung, Band 1). Berlin: Volk und Wissen.

Snimschtschikowa, G. J. (1946). Das Bibliothekswesen in der Sowjetunion. Der Volksbibliothekar, 1(2), 85-98.

Wolf, W. (1953). Wir sahen Bibliotheken an sowjetischen Schulen. Der Bibliothekar, 7, 380-382.

Zentralinstitut für Bibliothekswesen, Ministerium für Volksbildung (Hrsg.) (1956). Die Arbeit mit dem Kinderbuch in der Feriengestaltung 1956: Anleitungen für Veranstaltungen. Materialzusammenstellungen. Als Manuskript gedruckt. Berlin: Zentralinstitut für Bibliothekswesen; Ministerium für Volksbildung.

Zentralinstitut für Bibliothekswesen (Hrsg.) (1957). Die Arbeit mit dem Kinderbuch in der Feriengestaltung 1957: Anleitungen für Veranstaltungen. Praktische Hinweise. Berlin : Zentralinstitut für Bibliothekswesen.

Zentralstelle für Kinder- und Jugendliteratur Dresden. (1956). Empfehlungen zur Verbesserung der Arbeit der Schülerbüchereien in den Grund- und Mittelschulen. Manuskriptdruck, Dresden.

Fußnoten

[1] Der Text der Vereinbarung wurde damals u.a. in Der Bibliothekar veröffentlicht [Ministerium für Volksbildung, & Ministerium für Kultur. (1964). Vereinbarung zwischen dem Ministerium für Volksbildung und dem Ministerium für Kultur über die Zusammenarbeit der Oberschulen (insbesondere Schülerbüchereien) mit den allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (insbesondere Kinderbibliotheken) in den Städten und Gemeinden. Der Bibliothekar, 18(2), 213-216.] und regelte die Zusammenarbeit von Allgemeinbibliotheken (d.h. Öffentlichen Bibliotheken) und Schulen für den Betrieb von Schülerbüchereien. Die manchmal in der Literatur getroffene Aussage, diese Vereinbarung hätte die Existenz von Schulbibliotheken in der DDR beendet, ist falsch.

[2] Machnik, M. (1990). Schulbibliotheken in der DDR? schulbibliothek aktuell, 16(2), 113-115.

[3] Vgl. Dreßler, I. (1998). Zur Bibliotheksarbeit mit Kindern: Irmgard Dreßler im Interview mit dem Herausgeber. In G. Helmut (Hrsg.), Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR : Erinnerungen und Analysen, Bibliothek und Gesellschaft (S. 65-78). Bad Honnef: Bock + Herchen. Anzumerken ist, dass Ausleihstellen in Schulen, die von Allgemeinbibliotheken betrieben wurden, selbstverständlich auch Schulbibliotheken darstellten. Abgeschafft wurden in der vom Dressler umrissenen dritten Phase eigenständige Schulbibliotheken.

[4] Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der DDR und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung vom 8. Februar 1950, Abschnitt II. Weitere Verbesserung der Schulbildung der Jugend , §11 (http://www.verfassungen.de/de/ddr/jugendfoerderungsgesetz50.htm)

[5] Vgl. beispielsweise Snimschtschikowa, G. J. (1946). Das Bibliothekswesen in der Sowjetunion. Der Volksbibliothekar, 1(2), 85-98. und Wolf, W. (1953). Wir sahen Bibliotheken an sowjetischen Schulen. Der Bibliothekar, 7, 380-382.

[6] Sallmon, H. (1962). Aufgaben der Schülerbüchereien an den zehnklassigen Oberschulen. (Schriftenreihe Außerunterrichtliche Bildung und Erziehung, Band 1). Berlin: Volk und Wissen. Vgl. auch: Rentzsch, E. (1963). [Rezension] Sallmon, Heinz: Aufgaben der Schülerbücherei an den zehnklassigen Oberschulen. Der Bibliothekar, 17(7), 743-747.

[7] Auch heute ist es nicht wirklich schwer – solange einem nicht die bürokratische Organisation einer gewissen Universitätsbibliothek im Weg steht – sich diese Schrift aus Bibliotheken zu besorgen. Sie war offenbar so weit verbreitet, dass sie Eingang in die Magazine zahlreicher Bibliotheken gefunden hat. Die Rolle der obskuren Publikation in diesem Bereich kam eher folgendem Manuskriptdruck zu: Zentralstelle für Kinder- und Jugendliteratur Dresden. (1956). Empfehlungen zur Verbesserung der Arbeit der Schülerbüchereien in den Grund- und Mittelschulen. Manuskriptdruck, Dresden.

[8] Sallmon (1962), S. 31: „Die Maßnahmen unserer Regierung am 13. August 1962 sind ein wirksamer Schutz, um auch den literarischen Giftstrom [der ‚Schundliteratur‘, K.S.] einzudämmen.“

[9] Dies war selbstverständlich gänzlich unmarxistisch gedacht. Allerdings bewegt sich Sallmon hier genau in dem Denken der damaligen Zeit. Dies macht es nicht besser, aber für die angemessene Bewertung des Buches sollte doch im Hinterkopf behalten werden, dass es im Rahmen dieser post-stalinistischen Phase der 1960er Jahre geschrieben wurde (und gedacht) wurde.

[10] Wobei bekanntlich auch das nicht stimmt. Genügend Comics, die damals verfügbar waren und als Schund galten, gelten heute als Klassiker.

[11] Nur, weil heute nicht mehr davon gesprochen wird, dass Bücher oder Comics diese unterkomplexen Wirkungen hätten, sollte man nicht davon ausgehen, dass dieses Denken vollständig verschwunden ist. Die Debatte um sogenannte „Killerspiele“ bewegt sich auf einer ähnlichen intellektuellen Ebene.

[12] Ein interessantes Phänomen ist, dass Sallmon als „nicht einzustufen“ (immerhin 8,0-10,5% der genannten Bücher) Bestände vor 1945 sowie Literatur aus Westdeutschland und Österreich zusammenfasst. Letztlich lässt er offenbar nur Literatur aus der DDR selber gelten. (Wobei nicht klar ist, wie groß der Anteil von Medien aus dem restlichen Ausland, namentlich der Sowjetunion, am Bestand der Schülerbüchereien war.)

[13] Es ist leicht zu merken, dass Sallmon einen „arbeitsamen“ aber gleichzeitig lesenden Menschen als gesunden Menschen begreift. Diese Überbetonung der Arbeit wäre heute, wo Gesundheitsbildung als wachsende Aufgabe formaler und informeller Bildungsinitiativen gesehen wird, nicht mehr möglich.

[14] Vgl. Sallmon (1962), S. 96.

[15] Auf den ersten Seiten seiner Arbeit bewertete Sallmon nach dem gleichen Prinzip die Literatur der DDR und der BRD unterteilt:

„Die Literatur in der DDR trägt humanistischen Charakter und dient der sozialistischen Erziehung. In unseren Büchern wird den Kindern und Jugendlichen die wissenschaftliche Weltanschauung, das richtige Weltbild vermittelt. Sie werden zur Liebe zu ihrem sozialistischen Vaterland und zum Haß gegen die Militaristen, Monopolisten und Kriegsverbrecher erzogen. Unsere Bücher und Zeitschriften schildern nachahmenswerte Vorbilder, die die sozialistische Arbeit und das Lernen als eine Sache der Ehre betrachten. Sie regen zur Lebensfreude und zum Optimismus an. Diese Literatur entspricht der humanistischen Zielstellung des Sozialismus und den Interessen aller friedliebenden und demokratischen Kräfte in beiden deutschen Staaten.

In Westdeutschland hat die antihumanistische, militaristische und unwissenschaftliche Literatur das Ziel, mitzuhelfen, die imperialistische Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Eine besonders gefährliche Rolle in dieser Literatur spielt dabei besonders in jüngerer Zeit der Antikommunismus. Bewußte Entstellung und Verleumdung des Wesens des Sozialismus und seiner Erbauer, Pessimismus und Lebensangst sind wesentliche Kennzeichen dieser Literatur.“ [Sallmon (1962), S. 10]

[16] Dieser Auffassung wird dann, ohne auf Sallmon zu verweisen, in den 1970er Jahren in der Literatur zu Schulbibliotheken in der BRD beständig widersprochen. In dieser wurde beständig für eine zentrale Schulbibliothek pro Schule mit dem gesamten Bestand der Schule plädiert.

[17] Trommel: Wochenzeitung der FDJ für die Thälmann-Pioniere. Junge Welt: Tageszeitung der FDJ.

[18] Diese Stelle verdient es, noch einmal länger zitiert zu werden: „An machen Landschulen schenken die Schüler, die die Schule verlassen, ihrer Schülerbücherei ein Buch. Diese gute Tradition hat ihre Gefahren, wenn der Leiter der Schülerbücherei wahllos Bücher annimmt. Zu den Geschenken zählen manchmal solche Bücher, die zur minderwertigen Literatur gerechnet werden müssen.“ [Sallmon (1962), S. 66] Dieser Verweis impliziert, dass Schülerbüchereien schon eine längere Zeit in den Schulen existieren, wenn es sich um eine Tradition handelt.

[19] Vgl. u.a. das Vorwort in: Krupskaja (1959).

[20] Sallmon war nicht der einzige, welcher eine solche Liste erstellte. Die Zentralstelle für Kinder- und Jugendliteratur tat dies 1956 (Zentralstelle für Kinder- und Jugendliteratur (1956)) schon einmal und dann ab 1964 regelmäßig im Auftrag des Ministeriums für Volksbildung.

[21] Vgl. dazu u.a. Zentralinstitut für Bibliothekswesen, Ministerium für Volksbildung (1956), Zentralinstitut für Bibliothekswesen (1957). In dieser Broschüre werden, jeweils nach einer kurzen Einführung, Anleitungen zu Vorlesungen, Diskussionen, Spielen mit bestimmten Büchern etc. aufgezählt, welche in Ferienlagern umgesetzt werden sollen. Diese Einführungen sind nicht, wie das heute üblich ist, beschreibende Beispielsammlungen, sondern enthalten klare Anweisungen, für welche genauen Buchtitel sie anzuwenden sind und welche Stellen – angegeben mit Buchtitel, Seitenzahlen, ersten und letzten Worten – als Lesestellen genutzt werden sollen.

Mubarak Public Library und Bertelsmann Stiftung (1990er Jahre)

Ägypten: Die Revolution hat gewonnen, Mubarak ist (zur Zeit) verschwunden, die Hoffnung liegt darin, dass die Armee tatsächlich nichts anderes tun wird, als den Aufbau der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Wetten für die nächste fallende Diktatur im Nahen Osten werden angenommen. (Ich persönlich tippe auf den Nord-Sudan [heißt das jetzt so?], aber auch, weil niemand anders darauf setzte und hoffe auf den Iran. Wer wettet dagegen?)

Zeit, um an eine andere, nicht allzulange vergangene Situation zu erinnern. 1993 war die Bertelsmann-Stiftung noch sehr daran interessiert, das deutsche, aber auch andere Bibliothekssysteme zu beraten. Oder auch, wenn man es anders formulieren möchte, Einfluss auf die Bibliotheken zu gewinnen und die sehr einseitig marktradikalen Vorstellungen der Stiftung zur Arbeit von Öffentlichen Einrichtungen auch in Bibliotheken umzusetzen. Das deutsche Bibliothekswesen gab dem Drängen der Stiftung in den folgenden Jahren auch zum Teil nach. Das „Bibliothek 2007“-Projekt [1] war eines der Ergebnisse, der Bix-Index ein anderes [2]. Später dann beschloss die Stiftung, dass sie ihre Interessen von den Bibliotheken (und anderen Projektbereichen) verlagern würde.

1993 aber war die Bertelsmann Stiftung noch dabei, ihr Wissen über Bibliotheken aufzubauen und Projekte zu initiieren. Unter anderem auch in einigen Diktaturen wie eben Ägypten. In Giza, eigentlich der drittgrößten Stadt in Ägypten, nahe Kairo gelegen, die aber bei der Bertelsmann Stiftung als Stadtteil von Kairo beschrieben wird, wurde die Mubarak Public Library (benannt offenbar nach Hosni Mubarak) aufgebaut. Diese Public Library sollte ein moderne Bibliothek darstellen:

„Für die Bertelsmann Stiftung ist die Mubarak Public Library nach der Modellbibliothek Can Torró in Spanien sowie der Modellbibliothek in Breslau in Polen das dritte Modellprojekt außerhalb Deutschlands und zugleich das erste im arabischen Raum. Hier wird das Konzept einer modernen Publikumsbibliothek, das sich schon in der Stadtbibliothek Gütersloh vielfach bewährt hat, in einem anderen Kulturraum erprobt.“ [3]

Der vollständige Aufbau der Bibliothek zog sich offenbar bis 1999 hin, zudem wurde eine Filiale in einem Stadtteil von Kairo aufgebaut. Dann zog sich die Stiftung zurück und wollte nur noch Beratung anbieten. Dies ist das normale „Geschäftsmodell“ der Stiftung, die (eigentlich) nur Projektfinanzierungen und Beratungen bietet. Die Bibliothek sollte die Dinge anbieten, die man in modernen Bibliotheken in Deutschland auch kennt.

Es gibt nicht viel Text über die Bibliothek und das Projekt selber. Vor einigen Tagen noch war die Homepage der Bibliothek inklusive der Bilder mit Hosni Mubarak online, jetzt ist sie es nicht mehr. (Und angesichts der erstaunlichen Gewaltlosigkeit der Pro-democracy-Protestierenden ist allerdings nicht zu vermuten, dass dies daran liegen würde, dass dies erzwungen wurde.) Die sehr kurze Projektbeschreibung der Bertelsmann-Stiftung ist aber selbstverständlich weiter erreichbar. [4]

Interessant ist aber doch, dass das Wort „Demokratie“ oder „demokratisch“ in dieser Projektbeschreibung nicht vorkommt. Die Stiftung bezieht sich darauf, dass Öffentliche Bibliotheken Zugang zu Informationen zur Verfügung stellen:

„Sie ermöglichen den freien Zugang zu Informationen und einen selbstverständlichen Umgang mit Medien: Aspekte, die eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung darstellen.“ [5]

Der Fokus lag allerdings bei der Leseförderung und der Orientierung auf die Nutzer:

„Dass die Bibliothek dabei sehr viel Wert auf eine individuelle Beratung und Betreuung ihrer Kunden legt, ist selbstredend. Darüber hinaus leistet die Bibliothek durch den freien Zugang zu Medien aller Art einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der freien Meinungsbildung. Seit einigen Jahren ist das Internetcafé der Bibliothek und das Zentrum für Neue Medien ein integraler Bestandteil des Medienangebotes.“ [6]

Man erkennt in diesem Teil der Projektbeschreibung die Ausrichtung der Stiftung auf „Beratung und Betreuung [von] Kunden“, aber gleichzeitig auch den positiven Bezug auf „freien Zugang zu Medien“. Hier stellt sich die interessante Frage: Wie ernst ist das gemeint? Wie ernst wurde es umgesetzt? (Das ägyptische Kultusministerium gehört beispielsweise mit zum Library Board.) Das lässt sich aus einer Projektbeschreibung selbstverständlich nicht ableiten. Aber es ist auch sichtbar, dass diese Aufgabe für die Bertelsmann-Stiftung nicht im Mittelpunkt ihres Interesses stand. Es geht eigentlich um etwas anderes: Effizienz.

„Ein gutes Angebot setzt auch eine effiziente Organisation und Verwaltung voraus. Daher liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der erfolgreichen wirtschaftlichen Betriebsführung.“ [7]

Außerdem sollte (auch) diese Bibliothek als Modellbibliothek ein Vorbild bilden, an dem sich andere Einrichtungen ausrichten sollten. Dies war immer ein Ansatz, den die Bertelsmann-Stiftung auch anderswo verfolgte. Ob das funktioniert hat? Das ist nicht klar.

Wie gesagt: das ist Geschichte. Zumindest zur Zeit hat die Bertelsmann-Stiftung andere Schwerpunkte gewählt. Aber es bleiben doch für Bibliotheken Fragen offen: Was hält man den davon, dass eine Stiftung mit Diktaturen zusammen arbeitet und zwar mit den Modellen, die sie in demokratischen Staaten auch aufgebaut hat? Ist es eigentlich moralisch tragbar, mit einer Stiftung zusammen zu arbeiten, die dies tut? Warum gab es auch über diese Bibliothek keine richtige Debatte, als die Stiftung sehr massiv im deutschen Bibliothekswesen aktiv wurde?

Und weiter, allgemeiner: Kann man eine „moderne“ Bibliothek tatsächlich einfach so aus einer Demokratie in einer Diktatur verpflanzen (mit expliziter Hilfe der Diktatur)? Wenn ja: Was sagt das über die tatsächliche Wirkung der modernen Bibliotheken aus? Es scheint ein banale Aussage zu sein, aber doch eine wichtige: Eine (Öffentliche) Bibliothek ist vielleicht nicht einfach demokratisch und wirkt auch nicht per se als „Schule der Demokratie“, wie dies manchmal angeführt wird. Offenbar bedarf auch dies immer der expliziten Überzeugung und Arbeit der jeweiligen Bibliothek. Wäre dem nicht so, könnte man nicht einfach die gleichen Modelle von Bibliotheken in Demokratien und Diktaturen aufbauen. Was allerdings ist dann die „demokratische“ Arbeit und Wirkung, die in Bibliotheken betrieben werden kann und soll?

Demokratien, freie Gesellschaften müssen auch aktiv erhalten werden. Nicht unbedingt immer erkämpft, wie dies gerade in Tunesien und Ägypten getan wurde. Das ist zum Glück nicht so oft notwendig. Aber eines, was aus den beiden Revolutionen zu lernen ist, ist, dass moderne Medien und betriebswirtschafltiche Abrechnungsmethoden (und moderne Bibliotheken) keine moderne Gesellschaft ausmachen, sondern Menschen mit einem modernen Menschenbild und dem Wunsch, gut und moralisch menschenwürdig zu leben. Bibliotheken mögen dies unterstützen, aber nicht automatisch. [8]

Fußnoten:
[1] http://www.bideutschland.de/download/file/bibliothek_2007/strategiekonzept_langfassung.pdf Siehe auch: Stünkel, Michael / Bibliothek 2007: „Ein realistischer Entwurf für die Zukunft“. – In: BuB 55 (2003) 5, S. 291-292. Seefeldt, Jürgen / Die Bibliothek von morgen. – In: B.I.T. online 8 (2005) 1, S. 11-18. Anonym / Projekt „Bibliothek 2007“ – Evaluationsbericht. – In: Bibliotheksdienst 40 82006) 12, S. 1375-1376.
[2] Vgl. Klug, Petra / BIX – der Bibliotheksindex. – In: BuB 51 (1999) 9, S. 522. Klug, Petra / BIX oder : Was kann ein Ranking bewirken? – In: Benkert, Hannelore ; Rosenberger, Burkard ; Dittrich, Wolfgang (Hrsg.) / Die Bibliothek zwischen Autor und Leser : 92. Deutscher Bibliothekartag in Augsburg 2002. – Frankfurt am Main : Klostermann, S. 351-356.
[3] Bertelsmann Stiftung / Eine Modellbibliothek in Ägypten. – ohne Datum. – http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-38D47B87-F540CD3E/bst/xcms_bst_dms_12783_12784_2.pdf, S. 1.
[4] http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-5EFAFB43-04474896/bst/hs.xsl/8195.htm.
[5] Bertelsmann Stiftung / Eine Modellbibliothek in Ägypten. – ohne Datum. – http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-38D47B87-F540CD3E/bst/xcms_bst_dms_12783_12784_2.pdf, S. 1.
[6] Bertelsmann Stiftung / Eine Modellbibliothek in Ägypten. – ohne Datum. – http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-38D47B87-F540CD3E/bst/xcms_bst_dms_12783_12784_2.pdf, S. 2.
[7] Bertelsmann Stiftung / Eine Modellbibliothek in Ägypten. – ohne Datum. – http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-38D47B87-F540CD3E/bst/xcms_bst_dms_12783_12784_2.pdf, S. 2.
[8] Ein Reisebericht in dänisch zur Mubarak Library in Giza findet sich, inklusive einiger Bilder aus der neuen Location, hier: Junckers, Læs Beth / Rejsedagbog fra Cairo. – In: Insight IVA (2009) 3-12. – http://www.iva.dk/omiva/nyheder/insight/artikel/default.asp?cid=25004

Revolution in Ägypten, Bibliotheca Alexandria

Die Revolution – ja, Revolution, es geht ja um eine radikal andere Gesellschaft – in Ägypten scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein (und wer sie unterstützen will, kann sich heute ab 20.00 Uhr Ortszeit vor der örtlichen ägyptischen Botschaft einfinden (http://worldwidetahrir.wordpress.com/)). In den letzten Tagen konnte man nicht sehen, wie (bislang) zwei Diktaturen zusammenbrachen, weil die Bevölkerung (und nicht die demokratischen Staaten, btw) aufstanden und nichts weniger als eine demokratische Gesellschaft forderten. Zudem zeigte Al Jazeera der Welt, was wirklich engagierten Journalismus ist. Wer es nich eh getan hat, sollte unbedingt den Live-Stream einschalten (http://english.aljazeera.net/watch_now/) oder zumindest die Zusammenfassungen sehen, wie Al Jazeera trotz Verfolgung durch die Pro-Mubarak-Schläger, trotz Druck der Polizei und Internet-Abschaltung sich nicht davon abhalten ließ, weiter von den Protesten zu berichten, 24/7. So konnte man live erleben, wie die Protestierenden auf dem Tahir Square in Kairo mit Waffen, Molotov-Cocktails und selbstgebastelten Bomben von Pro-Mubarak-Schlägern angegriffen wurden. Und auch, wie sie sich nicht vertreiben ließen und immer weiter protestieren.

Bis zu diesem Zeitpunkt allerdings weigert sich Mubarak abzutreten und zwar, so sagte er bei einem Interview, weil sonst Chaos in Ägypten ausbrechen würde. Nicht nur die Gewalt der Pro-Mubarak-Schlägertgruppen spricht da eine andere Sprache.

In Alexandria steht bekanntlich die Bibliotheca Alexandria, eines der Prestige-Projekte der Mubarak-Regierung. Was passierte mit der Bibliothek? Sie wurde geschützt. Und zwar nicht von der Polizei, auch nicht von der Armee (die ja gerade eine unklare Rolle spielt), sondern von pro-demokratischen Protestierenden. Es geht halt nicht um Chaos oder Anarchie. Genauso, wie die Protestierenden in Kairo versuchten, das ägyptische Museum zu schützen, sehen sie es offenbar auch als notwendig an, die Bibliothek in Alexandria zu schützen.

Die Bibliothek selber hat einige Bilder veröffentlicht (allerdings schon am 30.01 und seitdem ist einiges passiert. Aber neue Informationen scheinen noch nicht (auf Englisch) zu finden zu sein.

Protestierende schützen die Bibliotheca Alexandria
[Protestierende schützen die Bibliotheca Alexandria]

Gebet von Protestierenden vor der Biblioteca Alexandria
[Protestierende beten vor der Bibliotheca Alexandria]

Protestierende schützen die Biblioteca Alexandria
[Protestierende schützen die Bibliotheca Alexandria]

Der Direktor der Bibliothek schrieb dazu (hier):

„To our friends around the world: The Events in Egypt
30 Jan 2011
The world has witnessed an unprecedented popular action in the streets of Egypt. Led by Egypt’s youth, with their justified demands for more freedom, more democracy, lower prices for necessities and more employment opportunities. These youths demanded immediate and far-reaching changes. This was met by violent conflicts with the police, who were routed. The army was called in and was welcomed by the demonstrators, but initially their presence was more symbolic than active. Events deteriorated as lawless bands of thugs, and maybe agents provocateurs, appeared and looting began. The young people organized themselves into groups that directed traffic, protected neighborhoods and guarded public buildings of value such as the Egyptian Museum and the Library of Alexandria. They are collaborating with the army. This makeshift arrangement is in place until full public order returns.

The library is safe thanks to Egypt’s youth, whether they be the staff of the Library or the representatives of the demonstrators, who are joining us in guarding the building from potential vandals and looters. I am there daily within the bounds of the curfew hours. However, the Library will be closed to the public for the next few days until the curfew is lifted and events unfold towards an end to the lawlessness and a move towards the resolution of the political issues that triggered the demonstrations.

Ismail Serageldin
Librarian of Alexandria
Director of the Bibliotheca Alexandrina“

Was mit anderen Bibliotheken passierte, ist bislang unklar. (Die Mubarak Public Library in Giza vermeldet z.B. noch gar nichts zu den Protesten: www.mpl.org.eg/english/ Noch finden sich sogar Bilder mit dem Namensgeber auf der Homepage.) Aber vielleicht ist es ein guter Zeitpunkt, um wieder einmal darüber nachzudenken, welche Rolle Bibliotheken in Diktaturen eigentlich spielen. Tragen sie zur Reproduktion der Regime bei oder zur Demokratisierung?

So oder so: die Menschen in Ägypten werden dazu noch der Revolution etwas zu sagen haben. Bislang zeigen sie sehr klar den Willen, Kultur- und Bildungseinrichtungen zu schützen und nicht etwa – als Symbole des Regimes – zu vernichten wie es mit anderen Einrichtungen getan haben.

Nadeshda Krupskaja: Die Bibliothek im Dienst der Revolution

[Wegen der Länge: Der Beitrag als PDF hier.]

Bild von Nadeshda Krupskaja
[Nadeshda Krupskaja in jungen Jahren. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:NadezhdaKrupskaya.jpg]

„Und dann wird unser Land der Sowjets nicht nur ein schriftkundiges Land werden, sondern es wird ein lesendes Land sein, das alle Errungenschaften der Wissenschaft ausnutzt, das alles, was in Jahrhunderten von der Menschheit auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Technik und der Kunst erreicht worden ist, nutzt, das in sich die gesamte Erfahrung der Anwendung des Wissens und der Praxis aufnimmt. Die Masse wird lernen, richtig zu lernen.“ [Krupskaja (1956) [1933], S. 67]

„Um klug, überlegt und erfolgreich an der Revolution teilnehmen zu können, muß man lernen.“ [Lenin. In: Krupskaja (1956), S. 27]

Mit einiger Überraschung habe ich letzter Zeit festgestellt, dass der Name Nadeshda Krupskaja auch unter Bibliothekarinnen und Bibliothekaren nicht mehr bekannt ist. Das ist erstaunlich, teilweise auch falsch. Insbesondere dann, wenn sich mehr oder minder positiv auf das Bibliothekswesen der DDR oder zumindest einiger Teilaspekte bezogen wird, kann man dies nicht tun, ohne Krupskaja und deren Arbeit zu beachten. [1]
Nadeshda Krupskaja legte sowohl organisatorisch als auch in ihren Publikationen direkt nach der Oktober-Revolution und Bolschewistischen Machtübernahme 1917 die Grundlinien des sowjetischen Bibliothekswesens fest. Dies tat sie auf der Grundlage einer festen Überzeugung von der Richtigkeit des bolschewistischen Weges zur Befreiung der Menschheit. Schon vor der Revolution hatte sie die Grundzüge des Bildungs- und Bibliothekswesens in einer sozialistischen und daran anschließend kommunistischen Gesellschaft skizziert. [2] Obgleich die Durchsetzung ihrer Vorstellungen nie vollständig gelang und insbesondere unter Stalin auch schon Erreichtes zurückgenommen wurde, ist das Bibliothekswesen in der Sowjetunion und der Staaten, die sich – auf der Grundlage ihrer jeweiligen Bibliotheksgeschichte – an der Sowjetunion orientierten, nicht zu verstehen, wenn man die Arbeit von Krupskaja nicht mit einbezieht. [3]
Für Krupskaja war die Bibliothek integraler Bestandteil des sozialistischen Bildungssystems, wobei dieses System sich über das ganze Leben der Individuen erstreckte und zwei Hauptziele verfolgte: den sozialistischen Menschen auszubilden und den Aufbau des Sozialismus bzw. späterhin des Kommunismus zu unterstützen. Diese Funktionsgebundenheit des gesamten Bildungssystems erklärt sich aus der Annahme, dass jeder gebildete Mensch selbstständig erkennen würde, dass (1) die Dreiheit Marx-Engels-Lenin die einzig richtige Interpretation der Gesellschaft geliefert hätte, dass (2) die Gesellschaft sich notwendig auf die Befreiung der Menschen hin entwickeln würde und dass (3) gebildete Menschen sich auf die Seite dieser Form der Befreiung stellen würden. Insbesondere in den Jahren vor und kurz nach der Oktober-Revolution war Krupskaja fest davon überzeugt, dass jeder gebildete Mensch notwendig, freiwillig und aus eigener Erkenntnis Sozialist werden würde.
Bibliotheken waren dabei ein Teil eines Bildungssystems, dass genau die Aufgabe hatte, die Menschen zu Sozialisten und Sozialistinnen zu bilden. Dies war die explizite ideologische Grundlage des gesamten Bibliothekssystems. Jede Bewertung und jeder Bezug auf das Bibliothekssystem in der DDR – oder auch der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten – muss dies mit beachten. Obgleich man nicht von einer einfachen Propagandafunktion von Bibliotheken oder einer direkten Ursache/Wirkung-Umsetzung der ideologischen Vorgaben ausgehen kann, kann man die bibliothekarische Arbeit ebenso wenig von diesem Grundziel lösen. Bezieht man sich beispielsweise positiv auf die Arbeit der Kinderbibliotheken in der DDR oder der Schulbibliotheken der Sowjetunion, kann man nicht ausblenden, dass diese Arbeit – von der man fraglos trotzdem lernen kann – auch immer eine gesellschaftliche Bedeutung hatte. Lesenlernen war ein Lesenlernen für eine sozialistische Gesellschaft, genauso wie heute das Lesenlernen eigentlich ein Lesenlernen für eine demokratische Gesellschaft darstellt. [4]
Über diese historische Bedeutung hinaus lässt sich anhand der Vorstellungen Krupskajas über das Bibliothekswesen weiterhin viel lernen. Obgleich sie in vielem falsch lag und teilweise Prinzipien vertrat, die dem demokratischen Ethos im heutigen Bibliothekswesen (aber auch dem damaligen zeitgenössischen bibliothekarischen Ethos in den „bürgerlichen“ Staaten) entgegenstehen, gehört sie doch zu den wichtigen Persönlichkeiten der Bibliotheksgeschichte. Darüber hinaus ist sie eine der starken Frauen der Geschichte. [5] Ein kurzer Überblick zur Arbeit von Nadeshda Krupskaja soll hier erfolgen. Es wäre allerdings zu wünschen, wenn dies kein Einzelfall bleibt, sondern Krupskaja allgemein wieder ins Bewusstsein der bibliothekarischen Zunft gehoben wird. [6]
Dass es möglich war, ein Bibliothekssystem zu entwerfen und zum Teil auch aufzubauen, welches vollkommen ideologisch grundiert war, welches zur Unterdrückung von Meinungen und Wissenserwerb genutzt wurde, dies allerdings immer vor dem Hintergrund des Glaubens an eine bessere Zukunft und dass dieses System in vielem durchdachter und besser ausgestatteter war, als das heutige Bibliothekswesen in Deutschland, sollte eine ständige Erinnerung daran sein, dass jedes Bibliothekswesen aktiv entwickelt (oder halt nicht entwickelt) wird und nicht einfach da ist. Wie das Bibliothekswesen aussieht, ist immer auch das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es sollte auch eine ständige Beunruhigung sein: Bibliotheken wirken nicht einfach positiv. Ihre Wirkung lässt sich offenbar steuern. Weiterhin sollte beunruhigen, dass zahlreiche Motti Krupskajas heute verbreiteten Motti und Thesen zum Lernen und zur Aufgaben der Bibliotheken gleichen, obgleich es um andere Ziele ging. Offenbar ist die Arbeit von Bibliotheken und Bildungseinrichtungen nicht per se richtig, sondern ebenso politisch. Man sollte sie zumindest nicht einfach verwenden weil sie richtig klingen, sondern sich immer auch über den impliziten Inhalt im Klaren sein.
Dabei sollte man aber auch nicht in zu einfach Dichotomien verfallen: Das von Krupskaja geprägte Bibliothekswesen hatte – im Zusammenhang mit dem restlichen Bildungssektor – sehr wohl beachtenswerte Erfolge aufzuweisen, insbesondere gegenüber der Situation im zaristischen Russland. Es wurde von ihr als Weiterentwicklung „bürgerlicher“ Bibliothekssysteme – insbesondere des schwitzer und des US-amerikanischen – angesehen und nicht als vollständig gegensätzliche Alternative.
Um Krupskajas Konzeption des Bildungs- und des Bibliothekswesens zu verstehen, muss man sich mit ihrer Biographie und ihrem Denken auseinandersetzen, was im nächsten Teil des Textes getan werden soll.

Krupskaja: Ein Leben für die Revolution, an der Seite eines Revolutionärs
Krupskaja, geboren 1869, wurde in den ersten Jahren ihres Lebens hauptsächlich in ihrer Familie unterrichtet, mit 10 Jahren besucht sie Gymnasien, wobei ihr Vater es ihr ermöglicht, von einer konservativen auf eine eher demokratisch gesinnte Schule zu wechseln. Mit 14 Jahren beginnt Krupskaja selber Stunden zu geben, um nach dem Tod des Vaters zum Unterhalt der Familie beizutragen und vor allem ihren Schulbesuch zu finanzieren. Mit 18 erwirbt sie mit dem Abschluss der Schule das Recht, als Hauslehrerin zu arbeiten, erhält aber keine Stellung. Vielmehr beginnt sie 1891 für insgesamt fünf Jahre als Lehrerin an einer Arbeiterabend- und Sonntagsschule in einen Vorort von Petrograd zu arbeiten. [7] Krupskaja hat also pädagogische Praxis, die sie in ihre Politik einbringt.
Ihre Familie stammt aus dem verarmten Landadel Russlands, ihr Vater ist zeitweise in Polen eingesetzt und wird wegen demokratischer Bestrebungen aus dem Dienst entlassen. Insbesondere die sowjetischen Quellen, welche Krupskaja selber in gewisser Weise zur Heiligen erklären, beschreiben die Familie als äußerst fortschrittlich. [8] Aber auch Literatur, die in der BRD und den USA publiziert wird, betont immer wieder, dass die Erziehung Krupskajas für ihre Zeit äußerst fortschrittlich und die Familie überaus bildungsbeflissen war. [9] Wichtig ist dies, um zu verstehen, warum Krupskaja Bildung zeitlebens als veränderbar begriffen hat.
In ihrer Zeit als Lehrerin der Arbeiterabend- und Sonntagsschule versteht sie sich schon als Marxistin. Bis dato hat sie offenbar unterschiedliche andere politische Richtungen bedacht, um, wie sie dies darstellt, einen Weg zu finden, den unterdrückten Massen zu helfen, schildert aber die „Entdeckung“ von Marx und Engels als Erweckungserlebnis. [10] Auch hier ist eine große Vorsicht bei der Wertung der Quellen angebracht. So taucht in den Quellen aus der DDR immer wieder ein Gespräch auf, dass sie mit einem „alten Narodniki“ geführt haben will, welcher ihr erzählt hätte, dass der Weg der Narodniki („Volkstümler“) – den sie auf terroristische Akte beschränkt – nicht der richtige Weg zur Befreiung des Volkes sei. Vielleicht gab es dieses Gespräch, aber ist auch auffällig, das ihr Mann sich als Jugendlicher für politische Aktivitäten zu interessierten begann, nachdem dessen Bruder Alexander Uljanow als Narodniki für ein geplantes Attentat auf Zar Alexander III – nachdem Alexander II einem solchen schon zum Opfer gefallen war – gehenkt wurde. Es ist auffällig, das die Narodniki weit besser als alle anderen konkurrierenden Strömungen dargestellt werden.
Unumstritten ist allerdings, dass Krupskaja in den Schriften von Marx und Engels den allein gangbaren Weg zur Befreiung der Menschheit erblickt. Für sie galt offenbar, dass die von Marx und Engels dargelegten Analysen eine exakte wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen würden, der – hätte man einmal Einsicht in sie gewonnen – zu folgen wäre, wie man auch Naturgesetzen nicht widersprechen kann. In ihrer Hochschätzung der Wissenschaft galt für sie als ausgemacht, dass es nicht nur eine Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit geben müsste, sondern das diese, wenn sie einmal niedergelegt wurde, auch umgesetzt werden müsse. Dieser Punkt kann nicht überbetont werden: Krupskaja war lange davon überzeugt, dass es keines wirklichen Zwanges bedurfte, um Menschen zur Einsicht in diese, ihre Wahrheit zu bewegen, sondern vor allem Geduld und die Kraft des besseren Arguments. Die Frage, ob es nicht auch möglich wäre, gebildet zu sein und dennoch zu einem anderen Argument zu kommen, stellte sich ihr offenbar nicht. [11] Wenn, dann wäre es wohl vor allem ein Problem der mangelnden Aufklärung.
Als Krupskaja 1891 begann, als Lehrerin zu arbeiten, war sie schon an der illegalen Arbeit der russischen Sozialdemokratie – die Trennung von Sozialdemokratie, sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Bewegungen hatte damals noch nicht stattgefunden – beteiligt. Wieder sind die Quellen mit Vorsicht zu genießen, die Krupskaja zum Beispiel zuschreiben, dass es ihr Verdienst gewesen sei, die Schule in der sie arbeitete – und die immerhin von Fabrikbesitzern finanziert wurde – mit einem sozialdemokratischen Lehrkörper zu besetzen. Dennoch ist es richtig, dass sie politisch aktiv war und auch versuchte, ihre Schüler mit sozialdemokratischen Gedanken vertraut zu machen.

Lenin
Zudem, und das ist für die Weltgeschichte nicht unwichtig, lernte sie in diesen Jahren ihren zukünftigen Mann, Wladimir Iljitsch Uljanow bzw. Lenin, kennen. Dies tat sie zuvorderst als politische Person, die mit Lenin zusammenarbeitete und zwar zu einer Zeit, als dieser sich noch mit dem Aufbau von sozialdemokratischen Zirkeln beschäftigte und nicht mit der Staatsführung der Sowjetunion. Krupskaja übernahm die Rolle des Stellvertreters, der bei einer Verhaftung Lenins die Leitung des sozialdemokratischen Zirkels „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ in St. Petersburg übernehmen sollte. Diese Aufgabe erfüllte Krupskaja dann auch als Lenin 1895 verhaftet wurde. Bis zur Revolution 1917 hatte Krupskaja, so die Möglichkeit bestand, beständig ähnlich verantwortungsvolle Posten in der Bewegung, die späterhin zur bolschewistischen wurde, inne. So war sie beispielsweise Sekretärin der Zeitschrift „Iskra“, die von Lenin geleitet wurde, und organisierte das Netz der Informatinnen und Informaten in Russland. Nach der „bürgerlichen Revolution“ von 1905 koordinierte sie ebenso die legalen und später illegalen Aktivitäten der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands“ (SDAPR), der Vorgängerpartei der KPdSU. Obgleich die Ehe mit Lenin Krupskaja einen Zugang zur Macht verschaffte, den andere nicht hatten, wäre es dennoch vollkommen falsch, sie als Anhängsel zu betrachten. Sie arbeitete eng mit Lenin zusammen, trug aber auch selber Verantwortung und prägte vor allem den Bildungsbereich in der Sowjetunion und zuvor der sozialistischen Bewegung selbstständig mit.
Wieder ist die Geschichte der Heirat von Lenin und Krupskaja aus den Quellen mit Vorsicht zu genießen. Richtig ist aber wieder, dass sowohl Krupskaja als auch Lenin – und das auch folgerichtig in Anlehnung an Friedrich Engels – die Ehe als Institution ansahen, die in einer sozialistischen Gesellschaft nicht unbedingt notwendig wäre. Ob sie dennoch geheiratet hätten und in welcher Form, ist spekulativ. 1898 mussten sie dazu aber erst quasi polizeilich gezwungen werden. Ab 1897 wurde Lenin für drei Jahre in das sibirische Dorf Schuschenskoje verbannt. 1898 wurde auch Krupskaja für drei Jahre verbannt, allerdings in das Gouvernement Ufa (südliches Uralgebirge). Eine Möglichkeit, ebenfalls nach Schuschenskoje zu gelangen, war die Heirat mit Lenin, die polizeilich beantragt und kirchlich vollzogen werden musste.
Trotz der Überhöhung in den Quellen aus der DDR und der Sowjetunion kann man die Beziehung zwischen Krupskaja und Lenin zu Recht als produktive Arbeitsbeziehung betrachten, die, soweit es ersichtlich ist, einem modernen Verständnis von gleichberechtigter Partnerschaft erstaunlich nahe kam.

Arbeit in der Emigration
1901 befinden sich Krupskaja, Lenin und zahlreiche andere potentielle russische Revolutionärinnen und Revolutionäre im Ausland. Lenin und seine Gruppe arbeiten daran, die SDAPR vom Ausland aus zu leiten. In der Literatur der DDR und der Sowjetunion wird dies später als genialer Plan zum Aufbau des Sozialismus gefeiert, aber letztlich geht diese Gruppe einen Weg, den auch zahlreiche andere, ähnliche Gruppen gehen: sie gründen eine Zeitschrift, die Iskra, und versuchen von dieser ausgehend, eine größere Organisation aufzubauen. Dabei sind Krupskaja, Lenin und der Rest der Gruppe schon damals von einer Avantgardefunktion der Partei überzeugt. Diese stellt sich ungefähr wie folgt dar: Die Partei weiß den Weg zur Revolution, weil sie die größte Kompetenz zu der Frage versammelt, wie die Wissenschaft von Marx und Engels richtig auf die jeweilige Situation angewendet werden muss. Deshalb müssen die Massen auf die Partei hören. Aufgrund dieses Denkens sind die Texte der SDAPR auch durchzogen von einem Gestus des: „die Massen müssen jetzt“, „es ist jetzt die Aufgabe, dass“, „das nächste Ziel der Massen besteht darin, dass“ etc. Das Ziel der Befreiung der Menschen gibt diese Aufgaben vor, die Partei interpretiert sie, die Massen sollen auf die Partei hören.
Allerdings bildet die Iskra, etabliert als Zeitschrift der SDAPR, tatsächlich ein Netzwerk an verbundenen Gruppen aus. Krupskaja organisiert die Kontakte zu diesen Gruppen, insbesondere zu denen nach Russland, mit denen nur codiert kommuniziert werden kann. Die Gruppen liefern Informationen und erhalten in gewisser Weise eine systematisierte Sicht auf die Lage der Dinge von der Iskra zurück. Aus diesem Zusammenhang und anderen Gruppen, die in der Emigration arbeiten, formiert sich die SDAPR. Wieder wird Lenin die Initiative zum ersten Parteitag zugeschrieben, obgleich die Realität komplexer gewesen sein wird. [12]
In diese Arbeit hinein zählt auch, dass Krupskaja beginnt, selber publizistisch tätig zu sein. Die ersten Artikel hat sie noch in der Verbannung veröffentlicht, ebenso hat sie dort ihre erste Broschüre „Die Arbeiterin“ bzw. „Die arbeitende Frau“ geschrieben, die 1901 veröffentlicht wird. [13] Die meisten ihrer Arbeiten beschäftigen sich mit pädagogischen Fragen.
Nach dem Ende ihrer Verbannungszeit reist Krupskaja aus, trifft sich mit Lenin und ist ab diesem Zeitpunkt fast immer dort, wo ihr Mann ist. Aber auch das darf nicht missverstanden werden: sie ist weiterhin eine eigenständige Persönlichkeit, die eigenständig für die Partei – und damit, wie sie meint, für die Revolution und die Befreiung der Menschheit – tätig ist und sich in Themengebiete einarbeitet, die von Lenin nicht oder nur nebenher berührt werden, insbesondere dem gesamten pädagogischen Feld. Gleichzeitig übernimmt Krupskaja wichtige Posten in der Partei, wobei wieder die sowjetische und DDR-Geschichtsschreibung, die praktisch nur einen richtigen Weg zur Revolution anerkennt, diese Posten jeweils als elementar beschreibt, während die Realität mit den Einflüssen der unterschiedlichen Gruppen in der Emigration, der unterschiedlichen linken Strömungen außerhalb und innerhalb der SDAPR selbstverständlich komplexer gewesen sein wird. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass Krupskaja die gesamte Zeit über Parteiarbeit betreibt, fast immer – aber auch nicht widerspruchslos – Lenins Linie folgt und ebenso wie er persönliche Risiken auf sich nimmt, als die beiden zusammen mit dem größten Teil der SDAPR nach der bürgerlichen Revolution 1905 nach Russland zurückkehren, bis sie nach Monaten in der Illegalität 1907 wieder ausreisen.
Neben ihrer Parteiarbeit publiziert Krupskaja immer wieder zu pädagogischen Fragen. Man darf keine wissenschaftlichen Abhandlungen erwarten, sondern vielmehr situationsbezogene kurze Texte, Besprechungen, Artikel, Aufrufe. Diese Form der Kommunikation – die man ebenfalls bei Lenin findet, von dem ja auch weit mehr kurze Texte veröffentlicht wurden, als die allerdings bekannteren Broschüren – wird Krupskaja bis zu ihrem Tod beibehalten. Deshalb ist es auch nicht ganz richtig, sie – wie das in der Literatur teilweise geschah – als pädagogische Theoretikerin zu bezeichnen. Dazu hatte sie gar keine Zeit. Sie hat vielmehr grundlegende Leitlinien vorgegeben und sich für zahlreiche Debatten und Ansätze von Pädagogik interessiert. Im Exil in der Schweiz besichtigte sie beispielsweise etliche Schulen, um diese mit den Schulen in Russland zu vergleichen. Sie beschäftigte sich auch mit anderen Schulprojekten, insbesondere der Reformpädagogik und arbeitet die Leitlinien einer polytechnischen Erziehung aus. Nicht zuletzt waren sie und Lenin eifrige Nutzerinnnen der Bibliotheken in der Schweiz, in Großbritanninen und überall anders, wo sie sich im Exil befanden. Sie beide lernten relativ gut funktionierende Bibliothekssysteme in demokratischen Staaten kennen, die sie für ihre regelmäßige Arbeit – und das war nun mal die Revolution und die Organisation des Proletariats – benutzten. (In dem Maße, wie die beiden die Bibliotheken inklusive der Fernleihe nutzen, würde man sie heute beide als äußerst Bibliotheks- oder auch Informationskompetent beschreiben. Was wieder die Frage aufwirft, ob man Kompetenz wirklich ohne Inhalt vermitteln kann und will.)

Parteilichkeit
Spätestens während dieser Zeit eignete sich Krupskaja aber auch eine Denkweise an, die der bolschewistischen Bewegungen an sich eigenen war und späterhin auch das gesamte Bildungswesen der Sowjetunion prägte: die Idee der Parteilichkeit.
Dadurch, dass die feministische Frauenforschung in den 1960er und 1970er Jahren den gleichen Begriff einführte, allerdings mit einer anderen Bedeutung, hat er eventuell heute an Schärfe verloren. Aber zu Zeiten Krupskajas war er eine Waffe im polemischen Kampf: eine Möglichkeit, Recht zu behalten. An sich ist die Idee sehr simpel: Da der Marxismus als Wissenschaft angesehen wurde und Krupskaja ebenso wie die restlichen (späteren) Bolschewiki, aber auch ein Großteil anderer fortschrittlicher Menschen, Wissenschaft immer als widerspruchsfrei begriff, konnte es immer auch nur einen richtigen Weg geben, der zur Befreiung der Menschheit notwendig war. Wer immer der Marxismus richtig anwendete, musste auch immer zum richtigen Ergebnis kommen. Dieses Ergebnis war keine Frage der Meinung, sondern immer nur der richtigen Anwendung des Marxismus im Bezug auf die jeweilige Situation. Krupskaja dachte Lenin (und auch sich) als beständig auf der richtigen Seite stehend.
Parteilichkeit hieß nun von diesem Denken ausgehend immer die eigene Gruppierung und Position durchzusetzen, auch taktische Bündnisse immer nur dann einzugehen, wenn man damit für die eigene Gruppe und Auslegung des Marxismus Macht gewinnen könnte.
Das ist selbstverständlich mehrfach falsch. Zum einen ist Wissenschaft nicht widerspruchsfrei, sondern immer ein Diskussions- und Forschungsprozess, der Widersprüche produziert. Zum anderen liefern die Schriften von Marx und Engels keine vollständige Analyse der Gesellschaft. Sicherlich machten sie große Fortschritte bei der Beschreibung der Gesellschaft und gelten nicht umsonst als Mitbegründer der Soziologie. Aber gibt auch bei ihnen keine widerspruchsfreie Analyse der Gesellschaft und erst Recht keine unwidersprechbare Anleitung zur Befreiung der Menschheit. [14] Das ist die inhaltliche Seite. Im Denken der Parteilichkeit kann es eigentlich nur zwei entschuldbare Fehler geben: entweder hat man eine Sache falsch verstanden und deshalb nicht richtig marxistisch interpretiert. (Deshalb legt die Propaganda in der Sowjetunion und der DDR auch immer wieder so viel Wert darauf, Entschlüsse und Dinge zu erklären. Sind sie genügend erklärt, müssten sie allen Menschen, die den Marxismus verstehen, auch einsichtig werden.) Oder aber man hat nicht alle notwendigen Informationen und Fakten zur Verfügung, um die richtige Entscheidung zu treffen. Wer ansonsten widerspricht tut dies entweder weil er oder sie a.) unreif oder b.) böswillig falsch ist.
Dieses Denken der Parteilichkeit ist aber auch aus anderen Gründen falsch: es verhindert ganz praktisch jeden demokratischen Diskurs. Nicht nur, dass es in diesem Denken eigentlich nur richtige oder falsche Meinungen geben kann. Es ist innerhalb dieses Denkens auch unvorstellbar, dass es aus unterschiedlichen Sichtwinkeln zu einem Thema unterschiedliche richtige Meinungen geben könnte. Einzig, wenn man davon ausgeht, dass eine Person oder Gruppe weiter fortgeschritten ist auf dem Weg der Erkenntnis und Befreiung als die andere, lassen sich solche Unterschiede in das Denken der Parteilichkeit einbauen. Aber ansonsten führt dieses Denken dazu, dass Politik grundsätzlich zum Kampf und zum Krieg erklärt wird: es geht nicht darum, gemeinsam mit anderen in einem demokratischen Diskurs temporäre Lösungen für Probleme und Themen zu finden, sondern einzig darum, die einmal als richtige erkannte Lösung durchzusetzen. Dabei wird auch leicht die Person oder Gruppe gegenüber zum persönlichen Feind erklärt, obwohl es eigentlich um inhaltliche Themen geht.
Nicht zuletzt ist dieses Denken in eine Auffassung von einer Gesetzmäßigkeit der Geschichte eingelassen. Für Krupskaja wie auch für die anderen späteren Bolschewiki (und zahlreiche andere sozialistische / sozialdemokratische / anarchistische / anarchosyndikalistische / kommunistische Gruppen) galt und gilt, dass es eine direkte Entwicklung des Klassenkampfes gäbe: von der Sklavenhaltergesellschaft über den Feudalismus in die bürgerliche Gesellschaft und von dort, über die Phase der Diktatur des Proletariats und dem Sozialismus, in den Kommunismus. Dass dieser Kommunismus kommen wird, ist für Krupskaja in dieser Phase ihres Lebens schon keine Frage mehr. [15] Ein Problem dabei ist, dass jede Entwicklung, auch die kleinteiligste, deshalb immer nur als fortschreitend zum Positiven verstanden werden kann.
Lenin übertrug die Idee der Parteilichkeit auf die Politik. Das tat er nicht allein, aber er war derjenige Vertreter, welcher diese Form der Politik nicht nur propagierte, sondern letztlich auch damit Erfolg hatte. Krupskaja war davon nicht unbeeinflusst, vielmehr war sie aktiv daran beteiligt dieses Denken mit umzusetzen. Insbesondere der zweite Parteitag der SDAPR, durchgeführt 1903 in London, auf welchem die Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki vorgenommen wurden, zeigten die Auswirkungen dieser Vorstellung. Für Lenin und seine Fraktion hatten die Teile der SDAPR, welche den Sozialismus im Rahmen einer repräsentativen Demokratie umsetzen wollten, den Marxismus nicht verstanden. Obgleich Lenin ansonsten die Parteieinigkeit als Ziel betonte, entschied seine Fraktion praktisch, die Ergebnisse und Beschlüsse des zweiten Parteitags zu ignorieren und die Menschewiki auszuschließen. Auch Krupskaja war an diesem Beschluss und vor allem der Umsetzung – die mit der Gründung einer neuen Zeitschrift einherging – aktiv beteiligt.
Selbstverständlich kann ein solches Denken sich sehr schnell auch als Waffe gegen einen erweisen. Lenin hat dies nicht mehr erlebt, aber Krupskaja musste miterleben, wie sich genau dieses Denken nicht nur gegen ehemalige Mitstreiter – am Bekanntesten wohl Leo Trotzki und Nikolai Bucharin – richtete, sondern auch gegen sie selber.
Was Krupskaja allerdings auch lernte, war, mit Widerspüchen zu dieser Idee der Parteilichkeit umzugehen. Eigentlich sollte es keine Fehler bei der Anwendung des Marxismus als Theorie geben und eigentlich sollte es einen kontinuierlichen Fortschritt geben. Lenins Politik ist allerdings dafür bekannt, dass genau das nicht passierte. Immer wieder änderte Lenin und seine Fraktion aus taktischen Gründen die eigene politische Meinung. Im Denken von Fortschritt und Parteilichkeit konnte man dann nicht anders, als dies entweder einfach als richtig zu akzeptieren – bzw. als nächste Stufe des Kampfes zu sehen – oder aber zu verzweifeln. Krupskaja akzeptierte, wie auch andere, ziemlich viel.
Sehr bekannt sind drei radikale Wechsel der Politik der Bolschewiki unter Lenin, die Krupskaja auch mittrug und publizistisch verteidigte. (Es gab noch zahlreiche andere.)

  1. 1.) Die Aprilthesen. Im April 1917 hielt Lenin ein Referat („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“), das als „Aprilthesen“ bekannt wurde. In diesem legte er quasi dar, wie die Revolution abzulaufen hätte und welche Parolen benutzt werden sollten. Dabei war Russland schon im Aufruhr, in zahlreichen Betrieben, Truppenteilen etc. hatten Räte faktisch die Macht übernommen. Bis dato war die Position der Bolschewiki ziemlich klar: Die Partei führt und sagt den Massen, was zu tun ist, die Massen folgen. Die Realität war aber einen andere: Die Massen folgten nicht den Vorgaben der Bolschewiki, vielmehr gab es sehr unterschiedliche Interessen, Bewegungen, andere Parteien und Gruppen und gleichzeitig die mehr oder minder autonom agierenden Räte. Jetzt trat Lenin auf einmal mit der Parole: „Alle macht der Sowjets“, d.h. den Räten auf. Statt einer zentralistischen Lenkung durch die Partei der Avantgarde sollte es jetzt heißen, dass die lokalen Räte die Revolution machen würden. Ein radikaler Politikwechsel, der erstaunlich schnell von den restlichen Bolschewiki geschluckt wurde (und später wieder umgedreht wurde, als die Sowjets der Partei untergeordnet wurden).
  2. 2.) Die Konstituante. Die Verfassungsgebende Versammlung in Russland (Konstituante), die im November 1917 gewählt wurde, wurde von den Bolschewiki mit erkämpft. Wie zahlreiche andere bürgerliche und linke Parteien, hatten auch die Bolschewiki auf dieser Versammlung bestanden. Am 5. Januar 1918 – die Bolschewiki hatten gerade die Macht übernommen – wurde die Konstituante aufgelöst und zum Bollwerk der Bourgeoisie und anti-revolutionärer Kräfte erklärt. Quasi von einem Tag auf den anderen. Noch als Monate später, am 30. August 1918, ein Attentat auf Lenin verübt wurde, behauptet die Politische Polizei (Tschekisten), dass die angebliche Attentäterin Fanny Kaplan, sich positiv auf die – einst von den Bolschewiki mit geforderte – Konstituante bezogen und damit bewiesen hätte, dass sie eine Konterrevolutionärin sei. [16]
  3. 3.) Die Neue Ökonomische Politik. 1921, der Bürgerkrieg war gerade vorbei, aber die Wirtschaft funktionierte nicht so, wie sie funktionieren sollte, verkündete Lenin den Ausstieg aus dem Kriegskommunismus mit seinen Zwangsabgaben und der gesteuerten Verteilung von Lebensmitteln und die Einführung der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik. Zu erwarten wäre die direkte Einführung der Planwirtschaft und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft gewesen, aber vor allem Lenin und Trotzki setzen eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaft durch. [17] Diese wurde als Übergangsphase bezeichnet, aber realistisch betrachtet war es ein Rückschritt, wenn man davon ausgeht, dass eine vollständige Planwirtschaft das Ziel war.

Krupskaja hat nicht nur gelernt, diese Widersprüche zu verarbeiten. Sie hat es immer auch als Aufgabe der Propaganda-Einheiten und des Bildungswesens – und hier neben den Schulen vor allem die Bibliotheken – gesehen, diese Beschlüsse den Massen zu erklären, also als richtig und notwendig darzustellen. Sie schrieb zu fast jede dieser Kehrtwenden Texte, die praktisch Anweisungen gaben, wie diese Propaganda auszusehen hätte.
Auch dies hat später gegen sie zurückgeschlagen. Als Stalin die Macht übernommen und sie sich unterworfen hatte, musste sie auch immer damit umgehen, Texte zu veröffentlichen, welche beispielsweise die Propagierung des „Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B)“ zur Aufgabe des Bildungswesens erklärte. [18] Der „Kurze Lehrgang“ ist einer der bekanntesten Texte dieser Zeit, welcher die Macht Stalins untermauerte. Er stellte die Geschichte der Partei, die dann ab 1939 KPdSU (B) hieß, und der Revolution so dar, als ob diese direkt auf Stalin als Führer der Revolution hinausgelaufen wäre. Gegenteilige Meinungen werden geleugnet, herabgewürdigt oder kommen einfach gar nicht vor. Letztlich diente dieser Text als Lehrtext und als amtliche Geschichtsschreibung, der zu folgen war. Selbstverständlich ist er voller Falschdarstellungen, Interpretationen und vor allem Auslassungen. Krupskaja wusste dies, sie war ja an der gesamten dargestellten Geschichte weit mehr direkt beteiligt als Stalin selber. Aber sie hatte offenbar gelernt, mit solchen Kursänderungen im Namen der Parteilichkeit zu leben.

Die Revolution 1917

„Mit beiden Händen das Gute aus dem Ausland übernehmen: Sowjetmacht + preußische Eisenbahnordnung + amerikanische Technik und Organisation der Trusts + amerikanische Volksbildung usw. ++ = ∑ x = Sozialismus“ [Lenin. Zitiert nach: Baumann (1974), S. 103]

„In einem Land, das den Sozialismus aufbaut, muß die polytechnische Bildung ein Bestandteil der Allgemeinbildung sein. Jeder Bürger des Sowjetlandes muß verstehen, was Planwirtschaft, was Planung ist. Die staatliche Planung der Volkswirtschaft, das ist es, was die sozialistische Wirtschaft von der kapitalistischen grundlegend unterscheidet.“ [Krupskaja (1959), S. 143: „Entwurf eines Memorandums an das ZK der KPdSU (B) über den polytechnischen Unterricht“]

Krupskaja war an der Revolution 1917 selbstverständlich beteiligt. Sie war damals in der Duma eines St. Petersburgers Stadtbezirk Abgeordnete, leitet dort die „Kommission für Kultur und Aufklärung“ (Bildungsausschuss wäre wohl das heutige Wort) und war in gewisser Weise Leiterin des dortigen bolschewistischen Zirkels. Sie hatte sich mit anderen darauf vorbereitet, in diesem Bezirk Verwundete des Aufstands zu pflegen, aber diese kamen – da der Aufstand in St. Petersburg erstaunlich unblutig ablief – gar nicht erst dort an. Zuvor hatte sie den Kontakt zwischen der Parteiführung und Lenin aufrechterhalten, der im Juni wieder einmal untertauchen musste.
Wichtiger für das Bildungs- und das Bibliothekswesen war, dass sie sofort nach der Machtübernahme ins Volkskommissariat für Bildungswesen (Narodny Kommissariat Prosweschtschenija) abgeordnet wurde und dort praktisch die Kontrolle über die gesamte außerschulische Bildung übernahm. Sie ist praktisch stellvertretende Bildungsministerin Sowjetrusslands. Nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch die Bibliotheken sind ihr, zumindest theoretisch, untergeordnet. Das bleibt sie bis zum Tod Lenins 1924 auch so. Krupskaja und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es nun, welche das Bildungswesen in Sowjetrussland und dann der Sowjetunion planen, strukturieren und anleiten.
Mehr oder weniger ist sie auch für die außerschulische Bildung von Kinder und Jugendlichen zuständig, wobei für sie insbesondere der Komsomol (der Pionierorganisation) und das Problem der durch den Bürgerkrieg 1971-1921 elternlos gewordenen Kinder, die teilweise Banden gebildet hatten und zumeist auf der Straße lebten, relevant war. Nicht zuletzt hatte sie auch Einfluss auf die Gestaltung des Schulwesens.
Das Krupskaja dieser Posten zugeteilt wurde hatte seine Gründe: Sie war eine der wenigen Bolschewiki, die sich tiefergehend mit Fragen der Pädagogik auseinandergesetzt hatten. Zudem war sie keine Bürokratin in einer Bildungsverwaltung, sondern tatsächlich immer wieder mit pädagogischen Debatten beschäftigt. Regelmäßig besprach sie pädagogische Literatur, initiierte Debatten und auch Projekte. [19] Nicht zuletzt wird ihr die Gründung oder Hilfe bei der Gründung mehrerer Zeitschriften nachgesagt, in denen sie zum Teil auch publizierte, unter anderem: [20]

  • Na putjach k nowoj schkole (Auf dem Weg zu einer neuen Schule), die Ulrich Baumann als Krupskajas „Hauszeitschrift“ bezeichnet [21]
  • Krasnyi bibliothekar (Roter Bibliothekar), quasi die Fachzeitschrift für Bibliothekarinnen und Bibliothekar
  • Isba citalnja (Lesehütte), eine Zeitschrift für ländliche Bibliotheken und Lesehütten
  • Čto citat‘? (Was soll man lesen?), offenbar eine Referatezeitschrift für Belletristik
  • V pomošč‘ selskomm bibliotekarja i čitatelja (Zur Unterstützung des Dorfbibliothekars und des Lesers auf dem Lande)
  • Škola veroslych (Schule der Erwachsenen)

Auch hier darf man wieder keine wissenschaftlichen Texte erwarten. Das wäre beim Arbeitspensum Krupskajas nicht zu schaffen gewesen. Es sind vor allem kurze, programmatische Texte und Besprechungen, welche von Krupskaja in dieser Zeit veröffentlicht werden. Viel wichtiger ist ihre Arbeit beim Auf- und Umbau des Bildungssektors (wobei eher von Aufbau gesprochen werden muss), bei der Steuerung dieses Aufbaus, beim Anstoßen von Entwicklungen und Diskussionen sowie bei der Initiierung und Durchführung der Kampagnen zur Alphabetisierung der Bevölkerung. Sicherlich darf man nicht, wie das in der Literatur teilweise getan wird, Krupskaja alleine die Erfolge und Misserfolge auf all diesen Gebieten zuschreiben. Auch hier haben immer genügend andere Menschen ihren Anteil gehabt.
Allerdings war der bolschewistische Staat ein zentralistischer und Krupskaja befand sich ganz oben, an der Spitze. Es ist ihr Verdienst, dass sie immer wieder die Bedeutung der Bildung in den obersten Gremien betonte und Beschlüsse anstieß. Dabei war es sicherlich nicht von Nachteil, dass Lenin sie dabei immer wieder unterstützte, indem er beispielsweise Beschlussvorlagen selber übernahm oder sich explizit für sie aussprach. Aber darauf lässt sich der Einfluss von Krupskaja nicht beschränken. Sie schaffte es, Bildungsthemen beständig neu anzusprechen und Diskussionen um die Gestaltung des Bildungswesens zu führen. Dabei war sie immer wieder von der Überzeugung getrieben, dass nur eine gebildete Bevölkerung sich auch zum Marxismus bekennen könnte. Gleichzeitig sah sie eine möglichst breite Bildung als Grundlage des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus an.
Man muss sich verdeutlichen, dass es die Überzeugung der Bolschewiki war – zumindest der sogenannten „alten“ Bolschewiki, quasi der Stammbesatzung der Revolution –, dass die Planwirtschaft alle gesellschaftlich notwendigen Aufgaben soweit planbar machen würde, dass sie von allen normal gebildeten Menschen übernommen werden könnten. Die Regierung beziehungsweise Steuerung der Gesellschaft sollte soweit planbar werden, dass es relativ egal wäre, wer diese Planung vornimmt. Im Kommunismus, so die Vorhersage von Marx und Engels, würde der Staat absterben oder auch aufgehoben werden, da er nicht mehr als Instrument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der anderen Klassen dienen müsse. Es wäre eine Aufgabe des Proletariats, dieses Absterben zu ermöglichen. Nun blieb es bei Marx und Engels einigermaßen unklar, wie genau sich das vorgestellt werden sollte – zumal die Anarchisten in der ersten Internationale um Bakunin und Proudhon einiges mehr zu diesem Thema zu sagen hatten –, aber es galt für Lenin, Krupskaja und die anderen Bolschewiki doch als ausgemacht, dass der Staat tendenziell aufgelöst und in etwas anderes überführt werden müsste. Alles andere wäre eine Übergangsphase. Für Lenin war es klar, dass Planung das Regieren ersetzen müsste. Sicherlich ist diese Vorstellung angesichts des dann übermächtigen Staats- und Parteiapparats in der Sowjetunion erstaunlich.[22] Folgt man jedoch einmal dieser Logik, der ja Krupskaja auch gefolgt ist, dann ist es folgerichtig, den Sozialismus als eine Gesellschaft mit einem möglichst hohen allgemeinen Bildungsniveau zu konzipieren. Nicht nur, dass die Menschen lesen lernen müssen – was nach der Revolution tatsächlich einen wichtigen Aufgabenbereich darstellte –, sie müssen auch in die Lage versetzt werden, selber zu planen, sich für neue gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten und auch selbstständig einzusehen, dass die jeweiligen Pläne der Partei für die Gesamtgesellschaft sinnvoll sind. Auch diese Vorstellung ist immer wieder angesichts der tatsächlichen Geschichte erstaunlich, aber sowohl Krupskaja als auch der Großteil der Bolschewiki setzte letztlich darauf, dass die Massen freiwillig dem bolschewistischen Kurs folgen würden, wenn er nur einmal richtig dargelegt würde. [23]

Pädagogische Grundsätze
In dieser Zeit werden auch die Grundzüge von Krupskajas pädagogischen Verständnis klar. Grundsätzlich galt bei ihr folgendes: [24]

  • Bildung (inklusive der Bibliotheken) hat dem Ziel zu dienen, den sozialistischen Menschen zu bilden. Das heißt zumindest bei Krupskaja nicht unbedingt, den Menschen ein bestimmtes Denken aufzuzwingen, sondern vielmehr sie zu der einzig richtigen Erkenntnis zu befähigen. Für Krupskaja gilt, dass jeder gebildete Mensch – in ihrer Phase der Gesellschaftsentwicklung, also für sie am Ende des bürgerlichen Zeitalters – sich zum Marxismus bekennen würde, so wie sich jeder gebildete Mensch beispielsweise auch gegen jeden religiösen Glauben entscheiden oder die Grundkenntnisse der Naturwissenschaft anerkennen würde. Selbstverständlich ist hier ein großer Widerspruch vorprogrammiert: gebildete Menschen können sich auch anders entscheiden. Für diesen Widerspruch hatte Krupskaja offenbar keine Überlegung parat.
  • Bildung hat aus diesem Grund auch immer parteilich zu sein. Da der Marxismus in der Auslegung der Bolschewiki die einzig richtige Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit darstellte, war für Krupskaja klar, dass auch das Bildungswesen dies grundsätzlich anerkennen und darauf eingehen müsste. Auch hier gibt es einen schmalen Pfad zwischen grundsätzlicher Parteilichkeit, wie es Krupskaja verstand, nämlich als Leitlinie und Parteilichkeit als einziger zu folgender Vorgabe, wie sie unter Stalin verstanden und umgesetzt wurde. Antidemokratisch sind beide Vorstellungen, aber es ist ein großer und relevanter Unterschied zwischen den Überzeugungen bei Krupskaja und dem Erzwingen von Zustimmung bei Stalin festzustellen.
  • Bildung muss grundsätzlich polytechnisch sein. Krupskaja ging davon aus, dass die Ausbildung möglichst spät spezialisiert werden dürfte, dass vielmehr alle Menschen dazu befähigt werden müssten, alle Arbeiten übernehmen zu können oder sich zumindest in sie einzuarbeiten. Eine sozialistische Gesellschaft müsse eine Gesellschaft sein, in der nicht nur die Menschen schnell zwischen Arbeitsbereichen wechseln können, sondern in der die Menschen immer auch Vorstellungen davon haben, wie die anderen arbeiten. Nur so würden sie auch Achtung vor der Arbeit der anderen entwickeln können. Krupskaja sah es, wie auch andere Marxistinnen und Marxisten, als eines der ideologischen Probleme der vorhergehenden Klassengesellschaften an, dass die unterschiedlichen Klassen möglichst voneinander getrennt wurden und deshalb kein wirkliches Wissen über das Leben der anderen Klassen hatten. So erklärte sich zum Beispiel für Krupskaja auch, warum fortschrittliche bürgerliche Pädagogen sich Gedanken über die Erziehung von Kindern und Jugendlichen machen konnten, die Krupskaja prinzipiell schätzte, aber die nicht auf die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen aus dem Proletariat und dem Bauernstand zutrafen. Das beispielsweise reformpädagogische Experimente immer wieder Lehranstalten konzipierten, die möglichst von der restlichen Gesellschaft abgegrenzt waren, galt Krupskaja als Problem, welches durch die Klassengesellschaft entstanden sei. Wirklich freie Bildung sei nur in einer wirklich freien Gesellschaft möglich, in der die Bildung im Rahmen der freien Gesellschaft stattfinden würde. Diese Bildung müsste die Kinder und Jugendlichen dazu ermächtigen, gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten zu übernehmen. [25] (Interessant ist, dass gerade bei den Ausführungen zur polytechnischen Schule bei Krupskaja immer wieder Formulierungen zu finden sind, die sich heute bei Debatten zum Lebenslangen Lernen zu wiederholen scheinen, wie im Anfangszitat dieses Textes ersichtlich ist.)
  • Bildung muss möglichst allgemein sein. Krupskaja ging, und das nicht zu unrecht, davon aus, dass das Bildungssystem bürgerlicher Staaten und erst Recht im Zarenreich, nicht für alle Menschen gleich war. Einerseits war sie davon begeistert, wie demokratisch der Schulbesuch in den USA organisiert war, insbesondere im Gegensatz zu ihrer eigenen Erfahrung im zaristischen Russland. Gleichzeitig kritisierte sie, dass die Bildungsergebnisse letztlich doch die gesellschaftliche Stellung der Eltern reproduzierten. Auch die demokratische Schule, so schloss sie, war eine, die vom Aufbau, der Inhalte sowie der Pädagogik der bürgerlichen Klasse zugute kommen würde. (Inklusive einer Elite der Arbeiterschaft, die verbürgerlicht und damit vom Klassenkampf abgehalten würde.) Für Krupskaja war es folgerichtig, dass ein Bildungswesen, welches zu einer klassenlosen Gesellschaft führen sollte, auch klassenlos zu sein habe. Dies bedeutet nicht nur einen allgemein gleichen Zugang (der auch bei Bibliotheken gelten sollte), sondern auch eine gemeinsame Bildung aller Kinder und Jugendlichen. [26] Allerdings, so schloss sie aus den Erfahrungen aus „bürgerlichen“ Staaten, müsste dies mehr bedeuten, als einfach nur einen gleichen Zugang zu schaffen. Auch die Bildungsinhalte, die Pädagogik und Didaktik habe auf eine klassenlose Gesellschaft abzuzielen.
  • Bildung muss atheistisch und wissenschaftlich sein. Die Bolschewiki waren – ebenso wie viele andere linke Bewegungen der damaligen Zeit – explizit atheistisch. Religionsfreiheit war als Übergangsziel akzeptabel – so wurde ja auch der Antisemitismus als Antijudaismus abgelehnt –, aber grundsätzlich galt jede Religion und jede religiöse Äußerung als falsch. Aberglaube habe in der sozialistischen Gesellschaft nichts zu suchen. Er ist unwissenschaftlich. Für Krupskaja war eine atheistische – und eben nicht nur säkulare – Erziehung eine Selbstverständlichkeit.
  • Bildung muss koedukativ sein. Krupskaja ist sehr eindeutig für eine grundsätzliche Gleichheit der Geschlechter und verteidigte diese Position auch mehrfach explizit. Hierbei stimmte sie mit dem größten Teil der zeitgenössischen linken und bürgerlichen Bewegungen im Bildungsbereich überein.

Lenins Witwe
1923 wurde Lenin nach einem (weiteren) Schlaganfall für rund ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und war auch nicht mehr in der Lage, zu sprechen. In dieser Zeit pflegte Krupskaja ihn und erhielt von ihm auch das sogenannte Testament (in fünf Exemplare, wovon eines ans ZK der KPdSU (B), eines ans Parteiarchiv und drei an sie persönlich gingen). Diese Monate entschieden über den weiteren Verlauf der Geschichte und letztlich muss man hier – auch wenn man ihr Alter und die fortgeschrittene Basedowsche Krankheit, an der sie litt, mit in Betracht zieht – von einem expliziten Versagen Krupskajas, aber auch der restlichen Bolschewiki sprechen. In diesem Testament wies Lenin sehr explizit darauf hin, dass der Genosse Stalin, welcher in diesen Monaten daran arbeitete, seine Macht zu sichern, nicht dafür geeignet sei, die Revolution zum Abschluss zu führen. Sicherlich: das hätte Lenin auch früher auffallen können. Letztlich hat er auch selber genügend Grundziele der Revolution verraten, bevor er starb. Es ist auch nicht klar, was Trotzki, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Macht in der Partei übernommen hätte, wäre Stalin zurückgedrängt worden, für eine Politik betrieben hätte. [27] (Ob er seine Theorie der permanenten Revolution hätte durchführen können, darf man schon aufgrund der unter Lenin gewachsenen Bürokratie bezweifeln.) Aber die Geschichte wäre anders abgelaufen, hätte Krupskaja es in Zusammenarbeit mit anderen geschafft, dieses Testament umzusetzen. Stalin setzte durch, dass dieses Testament nicht veröffentlicht wurde und begann mit den Kampagnen gegen die tatsächliche und vermeintliche Opposition in der KPdSU (B). Späterhin, als das Testament in den USA bekannt wurde, bestritt Krupskaja dann sogar öffentlich dessen Existenz.
Nachdem Lenin im Januar 1924 starb, trat Krupskaja offenbar noch einige Male oppositionell zu Stalin auf, stellt sich einige Monate auf die Seite Trotzkis. Auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (B) im Januar 1925, auf dem die „linke Opposition“ um Trotzki praktisch ausgeschaltet wurde, musste auch Krupskaja eine Niederlage einstecken. Sie wurde nicht gehört und bejubelt, wie bei den Parteitagen zuvor, sondern als Gegnerin der Revolution abgestempelt. Hatte die „Parteilichkeit“ bislang für sie immer positive Ergebnisse, schlug dieses Prinzip nun gegen sie um. Anders aber, als andere Mitglieder der Opposition, scheint sie gänzlich aufgegeben zu haben. Sie ordnete sich unter und schrieb in der Zukunft teilweise Lobeshymnen auf Stalin.
Auf dem Gebiet der Pädagogik musste sie mehrere Rückschläge hinnehmen. Das Bildungssystem wurde quasi zu einem bürgerlichen umgebaut, ohne die gewissen Freiheiten, die sie beibehalten wollte. Die polytechnische Schule wurde von der auf bestimmte Ausbildungen ausgerichteten Schule ersetzt, Kollektiverziehung und „Schülerselbstverwaltung“ wurden nicht mehr, wie bei Krupskaja, als Mittel zur angeleiteten Selbsterziehung der Kinder und Jugendlichen – was auch immer schon eine schwierige Position war – angesehen, sondern als Mittel der gegenseitigen Kontrolle und Bestrafung. Aus den Bibliotheken mit ideologischer Ausrichtung wurden explizit zensierte Einrichtungen. Das Bildungswesen wurde, wie auch die Gesamtgesellschaft, mittels direkten Befehlen und Zwangsmaßnahmen – die dann auch ausgeführt wurden, was immer wieder betont werden muss, um nicht den Eindruck zu erwecken, Stalin allein wäre Schuld am Stalinismus gewesen – gesteuert. Hatte Lenin beispielsweise mit der Neuen Ökonomischen Politik noch darauf gesetzt, dass die Bauern sich mit der Zeit für den Zusammenschluss in Kollektiven entscheiden würden, gab es nun eine Phase der expliziten Zwangskollektivierungen. Für die Zeit nach 1925 ist kaum Widerstand von Krupskaja gegen diese Entwicklungen nachzuweisen. Baumann (1974) trug Hinweise darauf zusammen, dass sie zumindest versucht hätte, Erreichtes zu retten und ihren Widerspruch indirekt in ihren Schriften auftauchen zu lassen. Aber dies sind kurze Hinweise. Im Gegensatz zu anderen Oppositionellen, die Spielräume ausnutzten und späterhin aus dem Ausland versuchten, Einfluss auf die Entwicklungen in der Sowjetunion zunehmen, blieb Krupskaja im Kreml wohnen und unterstützte das Regime.
Obgleich sie weiterhin zu pädagogischen Themen publizierte, änderte sich ihr Auftreten. Zum einen sprach sie nun eher von nicht-schulischen Themen, insbesondere dem Komsomol. Zum anderen aber begann eine Phase, in der sie beständig Lenin zitierte. Dies war vor seinem Tod sehr selten vorgekommen, nun publizierte sie ganze Sammlungen von Aussagen, die Lenin getroffen hatte. Sie redete immer öfter nicht als Nadeshda Krupskaja, Revolutionärin, sondern als Witwe Lenins, die vor allem Lenins Werk rezipierte. „Sie wird zum lebendigen Lenin-Zitatbuch.“ [28] Auch das Buch „Was Lenin über Bibliotheken schrieb und sagte“, welches uns noch interessieren wird, stammt auch dieser Zeit.
Im Rahmen dieser Veröffentlichungen werden auch die meisten ihrer Widerstandsakte verortet, wenn sie beispielsweise zu einer Zeit, als Trotzki als persona non grata gilt, an eine Notiz Lenins zu einem Treffen mit eben diesem Trotzki erinnert oder aber wenn sie bei ihren Berichten von der Revolution Stalin gar nicht erst erwähnt (der auch in der Oktoberrevolution keine aktive Rolle spielte). An der Einführung der Lenin-Ecken kann man aber auch sehen, dass sie mit der Zeit Positionen akzeptierte, die sie zuvor ablehnte. Sie, die überzeugte Atheistin, die wusste, dass Lenin kein Freund von zu großer persönlicher Verehrung war, musste nicht nur sehen, wie nach dessen Tod angefangen wurde, für öffentliche Einrichtungen und Wohnungen Heiligenaltare-ähnliche Ecken zu propagieren, in denen neben Leninbildern und Devotionalien wie roten Fahnen, zum Teil auch revolutionäre Schriften aufgestellt und verehrt wurden. Sie übernahm es sogar, Texte zu diesen Ecken zu schreiben, in welchem sie immerhin versuchte, die Verehrung umzulenken. [29] Letztlich aber akzeptierte sie Lenin-Ecken und ihre Rolle als die Verkünderin und Biographin Lenins. Als solche wird sie auch für Stalin bis zu ihrem Tode 1939 wichtig sein. [30] Obgleich sie immer wieder als potentielle Oppositionelle galt, war es letztlich Stalin selbst, der nach ihrem Tod die letzte Nachtwache bei ihrer Leiche übernahm und auch ihre Urne mit beisetzte. Aus der eigenständigen Revolutionärin, die das Bildungswesen der Sowjetunion aufgebaut und zuvor die Revolution mit vorbereitet hatte, war eine Person geworden, die Stalin zur Ikone erheben lassen konnte. Dazu trug auch bei, dass es genügend Schriften von Krupskaja über Lenin gab, um ihre pädagogische Arbeit größtenteils vergessen zu machen und sie vor allem als Witwe Lenins darzustellen.

Nachleben
Im Gegensatz zu anderen alten Bolschewiki – auch solche, die eines natürlichen Todes starben –, wurde Krupskaja nach ihrem Tod nicht „vergessen“ gemacht, wie das im Stalinismus oft vorkam. Vielmehr wurde sie als Witwe Lenins weiterhin zitiert und angeführt. Das eine der erfolgreichsten Schokoladenmarken in Russland heute Krupskaja heißt, hat damit zu tun, dass diese Fabrik – neben zahlreicher anderer Einrichtungen, Kollektive etc. – nach ihr benannt wurde.
Das heißt allerdings nicht, dass ihre Schriften und Gedanken allesamt weiter verfolgt wurden. Vielmehr wurden sehr explizite Auswahlen getroffen. Zu viele Schriften widersprachen einfach der Realität in Schulen, der Volksbildung und den Bibliotheken. Allerdings erging es fast allen anderen Persönlichkeiten, die in der frühen Sowjetunion auf dem pädagogischen Feld gearbeitet hatten, viel schlimmer (wie auch auf anderen Feldern), was dazu führte, dass nach Stalins Tod nur sehr wenige Persönlichkeiten überhaupt bekannt waren, an die beim Umbau der Bildungswesen wieder angeknüpft werden konnte. [31]
Gleichwohl lebten zahlreiche der Strukturen, die sie aufgebaut hatte, auch über die Zeit des Stalinismus hindurch weiter. Beispielsweise hatte sie für ein Wachstum des Bibliothekswesens gesorgt, welches nicht vollständig einging. Die von ihr begründete Zeitschrift krasnyi bibliothekar fungierte weiter als Diskussionsforum im Bibliothekswesen. Einige Grundzüge ihrer Bildungspolitik wurden weitergeführt. Das ist keine Kleinigkeit: Wichtige Leitlinien Krupskajas pflanzten sich auch nach ihrem Tod fort, beispielsweise die allgemeine Schulpflicht und das Ziel, die gesamte Bevölkerung bibliothekarisch zu erreichen.
Als mit der beginnenden Entstalinisierung nach Vorbildern für ein sowjetisches Bildungssystem gesucht wurde, begann man wieder weitere pädagogische Schriften Krupskajas zu veröffentlichen. [32] Ein Beispiel ist der Aufbau des polytechnischen Schulsystems in der DDR, bei dem explizit auf Krupskaja Bezug genommen wurde. [33] Gleichwohl passierte mit ihren Texten die erstaunliche Transformation, die sich auch in anderen Texten der damaligen Zeit in der Sowjetunion und der DDR fanden: auf einmal gab es einen Menschen namens Stalin praktisch nicht mehr. Es gab eine „Zeit des Personenkultes“, aber so genau sprach man nicht mehr darüber. Einige Namen, die während dieser „Zeit des Personenkultes“ verschwunden waren, tauchten wieder auf. Andere – namentlich Trotzki – blieben weiter „Feinde des Sozialismus“. An den beiden Textsammlungen pädagogischer Texte, die von Krupskaja in der DDR erschienen, lässt sich dies nachzeichnen. In „Ausgewählte pädagogische Schriften“ von 1955, die in einem Band erschienen, kommen fünf Texte vor, die sich explizit auf Stalin beziehen, neben weiteren Erwähnungen in den anderen Texten. [34] In der vierbändigen Ausgabe, die 1971 und 1972 erschien, findet sich der Name Stalin fast gar nicht und nie mit einem wirklich positiven Bezug. [35] Selbstverständlich ist das verlogen (bzw., um es netter auszudrücken, sehr gezielt ausgewählt und zum Teil umgeschrieben). Man muss allerdings bedenken, dass mit genau diesen unvollständigen Werken – neben den 12-bändigen, ebenfalls ausgewählten Schriften, die nur in Russisch veröffentlicht wurden – dann auch in der DDR-Pädagogik und dem Bibliothekswesen in der DDR gearbeitet wurde.
Man muss sich klar sein, dass die Leitlinien Krupskajas auf zwei Wegen Einfluss in der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatten. Zum einen durch das Vorbild des sowjetischen Bildungswesens und Bibliothekssystems. Zum anderen, aber später, durch die Veröffentlichung ihrer Schriften selber, die gleichwohl niemals vollständig geschah.
Daneben wurde aber, wie in der Sowjetunion, eine große Anzahl von Einrichtungen, auch pädagogischen, nach Krupskaja benannt. Bei der großen Anzahl der an diesen Einrichtungen Tätigen kann man davon ausgehen, dass sich diese nicht weiter mit Krupskaja auseinandersetzten oder aber mit dem Fakt, dass sie eine wichtige Revolutionärin war, begnügten. Eine Anzahl der Einrichtungen allerdings setzte sich tiefergehend auseinander. Insbesondere die Pädagogische Hochschule in Halle, die sich 1969 nach Krupskaja benannte – und dann auch ein Krupskaja-Heft herausgab – ist als eine solche Einrichtung zu nennen. An dieser Hochschule wurden sowohl Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet als auch Forschungen zu Krupskaja durchgeführt. [36]
Gleichzeitig wurde allerdings eine teilweise groteske Überhöhung Krupskajas vorgenommen. Hält sich beispielsweise Irmgard Dreßler noch sehr an die Fakten, als sie 1969 Krupskaja in einem Artikel in Der Bibliothekar bespricht, [37] zeigt ein erst 1986 in der DDR veröffentlichtes Werk (das zuvor in Russisch als „wissenschaftliche Biographie“ angepriesenen wurde) einen unglaublichen Rückfall nicht nur in eine kultische Verehrung von Krupskaja (und Lenin), sondern auch in der stellenweisen Reduzierung von Krupskaja auf die Rolle als Frau und Witwe Lenins:

„Der Name Nadeshda Konstantinowa Krupskaja ist für immer in die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, ja der ganzen internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung eingeschrieben. Nicht allein bei den Völkern der Sowjetunion, sondern in allen Ländern der Erde hat er einen guten Klang. […] Schon in jungen Jahren reihte sich Nadeshda Krupskaja unter die Kämpfer gegen Zarismus und Kapitalismus ein; sie verbreitete die Ideen des Marxismus bei den Arbeitern, setzte all ihre Kräfte und Kenntnisse für die Befreiung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen von Unterdrückung und Ausbeutung ein. […] Für Wladimir Iljitsch Lenin war Nadeshda Krupskaja als seine Ehefrau zugleich auch der engste Freund und Kampfgefährte. Seite an Seite mit ihm ging sie seinen schwierigen und ruhmvollen Weg. Tapfer ertrug sie alle Verfolgungen durch das Zarenregime, nahm sie Gefängnishaft, Verbannung und lange Jahre unfreiwilliger Emigration auf sich. Clara Zetkin sagte von ihr: ‚Die innigste Gemeinschaft des Lebensweges und Lebenswerkes vereinigte sie mit Lenin … Sie war >Lenins rechte Hand< , sein oberster und bester Sekretär, seine überzeugteste Ideengenossin.' […] Besonders bedeutsam ist, was Nadeshda Krupskaja für den Sieg der Kulturrevolution im Sowjetland getan hat, das heißt für das Volksbildungswesen, die politische Bildungsarbeit und die kommunistische Erziehung. Sie war eine hervorragende Theoretikerin der marxistischen Pädagogik. Daher erwarb sie sich große Verdienste um die Entwicklung der pädagogischen Wissenschaft wie auch um den Aufbau des Schulwesens und des Systems der Erwachsenenbildung in der Sowjetunion. Nadeshda Krupskaja hat ihr ganzes Leben der Partei Lenins und dem Wohl der Werktätigen gewidmet. Wer für den Sozialismus kämpft, wer sich den Sieg des Kommunismus zum Ziel setzt, dem wird sie stets ein leuchtendes Vorbild sein.“ [38]

Zwischen diesen Extremen bewegte sich die Rezeption Krupskajas in der DDR.

Krupskaja (und Lenin) über Bibliothen
Für das Bibliothekswesen bedeutsam waren zwei Veröffentlichungen. Zum einen erschien 1956 eine der ersten Sammlungen, die Krupskaja von Lenins Zitaten publiziert hatte, auch in deutsch: „Was Lenin über Bibliotheken schrieb und sagte“ ist tatsächlich erst einmal eine Sammlung von kurzen Texten Lenins, allerdings ergänzt durch Vorworte Krupskajas und ihrem Text „Ein wichtiger Sektor des sozialistischen Aufbaus“ [1933], in welchem sie die Grundlagen ihrer Auffassungen vom Bibliothekswesens darlegte. [39]
Das erscheint erst einmal ein absurdes Unterfangen: Eine Zitatensammlung. [40] Allerdings hatte Lenin tatsächlich einige interessante Aussagen zur Bedeutung des Bibliothekswesens gemacht, die auch inhaltlich weit über die, welche heute gerne von Goethe etc. in einigen bibliothekarischen Publikationen immer noch angebracht werden, hinausgingen. Er sah den Vorteil von ausgebildeten Bibliothekssystemen. Bemerkenswert ist wohl immer noch der Text „Über die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen“ [1921], [41] in dem Lenin klarstellt, dass aufgrund der Armut Sowjetrusslands die Verteilung von Zeitungen auf die Bibliotheken Vorrang gegenüber jeder anderen Form von Bezug (Abonnement, Verkauf) haben müsse, weil so mehr Menschen mit den Zeitungen erreicht würden. Immer wieder gerne angeführt wird auch der Artikel „Was kann man für die Volksbildung tun“ [1913], [42] in welchem Lenin sich vor der Revolution äußerst positiv auf das Bibliothekssystem der USA und vor allem New Yorks bezieht und es gegenüber dem zaritistischen Bibliothekswesen als beispielhaft darstellt:

In den westlichen Staaten sind nicht wenig verderbliche Vorurteile verbreitet, von denen das heilige Mütterchen Rußland frei ist. So ist man zum Beispiel der Meinung, daß die riesigen öffentlichen Bibliotheken, mit ihren Hundertausenden und Millionen Bänden, durchaus nicht nur einem Häufchen sich dieser Bibliotheken bedienender Gelehrter und Pseudogelehrter erreichbar sein sollen. Dort steckt man sich das sonderbare, unverständliche, sinnlose Ziel, diese riesigen unermeßlichen Bibliotheken nicht nur der Zunft der Gelehrten, Professoren und ähnlichen Spezialisten zugänglich zu machen, sondern den Massen, der Menge, der Straße (hervorgehoben von mir. – N.K.).
Welche Profanierung des Bibliothekwesens! Welches Fehlen jener „Ordnung“, auf die wir mit Recht stolz sein können! Anstatt der von einem Dutzend Beamtenkommissionen erörterten und ausgearbeiteten Regeln mit ihren Hunderten ausgetüftelter Formalitäten und Einschränkungen für die Benutzung der Bücher – die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß sogar K i n d e r die reichen Büchersammlungen benutzen können; sich darum zu sorgen, daß die Leser bei sich zu Hause Bücher aus öffentlichen Bibliotheken lesen können; den Stolz und den Ruhm einer öffentlichen Bibliothek nicht darin zu sehen, wieviel Seltenheiten, wieviel an irgendwelchen Ausgaben des 16. Jahrhunderts oder Handschriften des 10. Jahrhunderts sie in ihrem Besitze hat, sondern darin, w i e w e i t die Bücher i n s V o l k dringen, wieviel neue Leser herangezogen werden, wie schnell eine beliebige Forderung nach einem Buche befriedigt wird, wieviele Bücher nach Hause ausgeliehen, wieviele Kinder ans Lesen und an die Benutzung der Bibliothek gewöhnt werden… (hervorgehoben von mir, N.K.) Sonderbare Vorurteile sind in den westlichen Staaten verbreitet, und man kann nicht anders als sich freuen, daß unsere fürsorgliche Obrigkeit uns liebevoll vor dem Einfluss dieser Vorurteile bewahrt, daß sie unsere reichen öffentlichen Bibliotheken vor der Straße, vor dem Pöbel hütet!“ [43]

Interessanter als das Zitat selber ist die Einordnung des Textes, die Krupskaja in einer Fußnote vornimmt:

„[…] zeigte Wladimir Iljitsch, welche enge Verbindung zwischen der Gesellschaftsordnung und der Kultur besteht, und in einer Reihe von Artikeln stellte er die Kultur Amerikas, das nach dem Bürgerkrieg während des Kampfes gegen die Sklaverei, gewaltige Fortschritte an der kulturellen Front machte, der Kultur des zaristischen Rußland gegenüber. Er hat diese Gegenüberstellung auch auf dem Gebiet des Bibliothekswesens durchgeführt und dabei gezeigt, was man für die Volksbildung tun kann, was man tun muß und was unter dem Zarismus nicht getan werden kann.“ [44]

Die Geschichte ist bei Krupskaja eine beständige Bewegung vom Schlechteren zum Besseren und geht, wie schon gesagt, über die Feudalgesellschaft (Zarismus) und die bürgerliche Klassengesellschaft („Amerika“) zur Diktatur des Proletariats und dann zum Kommunismus. Das bezieht sich auf alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche und alle diese Bereiche beziehen sich auf diese Entwicklung. So lässt sich für Krupskaja auch dieser Artikel und der positive Bezug Lenins auf die USA einordnen. Dies ist auch kein Trick, um den Text an der Zensur, die unter Stalin auch Krupskaja und Texte von Lenin traf, vorbei zu schmuggeln. Es ist eine der wichtigsten Überzeugungen Krupskajas im Bezug auf das Bibliothekswesen, dass dieses direkt mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sei. Deshalb muss das sozialistische Bibliothekssystem auch besser sein als das bürgerliche; so wie das bürgerliche Bibliothekssystem besser ist als das feudale und so, wie die proletarische Gesellschaft besser ist als die bürgerliche. Dies funktioniert für Krupskaja, indem man die Vorteile der „bürgerlichen“ Bibliothekssysteme mit den spezifisch sozialistischen Werkzeugen und Zielen verbindet. [45]

Leitlinien für das Bibliothekswesen

„Das Bibliothekswesen im Lande der Sowjets muß so aufgebaut werden, daß ein dichtes Netz von Bibliotheken verschiedenen Typs die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme zur richtigen Zeit mit dem notwendigen Buch versorgt, das immer mehr anwachsende Verlangen der Massen nach Wissen befriedigt, ihren Horizont erweitert und ihren Bedürfnissen entspricht – das ist das Vermächtnis Lenins.“ [Krupkaja (1956), S. 61]

Nach einem Artikel in Der Bibliothekar 1969, der Krupskaja sehr klar als Vorreiterin des Bibliothekswesens in der Sowjetunion und über Umwege auch in der DDR in Erinnerung brachte, [46] arbeitete Irmgard Dreßler in einer 1975 veröffentlichten Broschüre Krupskajas Aussagen zur Ausbildung des bibliothekarischen Personals auf. [47] Beide Texte müssen wohl gemeinsam betrachtet werden, da die Broschüre den Faden aus dem Artikel, auf den sie auch berechtigt verweist, wieder aufgreift.
Dreßler stellt die wichtigsten Leitlinien Krupskajas im Bezug auf das Bibiothekswesen dar, die allerdings kritisch gelesen werden müssen, was mit Hilfe der Arbeit von Boris Raymond zu „Krupskaia and Soviet Russian Librarianship“ auch gut zu realisieren ist. [48]

Das Bibliothekswesen muss zentral organisiert sein und theoretisch müssen alle Bibliotheken für alle offen stehen.
Krupskaja war selbstverständlich davon überzeugt, dass das Bibliothekswesen genauso geplant und gesteuert werden müsse, wie alle anderen Institutionen der Gesellschaft, um sinnvoll und effektiv zu sein. Sie war eine Vertreterin der Planwirtschaft, alles andere wäre inkonsequent gewesen. Diese angestrebte Zentralisierung und Planung hatte allerdings interessante Effekte: Bibliotheken erhielten einen breiten Rahmen, an den sie sich in ihrer Arbeit zu halten hatten, auf den sie sich aber auch beziehen konnten. Sie erhielten klarer definierte Aufgabenbereiche und konnten sich auch auf die Aufgabe beziehen, die Versorgung der Bevölkerung mit bibliothekarischen Dienstleistungen sehr engmaschig gewährleisten zu müssen. Die bibliothekarischen Dienste konnten untereinander und mit anderen Institutionen anders verzahnt werden. Dazu kamen den Bibliotheken auch solche Dokumente wie das Dekret „Über die Zentralisierung des Bibliothekswesens der RSFSR“, welches 1920 vom Rat der Volkskommissare (d.h. der Regierung) zugute, welches Krupskaja offenbar angestoßen hatte.
Gleichzeitig wurde die Bibliothekswissenschaft schneller in die Verantwortung genommen, zur gesellschaftlichen Nützlichkeit von Bibliotheken zu forschen, beispielsweise dazu, wie Bibliotheksnetze zu organisieren seien oder wie die Leseinteressen von Leserinnen und Lesern gesteuert werden könnten. Gleichzeitig wollte Krupskaja die Trennung von Öffentlichen Bibliotheken und Wissenschaftlichen Bibliotheken in gewisser Weise aufheben. Für sie galt, dass Wissenschaftliche Bibliotheken ebenso zugänglich zu sein hätte, wie Öffentliche Bibliotheken (bzw. wie sie in der DDR-Literatur heißen: Massenbibliotheken). Weiterhin wollte sie Einschränkungen der Zugänglichkeit zu Öffentlichen Bibliotheken aufheben. Hier zeigt sich auch ihre Erfahrung des Bibliothekssystems vor der Revolution in Russland und den Bibliotheken in „bürgerlichen“ Staaten. In zaristischen Russland gab es zahlreiche Bibliotheken, die nur für Mitglieder von Vereinen und Institutionen zugänglich waren (wobei diese Mitgliedschaft oft schwierig zu erlangen und zudem teuer war). Das Öffentliche Bibliotheken in London, der Schweiz und anderswo praktisch frei zugänglich waren, galt Krupskaja als nachahmenswertes Vorbild. Allerdings gelingt ihr beides nie vollständig. Insbesondere die Gewerkschaftsbibliotheken verweigern sich diesem Ansinnen direkt und verlangen, nur für die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft zugänglich sein zu dürfen. [49]

Bibliotheken sind Einrichtungen, um das Buch unter den Massen zu verbreiten.
Für Krupskaja stand die Effektivität der Bibliotheken bei der Verbreitung von Büchern, Zeitschriften und dem Erreichen von Leserinnen und Lesern im Vordergrund. Dies waren die Werte, an denen die Leistung der Bibliotheken gemessen wurden. Insbesondere in den Jahren der großen Alphabetisierungskampagnen in der frühen Sowjetunion galten die Bibliotheken und Lesehütten – und nicht der Buchhandel – als die Einrichtungen, welche die weitflächige Verteilung von Büchern in die Bevölkerung am effektivsten organisieren könnten.

Die Bibliotheken sind explizite Bildungseinrichtungen im Gesamtsystem der Erwachsenenbildung und außerschulischen Erziehung.
Bibliotheken haben bei Krupskaja einen expliziten Bildungsauftrag. [50] Andere Funktionen von Bibliotheken werden von ihr kaum erwähnt. Dabei wird bei Krupskaja nicht einfach Bildung vermittelt, sondern der Bildungsauftrag auf zwei Ziele – deren Verhältnis zueinander sich mit der Zeit wandelt – ausgerichtet: erstens Menschen zu Sozialistinnen und Sozialisten erziehen und zweitens den Auf- und Umbau der Wirtschaft und Landwirtschaft in der Sowjetunion unterstützen. Man darf sich das nicht als nebenher laufende Aufgabenbereiche vorstellen. Vielmehr wurde ganz ungeniert davon geredet, die Leseinteressen der Nutzenden durch das bibliothekarische Personal zu lenken. Es wurden beispielsweise Karteien angelegt und die Methodik dafür diskutiert, in der die entliehenen Bücher der einzelnen Nutzenden verzeichnet wurden, um deren Lese- und Lernweg nachzuvollziehen und anzuleiten. [51] Bibliotheken hatten auch die Aufgabe, Veranstaltungen zu organisieren, auf denen beispielsweise die Beschlüsse der Bolschewistischen Partei diskutiert und erklärt werden sollten (wobei klar ist, dass diskutieren hieß, dass am Ende alle – quasi aus eigener Einsicht – den Beschlüssen zustimmen sollten). Gerade im ländlichen Raum wurden in der frühen Sowjetunion bzw. Sowjetrussland tatsächlich ein regelmäßiges Vorlesen aus Zeitungen organisiert, um die politische Bildung zu steuern. Gleichzeitig standen die Bibliotheken nicht alleine, sondern bildeten einen expliziten Bestandteil eines geplanten Bildungssystems. Das ist auch ein Grund, warum die Zusammenarbeit mit anderen Bildungseinrichtungen einfacher und methodischer möglich war, als diese heute zu sein scheint. Erkauft wurde dies selbstverständlich mit einer relativen Unflexibilität aller beteiligten Einrichtungen.

Dorfbibliotheken und Lesehütten auf dem Dorf sind die wichtigsten Organisationen bei der Verbreitung des Sozialismus auf dem Lande.
Krupskaja richtete das Augenmerk immer wieder explizit auf die Situation der Bibliotheken im ländlichen Raum. Dieses Thema war für sie elementar. Grundsätzlich wollte sie ein Bibliotheksnetz, welches alle Menschen erreichen sollte, nicht nur die Stadtbevölkerung. Da die Befreiung der Menschen für Krupskaja nur geschehen konnte, wenn sich die Menschen zu Sozialistinnen und Sozialisten bildeten, mussten ganz folgerichtig auch alle Menschen erreicht werden. Angesichts dessen, dass es bis zur Revolution fast keine Bibliotheken im ländlichen Raum in Russland gegeben hatte, war dies eine grundlegende Entscheidung. Zu den ersten Aufgaben dieser neuen Bibliotheken gehörte die Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung. [52] Dazu zählte auch die Organisierung von Lesehütten, Einrichtungen mit einem sehr kleinen Buchbestand, die vor allem politische Aufklärungsarbeit (also Propaganda) auf dem Land betreiben sollten. Ebenso gab es Versuche, die Krupskaja mit iniitierte – und die interessanterweise auch in der frühen DDR wiederholt wurden – bei den Maschinen-Traktoren-Stationen (Einrichtungen, aus denen landwirtschaftliche Gerätschaften ausgeliehen werden konnten), Bibliotheken einzurichten. Diese Stationen stellten oft die ersten staatlichen Einrichtungen dar, die in den Dörfern eingerichtet wurden. Sie sollten der Bevölkerung auf dem Land zugute kommen und die Landwirtschaft produktiver machen. Mit den Bibliotheken, die diesen Einrichtungen zugeordnet waren, sollte die ländliche Bevölkerung erreicht werden, so es keine Dorfbibliothek gab.

Jedes Buch, jede Publikation ist politisch und muss deshalb auch politisch bewertet werden.
Insbesondere Boris Raymond betont, dass es im Denken Krupskajas – was auch folgerichtig aus der Theorie von Basis und Überbau abgeleitet ist – nur Publikationen gibt, die aus einem spezifischen Klassenstandpunkt geschrieben sind. So etwas wie rein objektive Werke gibt es in diesem Denken nicht. Vielmehr ist die Vorstellung, dass es eine vom Klassenstandpunkt und der jeweiligen Gesellschaftsform losgelöste Literatur und Wissenschaft geben könne für Krupskaja und andere Marxistinnen und Marxisten im besten Falle eine Selbstverblendung der Autorinnen und Autoren, im schlimmsten Falle eine bewusste Lüge. Texte, die angeblich rein objektiv wären, gelten Krupskaja (zumeist) als solche, die das Vorhandensein von Klassen und Klassenkampf als weltgeschichtlicher Bewegung leugnen würden. Das mag eine große Vereinfachung darstellen – und insbesondere die Avantgarde in der Literatur in der Sowjetunion und der DDR hat dieser Position ja auch implizit und explizit späterhin widersprochen –, aber es ist eine relevante Grundlage des Denkens Krupskajas.
Dabei darf man diese Position auch nicht vereinfachen: Die Erfahrung Krupskajas aus den Bibliotheken im Zarenreich waren genau die, dass die meisten Bibliotheken von der Kirche und staatlichen Organen unterhalten wurden und dann explizit einen Bestand enthielten, der von kirchlicher und zaristischer Literatur dominiert war. Oder aber es gab Bibliotheken, die von demokratisch gesinnten „Bürgerlichen“ eingerichtet wurden, dann aber neben freiheitlicher Literatur dennoch einen Bestand enthielten, der – so Krupskajas Interpretation – einen spezifisch bürgerlichen Fokus hatte. Die Idee, dass eine Bibliothek, deren Bestand und die einzelnen Werke als Teil des Ausdrucks spezifischer politischer Ansichten zu werten wäre, war also nicht einfach von der Hand zu weisen.
Gleichwohl ist auffällig, dass Krupskaja diese Meinung auch beibehält, als sie (und Lenin) in Bibliotheken in der Schweiz und anderen demokratischen Ländern arbeiten. So sehr sie diese für ihre Effizienz und Ausrichtung auf die Interessen der Leserinnen und Leser lobten, die Bibliotheken galten ihnen dennoch als Einrichtungen, welche in letzter Konsequenz auf die Reproduktion der bürgerlichen Klassengesellschaft abzielen würden. Dies hatte Konsequenzen für die Bibliotheken in der Sowjetunion. Erstens wurden Bibliotheken dazu angehalten, Bücher explizit zu bewerten und zwar nicht nach literarischer Qualität, sondern hinsichtlich ihres „Klassencharakters“. Zweitens sollten sie in Bestand und Arbeit darauf achten, dass sie dazu beitrugen, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen und sozialistische Menschen zu erziehen.
Da Krupskaja bei aller „Volksnähe“ doch davon ausging, dass nicht alle Menschen das eigentlich notwendige Klassenbewusstsein schon erreicht hätten, initiierte sie um 1923 eine Differenzierung der Bibliotheken in

  • a) solche, die nur zuvor geprüfte Medien zur Verfügung stellten und somit auch für die ideologisch (noch) nicht gefestigten Massen zugänglich waren,
  • b) solche, bei denen der Zugang zu den Einrichtungen stärker kontrolliert wurde, dafür aber die Bestände nicht ganz so stark und
  • c) Forschungsbibliotheken, zu denen der Zugang vollständig kontrolliert wurde und quasi nur ideologisch gefestigten Personen zugänglich war (meist durch
    Parteizugehörigkeit ausgedrückt), dafür aber die Bestände praktisch universal waren. [53]

Während die Zugänglichkeit zu den Bibliotheken aufgrund des Standes bzw. der Klasse abgeschafft wurde, wurde also eine neue Differenzierung eingeführt, die sich an der „ideologischen Festigkeit“ einer Person, also praktisch deren Grad der Unterwerfung unter den Parteiwillen der KPdSU (B), orientierte. In gewisser Weise war es die Überzeugung Krupskajas, dass schlussendlich einmal alle Menschen ideologisch gefestigt sein würden, um alle Bücher selbstständig bewerten zu können. Insoweit mag sie solche Regelungen als Übergangsphase betrachtet haben. Es ist aber offensichtlich, dass spätestens bei einer solchen Einteilung eine anti-demokratische Form der Bibliotheksarbeit etabliert wurde, genauer: eine explizite Zensur eingeführt wurde.
Wieder kann man mehrere Gründe dafür finden, warum Krupskaja dies als sinnvoll, gerechtfertigt und vor allem gegenüber den bürgerlichen Bibliothekssystemen fortschrittlicher ansah. Im Endeffekt ersetzte aber eine Form der (praktischen) Zensur von Bibliotheken die vorhergehende Form der Zensur, wie sie im Zarenreich umgesetzt wurden.
Unter Krupskaja etablierte sich in der Bibliotheksverwaltung auch die Praxis, Titellisten für Bibliotheken herauszugeben. Diese wurden quasi als Standardbestand für bestimmte Bereiche verstanden, welche in allen Bibliotheken vorhanden sein sollten. Formal waren es Vorschlagslisten für den Bestand, die von der Verwaltung herausgegeben wurden, praktisch wurde erwartet, dass beispielsweise alle Schulbibliotheken die Publikationen anschafften, die in den Titellisten für Schulbibliotheken standen. Selbstverständlich wurde so direkt ein staatlicher Einfluss auf die Ausrichtung des Bestandes der Bibliotheken genommen, da quasi mit der Auswahl der Titel auch eine Richtung für den weiteren Bestandsaufbau vorgegeben war. [54] Die Anzahl der Titellisten scheint mit der Zeit gewachsen zu sein.

Der Bibliothekar und die Bibliothekarin sind verantwortlich für die bibliothekarische Arbeit und die Umsetzung des Bildungsauftrags, deshalb muss auch auf die bibliothekarische Ausbildung Wert gelegt werden.
Es gab für Krupskajas Pläne, ein weitflächiges Bibliothekssystem aufzubauen ihre gesamte Lebenszeit über das Problem, dass nicht annähernd genügend ausgebildete Bibliothekarinnen und Bibliothekare vorhanden waren, um diese Bibliotheken überhaupt zu bestücken. Die wenigen, die es gab, waren zudem kaum dazu zu bewegen in den von Krupskaja als besonders wichtig angesehenen Bibliotheken im ländlichen Raum zu arbeiten. Insoweit mahnte Krupskaja sehr folgerichtig den Aufbau von Ausbildungseinrichtungen (ob nun Kursen an Universitäten oder andere Lösungen) an. Gleichzeitig galt ihr das Bibliothekspersonal als der Schlüssel zur erfolgreichen bibliothekarischen Arbeit. Dreßler fasst die Anforderungen Krupskajas an das bibliothekarische Personal sechs Punkten zusammen: [55]

  • Der Bibliothekar / die Bibliothekarin muss praktisch Teil der Umgebung werden (beispielsweise auf dem Dorf und der Kolchose / Sowchose), um die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser zu erkennen und an diesen anzuschließen.
  • „Der Bibliothekar muß sich aktiv und in enger Verbindung mit dem Volke für den Aufbau des Sozialismus einsetzen.“ [56] Es ging also immer darum, dass das bibliothekarische Personal sich aktiv für die Gestaltung der Gesellschaft hin zu einer sozialistischen einsetzen musste. Nicht Berufsethos, Humanität oder andere Ziele sollten – obgleich sie nicht abgelehnt wurden – das Hauptziel bibliothekarischer Arbeit darstellen, sondern der Umbau der Gesellschaft.
  • „Der Bibliothekar muß vielseitig gebildet sein.“ [57]
  • „Der Bibliothekar muß über pädagogische Meisterschaft verfügen.“ [58] Da Krupskaja die Bibliothek als Einrichtung mit einem klaren Bildungsauftrag verstand, setzte sie folgerichtig voraus, dass bei der bibliothekarischen Arbeit pädagogische und didaktische Fähigkeiten benötigt würden. Diese müssten in der Ausbildung vermittelt werden.
  • „Der Bibliothekar muß über eine umfassende bibliothekarische Fachbildung verfügen, zu der auch die technische Seite der Bibliotheksarbeit gehört.“ [59]
  • „Der Bibliothekar muß seinen Beruf lieben, er muß ein Enthusiast des Bibliothekswesens sein.“ [60]

Krupskaja wandte sich mehrfach dagegen, die Bibliothek als einen Ort anzusehen, der quasi von allen Menschen geleitet werden könnte. Zwar setzte sie lange darauf, dass sich die Massen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, auch selbstständig Bildungswege organisieren würden, [61] aber dennoch betrachtet sie die Bibliothek in längerfristiger Hinsicht als zu elementar für die Selbstbildung der Massen, als das sie einfach jemand überlassen werden könnte, der oder die anderweitig vielleicht nicht arbeiten könnte. Sie beklagte mehrfach, dass die Arbeit in Bibliotheken unterbezahlt wäre und insbesondere die Menschen mit einer Ausbildung, wie sie diese skizzierte, deshalb nicht für die Arbeit in Bibliotheken gewonnen werden könnten.

Alle Kinder müssen von der Bibliothek erreicht werden.
Krupskaja legte Wert darauf, dass Bibliotheken anstreben müssten, ohne Ausnahme alle Kinder zu erreichen. Dazu initiierte sie mehrere Projekte, publizierte zu dieser Frage und legte damit die Grundlage für die bibliothekarische Arbeit mit Kindern, die in den Bibliotheken in der Sowjetunion und später der DDR sehr intensiv betrieben wurde. Die Erfolge auf diesem Gebiet müssen auch heute noch, wieder ungeachtet alle politischen Vorbehalte, Respekt verdienen. In einem Land, in welchem es bis zur Revolution fast überhaupt keine Öffentlichen Bibliotheken gab, wurde innerhalb weniger Jahre nicht nur Bibliotheken, sondern ganz die explizite Sparte der Kinderbibliotheken beziehungsweise Kinder- und Jugendbibliotheken begründet, die teilweise als Teil von Öffentlichen Bibliotheken, teilweise als eigenständige Einrichtungen funktionierten. Selbstverständlich wurde dabei auf die Arbeit einiger „bürgerlicher“ Bibliothekssysteme zurückgegriffen – weiter oben wurde schon Lenin zitiert, der für die New York Public Library deren Arbeit für Kinder herausstellte –, aber dennoch ist die Intensität, mit welcher auf Kinder und Jugendliche eingegangen sowie diese Arbeit dann später explizit finanziert wurde, bemerkenswert.
Dennoch: auch diese Konzentration hatte einen guten Grund. Kinder sollten nicht nur möglichst früh lesen lernen, sie sollten damit auch möglichst früh in die Lage versetzt werden, sich zu bilden und dann zum Sozialismus zu bekennen. [62] (Das ist die nettere Formulierung, die aber dem Denken Krupskajas auch näher kommt. Man könnte selbstverständlich auch sagen, dass alle Kinder möglichst früh indoktriniert werden sollten.)
Dafür versucht Krupskaja auch, Kinder und Jugendliche – insbesondere im Komsomol – für die Bibliotheken in die Pflicht zu nehmen. So forderte sie beispielsweise mehrfach die Gründung von Gruppen „Freunde der Bibliothek“ ein, deren Aufgabe sie wie folgt skizzierte:

„Was müssen die ‚Jungen Freunde der Bibliothek‘ tun? Vor allem müssen sie die neuen Leser der Bibliothek unter ihre Obhut nehmen. Sie müssen ihnen erklären, wieviel Arbeit, Mühe und Nachdenken in jedem Buch stecken. Über die interessantesten Bibliotheksbücher müssen sie mit ihnen sprechen. Sie müssen ihnen sagen, daß man ein Bibliotheksbuch schonen und rechtzeitig zurückgeben muß, und darauf achten, daß auch die neuen Leser diese Regeln einhalten.“ [63]

Der Fokus auf diese Aufgabe führte auch dazu, dass Krupskaja selber einen Plan für die – wie wir heute sagen würden – Bibliothekseinführung für Schülerinnen und Schüler veröffentlichte. Der Text dazu hieß tatsächlich „Bibliotheksunterricht“ und beschrieb kurz eine didaktische Planung mit dem Ziel der Bibliotheksnutzung. [64] Auch dieser ließt sich zwar in der Terminologie, aber nicht im Inhalt, viel anders als heute:

Erste Stunde: Bibliotheken als gesellschaftliches Eigentum (warum die Sowjetmacht sie unterhält und wie man sich deshalb in ihnen verhält) [Das ist allerdings ein Thema – auch wenn man statt Sowjetmacht den demokratischen Staat einsetzt –, welches heute wenig besprochen wird.]
Zweite Stunde: Aufgaben des Bibliothekars, der Bibliothekarin (Um die Wertschätzung für deren Arbeit zu fördern.)
Dritte Stunde: „Bekanntmachung mit dem Buch.“
Vierte Stunde: „Der Lesesaal. Die Lesesaalordnung.“
Fünfte Stunde: „Auswahl der Bücher“
Sechste Stunde: „Das Buch über Bücher“ (Kataloge, Rezensionen etc.)
Siebente Stunde: „Nachschlagewerke“
Achte – Zehnte Stunde: „Wie man liest“

Die Bibliothek als Waffe der Revolution (Fazit)
Krupskajas Vorstellung davon, was Bibliotheken sein und wie sie funktionieren sollten, waren geprägt (1) von ihren Erfahrungen mit dem immensen Unterschied zwischen den Bibliotheken im russischen Zarenreich und den Bibliotheken in den demokratischen Staaten, (2) von ihrer Überzeugung, dass der Marxismus eine Wissenschaft von der Befreiung der Menschheit sei, dem sie und der Rest der Gesellschaft zu folgen hätte, (3) der Aufgabe von Bildungseinrichtungen im Rahmen des gesellschaftlichen Prozesses hin zum Kommunismus, den sie meinte, mit Marx und Engels (und später Lenin) verstanden zu haben, (4) von der Überzeugung, dass Bibliotheken der effektivste und wirksamste Weg wären, den Massen Bildung, welche zum Sozialismus und dann Kommunismus führen würde, zur Verfügung zu stellen. Die Bibliotheken waren für sie also eine Waffe im Klassenkampf die von der jeweiligen herrschenden Klasse auch benutzt wurden, aber gleichzeitig immer auch von den jeweils unterdrückten Klassen für ihre Position im Klassenkampf benutzt werden konnten. Das also – in der marxistischen Terminologie – bürgerlich (demokratische) Kräfte sich im feudalen Russland für öffentlich zugängliche Bibliotheken einsetzten, war für Krupskaja auch ein Ausdruck des Klassenkampfes zwischen feudaler Klasse und Bourgeoisie. Ebenso war es für sie selbstverständlich, dass die bürgerlichen Gesellschaften auch bessere Bibliotheken hatten als die feudalen, die sie deshalb auch oft für ihre Arbeit lobte. Und letztlich ist es für sie konsequent, dass die Bibliotheken auch in der Diktatur des Proletariats als Einrichtungen im Klassenkampf eingesetzt werden müssen.
Ausgehend von diesen Überlegungen – die Krupskaja auch auf andere Bereiche des Bildungswesens anwandte – begründete sie Strukturen eines Bibliothekswesens, dass in seinen Ergebnissen tatsächlich erstaunlich war, aber eben auch nicht demokratisierend (zumindest nicht in der Intention). All die Vernetzung, Aufbauarbeit, Orientierung auf Kinder und auf Nutzerinnen und Nutzer im Allgemeinen hatte einen Grund: es ging um die Erziehung von Sozialistinnen und Sozialisten, und letztlich um den Kommunismus. Durch ihre Position im Volkskommissariat für Bildungswesen und ihre erstaunliche produktive Publizität konnte sie zumindest Leitlinien für das Bibliothekswesen durchsetzen, die auch die explizit stalinistische Phase der Sowjetunion überlebten und späterhin verstärkt aufgenommen wurden. Diese Leitlinien prägten über das Vorbild Sowjetunion auch den Aufbau des Bibliothekswesens in der DDR.
Peter Vodosek besprach 1972 in der BuB ein weiteres Buch mit Texten von Lenin zum Bibliothekswesen – wobei er auch auf Krupskajas Sammlung zurück verwies – und traf folgende Aussage:

„Angesichts der Bedeutung, die das Bibliothekswesen der sozialistischen Länder in der Welt hat, angesichts der Tatsache, daß die theoretische Begründung der gesamten bibliothekarischen Tätigkeiten in diesen Ländern auf die Leninschen Prinzipien der Bibliotheksarbeit zurückgeführt wird und schließlich angesichts der Diskussion, die bei uns über die gesellschaftliche Aufgabe der Bibliotheken geführt wird, sollte jeder Bibliothekar (und der es werden will), dieses Buch lesen; Bibliothekare, die Lenins Thesen ablehnen ebenso wie solche, die sie gerne in den Mund nehmen. Denn ‚Lenin zitieren heißt den ganzen Lenin zitieren‘.“ [Vodosek (1972) S. 983]

Wir können hier für Lenin ruhig Krupskaja und für „dieses Buch“ die Texte von Krupskaja einsetzen. Praktisch ist das, was Lenin über Bibliotheken sagte auch das, was Krupskaja über Bibliotheken sagte, nur nicht so ausdifferenziert und auf die Praxis orientiert. Aber der Hinweis ist immer noch der richtige: Wer immer sich auf das Bibliothekswesen in der Sowjetunion, der DDR oder den anderen Staaten des Ostblocks beziehen will – egal ob im positiven oder im negativen Sinne –, kann von Krupskaja nicht schweigen. Ohne Krupskaja hätte es diese Bibliothekssysteme wohl nicht gegeben. Man kann Krupskaja aber nicht ohne ihre Überzeugungen vom Marxismus und der Notwendigkeit von Parteilichkeit denken. Insoweit kann man diese Bibliothekssysteme auch nicht ohne ihre Funktion als Teil eines expliziten sozialistischen Bildungssystems verstehen.

Nachschrift: Nadeshda Krupskaja, eine emanzipierte Frau

„Alles Geschwätz darüber, daß die Frau ‚von Natur aus‘ zur Führung des Haushalts ‚vorherbestimmt‘ sei, ist ebenso sinnlos wie seinerzeit das Gerede der Sklavenhalter, daß die Sklaven ‚von Natur aus vorherbestimmt‘ seien, Sklaven zu sein.“ [Krupskaja (1955), 31: „Sollen Jungen in ‚Weiberarbeit‘ unterrichtet werden?“ (29-32)]

Krupskaja gehört nicht nur in die Ahnenreihe des Bibliothekswesens, sie gehört auch in der Riege der Frauen, die selbstbewusst Geschichte gemacht haben. Vielleicht wurde in diesem Text nicht richtig klar, welche Ausnahmestellung Krupskaja in ihrer Zeit einnahm. Aber wir reden von einer Frau, die von 1869 bis 1939 lebte, einer Zeit, in der die erste Frauenbewegung sich formierte und noch radikal dafür eintreten musste, dass Wahlrecht für Frauen zu erkämpfen.
Krupskaja war als Revolutionärin selbstverständlich mit der Frauenbewegung, zumindest dem proletarischen Zweig, nicht nur bekannt, sondern engagierte sich auch publizistisch und anders in dieser, obgleich dies für sie nicht den Hauptkampfplatz darstellte. (Aber es zeichnete die proletarische Frauenbewegung an sich gegenüber der bürgerlichen aus, dass sie darauf beharte, die „Frauenfrage“ mit der sozialen Revolution zu verbinden.) Nicht nur widmete Krupskaja ihre erste eigenständige Veröffentlichung dem Leben der proletarischen Frau, sie trat auch danach für die Gleichheit der Geschlechter ein. [65]
Auch ihr eigenes Leben war ein emanzipiertes in einer Zeit, in der sie zwar nicht die einzige Frau war, die so lebte – nicht umsonst wird in der Literatur mehrfach darauf verwiesen, dass sie mit Clara Zetkin bekannt gewesen wäre –, aber doch eine der wenigen. Ihr Lebensziel war nicht die Heirat, sondern die Befreiung der Menschheit. Zu ihrer Heirat musste sie offenbar erst durch äußere Umstände gezwungen werden. Der Idee, sich einer Frauenrolle zu unterwerfen, setzte sie ein aktives politisches Leben entgegen. Es ist kein Zufall, dass sie uns unter dem Namen Krupskaja bekannt ist und nicht unter ihrem Ehenamen Uljanowa (den sie in Berichten der zaristischen Polizei sehr wohl trug) oder Leninia, der ihr auch von Zeit zu Zeit angetragen wurde. Sicherlich hatte Krupskaja in vielem Unrecht, es ist ihr auch anzukreiden, dass sie sich Stalin irgendwann direkt unterworfen zu haben scheint. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Leben dieser Frau bemerkenswert war und bleibt.

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Krupskaja, N. K. (1972a). Sozialistische Pädagogik: Eine Auswahl aus Schriften, Reden und Briefen in vier Bänden besorgt von Karl-Heinz Günther, Leo Hartung und Gerhard Kittler ; Band 1. Pädagogische Bibliothek. Berlin: Volk und Wissen.  
Krupskaja, N. K. (1972b). Sozialistische Pädagogik: Eine Auswahl aus Schriften, Reden und Briefen in vier Bänden besorgt von Karl-Heinz Günther, Leo Hartung und Gerhard Kittler ; Band IV. Pädagogische Bibliothek. Berlin: Volk und Wissen.  
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Fußnoten
[1] Beispielsweise in Lachmann (2010) aber auch in genügend unpublizierten Äußerungen.
[2] Im Marxismus, zumindest dem, welchem Krupskaja folgte, galt, das es erst eine sozialistische Gesellschaft (angeführt vom Proletariat) geben müsste, aus der heraus die kommunistische Gesellschaft entstehen würde (in welcher die Klassen verschwunden wären, weil die ökonomische Grundlage der Klassenherrschaft überwunden und in welcher auch der Staat abgestorben wäre). Dieser Idee muss man nicht folgen, aber man sollte sie im Hinterkopf behalten, um Krupskajas Denken nachvollziehen zu können: Der Sozialismus galt als Übergangphase zum Kommunismus.
[3] Raymond (1979).
[4] Wenn im Folgenden von sozialistischer und kommunistischer Gesellschaft gesprochen wird, dann immer in dem Verständnis Krupskajas. Es ist selbstverständlich richtig, dass es auch immer andere Vorstellungen davon, was Sozialismus oder Kommunismus ist oder sein soll, gab und weiterhin gibt. Dem Verdikt, dass sozialistische Gesellschaften nicht auch demokratische sein können, soll hier nicht gefolgt werden. (Das muss in einer Zeit, in der ernsthaft auf ministrieller Ebene eine intellektuell dürftige Form von Totalitarismustheorie vertreten wird, in welcher praktisch Sozialismus und Faschismus gleichgesetzt sind, und gleichzeitig Vorsitzende von linken Partei als antidemokratisch angegriffen werden, nur weil sie von der Möglichkeit des Kommunismus reden [und nicht dafür, dass sie es im Bezug auf einen Kongress voller Antisemitinnen und Antisemiten tun], offenbar klargestellt werden.) Dieses Verdikt ist nicht logisch zu begründen, es ist aber auch eine Beleidigung gegenüber all den Personen, die – ob nun in anderen Strömungen der russischen Revolution, in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegungen, in Gruppen wie der Charta 77 und zahlreichen weiteren Zusammenhängen – über eine gleichzeitig demokratische und sozialistische Gesellschaft nachgedacht haben. Unbestreitbar ist allerdings, dass die Gesellschaften in der Sowjetunion und der DDR nicht demokratisch waren. Aber es soll hier auf einem klaren Unterschied zwischen der schrecklichen Realität und den grundlegenden Zielen beharrt werden.
[5] Zurecht finden sich in Beiträgen zu starken Frauen der Geschichte auch Beiträge zu Krupskaja, beispielsweise in Gretter / Putsch (2000).
[6] Für diesen Text wurde auf die Texte von und zu Krupskaja zurückgegriffen, in Berlin relativ einfach greifbar waren. Dies ist also keine vollständige Darstellung, man kann weit mehr Texte finden, welche ihre Bedeutung für das Bildungswesen in der Sowjetunion und – vermittelt – der DDR beleuchten. Außerdem – und das ist einer der großen Defizite dieses Textes – spricht der Autor kein Wort russisch und konnte deshalb auch nicht auf die Originaltexte Krupskajas, sondern nur auf die Übersetzungen zurückgreifen. Angesichts dessen, dass hingegen in der DDR-Pädagogik und der Bibliothekswesen der DDR ohne größere Probleme auf dieses Originale zurückgegriffen werden konnte, ist dies problematisch. Insoweit ist dieser Text nur eine erste Erkundung des Themas.
[7] Vgl. Krupskaja (1972a), S. 145-157: „Fünf Jahre Arbeit in den Smolenskojer Abendklassen“. Dort berichtet sie auch darüber, dass sie Bücher für ihre Schüler aus den Bibliotheken der Petersburger Innenstadt besorgt hätte sowie über eine Bibliothekarin, welche ihren Arbeitsplatz in der Smolensker Lesehalle zum Treffpunkt von sozialdemokratischen Arbeiterzirkeln umfunktionierte.
[8] Allen voran das aufgrund seiner Sprache, der Darstellung der Erlebnisse Krupskajas als Heiligengeschichten, der beständigen Überhöhung Lenins und auch der vollkommen unzureichenden Auswahl der Fakten vollkommen unlesbare Obitschkin et al. (1986).
[9] Vgl. Baumann (1974).
[10] Vgl. Krupskaja (1972a), S. 123-137: „Mein Leben“.
[11] Vgl. Baumann (1974).
[12] Das hält allerdings leninistische und trotzkistische Keinstgruppen nicht davon ab, diesen Weg – 1.) Eine kleine Gruppe gründen, welche angeblich die Theorie der Revolution beherrscht, 2.) Eine Zeitschrift gründen, die den Massen erklärt, was sie zu tun haben und gleichzeitig die Massen an die Gruppe binden soll, 3.) Wachsen und eine Partei gründen, 4.) Den Massen zeigen, wie die Revolution zu machen ist, 5.) Die Macht übernehmen und den Sozialismus aufbauen – als Taktik zu sehen, der auch heute noch gefolgt werden müsse. Dies ist auch ein Grund, warum solche Kleingruppen und politischen Sekten eigentlich alle eine oder gar mehrere Zeitschriften unterhalten, obgleich sie selber oft erstaunlich klein sind.
[13] Die unterschiedliche Benennung hat selbstverständlich damit zu tun, dass die Broschüre in russisch erschien. Bei Baumann (1974) heißt es „Die arbeitende Frau“, bei Dreßler (1969, 1975) „Die Arbeiterin“.
[14] Das es eine solche geben müsste, haben Marx und Engels als gute Hegelianer selbstverständlich angenommen und damit den radikalen Strömungen ihrer Zeit auch eine Möglichkeit gegeben, die Utopie einer klassenlosen oder auch einer machtfreien, gerechten Gesellschaft als umsetzbar anzusehen. Aber auch das setzt voraus, dass Hegel mit seiner Ideengeschichte Recht gehabt hätte. Und dies wird heute kaum noch so vertreten. Vgl. Eßbach (1988).
[15] Dieses Denken prägte weite Teile der kommunistischen und anderer radikal linker Bewegungen. In den 1983 zensiert in der DDR und dann 1997 unzensiert erschienen Memoiren von Jürgen Kuczynski, Dialog mit meinem Urenkel (Kuczynski, 1997), findet sich beispielsweise immer wieder die Formulierung, dass es für Kommunisten – und Kuczynski war ein überzeugter Kommunist – nicht die Frage ist, ob der Kommunismus einmal siegen werden würde, sondern nur wann und wie. Die DDR, aber auch zahlreiche Kommunistinnen und Kommunisten, ließen sich auch durch die Shoa nicht von diesem Fortschrittsgedanken abbringen. Anders die Frankfurter Schule. Gerade der Widerspruch der Aufklärung einerseits die einzige Möglichkeit der Menschen zur Selbstbefreiung darzustellen, andererseits immer die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei zu enthalten, die in der Shoa sichtbar wurde, war es ja, was Adorno und Horkheimer als Dialektik der Aufklärung fassten (Horkheimer & Adorno, 2001).
[16] Vgl. Lyandres (1989).
[17] Systematische Zwangskollektivierungen auf dem Land gab es, im Gegensatz zu manchen Vorstellungen von der frühen Sowjetunion, eigentlich erst nach dem Tode Lenins. Zuvor gab es zwar Kolchosen und Sowchosen, aber in gewisser Weise auch die Vorstellung, dass diese durch ihre wirtschaftliche Überlegenheit die restlichen Bauern dazu bringen würden, über kurz oder lang freiwillig den Kollektivformen freiwillig beizutreten. In Makarenkos „Ein pädagogisches Poem“ (1933-35 veröffentlicht) findet sich diese Überzeugung noch ganz explizit in einer Geschichte, in welcher dessen Gorki-Kolonie eine junge Frau, die bis dato Mitglied der Kolonie war, auch deshalb mit einem großzügigen Brautgeschenk bedenkt, um den umliegenden Bauern klar zu machen, dass eine agronomisch geplante und kollektiv betriebene Landwirtschaft produktiv genug ist, um Brautgeschenke zu produzieren, die vom Wert her weit über die üblichen Brautgeschenke hinausgehen. (Makarenko (1988)
[18] Krupskaja (1955), Seite 371-384: Der Beschluß des ZK der KPdSU (B) ‚Über die Organisation der Parteipropaganda im Zusammenhang mit dem Erscheinen des >kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU (B)< ' und unsere Aufgaben“ [1939].
[19] Baumann (1974) verweist zum Beispiel darauf, dass in der Privatbibliothek in der Wohnung Lenins und Krupskajas im Kreml nach dem Tod Krupskajas mehrere tausend pädagogische Werke zu finden waren, die wohl größtenteils von Krupskaja – die allerdings ebenso wie Lenin auch andere Bibliotheken nutzte – angeschafft wurden.
[20] Vgl. Dreßler (1969, 1975), Baumann (1974), Raymond (1979).
[21] Vgl. Baumann (1974).
[22] Gerade an diesem Widerspruch zwischen emanzipatorischen Anspruch und totalitärer Realität linker Bewegungen setzte ja die eigentliche Totalitarismustheorie an und eben nicht, wie Bundesministerin Schröder oder andere Vertreterinnen und Vertreter der heutigen Totalitarismustheorie behauptet, bei einer Gleichsetzung von rechten und linken Bewegungen. Vgl. Schwan (2011).
[23] Vgl. Krupskaja (1971b), S. 13-19: „Die gesellschaftliche Erziehung“ [1923]. Es gab selbstverständlich immer wieder die paternalistische Ausflucht, darauf zu verweisen, dass die Massen insbesondere in Russland vor der Revolution kaum auch nur eine Grundbildung erhielten und deshalb zumindest für eine Übergangzeit geführt, quasi zu ihrem Glück gezwungen werden müssten.
[24] Baumann (1974) ergänzt als Grundprinzipien Krupskajas im Bezug auf eine kommunistische Moral, zu der eine kommunistische Schule zu erziehen hätte folgende sechs: (1) „Die Erziehung zu kommunistischer Moral und Atheismus“ [ebenda, S. 140], (2) „Die Kollektiverziehung“ [ebenda, S. 143], (3) „Die Erziehung zum proletarischen Internationalismus“ [ebenda, S. 147], (4) „Die militärische Erziehung“ [ebenda, S. 148] (Allerdings der Notwendigkeit der Landesverteidigung untergeordnet, nicht als Ziel in einer zukünftigen, weltweiten kommunistischen Gesellschaft), (5) „ Die Körpererziehung“ [ebenda, S. 149] (Sowohl als Teil der Gesundheits- als auch der Kollektiverziehung), „Die künstlerisch-ästhetische Erziehung“ [ebenda, S. 150].
[25] Vgl. insbesondere die Auszüge aus „Volksbildung und Demokratie“, die in Krupskaja (1955), S. 44-89 und in Krupskaja (1972a), S. 239-338 veröffentlicht sind. Siehe auch die Ausführungen zur Haltung Krupskajas zur Frage des potentiellen Absterbens der Schule, die in Baumann (1974), Seite 163-168 dargelegt werden. Diese Debatte, die schließlich einfach mit einem Beschluss des von Stalin geleiteten ZK abgebrochen wurde, stellte die interessante Frage, ob nicht in einer Gesellschaft, in welcher der Staat absterben soll, auch die Schule absterben bzw. transformiert werden müsse.
[26] Bemerkenswert hier Krupskajas klare Haltung zur Behandlung von Kindern unterschiedlicher Schichten in Krupskaja (1971a), S. 104-108: „Der Klassenkampf in den Bildungseinrichtungen“: „[…] Immer wieder werden in der Schule Kinder dieser Personen [„denen die Bürgerrechte aberkannt wurden“, hier eine Umschreibung für politische Gefangene, K.S.] oder Popenkinder verfolgt – kleine Kinder! Das ist ja auch viel einfacher als der Kampf gegen Erwachsene! Wenn ein Ausflug gemacht wird, nimmt man sie nicht mit: ‚Dein Großvater ist ein Pope; die andern werden einen Ausflug machen, aber du bleibst hier.‘ Oder in den oberen Klassen: ‚Du bist die Tochter eines Mannes, dem die Bürgerrechte genommen wurden. Was kümmert es uns, daß du eine gute Schülerin bist, daß du ein prächtiger Kamerad bist, daß du gesellschaftliche Arbeit leistet [sic!], daß du geschickte Hände, ein glühendes Herz, vielseitige Initiative und einen festen Willen hast … was geht es uns an, daß du in einem Jahr die Schule beendest und dem Land von großem Nutzen sein kannst … du bist die Tochter eines Mannes ohne Bürgerrechte – scher dich aus der Schule!‘
Das Programm der Partei sagt, daß die Schule alle Kind in kommunistischem Geist umerziehen, auf sie einwirken, sie für den Aufbau des Sozialismus gewinnen muß. […]
In der Regel sind die Schulen, die nicht schnell genug mit den Kindern wegen ihrer Herkunft abrechnen können, gerade solche Schulen, in denen noch der alte Geist herrscht; die Ideen der sowjetischen Schule sind dort am allerwenigsten eingedrungen, dort herrschen bürgerliche Erziehungsmethoden, besteht nicht die geringste Verbindung mit dem Leben, denken die Schulleiter am allerwenigsten daran, in den Kindern den Grundstein einer kommunistischen Erziehung zu legen.“ (Krupskaja (1971a), S. 105f.)
Alle Kinder sollen nach Krupskaja gleich behandelt werden, aber nicht zwecklos weil sie Kinder wären (Krupskaja warf der Position von Ellen Key gerade vor, Kindern ohne jeden gesellschaftlichen Bezug zu verstehen), sondern weil sie als nächste Generation den Kommunismus aufbauen sollten. Der Humanismus Krupskajas ist immer auch an die Idee des Kommunismus als (relativ nahes) Fernziel gebunden.
[27] Als Fußnote soll angemerkt werden, dass Trotzki an der Macht tatsächlich auch eine interessante Konstellation ergeben hätte, da die Sowjetunion dann noch weit mehr zum Feindbild des Antisemitismus geworden wäre. Trotzki selber war durch und durch Atheist und Revolutionär, aber das interessiert den Antisemitismus nicht: die Herkunft Trotzkis aus einer jüdischen Familie hätte zu einem anderen, noch radikaleren Verhalten antisemitischer Bewegungen geführt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso zu einer anderen Auseinandersetzung linker Bewegungen mit diesem Denken geführt hätte. Bekanntlich lehnten linke Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, unter ihnen die Bolschewiki, den Antisemitismus als eines der Vorurteile gegenüber Minderheiten ab, beschäftigte sich aber kaum damit, dass gerade der Antisemitismus auf Vernichtung von Menschen abzielt und nicht „nur“ auf die Unterdrückung und Assimilation.
[28] Baumann (1974), S. 46.
[29] Vgl. Krupskaja (1972b), S. 142-144: „Was die Leninecken sein sollen“. In diesem Text ist zu bemerken, wie sehr Krupskaja noch versucht, die „Heiligsprechung“ Lenins abzumildern und gleichzeitig genau zu dieser „Heiligsprechung“ beiträgt: „[…] Sie [Die Leninecken, K.S.] sollen nicht bezwecken, Lenins Namen zu verherrlichen, vielmehr sollen sie die Volksmassen mit seinen Anschauungen vertraut machen.
Die Leninecken sollen unbedingt mit kleinen Bibliotheken ausgestattet sein, die möglichst viele Werke Wladimir Iljitschs in solchen Ausgaben enthalten, die für die Verbreitung besonders geeignet sind: zu einzelnen Problemen ausgewählte Artikel und Reden – sowie Werke anderer Autoren, die eine Zusammenfassung der Anschauungen Wladimir Iljitschs über diese oder jene Frage bringen und gewissermaßen Empfehlungen und Anweisungen für die Lektüre der Artikel Wladimir Iljitschs geben. […]
In der Ecke müssen unbedingt Listen mit den Artikeln und Reden Wladimir Iljitschs über einzelne Fragen aushängen – wenn möglich mit einer kurzen Darlegung ihrer Hauptgedanken und mit Zitaten. Diese Listen können sich auf mit Abbildungen versehenen Plakaten befinden. […]
Von den Bildern Wladimir Iljitschs werden am besten solche ausgewählt, die ihn bei irgendeiner Tätigkeit darstellen: wie er die ‚Prawda‘ liest, eine Rede hält, Notizen macht oder einem Redner zuhört. […]
Bilder wie das nichtssagende Bild ‚Iljitsch beim Schachspiel‘ oder ‚Die Sozialrevolutionärin, die den Schuß auf Iljitsch abgibt‘ dürfen auf keinen Fall in den Leninecken aufgehängt werden.“ (Krupskaja (1972b), S. 143f.).
[30] Krupskaja starb genau einen Tag nach ihrem 70. Geburtstag, was – immerhin geht es um Stalin, dem Morde nicht nur zuzutrauen waren – zu Verschwörungstheorien um ihren Tod führte. Baumann (1974) trug allerdings auch hier mehrere Indizien zusammen, warum die chronisch überarbeitete Krupskaja mit hoher Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes gestorben ist.
[31] Vgl. Hillig (1993), der eine Debatte aus den 1960er Jahren rezipiert, bei der Oskar Antweiler (Lüneburg / Bochum) auf einem bemerkenswerten Effekt dieses „Streichens“ von Personen im Stalinsmus und des anschließenden weiteren Verschweigens in der Sowjetunion (und auch der DDR) aufmerksam machte: die wenigen Pädagoginnen und Pädagogen, die noch übrig geblieben waren, wurden nicht nur in ihrer Wirkung vollkommen überzeichnet. Es war auch nicht wirklich zu erklären, warum die wenigen Personen, die ja eigentlich gemeinsam eine an sich widerspruchslose sowjetische Pädagogik aufgebaut haben sollten, sich quasi nicht aufeinander bezogen. Antweiler zeigte damals auf, dass gerade Krupskaja und Makarenko – der als zweiter Begründer der Sowjetpädagogik galt – nicht nur nicht miteinander zusammengearbeitet hatten, sondern das Krupskaja sogar einen Anteil daran hatte, das Makarenko von seinem Posten als Leiter der Gorki-Kolonie, die ihm als pädagogisches Experimentierfeld gedient hatte und in welcher er die von ihm vertretene Kollektiverziehung ausgearbeitet hatte, entlassen wurde. Die Geschichte ist nicht ohne Ironie: Makarenko arbeitete in der Kinderkolonie vor allem mit Kindern, die zuvor jahrelang auf der Straße gelebt und dabei auch kriminell geworden waren. Das war ein nach dem Bürgerkrieg verbreitetes Problem. Während dieser Arbeit kam er nicht nur zu der Überzeugung, dass eine Kollektiverziehung, bei der Kinder Verantwortung übernehmen und zusammen arbeiten, erfolgreich neue Menschen erziehen würde. Er kam auch zu der Überzeugung, dass es Situationen gab, in denen körperliche Strafen sinnvoll sein konnten. Allerdings macht er es sich damit auch nicht einfach und wies in den wenigen Stellen des Pädagogischen Manifestes, in denen es um dieses Thema geht auch auf die Widersprüche dieser Maßnahmen hin. (Makarenko, 1988). Krupskaja allerdings suchte offenbar für eine Rede auf dem VIII. Gesamtrussischen Komsolmolkogress (1928) ein Beispiel für, wie sie es ansah, „den alten Geist“, der noch immer in einigen pädagogischen Einrichtungen herrschte. Dabei verwies sie ausgerechnet auf die Gorki-Kolonie als ein Beispiel für ein quasi-militärisches Strafregiment, wie es in zaristischen Kinderheimen geherrscht hätte. (Sie sprach sich mehrfach auch an anderen Stellen gegen jede Form körperlicher Strafen aus. (Vgl. Krupskaja (1971b), 55-57. „Über körperliche Züchtigung der Kinder“, Krupskaja (1955), S. 110-112. „Zum Problem der moralisch defekten Kinder.“ [1923])) Ob Krupskaja sich später, als sie das Pädagogische Manifest in einer Schrift anführte, überhaupt im Klaren war, dass sie gerade einen Pädagogen herausgegriffen hatte, der körperliche Strafen nur in begründeten Ausnahmefällen als gerechtfertigt ansah – was heute fraglos auch keine haltbare Position mehr ist –, ist nicht klar. Der Witz, den Antweiler nun in den 60ern aufdeckte, war, dass die Sowjetpädagogik angeblich auf zwei Personen beruhte, die sich inhaltlich widersprachen, ohne dass dies in der pädagogischen Debatte überhaupt thematisiert wurde.
[32] Der Umgang Stalins mit Krupskaja wurde von Nikita Chruschtschow in dessen bekannter „Geheimrede“ explizit als Beispiel herangezogen, um die Person Stalin in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Vgl. Chruščev (1956).
[33] Vgl. Krupskaja (1959).
[34] Krupskaja (1955), Seite 257-266: „Aufsätze von Marx, Engels, Lenin und Stalin, die jeder Lehrer kennen muss“ [1938]. Seite 293-295: „Die Stalinsche Verfassung in den Schulen“ [1937]. Seite 371-384: „Der Beschluß des ZK der KPdSU (B) ‚Über die Organisation der Parteipropaganda im Zusammenhang mit dem Erscheinen des >kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU (B)< ' und unsere Aufgaben“ [1939]. Seite 385-393: „Über die Erziehung zu Leninisten und Stalinisten“ [1939]. Seite 394-397: „Der Name Lenins und der Name Stalins sind unser Banner“ [1939].
[35] Krupskaja (1971a, 1971b, 1972a, 1972b).
[36] Vgl. Schilzow (1978), Pelinkan (1978). Der Antrag, diesen Namen tragen zu dürfen, wurde in der leicht absurden Sprache damaliger Veröffentlichungen von einem Vertreter der Studierendenschaft bei einem Symposium in Berlin zum 100. Geburtstag Krupskajas vorgebracht: „Die Mitarbeiter und Studenten des Pädagogischen Institutes Halle haben mich beauftragt, auf der heutigen Konferenz dem Ministerium für Volksbildung die Bitte zu unterbreiten, unserer Lehrerbildungsstätte den verpfichtenden Namen dieser große revolutionären Pädagogin zu verleihen.“ (Kleinschmidt (1969), S. 99).
[37] Dreßler (1969). „Nadeshda Krupskaja hat wesentliche Verdienste am Aufbau des sowjetischen Bildungswesens, der schulischen Erziehung, der Erwachsenenbildung, der Vorschulerziehung, der außerschulischen Erziehung und Bildung, einschließlich des Bibliothekswesens. Ihre gesamte Tätigkeit war unmittelbar mit dem Aufbau der sowjetischen Gesellschaft, mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung verbunden.“ (S. 138) Das liesst sich, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten der damaligen Zeit auch in Der Bibliothekar, erstaunlich faktenorientiert.
[38] Obitschkin et al. (1986), S. 5ff.
[39] Vgl. Krupskaja (1956).
[40] Wirklich absurd ist dagegen der Band „Lenin and Library Organisation“ (The Lenin State Library of the USSR (1983)), in dem nicht nur Photos einer Anzahl der Bibliotheken, in denen Lenin gearbeitet hat, abgebildet werden, einfach nur, weil Lenin einst dort war. Der Band enthält auch solche Absonderlichkeiten wie kurze Anmerkungen, die Lenin an Zeitungsartikeln über Bibliotheken machte. Sicherlich sind auch solche Textsorten für die historische Forschung relevant, aber das Buch ist keine wissenschaftliche Veröffentlichung, sondern eine der Veröffentlichungen des Progress Publishers Verlags, welcher Schriften aus der UDSSR im Westen populär machen sollte. (Vgl. auch Vodosek (1972), der einen ähnlichen Band bespricht, allerdings zu einer anderen Einschätzung kommt.)
[41] In: Krupskaja (1956), S. 40-42.
[42] In: Krupskaja (1956), S. 24-26.
[43] In: Krupskaja (1956), S. 24f.
[44] In: Krupskaja (1956), S. 24.
[45] Dieser Text soll keine Einführung in den Marxismus darstellen, deshalb soll es nicht weiter ausgeführt werden, aber diese Position ist selbstverständlich eine perfekte Anwendung des berühmten Basis/Überbau-Theorems von Marx in Reinform (und noch ungetrübt von den Problematisierungen dieses Theorems, die spätestens in den 1920er Jahren einsetzten).
[46] Dreßler (1969). Elf Jahre später, anlässlich Krupskajas 110. Geburtstag, erschien in der gleichen Zeitschrift ein viel kürzerer Artikel (Schmidmaier, 1980), der realistisch gesehen keine neuen Aussagen traf, sondern die Texte von Dreßler zusammenzufassen schien, ohne dies explizit anzugeben.
[47] Dreßler (1975). Vgl. auch Frankenstein (1976).
[48] Vgl. Raymond (1979).
[49] Gewerkschaftsbibliotheken waren eine wichtige Bibliotheksform in der Sowjetunion und auch der DDR. Sie wurden in den meisten Großbetrieben unterhalten, teilweise mit mehreren Zweigstellen auf größeren Werksgeländen. Man sollte sie nicht unterschätzen, nur weil sie heute abgeschafft sind. Gewerkschaften hatten in sozialistischen Staaten bekanntlich nicht die Aufgabe, als Interessensverbände der Arbeiterinnen und Arbeiter aufzutreten. Bildungs- und Kulturangebote, wie Gewerkschaftbibliotheken – die auch zur Produktivität der Wirtschaft durch das Motivieren einer arbeitsplatznahen Selbstbildung der Arbeitenden beitragen sollten – wurden deshalb mit einem weit größeren Engagement verfolgt, dass dies heute Gewerkschaften möglich wäre.
[50] Und nicht wie heute in Deutschland einen, den Bibliotheken für sich selber herleiten. Vgl. für eine Position aus der frühen DDR Rückl (1957). Dieser Text ist gerade deshalb interessant, weil er – ohne Krupskaja zu nennen – die gleiche Position vertritt: die Bibliothek gilt als Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft, die Volksbücherei wird als Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft gedacht: „Die moderne öffentliche Bibliothek […] entstand und entwickelte sich als eine den Interessen der sich als Klasse formierenden Bourgeoisie und dem bürgerlichen Staat dienende Institution. So ist es nicht zufällig, daß vor allem in den Ländern, in denen sich die Bourgeoisie frühzeitig die Macht erobert hatte, die allgemeinbildenden Bibliotheken – beispielsweise die Public Libraries in England und Amerika – als bürgerlich-demokratische Erziehungs- und Bildungseinrichtungen einen raschen Aufschwung nahmen.“ (Rückl (1957), S. 14) Rückl geht als guter Marxist davon aus, dass es Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung gäbe und das die Bibliothek – als Teil der Überbaus – als Institution sich auch gesetzmäßig entwickeln würde. Die Aufgaben der Bibliotheken (und der Bibliothekswissenschaft) würden sich aus diesen Gesetzmäßigkeiten herleiten lassen: „Die Bibliothekswissenschaft ist entsprechend ihrem Gegenstand eine unmittelbar klassengebundene Wissenschaft und unterscheidet sich nicht nur in ihrer Funktion und Methodologie, sondern auch in der Auffassung ihres Gegenstandes grundsätzlich von allen bürgerlichen Bibliothekstheorien. […] Die Bibliothekswissenschaft muß sich von der Grundlage der Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, ausgehend von den spezifischen Merkmalen ihres Fachgegenstandes, seinen Besonderheiten und eigenen Gesetzmäßigkeiten zuwenden. Sie gewinnt ihre Erkenntnisse auf dem Wege der Verallgemeinerung der reichen Erfahrungen, einer sich lebendig entwickelnden Praxis und wirkt richtungsweisend auf sie zurück.“ (Rückl (1957), S. 22). Vgl. auch für ein ähnliches Verständnis der Bibliotheksgeschichte Abramow (1985).
[51] Vgl. für in der DDR verbreitete Text, die genau dies taten: Wendel (1957), Mawritschewa (1958).
[52] Das es der frühen Sowjetunion gelang, innerhalb relativ kurzer Zeit die bis dato vernachlässigte Alphabetisierung fast vollständig nachzuholen und zu einer Gesellschaft zu werden, in der die Analphabetismus-Rate nahe 0% betrug, muss – unabhängig aller politischen Bewertungen – immer noch großen Respekt abnötigen. Krupskaja trug mit dem Organisieren von Alphabetisierungskampagnen ebenso dazu bei, wie mit der Propagierung bibliothekarischer Arbeit auf dem Land.
[53] Raymond (1923), S. 73-104: „Chapter 10: Soviet Librarianship and the Tasks of Adult Education during the reconstruction Period, 1921-1927“.
[54] Selbstverständlich wohnt allen zentral herausgegeben Vorschlaglisten die Gefahr inne, die Bestände von Bibliotheken zu vereinheitlichen und auch – bewusst oder unbewusst – in bestimmte Richtungen zu lenken. Da ist die ekz-standing order beispielsweise auch nicht vor gefeilt, nur das hinter dieser keine politischen Entscheidungen stehen sollten.
[55] Dreßler (1975), S. 20-34: „6. Zu den Forderungen N. K. Krupskajas an den Bibliothekar“.
[56] Dreßler (1975), S. 29.
[57] Dreßler (1975), S. 30.
[58] Dreßler (1975), S. 32.
[59] Dreßler (1975), S. 33.
[60] Dreßler (1975), S. 34.
[61] Beispielsweise wird sie in folgendem Zitat aus dem Jahr 1918, als noch nicht einmal der Bürgerkrieg beendet war, sehr deutlich: „Sobald die Selbstherrschaft gestürzt war, drängten die Arbeit nach Wissen. Es ist vollkommen verständlich, daß die Tätigkeit der Arbeiter vor allem auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung gerichtet war. Jedes Werk, jede Fabrik richtete sich eine eigene Bibliothek ein, stellte einen eigenen Bibliothekar ein, eröffnete eine eigene Schule und einen eigenen Klub. Diese ganze Kultur- und Bildungsarbeit wurde mit großer Energie von den Arbeitern selbst geleistet. Das gleiche war auch im Dorf zu beobachten. Aus dem Gouvernement Twer wurde beispielsweise berichtet, daß dort überall in den Dörfern besondere Bauernhäuser zur Verfügung gestellt werden, in denen Frauen, Greise und andere abends zusammenkommen, um lesen und schreiben zu lernen. Sie werden nicht von Lehrern unterrichtet, sondern von Bauern wie sie selber, die aber mehr Bildung besitzen.“ (Krupskaja (1971a), S. 18f.: „Wie das Volksbildungswesen im Lande organisiert werden muß“ [1918]). Selbstverständlich übertreibt Krupskaja hier maßlos, aber es wird doch offensichtlich, dass sie daran glaubte, dass die unterdrückten Massen nach Bildung streben würden und nur von den unterdrückenden Strukturen des Feudalismus (in Russland) und des Kapitalismus davon abgehalten würden, diese zu erwerben.
[62] Vgl. Dreßler (1975), S.35-51: „7. Zu einigen spezifischen Forderungen an die Bibliothekare in den verschiedenen Bibliothekstypen und –bereichen“. Siehe auch Krupskaja (1972b), S. 263-272: „Über die Kinderbücherei und das Kinderbuch [Referat und Schlußwort auf einer Konferenz der Mitarbeiter von Kinderbüchereien]“ [1927]. Dort stellt Krupskaja vier Forderungen auf: (1) Alle Kinder müssen möglichst früh lernen, Bücher und Bibliotheken zum Lernen zu benutzten, (2) Wann immer möglich sollen Kinderabteilungen in den Bibliotheken und Lesestuben eingerichtet werden, (3) Ein enger Kontakt zwischen Schule und Bibliothek ist notwendig (Wobei Krupskaja hier davon auszugehen scheint, dass sich Schule und Bibliothek sogar über einzelne Schülerinnen und Schüler austauschen könnten.), (4) Bilbiotheken dürfen die Lenkung der Lektüre der Kinder nicht übertreiben.
[63] Krupskaja (1972b), S. 214: „Schone das Buch!: Schaffen wir Brigarden ‚Junge Freunde der Bibliothek‘!“ [1933] (S. 212-214).
[64] Krupskaja (1971b), S. 230-232: „Bibliotheksunterricht“ [1934]. Krupskaja lieferte auch zahlreiche methodische Anleitungen. Vgl. beispielsweise Krupskaja (1971b), S. 282-298: „Wie man selbstständig an einem Buch arbeitet: Über das selbstständige Lernen.“
[65] Beispielsweise in Krupskaja (1955) 23-29: „Die Frau und die Kindererziehung“, wo Krupskaja explizit die Auffassung vertritt, dass die Gesellschaft der proletarischen Frau einen Großteil der Erziehung abnehmen muss.

Bibliothekstagsveranstaltungsort Neukölln

Der nächste Bibliothekstag, der 100. immerhin, wird im Juni diesen Jahres ja nicht irgendwo in Berlin stattfinden, sondern in Neukölln. Ich wohne da, so nah, dass ich ohne Probleme zum „Estrel“-Hotel/Konferenzcenter hinlaufen kann, wo der Bibliothekstag stattfinden wird. Eine interessante Wahl, fürwahr.

Also gingen Ben und ich letztens als LIBREAS-Abordnung dort einmal hin, um der bibliothekarischen Öffentlichkeit einen photographischen Eindruck vom Veranstaltungsort zurück zu liefern. Die ersten Bilder hat Ben mit einem feuilletonistischen Text im LIBREAS-Blog veröffentlicht, weitere werden folgen. (Der Beitrag findet sich hier.)

Und? Wie sieht es aus? Wie Neukölln halt: ein hässlicher Bezirk mit wenigen hübschen Ecken, kurz vor der Gentrifizierung. Genauso wie man es erwartet. Die Häuser um den Veranstaltungsort selber sind jetzt schon voller Studierenden-WGs, Künstlerinnen und Künstler, Projektmanager und Projektmanagerinnen und so weiter. Die sozial schwache Bevölkerung beginnt fortzuziehen – aber noch ist sie da. Die Gegend selber wird schon noch hübsch werden, zum Teil. Aber noch ist sie hässlich, noch finden sich Industriegelände und Häuser, die aussehen, als würden sie schon länger nicht mehr gepflegt. Schaut man genauer hin, finden sich aber auch schon Clubs, Kneipen von und für Studierende und hippe Leute, mit WLAN, Milchkaffee und Frühstück bis 17.00 Uhr.

Und mittendrin steht das Estrel-Center. Warum es dort steht wo es steht ist nicht wirklich klar. Es sieht häßlich aus, aber anders häßlich. Halt… zweckmäßig. Als hätte jemand ein Gebäude aus Berlin-Mitte genommen und auf eine – bestimmt billige – Fläche in Neukölln versetzt. Beispielsweise gibt es so etwas wie ein Forum mit Springbrunnen und Sitzbänken an der Spitze des Estrel, dass aber mit einem direkten Ausblick auf eine ziemlich große und hässliche Straße. Aus dem Fenstern des Estrel sieht man zumindest in eine Richtung immer noch einen Schrotthandel und einen sehr traurigen Uferabschnitt voller Industriebauten. Daneben steht dann ein hipper (naja, möchtegern-hip) Biergarten des Estrel mit Kunstwerk und hübsch geschnittenen Bäumen. Aber auch der Biergarten bietet keinen schönen Ausblick, sondern nur einen auf die gleichen alten Industriegebäude.

Also: Kann man Spaß haben in Neukölln, wenn man den Bibliothekstag besucht? Aber hallo ja, klar. (Wieso wohne ich wohl hier?) Wenn man weiß, was man erleben will. Aber ein touristischer Höhepunkt ist das alles nicht. (Noch nicht. Warten wir einmal 10, 15 Jahre. Dann sieht es um das Estrel-Center vielleicht auch so langweilig aus wie heute in Friedrichshain.)

Einen touristischen Höhepunkt wird der Bibliothekstag also nicht bieten. Aber wer zu Dubstep tanzen gehen oder Cafes besuchen will, in denen man der Gentrifizierung praktisch live zuschauen kann, dann ist der Ort ganz okay. Wir werden noch mehr Bilder sehen, die den Bibliothekstagsveranstaltungsort dokumentieren, bevor die Veranstaltung los geht. Ich verweise dafür mal auf den LIBREAS-Blog.