Der Migrationshintergrund – kein einheitliches Merkmal

Noch eine Broschüre
Wieder einmal hat ein bibliothekarischer Verband eine Werbebroschüre für Bibliotheken herausgegeben. Und nachdem die „21 guten Gründe für Bibliotheken“ des BID außer in der Biblioblogosphäre und einigen bibliothekarischen Publikationen offenbar keine Resonanz gefunden hatten, versucht es jetzt der dbv mit einem „Bericht zur Lage der Bibliotheken“ (http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/publikationen/Bericht_zur_Lage_der_Bibliotheken_2010_01.pdf). Immerhin: dieser Bericht mit dem übertriebenen Namen hat, im Gegensatz zu den „21 Gründen“, eine klarere Ausrichtung: er soll der Politik gegenüber die Existenz von Bibliotheken begründen. Gleichwohl ist auch er gespickt mit unnötigen, fast schon falschen PR-Floskeln. [1] Auch die Argumente haben sich nicht geändert. Deshalb ist auch zu bezweifeln, dass diese Broschüre mehr Einfluss gewinnen wird als all die Image-Broschüren und -Kampagnen zuvor. Es wird in diesem Bericht versucht, mit Zahlen statt mit Lyrik, wie noch bei den „21 Gründen“, zu überzeugen. Aber auch das ist nichts neues. Und wirklich überzeugend sind die Zahlen auch nicht, da sie oft ohne einen größeren Kontext dastehen oder aber so offensichtlich nur dafür ausgesucht wurden, Bibliotheken gut dastehen zu lassen, dass sich wohl niemand davon beeindrucken lassen wird.
Wenn beispielsweise auf Seite 3 wieder einmal die BesucherInnenzahlen unterschiedlicher Einrichtungen miteinander verglichen werden – diesmal Bibliotheken, Fußball (allerdings nur 1. und 2. Bundesliga, als würde der Spaß nicht erst weiter unten, beim Amateursport anfangen), Kino, Theater und Museen –, ist eigentlich auf den ersten Blick offensichtlich, dass hier gemogelt wurde: all die anderen Einrichtungen werden anders genutzt als Bibliotheken, also kann man sie auch nicht vergleichen. Die meisten von Ihnen – bis auf bestimmte Museen – kosten zudem Eintritt. Aber es ist eigentlich klar, dass der Besuch eines Museums nicht mit dem Besuch in einer Bibliothek gleichgesetzt werden kann. Man kann sich also schon fragen, wenn das alles noch Überzeugen soll.
Ebenso wenig überzeugend ist der Versuch, den Status Quo von Bibliotheken an Standards zu messen, die Bibliotheken selber ohne weitere Begründung aufgestellt haben, wie das auf Seite 5 durchgeführt wird. Solche Zahlen wie „3 Besuche pro EinwohnerIn“ oder „2 Medien pro EinwohnerIn“ mögen ja recht handlich erscheinen, aber sie sagen wenig aus. Nicht nur, dass außerhalb des Bibliothekswesens diese Standards gerade nicht akzeptiert sind; sie sind auch innerhalb des Bibliothekswesens nicht begründet: Wieso sollen denn zum Beispiel 2 Medien und nicht 4,321 oder 1,5 eine gute Größe darstellen? Die Idee, statt Argumente Zahlen zu liefern, ist nicht gerade neu, sie überzeugt aber in einer Gesellschaft, in der ständig Zahlen geliefert und die Öffentlichkeit deshalb im Bezug auf die Benutzung von solchen Standards und Statistiken kritisch geworden ist, noch weniger als zum Beispiel in den 60er Jahren. Deshalb kann ich der Einschätzung, die Dörte Böhner in Bibliothekarisch.de (http://bibliothekarisch.de/blog/2010/10/28/bericht-ueber-die-lage-der-bibliotheken-2010/) vertritt, nämlich das die Broschüre interessant und aussagekräftig wäre, auch nicht zustimmen. [2]
Aber eigentlich soll es hier um ein anderes Thema gehen, dass im „Bericht“ angeschnitten wird (Seite 8 und 9): den Migrationshintergrund.

Der Migrationshintergrund
Man muss anerkennen, dass der dbv in dieser Broschüre sehr viel näher an die realen gesellschaftlichen Verhältnisse und Anforderungen im Bezug auf die Migration nach Deutschland [3] herangekommen ist, als das in zahlreichen anderen bibliothekarischen Publikationen der letzten Jahre geschehen ist. Nicht nur, dass das Thema überhaupt als zentrales behandelt wird, es wird auch wahrgenommen, dass es komplexer ist, als nur über Sprache zu reden. Und in aller Kürze gibt es zumindest einen Hinweis darauf, dass auch die Gesellschaft, in die migriert wird, betroffen ist. Gleichwohl: auch der „Bericht zur Lage der Bibliotheken“ ist dem Thema und den Problemstellungen nicht angemessen. Auch er redet zu viel über Sprache und Einbürgerung und zu wenig von der tatsächlichen Komplexität des Themas. Nähern wir uns dem doch einmal.
Zuallererst: Was ist der Migrationshintergrund? Migrationshintergrund ist ein soziologischer Wert, mit dem versucht wird, die Gesellschaft besser beschreiben und verstehen zu können. Es wird hier auf die Biographie und Familiengeschichte einer Person geschaut und gleichzeitig nach einer Möglichkeit gesucht, die Integrationsbewegungen in die Gesellschaft hinein beschreibbar zu machen. Vor dem Migrationshintergrund sprach man gerne von AusländerInnen oder Fremden, was nicht nur terminologisch den Eindruck vermittelte, als würde man von einer Gruppe von Menschen reden, die auf immer und ewig vom Rest der Gesellschaft getrennt sein sollte. Der Migrationshintergrund hingegen soll beschreiben helfen, dass Menschen einerseits immer mehr integriert werden (und sich dabei die Gesellschaft verändert), obgleich sie andererseits eine biographische Prägung aufweisen, die auch ihr Leben in der Gesellschaft mit determinieren.
Trotz alledem: es ist eine soziologische Kategorie über die wir hier reden und die hat ihre Grenzen.
Gebildet wird der Migrationshintergrund im Allgemeinen, indem man nach der Migrationsgeschichte eines Menschen fragt. Ist dieser Mensch selber, eines seiner Elternteile oder der Großelternteile nicht in Deutschland geboren, dann hat er einen Migrationshintergrund, ansonsten nicht. [4] Skizze 1 macht dieses Vorgehen deutlich.

Wenn wir den Migrationshintergrund auf diese Weise untersuchen, dann zeigt sich, dass sehr viele Kombinationen vom familiären Migrationsgeschichten unter diese Definition fallen. Ohne Migrationshintergrund ist ein Mensch nur, wenn tatsächlich niemand von seinen Eltern oder Großeltern eine Migrationsgeschichte hat. [5]
Das ist selbstverständlich etwas unbefriedigend, weil einfach unglaublich viele unterschiedliche individuelle Fälle unter diese Definition fallen.

  1. Es ist erst einmal nicht klar, von welchen unterschiedlichen Migrationsländern und Geschichten wir hier reden. Jemand, dessen Eltern gerade wegen neuer akademischen Jobs aus Schweden nach Deutschland gezogen sind, zählt ebenso als „mit Migrationshintergrund“, wie jemand, dessen Großeltern als politische Flüchtlinge aus Salazars Portugal geflohen sind. Hinzu kommen die ganzen Personen, die selber oder deren Eltern und Großeltern aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland migrierten. Und da wissen wir, dass es riesige Unterschiede gibt. Die Teile von Großfamilien, die weiterhin ständigen Kontakt in ihre Heimat halten, zählen ebenfalls dazu, wie Familien, die nach Deutschland migrierten, weil man hier immer noch besser und freier leben kann, als in ihren Heimatstaaten und da auch niemals wieder hin möchten. [6]
  2. Wer selber vor einigen Jahren nach Deutschland migrierte zählt ebenso zur Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund, wie Personen, deren Großeltern migrierten, obgleich ihre Eltern und sie selber hier geboren und aufgewachsen sind.
  3. Dieses Schema sagt gar nichts über die Befindlichkeiten der Personen aus: fühlen sie sich als Deutsche und wollen das auch sein, sehen sie sich vorübergehend hier, bis sie oder ihre Familien wieder zurück- oder woanders hin migrieren oder wollen sie sich vielleicht sowohl als Deutsche, aber auch als Personen aus einem anderen Staat verstehen?
  4. Prägt die Migrationsgeschichte die gesamte Familie – ist zum Beispiel die gesamte Großelterngeneration migriert – oder ist sie die Ausnahme, also ist z.B. nur einer der vier Großeltern migriert? [6]

Redet man nur vom Migrationshintergrund, wischt man all diese Unterschiede weg. Es gibt Versuche, dass alles etwas mehr zu differenzieren, was allerdings auch heißt, dass man mehr und genauere Daten benötigt.
Skizze 2 versucht, dass zu verdeutlichen.

Wir können hier an den Beispielen 1-3 sehen, dass die Einführung schon der kleinen Unterscheidung der „Migrationsgenerationen“ die gesamte Aussagekraft komplexer macht. (Und das ist nur eine mögliche Unterscheidung.) Es wird angenommen, dass eine Person ein unterschiedliches Verhältnis zur Migrationsgeschichte seiner Familie hat, je generationell „näher“ diese ist. Wir sehen allerdings, dass auch das noch sehr unterschiedlich Dinge bedeuten kann. In Beispiel 1 und Beispiel 2 „enden“ wir jeweils bei Personen, die zur „3. Generation“ gehören. Aber wir sehen, dass dies bei Beispiel 1 aus einer Familiengeschichte herstammt, bei der alle Großeltern migrierten, bei Beispiel 2 haben zwei der Großeltern keine Migrationsgeschichte. Beispiel 3 zeigt eine Person, deren Eltern, nicht aber deren Großeltern migrierten.
Dabei muss man aufpassen: Die Bezeichnung 1., 2. und 3. Generation suggeriert, dass diese pro Generation mehr in die Gesellschaft, in welche ihre Familien migriert sind, integriert würden. Das ist so einfach nicht der Fall. Bei Personen mit russischem Migrationshintergrund in Deutschland in der 2. Generation (aktuell), ist zum Beispiel aus der Forschung das Phänomen bekannt, dass sich deren Eltern (1. Generation) in Deutschland eher zu Hause und „angekommen“ fühlen, als die Angehörigen der 2. Generation selber, die zum Teil einen starken Wunsch danach entwickeln nach Russland zurück zu migrieren.
Beispiel 4 zeigt eine andere Annahme, die dem Konzept des Migrationshintergrundes zugrunde liegt: Über die Generationen betrachten „verschwindet“ der Migrationshintergrund. Aber stimmt das überhaupt? Hier stoßen wir an eine wichtige Grenze des soziologischen Wertes: das der Migrationshintergrund irgendwann verschwindet ist eine Annahme und eine vollkommen berechtigte politische Forderung, aber so einfach ist das alles in der Realität wieder nicht. Und schon gar nicht kann man davon reden, dass dieses „Verschwinden“ unbedingt nach der 3. Generation abgeschlossen wäre.
Es ist richtig: eine ganze Anzahl von großen Migrationsgruppen hat sich so sehr in die deutschen Gesellschaft integriert (und dabei auch die Gesellschaft verändert), dass sie praktisch „verschwunden“ sind: die sogenannten „Ruhrpolen“, die Hugenotten, die Schweizer, die nach dem 30-jährigen Krieg nach Süddeutschland einwanderten – sie alle prägten einst Teile der deutschen Gesellschaft und gleichzeitig sind ihre Angehörigen heute nicht mehr als spezielle gesellschaftliche Gruppen nachzuweisen. Das gilt aber auch für einige Migrationsgruppen, die noch keine drei Generationen in Deutschland sind: Menschen mit spanischem Migrationshintergrund, mit portugiesischem, mit französischem, schwedischen, dänischen, britischen, US-amerikanischen, kanadischen. Andererseits gibt eine Anzahl von Menschen, deren Großeltern schon in Deutschland geboren wurden, die aber immer noch ausgegrenzt werden und sich nicht unbedingt „angekommen“ fühlen. Insbesondere bei Afrodeutschen ist das oft der Fall, deren Vorfahren zum Teil zu Zeiten des deutschen Kolonialismus eingewandert sind. [7] Wir können also nicht davon ausgehen, dass diese Bezeichnung der 1., 2. und 3. Generation eine Art Gesetzmäßigkeit beschreiben würde. Die Integration in die Gesellschaft vollzieht sich nicht gleichförmig.
Allerdings bietet dieses Konzept die Möglichkeit darüber nachzudenken, wie und wann die familiäre Migrationsgeschichte an Bedeutung verliert. Und wenn wir schon dabei sind: welche Bedeutung sie überhaupt hat. Und zu guter Letzt: ob es auch noch andere Gründe dafür gibt, als wie sehr integriert jemand in der deutschen Gesellschaft gilt. (Es ist ja offensichtlich, dass diejenigen Migrationsgruppen, deren Angehörige phänologisch eher dem phänologischen Selbstbild der Deutschen entsprechen, schneller als integriert gelten als die anderen – wobei auch dieses Selbstbild einer ständigen Veränderung unterliegt und eventuell, wie das in anderen Staaten der Fall ist, auch an Bedeutung verlieren kann.)

Wir können nach dieser kurzen Beschreibung des Wertes „Migrationshintergrund“ also eines festhalten: Er bietet zwar mehr Möglichkeiten, die reale Situation von Menschen in der Gesellschaft zu beschreiben, es bietet auch die Möglichkeit, Integration und Bedeutung einer familiären Migrationsgeschichte zu konzeptionalisieren. Aber so alleine sagt der Wert trotz allem wenig aus. Wirklich sinnvoll wird er, wenn er mit anderen Werten in Beziehung gesetzt und in Modelle integriert wird, welche die Bedeutung der Werte erklärbar machen.

Die Komplexität der Realität
Dieser Komplexität nimmt sich, um darauf zurückzukommen, der dbv in seinem Bericht allerdings nicht an. Immerhin spricht er von Vielfalt und ist zudem gezwungen, sich kurz zu fassen. Dennoch: in der Broschüre wird der Migrationshintergrund als ein Wert behandelt, welcher zusammenfassend vieles erklären soll. Und das geht leider nach hinten los.
Als erstes fällt die bildliche Repräsentation auf: zwei Frauen mit Kopftuch und auf einem zweiten Bild ein junger Erwachsener mit – phänologisch, aber so ist das ja auf Bildern – asiatischem Migrationshintergrund sollen die Bildungsfunktion von Bibliotheken für Menschen mit Migrationshintergrund abbilden. Das ist einerseits nicht ganz unpassend, weil es gerade zwei Migrationsgruppen repräsentieren soll, die sich in Deutschland grundsätzlich unterscheiden und quasi an beiden Ende der potentiellen Migrationserfahrung stehen. Die beiden Frauen sollen offenbar die Menschen mit türkischem und arabischen Migrationshintergrund repräsentieren: das ist nicht nur die größte Gruppe mit Migrationshintergrund in Deutschland, es ist auch eine der Gruppen, die am meisten ausgegrenzt sind, am wenigsten sozial aufsteigen können und auf dem Arbeitsmarkt und der im Bildungswesen offensichtlich die höchsten Hürden zu überwinden haben. Es ist aber auch eine der Gruppen, über die am meisten diskutiert, denen die größte Integrationsverweigerung unterstellt und die am ehesten als Gefahr wahrgenommen werden. Menschen mit asiatischen (genauer ostasiatisch, die Türkei ist ja auch ein zum Teil asiatischer Staat), vornehmlich vietnamesischen Migrationshintergrund stellen eine der kleinen Migrationsgruppen in Deutschland dar, deren Angehörige innerhalb der ersten und zweiten Generation zumeist den gesellschaftlichen Aufstieg durch weit überdurchschnittliche Bildungserfolge gemeistert haben. Soziale und wirtschaftliche Barrieren sind für diese Migrationsgruppe kaum vorhanden und es ist auffällig, dass sie erstaunlicherweise in der öffentlichen Debatte so gut wie gar nicht vorkommt. Deshalb ist die Verwendung des Bildes auf Seite 9 des dbv-Berichtes auch zweischneidig. Es zeigt berechtigterweise an, dass wir bei Migration nach Deutschland nicht nur von einer Gruppe sprechen dürfen. Gleichzeitig ist es auch ein wenig hinfällig, die Bildungsfunktion von Bibliotheken mit dem Bild eines Angehörigen einer durch Bildung extrem integrierten Migrationsgruppe zu illustrieren. Das erscheint fast schon wie eine Tautologie.
Störend ist vielmehr das erste Bild, auf dem zwei Frauen mit Kopftuch die türkisch-arabische Community in Deutschland repräsentieren sollen. Hier wird das Bild des exotischen Anderen aufgerufen, so exotisch, dass sie auch noch einer anderen Religion angehören. Sicherlich: der Islam ist die dritt größte Religionsgemeinschaft in Deutschland (bzw., was ich als Atheist anmerken muss, die vierte, wenn man die Konfessionslosen als Gruppe in die Zählung mit einbezieht). Aber die Vorstellung, das Menschen mit türkisch-arabischen Migrationshintergrund größtenteils Formen des Islam anhängen würden, die es verlangen, dass man diese Zugehörigkeit über Kleidung ausdrücken müsste, ist falsch. Der Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund, auch türkisch-arabischen, unterscheidet sich in religiösen und anderen Dingen kaum von Menschen ohne Migrationshintergrund: die Religion läuft so im Hintergrund mit und die Grundregeln werden so pi-mal-Daumen auch eingehalten, die wichtigsten Feste gefeiert, aber eigentlich geht es niemand was an und wird auch nicht nach außen getragen. Anders gesagt, und hier kommt der wichtige Punkt: der Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland unterscheidet sich nicht in exotischer Weise von Menschen ohne Migrationshintergrund. Deshalb ist Migrationshintergrund in den Statistiken, die nicht explizit danach fragen, und oft auch im Alltag relativ schwer „zu sehen“. Kopftuch tragende junge Mädchen sind aber auch bei den Muslima in Deutschland ebenso in der Minderheit, wie katholische und protestantische Jugendliche, die ständig ein sichtbares Kreuz mit sich herumtragen oder jüdische Jugendliche, die das mit einem Davidstern machen. Ganz abgesehen davon, dass es grundfalsch ist, zu implizieren, (fast) alle Personen mit türkisch-arabischen Migrationshintergrund während muslimisch. Das Bild in der Broschüre ist falsch, weil es falsche Annahmen über Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert.
Um es kurz zu machen: der dbv ignoriert, wie das in dieser Frage so oft passiert, dass es sich bei Fragen der Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund um eine soziale Frage handelt, um einen Fragenkomplex, der viel mehr mit der sozialen Schichtung der Gesellschaft, mit Armut und Reichtum zu tun hat, als mit dem Migrationshintergrund.
Der dbv erkennt vollkommen berechtigt an, dass all die unterschiedlichen Menschen mit Migrationshintergrund hier in Deutschland mitbestimmen, mitreden und mitgestalten, dass sie „ankommen“ wollen. Aber er unterstellt, dass es vorrangig um die richtige Bildung und Sprache gehen würde. So wird angeführt, dass Menschen mit Migrationshintergrund weit öfter die Schule ohne Schulabschluss verlassen würden, also solche ohne Migrationshintergrund, dass sie gleichzeitig schlechter auf dem Arbeitsmarkt abschneiden und das deshalb die Bibliotheken unter anderem durch multilinguale Angebote die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft befördern müssten. Abgesehen davon, dass die zitierten Daten nicht ganz schlüssig sind, [8] die Herleitung der Aufgaben von Bibliotheken ist auch nicht richtig. Zu klären wäre ja, warum Menschen mit Migrationshintergrund Schulen abbrechen und warum so schlechter auf dem Arbeitsmarkt abschneiden. Der dbv unterstellt offenbar, dass es vor allem um Angebote in verschiedenen Sprachen gehen würde.
Doch stimmt das überhaupt? Liegt das Problem darin, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht genügend Deutsch reden? Nein: der tatsächliche Hauptgrund, warum Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland öfter die Schule abbrechen und seltener Studieren, das Abitur oder der Realschulabschluss machen, als Menschen ohne Migrationshintergrund, ist immer noch ihre soziale Stellung. Ein Großteil der Familien mit Migrationshintergrund gehört den unteren sozialen Schichten der Bevölkerung an. Das beeinträchtigt ihre Bildungsbeteiligung, die insgesamt trotzdem höher ist, als bei ihrer Counterparts ohne Migrationshintergrund.
Hier ist die Studie zum Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, die Maaz et al. Letztens veröffentlichten, wieder einmal aufschlussreich. [9] Eines der Ergebnisse lautete, dass, wenn man die sozialen Einflüsse kontrolliert, die Übergangswahrscheinlichkeit in eine „bessere“ Schulform für Jugendliche auch mit türkischem Migrationshintergrund höher sind, als für Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Oder anders: wenn man „türkische“ und „deutsche“ Familien (das gilt auch für den Vergleich anderer Familien mit Migrationshintergrund mit Familien ohne Migrationshintergrund) in der gleichen sozialen Lage (und das heißt hier zumeist: in Armut) miteinander vergleicht, dann wird eher der Jugendliche aus der „türkischen“ Familie auf die Realschule oder das Gymnasium gehen, als der aus der deutschen Familie. Das diese Bildungsentscheidungen nach sozialen Lagen unterschiedlich sind, ist schon lange bekannt und skandalisiert. Aber die angeblich geringe Bildungsbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund kann man in Deutschland durch ihre Schichtzugehörigkeit erklären und nicht etwa, wie der dbv (und mit ihm andere Institutionen) unterstellt, durch eine zu geringe Deutschkenntnis oder Bildungsorientierung. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern immer wieder das Ergebnis solcher Untersuchungen.
Ebenso bekannt ist ein anderer Fakt, den der dbv ignoriert: Sprache und Sprachbeherrschung ist ebenfalls durch die Schicht, der eine Person zugehört und in der sie aufwächst, beeinflusst – und zwar hauptsächlich. Ob jemand gut oder schlecht Deutsch redet hat eher damit zu tun, aus welcher Schicht er oder sie kommt und weniger mit dem Migrationshintergrund. Sicherlich hat auch die Bildungsaspiration einer Person damit zu tun, aber die ist nicht der Hauptgrund. Die Idee, die ja nicht nur der dbv vertritt, dass Deutsch-lernen für Menschen mit Migrationshintergrund wichtig wäre, geht implizit davon aus, dass sich Menschen gut in einer Sprache verständigen könnten, dann aber nicht Deutsch reden würden. Also das sie zu Hause ein gutes Türkisch oder Arabisch oder Russisch sprechen würden, aber ein schlechtes Deutsch. Die Realität sieht aber anders aus: im Allgemeinen unterscheiden sich bei Menschen mit Migrationshintergrund die Fähigkeiten im Deutschen und ihren anderen Sprachen nicht. Viel eher spricht man zum Beispiel ein schlechtes Russisch und ein schlechtes Deutsch, ein mittelmäßiges Türkisch und ein mittelmäßiges Deutsch, eine sehr gutes Vietnamesisch und ein sehr gutes Deutsch. Das ist nicht überraschend, den auch für Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland gilt, dass in den unteren Schichten eher ein Deutsch gesprochen wird, dass als schlecht gilt. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund: wenn sie nur lange genug hier leben, gleicht sich ihre Sprachfähigkeit in den gesprochenen Sprachen an (bzw. ist sie zum Teil besser als bei ihren „deutschen“ Counterparts, weil sie es gewohnt sind, zwischen Sprachen zu wechseln). Selbstverständlich brauchen Menschen, die neu nach Deutschland migrieren eine Unterstützung dabei, die deutsche Sprache zu lernen – leider ist Deutschland ja eine monolinguale Gesellschaft. Aber die Idee, dass Sprachkurse und multilinguale Angebote das wären, was Menschen mit Migrationshintergrund benötigen würden, ist so nicht haltbar.

Andere Ansprüche?
Aber was soll das für Bibliotheken heißen? Es heißt, dass die Vorstellung, man müsste Integration dadurch fördern, dass man Menschen mit Migrationshintergrund in gewisser Weise exotisieren und ihnen dann andere Angebotswünsche unterstellt, eines der Grundprobleme darstellt. Sicherlich ist es ein wichtiger Fortschritt, wenn heute von unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnissen von Menschen mit Migrationshintergrund die Rede ist; wenn versucht wird, Barrieren aufzuspüren und sie abzubauen (was allerdings nicht Thema der Darstellung des dbv ist). Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Integration heißt zu akzeptieren, dass wir es zum größten Teil mit Menschen zu tun haben, die sich zu einem großen Teil sich schon als Teil der Gesellschaft fühlen und es auch sind. Wir haben gesehen, was der Wert „mit/ohne Migrationshintergrund“ alles an unterschiedlichen Familienkonstellationen ausdrücken kann. Diese Personen alle als eine Gruppe verstehen zu wollen ist falsch.

Skizze 3 weist zudem auf ein Phänomen hin, dass sich immer wieder zeigen lässt, wenn Bibliotheken oder andere Einrichtungen, die sich der außerunterrichtlichen Bildung verschreiben, mit Menschen mit Migrationshintergrund befassen. Immer wieder wird herausgestellt, dass das aktive Deutsch als Sprache gefördert werden soll und teilweise – wie beim dbv – die Einbürgerung unterstützt werden könne. Außerdem will auch der dbv, dass Bibliotheken unterstützen, dass „die andere“ Sprache beibehalten wird, auch wenn gar nicht so richtig klar ist, ob das immer und überall gewünscht wird. Aber es stellt sich doch immer wieder die Frage, was Menschen mit Migrationshintergrund, die eingebürgert sind und fließend Deutsch sprechen, eigentlich von der Bibliothek erwarten können. Es soll das Erreichen eines Zieles unterstützt werden, aber es nicht klar, was dann eigentlich passieren soll. Eigentlich würde man dazu gerne auch einmal ein paar Überlegungen hören.

Integration heißt halt auch, zu akzeptieren, dass ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund schon zum größten Teil integriert ist. Deshalb sind auch ihre Anforderungen an die Bibliotheken nicht durch ihren Migrationshintergrund bestimmt, sondern vorrangig durch die gleichen Gründe, wie für Menschen ohne Migrationshintergrund: Dass sie in die Schule gehen, in der Ausbildung oder im Studium sind, ist für die Nutzung der Bibliotheken für sie oft relevanter, als ihr Migrationshintergrund. Dass sie eher aus sozial schwachen Schichten kommen ist für sie meist weit relevanter, als ihr Migrationshintergrund. Deshalb ist eine Bibliotheksarbeit, die Menschen aus sozial schwachen Schichten unterstützt, auch sinnvoller für Menschen mit Migrationshintergrund, als die meisten Angebote, die explizit für sie gemacht werden.
Eine andere Aufgabe, die der dbv in diesem Zusammenhang nicht wirklich anspricht – aber auch das ist offenbar normal –, ist die Frage, ob Integration nicht auch heißen müsste, die deutsche Gesellschaft integrationsfähiger zu machen. Es stimmt schon, dass wir alle in dieser Frage einen weiten Weg voran gekommen sind. Dass der dbv dem Thema Migration einen eigenen Abschnitt einräumt – und dabei sich auch den gerade in der Öffentlichkeit tobenden Debatten mit all den rassistischen Untertönen verweigert – ist ja auch ein Ergebnis der Transformation der deutschen Gesellschaft. Aber das man immer noch tendenziell schlechte Bildungsergebnisse von Menschen mit Migrationshintergrund auf ihre soziale Herkunft zurückführen kann und das sie schlechter auf dem Arbeitsmarkt integriert sind, als Menschen ohne Migrationshintergrund (und dem dbv dazu nichts anderes einfällt, als den Mythos vom Aufstieg durch Bildung zu huldigen), zeigt eher, dass Barrieren und Hindernisse immer noch existieren. In einer gerechten Gesellschaft würde Migrationshintergrund im besten Falle noch als kulturelle Komponente sichtbar sein, nicht aber in den sozialen Daten. Das dem bisher nicht so ist, daran haben auch die sichtbaren und unsichtbaren Barrieren in der deutschen Gesellschaft, die Vorstellungen und Bilder von Menschen mit Migrationshintergrund (und auch die Vorstellung, Deutsch wäre eine Sprache, die man unbedingt lernen müsste) ihren Anteil. Die Frage an den dbv wäre, ob es nicht – über fremdsprachige Wörterbücher hinaus – die Aufgabe von Bibliotheken wäre, auch an der Integrationsfähigkeit der Menschen ohne Migrationshintergrund zu arbeiten.

Fußnoten
[1] Gleich auf der ersten Seite, im Vorwort, wird zum Beispiel behauptet, dass „erstmals umfangreiches Zahlenmaterial über die Ausstattung, die Angebote und die Nutzung unserer Bibliotheken“ vorgelegt würde. Das ist selbstverständlich nicht richtig. Man braucht überhaupt nicht in den Archiven nach den alten Broschüren zu graben, schon dass die Deutsche Bibliotheksstatistik nicht nur frei zugänglich, sondern auch weit umfangreicher ist als der „Bericht“, sollte das klar machen.
[2] Besonders ärgerlich ist übrigens, dass Bibliotheken in der Broschüre wieder einmal als „Bildungseinrichtungen“ definiert werden und dann behauptet wird, jeder Besuch in der Bibliothek wäre praktisch eine Bildungsaktivität. Egal wie oft man das wiederholt: es stimmt nicht. Bibliotheken sind auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen, sie haben auch andere Funktionen als nur Bildung. Bibliotheksbesuch und Bildung einfach gleichzusetzen, vermittelt den falschen Eindruck, dass Bibliotheken gar nichts tun müssten, um eine Bildungswirkung zu haben.
[3] Über die Migration aus Deutschland heraus, die selbstverständlich auch existiert, wird ja fast nie und wenn, dann eher im panischen Ton (Stichwort: Brain Drain) geredet.
[4] Die Frage wird öfter gestellt: man vertraut dabei oft auf die Selbstbeschreibung der Menschen. Im Allgemeinen gilt es bei der Frage des Migrationshintergrundes auch als „Deutsch“, wenn jemand in der DDR oder in Gebieten geboren wurde, die einst als Deutsch galten. Auch Menschen, die sich als „deutsche Vertriebene“ sehen, zählt man stillschweigend hinzu, obgleich das eigentlich mehr als schwierig ist, hat sich doch deren „Deutschtum“ oft erst als solches konstituiert, als sie durch den Nationalsozialismus davon profitieren konnten und waren sie doch oft von der Staatsbürgerschaft her polnisch, ungarisch, tschechoslowakisch, rumänisch, russisch etc.
[5] Hier stoßen wir für Deutschland an das Problem, dass die Umgesiedelten nach dem zweiten Weltkrieg durch ihre Umsiedlung eine Migrationsgeschichte haben, aber, weil sie sich unbedingt als Deutsch sehen wollen (ein Teil von ihnen, allerdings der politisch laute), diese Migrationsgeschichte nicht mit einbezogen wird. Meistens. Manchmal aber doch.
[6] Man könnte selbstverständlich noch zahlreiche Sonderfälle diskutieren: Was ist z.B. bei Adoptionen oder wenn die leiblichen Eltern unbekannt sind? Was mit Rückmigrationen, wenn z.B. Menschen in Deutschland geboren, danach 20 Jahre lang in Frankreich gelebt und dann zum Studium wieder nach Deutschland migriert sind? Was ist mit Kindern, deren Eltern Angehörige der US-Army waren und die in Deutschland, aber eigentlich auf den Militärbasen aufgewachsen sind? Aber aus Gründen der Übersichtlichkeit belassen wir es bei den einfachen Fällen. Wir lassen auch aus, dass Familien und Menschen nicht nur einmal migrieren müssen, sondern dies teilweise auch mehrfach tun.
[7] Bei Kolonialismus ist es immer wieder wichtig, dass zu betonen: diese Migration auch nach Deutschland fand fast nie freiwillig statt.
[8] Die Bertelsmann-Stiftung (http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32343_32344_2.pdf) hat beispielsweise in einer letztens veröffentlichten Studie konstatiert, dass im Osten Deutschlands und gerade in Mecklenburg-Vorpommern – also gerade da, wo die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund äußerst gering ist – die höchste Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher zu verzeichnen ist. Das würde ja dann im Umkehrschluss bedeuten, dass man im Osten Deutschlands mehr multilinguale Bildungsangebote unterbreiten müsste.
[9] Maaz, Kai ; Baumert, Jürgen ; Gresch, Cornelia ; McElvany, Nele (Hrsg.) / Der Übergang von der Schule in die weiterführende Schule : Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten. – [Bildungsforschung ; 34]. – Berlin : Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010. – http://www.bmbf.de/pub/bildungsforschung_band_vierunddreissig.pdf