Jugendforschung: für einen fundierte statt einer additiven Interdisziplinarität

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als interdisziplinäre Wissenschaft zu beschreiben, wäre mindestens gewagt. Nicht, dass in dieser Wissenschaft nicht sehr verschiedene Themenbereiche mit sehr unterschiedlichen Methodiken und Fragestellung von Forschenden mit sehr unterschiedlichen disziplinären Hintergründen behandelt würden. Aber es fehlt doch sehr offensichtlich der zu einem wissenschaftlichen Feld gehörige gemeinsame Bezug auf die Forschungen anderer auf dem gleichen Feld, es fehlt fast vollständig eine disziplin-interne Forschungsdebatte, Terminologie und, wenn man es genau nimmt, fehlt auch ein gemeinsamer Forschungsgegenstand. In gewisser Weise ist die Bibliotheks- und Informationswissenschaft (zumindest in Deutschland) – trotz aller Versuche, dass zu ändern – immer noch vorrangig ein Sammelbegriff für verschiedenste Ansätze, Studien und Forschungen und weniger eine etablierte und sich selbst reproduzierende wissenschaftliche Disziplin. Das heißt nicht, dass sie es nicht werden könnte.
Bei einer solchen möglichen Umgestaltung der Bibliotheks- und Informationswissenschaft in eine besser funktionierende Disziplin wäre es sicherlich sinnvoll, auf die Erfahrungen von Disziplinen zurückzugreifen, die einen ähnlichen Institutionalisierungsprozess scheinbar etwas besser durchgestanden haben. Ein Beispiel, welches nicht einmal unbedingt weit von den Forschungsthemen und Forschungsmethodiken der Bibliotheks- und Informationswissenschaft entfernt ist, scheint die Jugendforschung zu sein. Diese Wissenschaft ist trotz aller Probleme heute als eine Disziplin zwischen spezieller Sozialwissenschaft, Sozialer Arbeit, Pädagogik und Erziehungspsychologie etabliert. Selbstverständlich wird sich auch in der Jugendforschung darüber beklagt, dass die praktische Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Jugendpolitik, Bildungs- und sozialarbeiterischen Praxis und der Öffentlichkeit defizitär sei; selbstverständlich gibt es auch in dieser Disziplin immer Stimmen, die sich über eine zu geringe Wissenschaftlichkeit und / oder Praxisorientiertheit der Forschung beklagen und selbstverständlich sind mehr Geld, mehr Stellen und mehr Beachtung durch andere fast immer besser und werden deshalb auch in der Jugendforschung eingefordert. Dennoch scheint es – im Gegensatz zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft – einerseits in der Öffentlichkeit akzeptiert, dass Jugendforschung notwendig ist. Anderseits hat sich eine mehr oder minder intensive Forschungsdiskussion innerhalb der Disziplin etabliert.
Mit dieser Etablierung treten allerdings andere Probleme zutage, die in solchen „neuen“ Disziplinen angelegt sind und offenbar von jeder einzelnen zu klären sind. Eines dieser Themen ist die Disziplinarität beziehungsweise Interdisziplinärität der jeweiligen Forschung.
Zu diesem Thema, nämlich dem Verhältnis von pädagogischer und soziologischer Jugendforschung – was praktisch auf die Frage nach der notwendigen oder nicht notwendigen Form der Interdisziplinärität in der Jugendforschung hinausläuft – hat die Zeitschrift Diskurs Kindheit- und Jugendforschung in der aktuellen Ausgabe (3/2009) einen Schwerpunkt veröffentlicht.

Interdisziplinarität? Welche Interdisziplinarität?
Interessant für die Frage, was aus dieser Diskussion in der Jugendforschung für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft gelernt werden könnte, scheint vor allem der einführende Artikel von Albert Scherr [Scherr, Albert / Warum theoretisch undisziplinierte Interdisziplinarität eine gesellschaftstheoretisch fundierte reflexive Jugendforschung nicht ersetzen kann. – Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 4 (2009) 3, S. 321-335]. In diesem kritisiert Scherr das, was er additive Interdisziplinarität nennt und entwirft stattdessen eine fundierte Interdisziplinarität.
Erstere Form der Forschungspraxis ist laut Scherr aktuell in der Jugendforschung vorherrschend. Hierbei werden auf einen relativ unbestimmten Forschungsgegenstand „Jugend“ relativ beziehungslos unterschiedliche Forschungsansätze verwendet, deren Auswahl offenbar hauptsächlich von den Vorlieben der Forschenden und den möglichen Aussagemöglichkeiten der jeweiligen Studien bestimmt ist. Das Problem ist dabei laut Scherr nicht, dass unterschiedliche Ansätze verwendet werden, sondern, dass sich die Forschungen und Methoden nicht aufeinander beziehen würden und deshalb nicht an einem gemeinsame Diskurs gearbeitet wird.

„Eine nicht bloß additive (und insofern theoretisch undisziplinierte), sondern theoriegeleitete Interdisziplinarität“ – so Scherr weiter – „setzt dagegen als Minimalbedingen eine Klärung der Unterschiede zwischen den beteiligten Disziplinen in Verbindung mit einer für diese anschlussfähigen transdisziplinären Bestimmungen des Forschungsgegenstandes voraus. Bedingung einer theoriegeleiteten Interdisziplinarität in der Jugendforschung wäre so betrachtet die Verständigung auf einen Jugendbegriff, der es ermöglicht, sozialhistorische, soziologische, pädagogische und psychologische Theorien, Begriffe und Forschungsperspektiven in nachvollziehbarer Weise unterscheiden und auf dieser Grundlage aufeinander beziehen zu können.“ [Scherr (2009), S. 323f.]

Die hier von Scherr vertretende Hauptthese lautet also, dass erst eine Disziplin, welche sich auf einen gemeinsamen Forschungsgegenstand (hier den Jugendbegriff) verständigt, tatsächlich in der Lage ist, eine produktive Interdisziplinarität hervorzubringen, während sie ansonsten auf die reine Ansammlung von Studien und Forschungsrichtungen unter einem Oberbegriff, aber mit wenigen Bezügen untereinander, verwiesen bliebe. [1]
Das die Jugendforschung bislang – angesichts solcher empirischen Sammlungen wie den Shell-Jugendstudien oder dem Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts und darauf aufbauender Forschungen – auf eine „grundlegendtheoretische Fundierung“ verzichten zu können scheint, ist nach Ansicht Scherrs auch einer Forschungspraxis geschuldet, die sich – unter anderem wegen der hauptsächlichen Finanzierung durch Drittmittelprojekte und ähnlichen Quellen – bei der Definition dessen, was im Rahmen der jeweiligen Studie als „Jugend“ untersucht wird und welche Fragen wie bearbeitet werden, vor allem nach der potentiellen Verwendbarkeit der Ergebnisse richte und nicht nach einer disziplin-eigenen Logik und Übereinkunft. Allerdings wäre dies, so Scheer, für eine funktionierende Forschungsdisziplin notwendig.

Probleme additiver Interdisziplinarität
Scherr nennt drei grundsätzliche Probleme, die sich seiner Meinung nach aus der additiven Interdisziplinarität in der Jugendforschung ergeben:

  1. Zentrale Kategorien – nicht nur Jugend, sondern auch Altersgruppe, Migrationshintergrund, Kriminalität etc. – werden zwar nicht diskutiert oder zumindest ausreichend reflektiert, aber dennoch verwendet. Anstatt also in einer Gesamtschau auf das Konzept Jugend die Begrifflichkeiten „Migrationshintergrund“ und „Kriminalität“ zu untersuchen, werden diese eher als unumstritten gegeben verwendet [obwohl sie dies bekanntlich nicht sind] und aus disziplinfremden Quellen zitiert.
  2. Teile der Jugendforschung koppeln sich explizit von der gesellschaftstheoretischen Fundierung ab. Dass heißt Jugendforschung wird im besten Fall zu einer Jugendkulturforschung, welche den – eigentlich wirkungsmächtigen – gesellschaftlichen Hintergrund ausblendet und deshalb auch wichtige Erklärungszusammenhänge nicht herstellen kann.
  3. Institutionell wird die originäre Soziologie aus der Forschung und Ausbildung verdrängt (was sich auch in der geringen Einstellung von Soziologinnen und Soziologen in der Ausbildungseinrichtungen niederschlagen würde, also tatsächlich personelle Konsequenz hat) und dafür sehr selbstbewusst aus der Soziologie eine eigenständige Jugendsoziologie extrahiert. Diese spezifische Verengung – die auch Vorteile hat und an der Scherr mit seinem Standardwerk „Jugendsoziologie“ aktiv mitgewirkt hat – sei möglicherweise problematisch, da Jugend ein Konstrukt mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz sei und deshalb auch als gesamtgesellschaftlicher Verhältnis wahrgenommen werden müsse, um verstanden zu werden.

Was wäre notwendig?
Weiterhin stellt Scherr sieben Thesen für eine notwendige, theoriefundierte Interdisziplinarität auf, von denen einige sich direkt auf die Jugendforschung beziehen, andere aber auch auf andere (geisteswissenschaftliche) Disziplinen zu übertragen sein werden.

  1. Notwendig ist eine Bestimmung der Jugendbegriffs [oder, bezogen auf andere Disziplinen, des genauen Forschungsgegenstandes].
  2. Akzeptiert werden muss als allgemeiner Forschungsgegenstand der Jugendforschung die gesellschaftliche Institutionalisierung und Strukturierung des Jugendbegriffs, nicht nur das rein kulturwissenschaftliche Forschungskonstrukt „Jugend“.
  3. Mit der zweiten These zusammen hängt, dass als allgemeiner Forschungsgegenstand akzeptiert werden muss, dass die unterschiedlichen Jugenden (verstanden als Vielheiten der gelebten Jugendkonzepte), gesellschaftliche strukturiert sind und diese Strukturierung auch auf heutige Jugendszenen und -kulturen nicht bedeutungslos ist.
  4. Notwendig ist eine kritisch-reflexive Perspektive der Jugendforschung, also die kontinuierliche Selbstaufklärung der Disziplin über ihren eigenen Stand und ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs (dass heißt auch, des Einflusses von Aussagen der Jugendforschung auf die Jugendpolitik und die öffentliche Debatte über Jugend).
  5. Jugend muss als transistorische Lebensphase verstanden werden, also als eine Phase, in der nicht nur beständig Veränderungen auftreten und gefordert werden, sondern die von einer Lebensphase (Kindheit) in eine andere Lebensphase (Erwachsen-Sein) führt. Jugend kann nicht als alleinstehende Entität verstanden und untersucht werden.
  6. Die Frage, wie Jugend und Erwachsen-Sein zu trennen seien (die in den unterschiedlichen Studien der Jugendforschung tatsächlich sehr unterschiedlich beantwortet werden) sei wie folgt zu lösen: „Als Jugendliche im Unterschied zu Erwachsenen können diejenigen gelten, von denen dies [eigene Erwerbstätigkeit, faktische Distanzierung von der Herkunftsfamilie, K.S.] noch nicht erwartet werden.“ [Scherr (2009), S. 332] Damit beharrt Scherr darauf, dass Jugend weder allein durch ein konkretes Alter, noch durch einen Arbeitsmarktstatus ausgedrückt werden kann, sondern eine kulturelle Grundlage hat.
  7. Zur Frage der Abgrenzung von Kindheit und Jugend benennt Scherr parallel das Phänomen der Selbstvergesellschaftung als Differenzierungsmerkmal: Jugendliche nehmen sich – im Gegensatz zu Kindern – Freiräume ohne Erwachsene, bilden eine eigene Sprache und eigene Inhalte aus und weigern sich, alle sie selbst und ihr Leben Betreffende, mit Erwachsenen zu besprechen. Auch das ist nicht unbedingt an ein genaues Alter gebunden.

Schlussfolgerungen für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft?
Während die fünfte bis siebente These sich sehr direkt auf die Jugendforschung beziehen und deren Relevanz auch eine gewisse Kenntnis der dort implizit geführten Debatten voraussetzt, lassen sich die Thesen eins bis vier auch auf Disziplinen beziehen, die ähnlich strukturiert sind (oder sein könnten, wie die Bibliotheks- und Informationswissenschaft). Interdisziplinarität, die über die reine Sammlung von Studien unter einem Oberbegriff hinausgehen und vielmehr eine Disziplin theoretisch fundieren soll, benötigt also Scherrs Meinung:

  1. Einen gemeinsam geteilten Forschungsgegenstand. Einen solchen hat die Bibliotheks- und Informationswissenschaft aktuell nicht. Vielmehr ist in den letzten Jahren durch die Ausweitung der Forschungsanstrengungen in Richtung Informationsnutzung, Kommunikationsnutzung, Standards und Bestandssicherung/-katalogisierung die Themenvielfalt sogar erweitert worden (was wiederum zu begrüßen ist).
  2. und 3.) Die gesellschaftliche Verortung des Forschungsgegenstände. Scherr verlangt, dass der jeweilige Forschungsgegenstand nicht als rein selbstständige Entität aufgefasst wird. Wer nicht versteht, dass die umgebende Gesellschaft nicht nur am Rand des Forschungsgegenstandes vorhanden ist, sondern diesen mit strukturiert, sei darauf verwiesen, beständig defizitäre Ergebnisse zu produzieren. Selbstverständlich lässt sich fragen, ob dies für die Themen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft ebenso zutrifft, wie für die Jugend, insbesondere, wenn man diese Themen weiter differenziert. Dass das Funktionieren einer Öffentlichen Bibliothek nicht verstanden werden kann, wenn man die Gesellschaft, in welcher sie wirkt, nur als Umfeld oder als Anforderungen stellende Nutzerinnen und Nutzer interpretiert, dürfte leicht einsichtlich sein. Aber bei Fragen beispielsweise der Standardisierung von Markup-Sprachen scheint dies schon schwieriger. Allerdings – und dies ist eine persönliche Meinung, mit der ich mich Scherr anschließen möchte, auch wenn sie anderswo eventuell weiter ausgeführt werden müsste – ist es richtig, dass alle Themen und Diskussionen, die in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft behandelt werden, nicht sinnvoll zu führen sind, wenn die gesellschaftliche Struktur dieser Themenkomplexe und Institutionen nicht mit beachtet wird.
  3. Eine Forschungsdisziplin muss sich kontinuierlich selbst über ihre Funktionsweisen und Bedeutung aufklären. Nur auf diese Weise lässt sich eine sinnvolle disziplinäre Weiterentwicklung von Themen und Strukturen bewerkstelligen. Eine Disziplin, die sich nicht kritisch ihrer selbst versichert, wird auch nicht in der Lage sein, sich als Forschungs- und Diskussionszusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es nicht nur des Willens der Forschenden, sich auf diese Aufgabe einzulassen und einer ausgeprägten Diskussionskultur. [2] Es bedarf dazu auch funktionierender und in der Disziplin wahrgenommener Publikationsstrukturen.

Zusatz: Kann man Methoden einfach übernehmen?
An dieser Stelle kann auf ein Problem hingewiesen werden, dass vielleicht in der Jugendforschung nicht so verbreitet ist und deshalb von Scherr nicht besprochen wird, welches allerdings bezogen auf die Vorstellung, was interdisziplinäre Forschung sein soll, immer wieder auftritt. Interdisziplinarität bedeutet eigentlich die Übernahme von Forschungsmethoden und Fokussen aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen in eine – zumeist durch ihren Gegenstand bestimmte – Disziplin. Diese Übernahme soll nicht kontextlos geschehen, sondern dazu beitragen, den jeweiligen Forschungsgegenstand mit Methoden und Fragen aus einer anderen Disziplin umfassender zu untersuchen. Insoweit ist Interdisziplinarität kein Selbstzweck. Vor allem aber setzt Interdisziplinarität voraus, dass bei denjenigen, welche die genutzten Methoden auswählen und Forschungsfragen bestimmen, auch die Kompetenzen vorhanden sind, dies zu tun. Das bedeutet, dass sie den Forschungszusammenhang, den sie „beleihen“, immerhin soweit als Disziplin kennen und ernst nehmen müssen, dass sie auch die Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge der dann „entliehenen“ Methoden und Fragestellungen nachvollziehen können.
Die Praxis hingegen sieht – und das lässt sich direkt auf die Bibliotheks- und Informationswissenschaft beziehen – oft so aus, dass aus einer Forschungsdisziplin heraus einfach eine Methode aus einer anderen Disziplin gewählt wird, wobei nicht ersichtlich wird, warum es gerade diese ist. Bei der Verwendung derselben wird dann zumeist der Eindruck vermittelt, als ob die gewählte Methode in der Disziplin, aus der sie „entliehen“ wurde, allgemein akzeptiert sei und ihre Verwendung praktisch die Einbeziehung der anderen Disziplin in der eigenen Forschung darstellen würde.
Das ist selbstverständlich immer falsch. Jede funktionierende Forschungsdisziplin, die Methoden und Fragen hervorbringt, welche „entliehen“ werden können, hat eine aktive Forschungsdiskussion. Alle Methoden stehen in einer solchen Forschungsdisziplin in einem Zusammenhang mit anderen Methoden: mal sind sie Alternativen, mal Ergänzungen, oft ist in einer Disziplin akzeptiert, dass eine Methode nur Aussagen über bestimmte Fragen ermöglicht, aber nicht über den gesamten Forschungszusammenhang. Oft gibt es zu den Methoden einer Disziplin innerhalb dieser grundlegende Kritiken. Und immer ist die Verwendung einer Methode oder eines Fokus eingelassen in einen größeren Forschungszusammenhang. Eine Praxis, die einfach nur eine Methode übernimmt, ignoriert diesen Forschungszusammenhang.
Notwendig für eine interdisziplinäre Forschung wäre, den Forschungszusammenhang, aus dem eine Methode entnommen wurde, mit zu reflektieren und sich dabei klar zu sein, dass die Übernahme einer Methode aus beispielsweise der Sozialwissenschaft, nicht bedeutet, sozialwissenschaftlich zu arbeiten. Vielmehr müsste es darum gehen, auch die „entliehene“ Methode als eine in ihrer Aussagekraft begrenzte zu akzeptieren, deren Verwendung zudem oft Übung, Methodenwissen und ein Wissen über die Hintergründe dieser Methode voraussetzt. Sie einfach zu übernehmen und damit nicht nur eine andere Forschungsrichtung vollständig zu repräsentieren, sondern zudem davon auszugehen, dass die „entliehene“ Methode quasi automatisch ausreichend korrekt verwendet wurde, ist nicht wirklich realistisch. Es bedarf auch in der Interdisziplinarität eines ausreichenden Respekts vor den Forschenden und deren Forschungen in anderen Disziplinen. Diese sind – wie man selber als Forschender oder Forschende – auf ihrem Gebiet kompetent und engagiert. Andere Disziplinen einfach nur als Baukasten für die eigene Forschung zu betrachten, ist noch lange nicht ausreichend, um die eigene Forschung interdisziplinär nennen zu können.
Vielleicht wird dies in folgender Skizze etwas verständlicher:

Interdisziplinarität ist also kein Selbstzweck und auch nicht „nebenher“ zu etablieren. Vielmehr ist eine sinnvolle interdisziplinäre Forschungspraxis als valide Praxis nur dann zu verwirklichen, wenn andere Forschungsdisziplinen als ebenso divers und engagiert akzeptiert werden, wie die eigene Forschung.

Fußnoten
[1] Akzeptiert man diese These, so wäre dies auch einen mögliche Erklärung für die relative Unproduktivität der deutsch-sprachigen Gender Studies im Gegensatz zur englisch-sprachigen, die beide fraglos interdisziplinär arbeiten. Während die englisch-sprachige Gender Studies sich fast ausschließlich auf den Themenbereich der Konstitution und Reproduktion von Geschlecht bezieht, und andere, angrenzende Forschungsbereiche anderen „angrenzenden“ Disziplinen überlässt, hat sich in der deutsch-sprachigen Gender Studies eine solche Fokussierung (bislang) nicht ergeben. Vielmehr sind in dieser sehr unterschiedliche Teildisziplinen wie die Frauen- und Geschlechtersoziologie, die Frauengeschichte, die feministische Naturwissenschaftskritik, die feministische Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft, die feministische Theologie und so weiter zusammengefasst und zudem eine ganze Reihe von kritischen Forschungsdisziplinen, welche anderswo eigenständige existieren – wie die critical witness studies, die homosexual studies, die postcolonial studies – „eingegliedert“ worden. Nicht zuletzt ist in der deutsch-sprachigen Gender Studies der Streit um die Bedeutung des Körpers, der insbesondere mit dem Streit Babara Duden / Judith Butler verbunden wird, nicht gelöst, sondern eher aufgeschoben worden, was aber auch dazu führt, dass in der Forschung selber undiskutiert von sehr unterschiedlichen Forschungsgegenständen ausgegangen wird.
[2] Schaut man in andere Disziplinen wird ersichtlich, dass es nicht nur eine einzige Form dieser Diskussionskultur gibt. Der konfrontative Stil, welcher in der Erziehungswissenschaft gepflegt wird, hat wenig mit dem offenen Stil in den Gender Studies oder dem Stil, welcher in der Philosophie gepflegt wird – bei welchem es für die Diskutierenden offenbar notwendig ist, sich beständig selber seiner oder ihres Wissens zu versichern – zu tun. Die Diskussionskultur einer Disziplin kann sich auch ändern. So ist es heute in den Sozialwissenschaften usus, die eigenen Leistungen zu kleinen Beiträgen zu größeren Forschungen abzuqualifizieren und die Leistungen anderer Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, selbst wenn man ihnen widerspricht, als wichtige und spannende Beiträge zu loben. Das hat schon dazu geführt, dass sich Forschende voll Wehmut an Soziologiekongresse in den späten 1980er Jahren zurück erinnerten, in welchem offenbar vor allem Vertreterinnen und Vertreter der Luhmannschen Systemtheorie sich lautstarke Auseinandersetzungen mit Vertreterinnen und Vertretern der sich etablierenden soziologischen Frauenforschung und der neo-marxistisch orientierten Forschenden lieferten und sich auf dem Podien offenbar beleidigt und angeschrien wurde, was zumindest für etwas Aufregung gesorgt hätte. [Klassisch zu dieser Auseinandersetzung ist der Aufsatz Luhmann, Niklas / Frauen, Männer und George Spencer Brown. – In: Zeitschrift für Soziologie 17 (1998) 1, S 47–71. Dieser Text, der eigentlich als Ablehnung der Frauenforschung durch Luhmann interpretiert wird, hat die heutige feministische Forschung nicht davon abgehalten, später (als die Diskussionskultur sich geändert, aber Luhmann auch verstorben war), sich diesen Text „produktiv anzueignen. Vgl. Pasero, Ursula ; Weinbach, Christine / Frauen, Männer, Gender Trouble : Systemtheoretische Essays. – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2003] So oder so zeigt sich aber: jede dieser Disziplinen hat eine eigene Diskussionskultur, mit eigenem Habitus und eigenen Grenzen. Aber welchen Habitus, welche Grenzen hat die Diskussionskultur in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft?