XO: Computer, Bildungsgerät, Gutmenschendings

Nahezu die gesamte aktuelle Ausgabe der LOG IN: informatische Bildung und Computer in der Schule ist dem XO, jenem auch als One Laptop Per Child-Gerät (OLPC) bekannten Rechner des OLPC-Projektes sowie dem zwischenzeitlich auch für andere Rechner entwickelten Oberfläche / Quasi-Betriebssystems Sugar des XO gewidmet. Das ist keine falsche Wahl, immerhin handelt es sich bei XO und Sugar um zwei der im globalen Rahmen herausragendsten Hard- und Softwareprodukte für Bildungsarbeit mit Kinder und Jugendlichen, die aktuell vorhanden sind. Und zudem tangieren sie den Themenbereich der LOG IN direkt. Fraglos ist der Rechner, die Software und die „mitgelieferte“ Bildungstheorie für alle Bildungseinrichtungen ein zu diskutierendes Thema. Viel diskutiert wird in der LOG IN allerdings nicht.

Einführung und Beispiele
Den Anfang macht Christoph Derndorfer mit einem schon ziemlich übertrieben positiven Einführungsartikel [Derndorfer, Christoph (2009) / One Laptop per Child : Von einer Vision zur globalen Initiative. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 12-17]. Das ist insoweit verständlich, als das man dies von einem Co-Editor der Website olpcnews wie es Derndorfer einer ist, auch erwarten kann. [http://www.olpcnews.com/mt/mt-cp.cgi?__mode=view&blog_id=4&username=Christoph] Allerdings kann man die LOG IN fragen, ob sie einen Schwerpunkt unbedingt mit einem der sicherlich kompetenten, aber doch sehr klar positionierten Förderer der Projektes aufmachen muss. Ist das nicht in gewisser Weise schon eine zu klare Positionierung der Redaktion? Oder gibt es einfach niemand, der sich näher mit dem OLPC-Projekt befasst hat und dennoch nicht direkt dazu gehört?
Wie dem auch sei: etwas zu unkritisch und glatt, aber ansonsten kenntnisreich, stellt der Text von Derndorfer die Geschichte des Projektes dar, welche man auch schon anderswo schon lesen konnte. Er bespricht nochmal die Grundgedanken und ersten Planungen von 2004/2005. Jedes Kind solle einen eigenen Laptop erhalten, welcher als Bildungswerkzeug konzipiert sei und sowohl das eigene kreative als auch das partnerschaftliche Arbeiten ermöglichen würde. Dieser Rechner sei billig, robust und auf seine Aufgabe zugeschnitten zu konzipieren und mit einer Bildungstheorie zu verbinden. Rechner alleine würden – so die Überzeugung des Leiters des Projektes, Nicholas Negroponte – nicht zur Umgestaltung des Unterrichts und zur Überwindung des digital divides beitragen, aber eine Verbindung von Bildungstheorie, Bildungspraxis und richtiger Hardware könnte dies. Dabei konnten Negroponte und das Team des OLPC-Projektes auf Bildungsforschungen des MIT (Massachusetts Institute of Technology) aus den vergangen Jahrzehnten zurückgreifen, welche vornehmlich in den USA – was für das MIT ja auch nicht anders zu erwarten ist – den Einsatz von Rechnern in Bildungseinrichtungen und unterschiedlichen Ansätzen eines Programmierunterrichts untersucht hatten. Nicht umsonst ist Negroponte am MIT als Professor angestellt und war das OLPC-Project auch lange Zeit vollständig dieser Institution angegliedert.
Daneben, so berichtet Derndorfer, war der Rechner XO von Anfang an darauf ausgelegt, möglichst „grün“ und robust zu sein. So wurde seine Energiebilanz möglichst niedrig gehalten und darauf geachtet, dass er langlebig ist, mit wenig Strom auskommt und auch unter extremsten Bedingungen durch die Gegend geschleppt werden kann. Zudem sollte er einst 100 Dollar kosten. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aktuell wird er für 188 Dollar produziert.
Dernhofer geht auf den Umstand ein, dass der XO zu Beginn auch Aufsehen erregte, weil er sehr stringent das Konzept der Freien Software nutzte. Die mit einigen neuen Konzepten ausgestattete Benutzeroberfläche des XO, Sugar, setzte direkt auf einem Linuxkernel auf und wurde auch ansonsten als Open Source projektioniert. Allerdings wurde dies vor einiger Zeit geändert. Als Microsoft aufhörte, über den 100-Dollar-Laptop zu spotten, versuchte diese Firma – wie auch auf dem Netbookmarkt – Fuß zu fassen, wohl bevor sich Linux oder andere freie Betriebssysteme zu sehr durchsetzten. Mit dem OLPC-Projekt wurden Vereinbarungen getroffen, dass eigentlich veraltete Windows XP zu einer niedrigen Preis auf den Rechnern einzusetzen. Als Begründung, warum sich auf dieses Angebot eingelassen wurde, gab das Projekt an, dass eine Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern dies eingefordert hätten, weil sie mit Windows XP bekannt wären. Allerdings war dies eine ziemliche radikale Abkehr vom Open Source Gedanken, der vom OLPC-Projekt lange Zeit vertreten wurde, aber auch von der Idee, hauptsächlich Software zu nutzen, die pädagogisch sinnvoll sei. Ein Ergebnis dieses Entscheidung, auf das auch Dernhofer eingeht, ist die Trennung der beiden Projekte XO und Sugar. Sugar, die Oberfläche, wird heute als Open Source Produkt, dass sowohl auf Linux als auch auf Windows [1] aufgesetzt werden kann und heute auch auf anderen Rechnern als dem XO läuft, weiter entwicklet; wenn dadurch auch gewisse Vorteile, die sich aus der Zusammenarbeit der Hard- und Software beim XO ergaben, eingebüßt wurden.
Zuletzt verteidigt Dernhofer das OLPC-Project noch einmal gegen den Vorwurf, die Computerisierung wichtiger zu finden, als eine praktischen Hilfe für Menschen in den Entwicklungsländern. Er argumentiert, dass das OLPC-Projekt hauptsächlich ein Bildungsprojekt und Bildung eine der Hauptinhalte einer nachhaltigen Entwicklungshilfe sei.
Diesem Text folgt eine Projektbeschreibung aus Äthopien [Härtel, Hermann (2009) / Das OLPC-Pilotprojekt in Äthopien. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 18-22], wo der XO zuerst in zwei zweiten Klassen und dann, durch eine Spende ermöglicht, an alle Schülerinnen und Schüler von zwei städtischen und zwei ländlichen Schulen verteilt wurde. Der Projektverlauf selber wird wieder sehr positiv dargestellt. So hätte sich die Situation der Lehrmittelversorgung durch die Möglichkeit, mit elektronischen Dokumenten und nicht mit den oft zu spät gedruckten und zu wenig vorhandenen Schulbüchern zu arbeiten stark verbessert. Auch der Musikunterricht wäre durch die Möglichkeiten des Rechners qualitativ besser geworden. Richtig merkt der Artikel an, dass sich auch die weiter berichteten positiven Ergebnisse des Projektes in Äthopien nicht einfach auf Industrieländer übertragen lassen, schon da die Verbreitung von Computern und anderer Informationstechnologie in diesen Ländern unterschiedlich sei und somit ganz andere Voraussetzungen vorliegen würden.

Sugar
Die Hardware und der Grundgedanke des XO sind für sich alleine genommen schon interessant. [2] Aber spätestens durch die Trennung des Sugar-Projekts vom OLPC-Projekt haben sich auch Möglichkeiten für den Einsatz der in diesem Projekt entwickelten Konzepte für Einrichtungen ergeben, die Bildung außerhalb der Schule vermitteln wollen, also auch – aber nicht nur – Bibliotheken.
Sugar ist eigentlich eine Oberfläche, die auf ein Betriebssystem aufgesetzt werden kann und dabei nicht nur das Aussehen, sondern teilweise auch die Funktionen der Rechnernutzung verändern. Das ist für Menschen, die mit freien Betriebssystemen arbeiten, wohl kaum überraschend, für Windows- und Mac-OS-Nutzerinnen und Nutzer aber vielleicht schon. Kurz: ein Betriebssystem muss nicht so aussehen, wie es aussieht und es muss nicht so reagieren, wie es reagiert. Dass es eine Taskleiste gibt oder das der Bildschirm als Müllhalde für alle möglichen Dateien und Verknüpfungen genutzt wird, wie bei Windows oder das es am unteren Bildschirmrand ein Dock geben muss, wie bei Mac-OS, ist eine Entscheidung der anbietenden Firmen, die man jeweils gut oder schlecht finden kann. Aber an sich ist es egal, wie genau die Benutzeroberfläche aussieht und reagiert und mit welchen Konzepten von den Nutzenden Funktionen gestartet werden. Das interessiert den Kernel eines Betriebssystems, also des Programms, welches jeweils die Hauptarbeit leistet, im Grund nicht. Und bei freien Betriebssystemen ist es normal, dass es einfach sehr unterschiedlich konzipierte Benutzeroberflächen gibt, die sich nicht nur im angepassten Layout, sondern auch in ihren Funktionen und im Handling teilweise grundlegend unterscheiden. Diese werden auf den Kernel und die Daten gewissermaßen aufgesetzt, sie können sogar nebeneinander laufen und der Nutzer / die Nutzerin kann bei jeder Sitzung wählen, welcher dieser Windowmanager benutzt werden soll. [3] Zu erklären ist das schwieriger, aber man kann das mal ausprobieren, indem man sich beispielsweise eine Ubuntu, eine Kunbuntu und eine Xubuntu-Live-CD besorgt und diese hintereinander ausprobiert. Das ist grundlegend alles das gleiche Betriebssystem mit einem angepassten Linuxkernel und einer Auswahl gebündelter Programme. Der Hauptunterschied ist tatsächlich die Benutzeroberfläche, aber dieser Unterschied bestimmt das Handling.
Okay, nach diesem Vorwort: auch Sugar funktioniert ähnlich und setzt erst einmal auf das vorhandene Betriebssystem auf. Dies kann man auch selber mit einer Live-CD von Sugar ausprobieren, welche beispielsweise in der aktuell LOG IN beiliegt oder von der Homepage des Projektes unter http://wiki.sugarlabs.org/go/Downloads herunter geladen werden kann. Man kann dafür auch einen USB-Stick einsetzen und Sugar direkt vom USB-Stick aus betreiben. Ich hab nicht Wirklich Ahnung, wie dies genau auf Windows oder Mac-OS (dort mit Virtual Box) funktioniert. Aber auf meinem Linuxsystem (OpenSuse 11.1) erschien, nachdem ich Sugar aus den Repositories geladen hatte, beim Anmeldebildschirm neben den schon installierten Windowmanagern einfach ein weiterer Manager, eben Sugar. Fertig ist die Umsetzung von Sugar für andere Distributionen aber noch nicht wirklich, d.h. es gab zumindest bei mir noch einige Stellen, an denen es hakte. Aber das heißt ja gerade bei OpenSource nicht, dass das nicht alles bald ganz anders ist.
Der Witz ist, dass sich Sugar, auch wenn es eigentlich „nur“ die Schicht zwischen Kernel und Nutzenden darstellt, anfühlt wie ein eigenständiges Betriebssystem. Das gesamte Handling und die Programme sind anders, als bei jedem anderen Betriebssystem. Das stellt Rita Freudenberg in ihrem Text in der LOG IN länger dar. [Freudenberg, Rita (2009) / SUGAR – ein Betriebssystem zum Lernen. – In: LOG IN, 159 (2009) 29, S. 40-44] Grundsätzlich ist Sugar der Aufgabe, konstruktivistisch orientiertes Lernen zu ermöglichen, angepasst. Die Idee ist, in Sugar das Selber-tun und das entdeckende Lernen miteinander zu verbinden. Auffällig sind folgende Konzepte:

  • Zusammenarbeit. Sugar versucht, ein lokales Mesh-Netzwerk herzustellen, d.h. mit anderen Rechnern nicht unbedingt ins Internet zu gehen – was angesichts der Netzabdeckung in anderen Teilen der Welt nicht immer sinnvoll oder schmerzfrei zu haben wäre –, sondern die Rechner „drumherum“ zu einem Netz zu verbinden. Selbstverständlich müssen dann zum Kommunizieren die Nutzenden der jeweiligen Rechner zustimmen. Aber die Idee ist, in Klassen- und Lernräumen ad hoc Arbeitsgruppen bilden und in diesen über den Rechner kommunizieren und zusammen arbeiten zu können. Deshalb werden Rechner in Sugar auch durchgängig als symbolisierte Menschen (schräg stehende Kreuze mit Punkt drauf, wie auf der Homepage des Sugar Projects mehrfach zu sehen ist) dargestellt, weil sich hinter diesen Rechnern für die Lernenden halt keine anderen Rechner, sondern andere Lernende befinden. Sobald ein Netzwerk errichtet ist, kann mit einigen Mausklicken zwischen diesen kommuniziert werden, wie sonst auch per VOIP oder Instant Messaging, gleichzeitig können Rechner gruppiert werden.
  • Aktiviäten statt Programme öffnen und Dateien laden. Sugar orientiert sich eher an der real erlebten Welt, indem Malen auch nicht unbedingt in Stifte rausholen („Programm starten“), altes Bild holen („Laden“), malen („bearbeiten“) und Speichern unterteilt wird, sondern eher als gesamte Aktivität gilt. So speichert Sugar ständig alle bearbeiteten Dokumente mit den geöffneten Programmen sofort nach jeder Veränderung und behält sie bei Schließen in diesem letzten Zustand offen. Jederzeit kann ein Dokument geschlossen werden und steht dann wieder so zur Verfügung, wie es beim Schließen aussah. Das hört sich nicht so neu an, ist aber tatsächlich eher so, als würde ich nie aufräumen, sondern meine Texte einfach auf dem Schreibtisch liegen lassen, wenn ich zum Socializen losgehe und mich dann sofort wieder an den Schreibtisch setzen. (Hier wäre es wirklich gut, selber ein bisschen mit Sugar zu spielen, um den Unterschied nachvollziehen zu können.) Der Sinn dahinter ist, sich eher an der Lebenswelt der Lernenden und nicht so sehr an den Konzepten analytisch ausgebildeter Informatiker und Informatikerinnen – die unsere Wahrnehmung des Computers geprägt haben – zu orientieren. Deshalb ist die ganze Struktur mit Ordnern, Programmen und einzelnen Dateien – welche ja auch eine Abstraktion des Speicherinhalts und Funktionsumfangs darstellt und eben nicht „natürlich“ ist – bei Sugar aufgehoben und als „Aktivitäten“ zusammengefasst.
  • Schichtweise Erweiterung. Sugar wächst – zumindest theoretisch – mit dem Wissen und Können der Nutzenden. Die Grundeinstellung ist für Menschen ausgelegt, für die der XO unter Umständen das erste elektronische Gerät ist, d.h. die Bedienungen sind möglichst einfach und an der Lebenswelt von Menschen orientiert und nicht an einem Vorwissen aus anderen Betriebssystemen oder technischen Apparaturen. Gleichzeitig lassen sich mit wachsendem Wissen weitere Programme zuschalten und somit die Komplexität des Systems erhöhen, wenn auch keines der anderen Betriebssysteme vollständig ersetzt werden kann (was aber auch nicht das Ziel von Sugar ist). [Zudem lässt sich in Sugar auch immer die Kommandozeile ansteuern und somit eigentlich auch mit Sugar alles machen, was man mit einem anderem Windowmanager machen kann.]

Eines der Steckenpferde des MIT war bei der Entwicklung des XO und von Sugar das Programmieren. Kinder sollten unbedingt ordentlich programmieren lernen, weil sie dies in die Lage versetzen würde, einerseits eigene Programme zu schreiben, andere zu manipulieren oder Geräte zu steuern und anderseits ihr kreatives und planendes Denken elementar zu verbessern. Diese Grundidee, die schon weit vor dem XO am MIT vertreten wurde und beispielsweise mit dem intensiven Einsatz der Lern-Programmiersprache LOGO einher ging, hat sich auch auf Sugar niedergeschlagen. Gleich zwei Artikel der LOG IN berichten über die verschiedenen Programme und ihre Anwendungsmöglichkeiten. Dabei zeichnen sich die Programm dadurch aus, dass sie Quellcode anders als nur als reiner Text darstellen, beispielsweise als Bausteine, und damit das Programmieren als Spiel und Plan begreifbar machen. [Wedekind, Joachim ; Kohls, Christian (2009) / Programmieren mit dem XO-Laptop. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 45-50 und Baumann, Rüdeger (2009) / Sprechende Katze und Zeichenschildkröte. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 51-58]

Bildungstheorie?
Weitere Artikel der hier besprochenen Ausgabe der LOG IN beschäftigen sich beispielsweise mit der Hardware des XO oder der Unterrichtsplanung. Heraus stechen allerdings zwei andere Texte, die sich nicht so sehr mit dem Rechner und dem System auseinander setzen, als vielmehr mit pädagogischen Fragen.
Carmen Zahn [Zahn, Carmen (2009) / Gestaltendes Lernen : „Learning by design“ im Schulunterricht? – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 27-35] stellt sehr richtig die Frage, welche Vorstellung von Bildung eigentlich hinter dem OLPC-Projekt steht. Aber auch das nicht wirklich kritisch, obwohl sie immerhin bemerkt, dass die empirische Basis der verwendeten Bildungstheorie nicht wirklich breit ist. Aber das scheint auch ihre einzige kritische Anmerkung zu sein.
Grundsätzlich beruft sich das OLPC-Projekt beständig auf den Konstruktivistischen Lernansatz, dem heutzutage eigentlich – zumindest rhetorisch – auch fast alle anderen Bildungsinitiativen und -einrichtungen folgen. Die grundlegende Vorstellung des Konstruktivismus – als Bildungstheorie, nicht als philosophische, mathematische, künstlerische oder sozialwissenschaftliche Richtung – lautet, dass es zuallererst die Lernenden selber sind, die das Wissen konstruieren, welches sie lernen oder nicht lernen. Es gäbe keine direkte Vermittlung von Wissenden (z.B. Lehrer / Lehrerin) zu Lerndenden (z.B. Schülerinnen / Schüler), sondern „nur“ die Möglichkeit, Lernprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen. Dies impliziert eine Abkehr von der Vorstellung der Wissensvermittlung hin zur Vorstellung einer Unterstützung und Steuerung von Lernprozessen. Die Hauptarbeit beim Lernen haben die Lernenden selber zu tragen; die Lehrenden hätten nicht die Aufgabe, Informationen vorzustellen und zu wiederholen, sondern die Bildungsarbeit der Lernenden zu ermöglichen. Soweit die Theorie.
Dem Konstruktivismus inhärent ist die Vorstellung, dass es immer sehr unterschiedliche Möglichkeiten gäbe, ein Lernergebnis zu erreichen und deshalb auch eine möglichst breite Palette von Lernmöglichkeiten unterstützt werden müsse. Dabei wird angenommen, dass ein Lernprozess, der im Alltag verortet und möglichst mit dem eigenen Ausprobieren verbunden ist, zumeist erfolgreicher ist, als ein zu sehr gelenkter. An diesen Grundsätzen orientieren sich die Bildungsprojekte des MIT und damit auch das OLPC-Projekt. Hinzu kommt, dass der Konstruktivismus den Wert einer Zusammenarbeit von Lernenden an einem Thema betont, weil so der Prozess der Konstruktion von Wissen vorangetrieben wird. Gerade dieser Aspekt wurde beim XO und bei Sugar beständig hervorgehoben.
Zahn diskutiert die Grundideen des Konstruktivismus – beziehungsweise konstatiert sie eine Weiterentwicklung zu einem Konstruktionismus, wobei sie den Unterschied zwischen beiden nicht wirklich darlegt [4] – , stellt mit Jean Piaget und Saymour Papert – wieder einmal – Gründungsfiguren dieser Richtung vor. Und ebenso wieder holt sie die grundsätzliche Kritik, dass der Konstruktivismus eher ein Lernansatz und weniger eine eigenständige Theorie sei, ohne daraus aber irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Anschließend stellt sie eine Reihe von Forschungen zum Einsatz von Computern in der Schule dar, die mit diesem Ansatz arbeiteten. Ein Großteil dieser Studien, aber nicht alle, stammen aus dem MIT und kommen eigentlich allesamt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Computern bei geeigneten Lehrkräften und einem passenden Bildungskonzept für die Lehre in der Schule Vorteile bringt. Zahn scheint davon nicht ganz überzeugt, weil sie richtig sieht, dass die Aussagekraft aller dieser Studien beschränkt ist. Nichtsdestotrotz schließt sie mit der Überzeugung, dass ein Lernen mit Rechnern und konstruktivistischen Lehransätzen ein hohes Potential hat, welches allerdings nur durch ein Verbindung von Technik und Kompetenz bei den Lehrkräften nutzbar würde.
Ebenso gedämpft positiv äußern sich Richard Heine von Schulen ans Netz e.V. und Joachim Wedekind, der für die hier besprochene Ausgabe der LOG IN verantwortlich war, in einem Gespräch über die Möglichkeiten des Ansatzes des OLPC-Projekt in Deutschland. [Heinen, Richard ; Wedekind, Joachim (2009) / Pädagogische Konzepte versus Hardware. – In: LOG IN 156 (2009) 29, S. 36-39]
Heinen betont – im Gegensatz zu Einigem, was sein Verein früher einmal erzählte –, dass Computer erst dann wirklich zur Veränderung des Schulalltags beitragen würden, wenn sie als normales Lern-, Arbeits- und Spielemittel im alltäglichen Gebrauch wären. Solange sie hauptsächlich als Teil eines besonderen Lernraumes angesehen werden, würden sie auch kaum einen Auswirkung auf die Medienkompetenz der Lernenden haben – wieder etwas, was sein Verein Ende der 1990er noch gänzlich anders gesehen hat. Er möchte Laptops als Ergänzung zum „Werkzeug“ der Lernenden machen und nicht zum Lernmaschine für bestimmte Fälle, also – dieser Vergleich ist direkt aus dem Text – eher zum Stift und Hefter hinzufügen als zum Bestand der Klassensätze einer Schule.
Als herausragenden Ansatz beschreibt Heinen die Entwicklung einer eigens auf die Aufgaben des XO als Bildungswerkzeug ausgerichtete Softwareplattform, die große Freiheiten zulässt, aber eben nicht ein „vollständiges“ Realweltsystem darstellt. Hervor hebt er gerade die auch hier schon beschriebenen Besonderheiten von Sugar, wie die Orientierung an den Fähigkeiten der Lernenden und die Betonung von Zusammenarbeit.
Widersprochen wird sich in diesem Gespräch nicht. Wedekind postuliert am Ende unter Zustimmung von Heinen einige Punkte, die er als notwendig für ein erfolgreiches OLPC-mäßiges Projekt ansieht [ebenda, S. 39]:

  • Ein Rechner für jedes Kind
  • Lernplanbezogene Werkzeuge und Materialien
  • Inhaltliche Begleitung aller Beteiligten
  • Finanzielle Entlastung der Eltern durch die Schulträger
  • Intensive Lehrerfortbildung
  • Eine Vorlaufphase für die Entwicklung lehrplanbezogener Materialien
  • Ein mindestens vierjähriges, wissenschaftliche evaluiertes Projekt im Grundschulbereich

Bibliotheken?
Heißt das etwas für Bibliotheken? Bestimmt – zumindest in den Ländern, in denen große OLPC-Projekte durchgeführt werden. Aber für Bibliotheken in Deutschland? Vielleicht.
Nicht zu unterschätzen ist wohl der sowohl rhetorische als auch der ernst gemeinte Bezug auf konstruktivistische Lerntheorien. Diese sind nicht wirklich neu, aber es scheint doch aktuell im Bildungsbereich eine absurde Doppelbewegung zu geben. Auf der einen Seite – um es als sehr vereinfachtes Bild zu zeichnen – die Bildungspolitik und Bildungsökonomie, welche Bildung immer mehr als standardisierbare und abrechenbare Aktivität ansieht und Begrifflichkeiten wie Standard, Qualitätssicherung, Best Practice und Monitoring popularisiert. Auf der anderen Seite die Erziehungswissenschaft und andere an Bildung interessierte Wissenschaftsbereiche, die sich fast durchgängig an konstruktivistischen Theorien orientieren – wenn dies auch nicht immer so offen gesagt wird – und nicht die Qualität und Standards, sondern die individuellen Lernenden und die Organisation von Lernumgebungen und Lernaktivitäten in den Blick nehmen. Beide Seiten versuchen oft sich gegenseitig nicht so recht wahrzunehmen, aber das ergibt letztlich nur eine absurde Situation, in deren Mitte sich Lernende und Lehrende (oder Lernumgebungsorganisierende) befinden. Das OLPC-Projekt ist da ein sehr explizites Projekt, das sich auf eine Seite bezieht und die andere mit einigen, wenig aussagekräftigen Schlagworten abspeist.
Sobald sich Bibliotheken als Teil eines formellen Bildungssystems oder gar als Bildungsort begreifen, werden sie sich mit in dieses Feld begeben. Das ist deshalb interessant, weil die offiziellen Bibliotheksorganisationen sich offenbar zur Zeit hauptsächlich auf die bildungspolitische Richtung beziehen, während sie eigentlich bessere Voraussetzungen für eine konstruktivistisch orientierte Bildungsarbeit haben, als für eine standardisierbare Bildungsarbeit, auf die sich aber indirekt in bibliothekarischen Texten und Projekten immer wieder bezogen wird.
Daneben wird sich, falls sich die Forderung durchsetzt, dass Computer in Schulen als allägliche Lernmittel und Werkzeuge verwendet werden sollen, sich dies auch auf Bibliotheken durchschlagen. Dann geht es nämlich nicht mehr darum, für eine Gesellschaft, in der einige Menschen viel mit ihrem Rechner machen, andere aber nicht, zu arbeiten; sondern dann werden immer mehr computerliterate Jugendliche – normale Jugendliche, nicht nur einige wenige, eigentlich immer nette „Nerds“ – als Nutzende in den Bibliotheken stehen oder aber nicht in Bibliotheken gehen. Was macht man dann? Selbstverständlich sind heute eine immer größere Zahl von Öffentlichen Bibliotheken mit HotSpots und Computerarbeitsplätzen ausgestattet, aber wird das reichen? Eher nicht. Und wenn Lehrerinnen und Lehrer nachgebildet werden müssen, um kompetent zu blieben beim Lernwerkzeug Computer, werden auch Bibliothekarinnen und Bibliothekare sich das notwendige Wissen, um solcher Lernende verstehen und bei Lernprozessen unterstützen zu können, nicht (immer) nur selber beibringen können. Aber wie sollte das dann geschehen und um welches Wissen geht es eigentlich genau?
Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob solche Rechner wie der XO auch in die Bibliothek gehören, wenn ja, in welche Bibliothek und wofür? Diese Frage hat sich auch schon bei vielen anderen Techniken gestellt und nicht immer waren die von Bibliotheken getroffenen Entscheidungen im Nachhinein als die bestmöglichen zu beschreiben. Aber stellen wird sich die Frage spätestens wieder, wenn der XO – oder ähnliche Rechner oder auch „nur“ die Sugar-Oberfläche – in deutschen Schulen zur Standardausstattung wird. Denn dann wird es nicht mehr um Trends im Web handeln, die vielleicht schon wieder vorbei sind, wenn sie im bibliothekarischen Diskurs auftauchen.

Gutmenschendings?
Der Nachgeschmack zu der aktuellen Nummer der LOG IN ist eher bitter. Das ganze Projekt mag ja vorzeigbare Ergebnisse haben, aber irgendwie schleicht sich das Gefühl ein, als wäre letztlich im Großen und Ganzen alles richtig und zu unterstützen, was das OLPC-Projekt betrifft. Kritik wird nur sehr sanft geäußert und zielt niemals darauf, mehr als nur Kleinigkeiten zu verändern. Ist das wirklich so? Ist der XO so was wie der Umweltschutz: eigentlich sind alle dafür, insbesondere Menschen, die wollen, dass die Welt irgendwie besser wird, ohne selber dafür zu viel tun zu müssen? Irgendwie sind alle der Meinung, dass das alles richtig und wichtig ist, aber jede und jeder weiß, dass es so einfach auch nicht sein kann. Bisher scheinen der XO und Sugar aber tatsächlich hauptsächlich positive Ergebnisse hervorzubringen. Wo ist der Hacken?

Fußnoten
[1] Auf Mac-OS kann Sugar offenbar indirekt laufen, andere Betriebssysteme sind offenbar angedacht, auch wenn der Status dieser Umsetzungen nicht ganz klar ist.
[2] Wie schon schon einmal anderswo ausführte, hat die Entwicklung dieses 100-Dollar-Laptops einen großen Anteil an den Netbooks, die ja den Computermarkt ziemlich aufgemischt haben.
[3] It’s all about having a choice, isn’t it?
[4] Selbstverständlich könnte man Unterschiede zwischen Konstruktivismus und Konstruktionismus aus anderen Quellen anführen, allerdings scheint diese Unterscheidung von den Vertreterinnen und Vertretern des XO und des Sugar-Projekts so gut wie nie gemacht zu werden. Deshalb soll das hier auch nicht weiter ausgeführt werden.

Für eine andere Wirkungsforschung

Nicht nur für die didaktischen und pädagogischen (und anderen) Aktivitäten von Öffentlichen Bibliotheken stellt sich letztlich immer wieder einmal die nie so richtig beantwortete Frage, was sie eigentlich genau bringen. Auch die Soziale Arbeit und die Jugendarbeit muss sich immer wieder einmal – und zwar weit öfter als Bibliotheken – dieser Frage stellen: Was genau ist eigentlich die Auswirkung all der von uns engagiert betriebenen Arbeit im Leben der Personen, mit denen wir arbeiten? Dabei geht es bei diesen Fragen noch gar nicht einmal darum, dass daran gezweifelt werden soll, dass diese Arbeit Auswirkungen hat [1], genauso wenig wie hier daran gezweifelt werden soll, dass die Arbeit von Öffentlichen Bibliotheken für die Literarisierung von Kindern und Jugendlichen oder andere bibliothekarische Angebote für spezifischen Personengruppen eine Wirkung haben. Die Frage ist aber immer, welche Wirkung das genau ist, wieso gerade diese Wirkung und ob diese Wirkung tatsächlich gewünscht ist. Ein Blick zu den aktuellen Debatten um die Wirkungsforschung in der Sozialen und der Jugendarbeit könnte deshalb auch für Bibliotheken interessant sein. Die Feststellungen und Warnungen aus der Sozialen Arbeit lassen sich im Groben auf die Frage einer möglichen Forschung zu Wirkungen bibliothekarischer Arbeit, insbesondere im didaktischen und pädagogischen Bereich, übertragen.

Managerialismus
Holger Ziegler [Ziegler, Holger (2009) / Zum Stand der Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit. – In: Jugendhilfe 3 (2009) 47, S. 180-187] stellt einerseits die aktuellen Versuche, welche hauptsächlich aus der Politik initiiert werden, dar, die Wirkung von Interventionen in der Jugendarbeit zu bestimmen, die Ergebnisse dieser Untersuchungen in Standards umzuschreiben und für die Jugendarbeit zu nutzen; nur um im gleichen Artikel eine fundierte Kritik dieser Ansätze zu üben.
Diese Wirkungforschung – welche übrigens auch zunehmend im Bibliothekswesen referiert wird – sei größtenteils den Placebo-Forschungen / Randomized Controlled Trials aus der medizinischen Forschung nachempfunden. Gefragt wird in diesen quasi-experimentellen Untersuchungen nach der Wirkung einer spezifischen Intervention Sozialer Arbeit auf eine Gruppe, indem versucht wird, eine Gruppe, welche diese Intervention erfahren hat mit einer anderen, ansonsten möglichst identischen Gruppe, welche diese Intervention nicht erfahren hat, zu vergleichen. Dabei müsste allerdings jeder andere Einfluss auf die untersuchten Gruppen kontrolliert werden, so dass nur die Wirkung der untersuchten Intervention bestimmt werden kann.
Dieses Vorgehen zeitige allerdings einen von Ziegler als „managerialistisch“ beschriebenen Effekt: um die Aussagen zur Wirkung einer Intervention valide zu halten, müsse diese nach der Überprüfung auch standardisiert umgesetzt werden. Es würde praktisch eine Art verbindliches Handbuch erstellt, welches dann in der Praxis abgearbeitet werden müsste. Würde man von diesem Handbuch abweichen, wären die Ergebnisse der Wirkungsforschung sofort wieder hinfällig, weil dann ja andere Einflüsse hinzukommen. (Stichwort „Programmintegrität“) Selbstverständlich ist das pädagogischer Unsinn: eine didaktische Methode oder eine Intervention in der Sozialen Arbeit muss notwendig an lokale und individuelle Bedingungen angepasst werden, weil sie ja in einer komplexen sozialen und persönlichen Situation angewandt wird und nicht unter Laborbedingungen. Wie diese Anpassung zu passieren hat, ist hauptsächlich von der Professionalität der handelnden Akteure – der Sozialarbeiterinnen / Sozialarbeiter oder auch der Lehrenden – abhängig.
Würde man hingegen tatsächlich solchen Handbüchern folgen, würde dies zu einer Deprofessionalisierung der Arbeit (und erfahrungsgemäß zu schlechteren Ergebnissen) führen, da die Aufgabe der Professionellen dann ja nur noch wäre, zu bestimmen, welche Situation vorläge und mit welchem standardisierten Programm darauf reagiert werden sollte.

Wirkungsorientierte Steuerung auf der Basis der dominanten experimentellen Wirkungsforschung impliziert demnach eine Standardisierung der Kinder- und Jugendhilfepraxis. Fallinterpretativ-hermeneutisches Ermessen und professionelle Inferenz- und Handlungsentscheidungen stellen sich dann nicht mehr als Gütekriterien angemessener sozialpädagogischer Validität evidenzbasierter Programme. In diesem Sinne verlangt die dominante Form der Wirkungsorientierung keine sozialpädagogische Professionalität, sondern eine möglichst genaue technologische Applikation manualisierter Programmvorschriften. [Ziegler (2009), S. 183]

Ziegler äußert im Anschluss drei konkrete Kritikpunkte an den aktuellen Formen der „evidenzbasierten“ Wirkungsforschung, welche sich halt sehr stark an Konzepte der Betriebswirtschaft anlehnen:

  1. Der „technizistische Fehlschluss“ [ebenda, S. 183], welcher sich praktisch darin niederschlägt, dass davon ausgegangen wird, dass die Wirkung einer Intervention, welche unter quasi-experimentellen Bedingungen nachgewiesen wurde, auch genauso in der viel komplexeren Lebenswelt funktionieren würde.
  2. Die „Dominanz kognitiv behaviouraler Symptomabtrainierungsstrategien“. [ebenda, S. 184] Diese Kritik bezieht sich darauf, dass die in der Wirkungsforschung verwendeten Forschungsdesigns einfache und auf ein Symptom zugeschnittene Interventionen bevorzugen und gleichzeitig die Untersuchung lebensweltlicher Ansätze Sozialer Arbeit ausschließen. Diese sind einfach zu komplex für quasi-experimentelle Forschungen. Das reduziert aber die Aussagekraft solcher von Placebo-Studien geprägten Forschungen elementar. Vor allem ist es nicht möglich, mit ihnen zu bestimmen, ob die untersuchten Ansätze überhaupt die bestmöglichen Interventionsmöglichkeiten sind, da einfach ein riesiger Anteil möglicher Interventionen nicht untersucht werden kann.
  3. Zudem bestimmt Ziegler die „[h]ohe Effektstärke genereller Wirkfaktoren“ [ebenda, S. 184] als Bias der Wirkungsforschung, da sie den Effekt der untersuchten Interventionen bei Weitem überschätzt, einfach weil sie nur diese Interventionen als ursächlich für die bestimmten Wirkungen begreift und nicht die jeweils vorhandenen Wirkungszusammenhänge. Insoweit, meint Ziegler, solle man sich auch nicht zu sehr von den in Studien gemessenen Wirkungsgraden irritieren lassen. In der realen Sozialen Arbeit würden diese Wirkungsgrade einzelner Interventionen nicht einmal ansatzweise zu erreichen sein. Vielmehr sei bekannt, dass Verhaltens- und Lebensveränderungen immer das Ergebnis von Handlungszusammenhängen wären.

Klar ist, dass auch die Forschung mit dem Dispositiv einer relativ einfachen Wirkungsforschung ihres möglichen aufklärerischen Charakters beraubt und praktisch auf eine reine sozial-mechanische Planungsinstanz reduziert wird. Eine Forschung, die sich fast gänzlich auf die Bestimmung der Wirkungen von Interventionen mithilfe von Placebo-Studien einlässt, wird folgerichtig zu einer Art Ingenieursarbeit. Dabei geht dann allerdings die Instanz der Forschung verloren, welche versucht zu klären, warum eine Intervention oder ein Handlungszusammenhang in der realen Lebenswelt welche Wirkung hat oder nicht hat. Eine solche Forschung, die auf empirischer Basis über diese Wirkungen aufklärt, bezeichnet Ziegler abschließend allerdings als notwendig.

Handlungswissenschaft
Mit dieser Forderung steht Ziegler nicht allein. Susanne Zeller definiert in einem weiteren, unlängst erschienen Text die Aufgabe von Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit auch weit anders, als sie – wenn man den Ausführungen von Ziegler folgt – tatsächlich gehandhabt wird. [Zeller, Susanne (2009) / Theorie der Sozialen Arbeit als „emergente Handlungswissenschaft“. – In: Soziale Arbeit 6 (2009) 58, S. 213-221]

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen zuerst das Warum sozialer Problemlagen klären, bevor sie nach dem Wie (also den Praxismethoden) fragen können. Oder anders ausgedrückt: Theorie informiert die Praxis über die jeweiligen individuellen und vor allem gesellschaftlichen Ursachen(bündel) und Entstehungsbedingungen von Problemlagen. [Zeller (2009, S. 213]

Zeller bestimmt die Aufgabe von Wirkungsforschung also äquivalent zu Ziegler darin, ein Handlungswissen zu ermöglichen, aufgrund dessen professionelles Handeln möglich wird; und nicht etwa darin, Handlungen zu standardisieren und als „Best Practice“ und Standards vorzuschreiben. Dabei orientiert sie sich an der Praxis der Sozialen Arbeit in englischsprachigen Ländern, also hauptsächlich den USA und Großbritannien. Als sinnvoll führt sie eine in der englischsprachigen Literatur verbreitete Differenzierung der Theorieproduktion im Rahmen der Sozialen Arbeit an:

  1. Theories for practice (Theorien für die Praxis)
  2. Theories from practice (Theorien aus der Praxis)
  3. Theories of practice (Praxistheorie)

Eine Theorieproduktion kann für die Praxis nur sinnvolle und nutzbare Ergebnisse zeitigen, wenn sie alle diese drei Bereiche abdeckt, die sich unterschiedlich übereinander aufklären. Eine Vernächlässigung führt entweder zu einer Praxisferne oder zu einer unwirksamen, weil bestenfalls kurzfristig gedachten und zu weit von der komplexen Lebenswelt abstrahierten Anwendungsfixierung.
Dabei orientiert sich die Soziale Arbeit in dieses Ländern den Aussagen Zellers nach hauptsächlich an den Bedürfnissen der jeweiligen Klientel und nicht hauptsächlich, wie in Deutschland, an den Interessen der Politik. Dies mag ein Grund sein für die unterschiedliche Aufgabenzuschreibung von Wirkungsforschung: während in Deutschland von der Politik hauptsächlich abrechenbare Interventionen gefordert werden, die bestimmte Zustände ändern sollen, ist das Hauptinteresse der Klientel Sozialer Arbeit in den USA und anderswo das Überwinden individueller Problemlage und das Empowerment von Communities. [2]
In einem weiteren Abschnitt argumentiert Zeller zudem, dass nicht nur eine andere Auffassung von Wirkungsforschung notwendig wäre, sondern das ein Grund für die fehlende Praxisnähe der deutschen Forschungsliteratur und der Forschung selber darin zu suchen sei, dass „Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter [bedauerlicherweise] kaum [publizieren], um die Konzepte aus der Profession heraus für Theorie und Praxis weiterzuentwickeln.“ [Zeller (2009), S. 217] Stimmt man dem zu, so wäre es eine Aufgabe, die Professionellen der Sozialen Arbeit zu solchen Publikationen zu ermutigen und dafür Publikationsmöglichkeiten zu schaffen, was ja nicht unbedingt nur Fachzeitschriften sein müssen. [3]

Das Jugendzentrum
Dass ein sehr langfristiger Forschungsansatz von Wirkungsforschung, nämlich eine biographische Forschung, trotz aller Unsicherheiten und obwohl mit diesem keine statistisch valide Daten produziert werden, sinnvolle Aussagen produzieren kann, bewiest Rainer Kilb in seiner Untersuchung über die Wirkung der Arbeit eines Jugendzentrums Ende der 1970 bis Mitte der 1980er Jahre in Frankfurt am Main. [Kilb, Rainer (2009) / 25 Jahre später… : Wie ehemalige Jugendzentrumsbesucher heute ihre Erfahrungen und ihre Zeit als Besucher der Offenen Jugendarbeit einschätzen. – In: deutsche jugend, Zeitschrift für die Jugendarbeit, 7-8 (2009) 57, S. 327-336]
Diese Forschung kam eher aufgrund der Initiative der ehemaligen Nutzerinnen und Nutzer des Jugendclubs zustande, die 2008 ein Treffen der „Ehemaligen“ inklusive ihrer Sozialarbeiter organisierten und nicht aufgrund einer konkreten Forschungsinitiative. Dennoch wurde dieses Treffen für eine sinnvolle Forschung genutzt. Die Teilnehmenden wurden schon im Vorhinein mit Hilfe eines kurzen Fragebogens darauf vorbereitet, dass diese Zusammenkunft auch für eine Wirkungsforschung genutzt würde. Vor Ort wurden aufgrund der Ergebnisse des Fragebogens Gespräche über die damalige Zeit (1977-1985) geführt. Dieses Studiendesign genügt selbstverständlich keinesfalls den Kriterien, die heute gerne einmal als notwendig für eine „gute Forschung“ beschrieben werden. Und dennoch war es gute Forschung.
Die grundsätzliche Frage war, ob und wenn ja, wie sich die Nutzung des damaligen Jugendzentrums biographisch niedergeschlagen hat. Dabei handelte es sich nicht um ein Jugendclub für Gymnasiasten, denen Demokratie vermittelt werden soll, wie das gerne einmal konzipiert wird [4], sondern um einen Ort, welcher aufgrund einer Initiative von Mitgliedern eines Boxclubs eröffnet wurde, dann insbesondere deliquente Jugendliche ansprach, hauptsächlich Sportaktivitäten anbot und mit einer KFZ-Werkstatt ausgestattet war. Die Jugendlichen engagierten sich damals nicht nur in ihrer Fußballmannschaft, sondern verübten ebenso ausländerfeindliche und homophobe Straftaten – also ging es bei der Arbeit mit Ihnen gerade nicht darum, nette Jugendliche auf einem netten Weg in die Gesellschaft zu begleiten, sondern tatsächlich schwierige sozialarbeiterische Aufgaben zu lösen. Der Club wurde von zwei Sozialarbeitern betreut, welche darüber hinaus Mädchenarbeit, Hausaufgabenhilfe und ein Photoprojekt organisierten.
Selbstverständlich sind die in durch die Befragung erhaltenen Ergebnisse verzerrt. Befragt wurden nur diejenigen, die zum Treffen kamen. Dass waren von 119 Angeschrieben immer noch 75 – wobei 22 der Angeschriebenen schon verstorben sind, nur zwei davon auf „natürliche“ Weise –, aber dennoch stellt dies einen Bias dar: wer nicht zu Gruppe gezählt wurde, wurde wohl noch nicht mal eingeladen und konnte somit nicht berichten.
Dennoch: die Arbeit im Jugendzentrum hat offensichtlich etwas gebracht. Ganz überwiegend wird dieser Ort von den Ehemaligen positiv beurteilt und mit ihm wichtige Erfahrungen – sowohl partnerschaftlich/sexuell als auch im Bezug auf die Sozialisation in Gruppen, Selbstständigkeit- und Selbstwirksamkeitserfahrungen und dem Ausstesten riskanter Lebens- und Konsumweisen – verbunden. Diese Zeit wird, trotz der Deliquenz und der konflikträchtigen, teilweise gewalttätigen Atmosphäre im damaligen Zentrum, heute kaum als Grund für spätere riskante Lebensformen wie „Konsumismus“ (Markengeilheit und Shoppingorientierung), Spielsucht oder Kriminalität angegeben. Vielmehr scheinen die Erfahrungen im damaligen Jugendzentrum oft gegen Tendenzen zu solchen Lebensweisen gewirkt zu haben, wenn auch der direkte Zusammenhang in der Studie von Kilb nicht herausgearbeitet werden kann. Die Ehemaligen würden ihre potentiellen oder realen Kindern zwar Ratschläge mitgeben, wenn diese in ein ähnlichen Jugendzentrum gehen wollten, aber offenbar würden sie diese nicht davon abhalten, sondern vielmehr oft sogar ermutigen. Insbesondere wird dabei der Treffpunktcharackter und die Bildung von Gruppen bzw. (wenn auch in einer anderen Terminologie) die Ausbildung von Handlungs- und Konfliktbewältigungsfähigkeiten in diesen Gruppen als positiver Wert hervorgehoben. Als nicht so wichtig wird das konkrete Angebot des damaligen Jugendzentrums angesehen, wenn auch nur wenige spezifische Angebot vollkommen unwichtig finden.
Interessant für die pädagogische Arbeit ist auch die Einschätzung der befragten Ehemaligen zur Arbeit der Sozialarbeiter. Wichtig für die individuelle Entwicklung war offenbar die Ansprechbarkeit dieser erwachsenen Partner und die Organisation von Hilfe- und Beratungsangeboten, weniger die Organisation des Zentrums selber (obwohl diese immer noch als relevant angesehen wird).
Im Fazit kann festgehalten werden, dass auch eine solche methodisch nicht allzu kontrollierte Studie, wie sie Kilb vorlegt, wichtige Ergebnisse produzieren kann, welche für eine zukünftige Jugendarbeit handlungsleitend wirken können. Und zwar gerade, weil sie nicht auf die kurzfristige, einfach zu erfassende Wirkung der Arbeit abzielt, sondern den biographischen Einfluss aus einer gewissen Entfernung abzuschätzen versucht.

Fußnoten
[1] Obwohl es auch dazu Stimmen gibt, bzw. eine bekannte, nämlich die des notorisch mediengeilen Chefs des Krimonologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer. Allerdings … lohnt es sich eigentlich noch, etwas zu Pfeiffer zu sagen? Er ist bekannt dafür, einen starken Staat zu fordern, der gegen jede Deliquenz und Abweichung polizeilich vorgeht und diese Forderung mit Studien zu untermauern, die keiner auch nur ansatzweise kritischen Prüfung standhalten. Allerdings: er wird in der Presse und bei bestimmten Politikerinnen und Politikern gerne zitiert, deshalb kommt man offenbar nicht so richtig um ihn herum.
[2] Ein kleiner Schlenker sei erlaubt: in bestimmter Weise scheint diese Orientierung der Community Organizer, also dieser eher US-amerikanischen Variante der Sozialarbeit, die sich auf die Aktivierung von Individuen konzentriert, sich im Wahlkampf und der Politik Barack Obamas widerzuspiegeln. Hier wird weit mehr, als in der deutschen Politik, auf die Organisation politischer und gesellschaftlicher Initiativen von den Betroffenen selber – die beim Wahlkampf nicht unbedingt die Klientel Sozialer Arbeit darstellen müssen – gesetzt. Es scheint, dass die frühere Arbeit Obamas als Community Organizer einen gewissen Anteil an dieser ja schon sehr oft festgestellten neuen, empowernden Form von Politik und Politisierung hatte und hat. [Vgl. als ein Beispiel: Moorstedt, Tobias (2008) / Jeffersons Erben : Wie die digitalen Medien die Politik verändern. – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2008.] Das es eine solche Tradition in Deutschland kaum gibt, könnte ein Grund dafür sein, dass die Übernahme einiger Charakteristika des Obama’schen Wahlkampfs in Deutschland (Twitteracounts, Youtube-Videos, Inszenierung von Politikern als Messiasgestalt etc.) kaum Auswirkungen hat. Hier wird offenbar nur die Oberfläche gesehen, nicht die Denk- und Handlungsstruktur.
[3] Hier könnten Bibliotheken, wenn sie dann die dazu nötigen Kompetenzen und Infrastrukturen haben, eine Aufgabe finden. Dabei postuliert Zeller, dass solche eigenständigen Forschungen und Publikationen auch gegen Tendenzen des „Ausbrennens“ im Beruf helfen könnten. Insoweit wäre die Zurverfügungsstellung einer Publikations- und Forschungsinfrastruktur, ob nun von Bibliotheken, Hochschulen, Fachverbänden oder anderen Institutionen und Initiativen, auch ein Beitrag zur Qualitätssicherung der tatsächlichen Praxis.
[4] **wink** zu meinem alten Schul-/Jugendklub. No disrespect.