Zur empirischen Bildungsforschung (Zitat, 1964)

Gewiß hat man auch zu anderen Zeiten nach dem Nutzen des Bildungswesens für ‚die Gesellschaft‘ und damit nach seinem Anteil an den Erfolgen oder Mißerfolgen der ‚Nation‘ gefragt. Das Problem der ‚Erziehungsziele‘ ist jedoch niemals so ausschließlich wie heute [1964] mit dem Beitrag des Bildungswesens zum nationalen Wirtschaftswachstum gleichgesetzt worden. Auch scheinbar in ganz andere Richtung gehende Ansätze, wie die demonstrative Forderung nach ‚Demokratisierung der Bildungschancen‘, bedienen sich immer häufiger der Sprache wirtschaftlicher Rationalität, wenn beispielsweise die ‚Vergeudung von Begabungsreserven‘ kritisiert wird. Sind aber wirtschaftliche Rationalisierung und Demokratisierung wirklich so automatisch miteinandere verbunden, wie gutwillige Technokraten glauben machen wollen? Bildungssoziologie und Bildungsökonomie ließen sich nicht so leicht auf eine solche Fragestellung fixieren, hielten sie nicht jene Frage für geklärt, die objektiv in allen künstlichen Erwägungen über Erziehungsziele enthalten ist: die theoretische Frage nach den objektiv möglichen (das heißt nicht nur logisch, sondern auch sozio-logisch möglichen) Funktionen des Bildungssystems und, damit zusammenhängend, die methodische Frage nach der Vergleichbarkeit von Bildungssystemen und ihren Produkten.
Das technokratische Denken übernimmt implizit die Geschichtsphilosophie der gesellschaftlichen Evolution und leitet vorgeblich aus der Realität selber ein geradliniges und eindimensionales Modell für die Phasen des historischen Wandels ab. Auf diese billige Weise schafft es sich einen Index für den universalen Vergleich und kann so die verschiedenen Gesellschaften oder Bildungssysteme nach ihrem Entwicklungs- oder ‚Rationalitäts-‚Stand eindeutig einstufen. Ub Wahrheit zerstört ein solches Vorgehen jedoch den Gegenstand des Vergleichs selbst, da es die verglichenen Elemente all jener Eigenschaften beraubt, die diese ihrer Zugehörigkeit zu Relationssystemen verdanken: Die Kennzeichen für die Rationalität eines Systems entziehen sich um so mehr einer vergleichenden Interpretation, je vollständiger sie der historischen und sozialen Besonderheit von Institutionen und Bildungsmethoden entsprechen. Hält man sich an abstrakte Kennzeichen für den Entwicklungsstand eines Bildungssystems (an die Analphabetenzahlen, den prozentualen Schul- oder Hochschulbesuch oder die Zahl der Lehrkräfte) oder berücksichtigt man spezifische Indikatoren für die Lesitungen eines Systems, beziehungsweise den Grad, bis zu welchem es die virtuell vorhandenen intellektuellen Reserven nutzt[…], muß man diese Relationen immer wieder in die Relationssysteme einsetzen, von denen sie abhängen. Man vergleicht sonst, was unvergleichbar ist, oder vergleicht vielmehr gerade dort nicht, wo ein wirklicher Vergleich möglich wäre.
[Bourdieu, Pierre, und Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit : Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. (Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1971 [frz. 1964]), Seite 193 f.]