On-demand Forschung in Bibliotheken

Leanne Bowler und Andrew Large haben schon mehrfach interessante Texte im Schnittfeld von erziehungswissenschaftlicher und bibliothekenswissenschaftlicher Forschung publiziert. Beispielsweise zum Informationsnutzungsverhalten von Jugendlichen im Internetzeitalter [Bowler, Leanne ; Large, Andrew ;Rejskind, Gill: Primary school students, information literacy and the Web. – In: Education for Information 19 (3) 2001, pp. 201–223] oder über Ansätze zum Design von Webportalen für Kinder mit der Hilfe von Kindern [Large, Andrew ; Bowler, Leanne ; Beheshti, Jamshid ; Nesset, Valerie: Creating Web Portals with Children as Designers : Bonded Design and the Zone of Proximal Development. – In: McGill Journal of Education 42 (1) 2007, pp. 61-82]. In einem aktuellen Text [Bowler, Leanne ; Large, Andrew: Design-based research for LIS. – In: Library & Information Science Research, 30 (1) 2008, pp. 39-46] schlagen sie nun vor, eine Forschungsmethode, die sich gerade in der kanadischen und US-amerikanischen Erziehungswissenschaft [1] etabliert, in die Bibliothekswissenschaft und was noch wichtiger ist, in die bibliothekarische Praxis zu übernehmen.

Methode: Wie funktioniert das?
Diese Methodik, design-based Research, wurde hauptsächlich aus den Ingenieurwissenschaften übernommen. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Verschiebung der Forschungsfrage und Forschungsziele. Es geht nicht um den Entwurf, das Falsifizieren und Absicherung von theoretischen Modellen oder die empirsch gestützte Nachbildung des Status Quo. Es geht darum, ein Design – d.h. ein Produkt, eine Situation, zumindest etwas abgrenzbares, das hergestellt und nicht einfach in der Natur vorgefunden wurde – in seiner Funktion zu begreifen und zu verbessern. Die Grundfrage ist also: Warum funktioniert das, was funktioniert, so wie es funktioniert? Und wie lässt sich das verbessern?
In den frischen Proceedings of the Linux Symposium 2008 findet sich ein solches Vorgehen mehrfach [als Beispiel verwende ich in diesem Absatz: Brown, A. Leonard ; Wysocki, Rafael J.: Suspend-to-RAM in Linux. – In: linuxsymposium (ed.): Proceedings of the Linux Symposium : Volume One , pp.39-52, http://www.linuxsymposium.org/2008/ols-2008-Proceedings-V1.pdf]. Erst wird ein Thema, dass als interessant erscheint oder aber ständig als reales Problem auftritt, benannt (im Beispieltext die Frage, was genau passiert, wenn ein Rechner unter Linux in bestimmte „Schlafzustände“ versetzt wird), dann wird die Funktion am Produkt (hier ein Rechner unter Linux) untersucht und zwar während dieses Produkt tatsächlich im normalen Anwendungsfall funktioniert und nicht einfach ein reines Modell im Labor ist. Die Ergebnisse der Untersuchung werden dann abstrahiert dargestellt und schließlich daraufhin befragt, wie sie verbessert werden können (hier wie die Daten der Sitzung beim „Einschlafen“ des Rechners gesichert und beim „Aufwecken“ wieder schnell nutzbar gemacht werden können). Es geht also um eine ad-hoc Forschung, die an den Problemen realer Designs ansetzt (hier: das die Menschen ihre Daten beim „Einschalfen“ des Rechners gesichert und wieder aufrufbar wissen wollen.).

Wissenschaft im Krieg
In seiner Studie zu den gesellschaftlichen Versprechen der RFID-Technik und ihrer Geschichte, beschreibt Christoph Rosol [Rosol, Christoph: RFID: Vom Ursprung einer (all)gegenwärtigen Kulturtechnologie. – Berlin : Kulturverlag Kadmos, 2007. (Berliner {Programm} einer Medienwissenschaft 7.0 ; 4)] das Entstehen dieser Methodik als Ergebnis der Forschungsaktivitäten im Zweiten Weltkrieg. Während dieses Krieges, so Rosols These, hätte es insbesondere in den USA und Großbritannien einen grundlegenden Bedeutungswandel der Ingenieurwissenschaften gegeben. Es war nach Rosol der erste Krieg, bei dem mehr Geld für die Forschung ausgegeben wurde, als für die Munition. Das erste Mal hätten Ingenieure während eines Krieges Waffen und Hilfsgeräte entwickelt, die in diesem Krieg eingesetzt wurden und nicht erst im darauf folgenden.
Insbesondere im sogenannten Battle of Britain 1940/41, bei welchem die deutsche Luftwaffe versuchte, die Lufthoheit über Großbritannien zu gewinnen und dann mittels Bombardements eine Invasion vorzubereiten, sei die kriegsentscheidene Bedeutung der Wissenschaft deutlich geworden. Nur durch die schnelle und anwendungsbezogene Forschung, die sich darauf konzentrierte, Radarsysteme zu entwickeln und vor allem existierende beständig zu verbessern, sei es der Royal Air Force und der britischen Armee möglich gewesen, die deutsche Luftwaffe in dieser Schlacht zu besiegen und letztlich den D-Day 1944 zu ermöglichen.
Wie fuktionierte dies? Während des Zweiten Weltkriegs wurde in Großbritannien und den USA die Förderung der meisten grundlegenden physikalischen Forschungen, die sich voraussichtlich nicht kriegsentscheidend auswirken würden, zurückgestellt. Hauptziel war der Sieg über den deutschen und italienischen Faschismus und das japanische Kaiserreich. Dafür wurden, so möglich, alle verfügbaren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zusammengefasst, teilweise direkt nach dem Studium. Ihre Aufgabe war die dann Unterstützung der Armee. Dafür bauten sie direkt Geräte und testeten sie unter Einsatzbedingungen. Nicht, weil das gerne gemacht wurde, sondern weil offenbar jede technische Neuerung einen Vorteil gegenüber den feindlichen Armeen bedeute. Immerhin hatten insbesondere der deutschen und der japanische Staat sich durch intensive Forschungen vor dem Zweiten Weltkrieg einen entscheidenden Vorsprung verschafft, der beispielsweise in den eingesetzten kleinen, aber mächtigen Flugzeugen (insbesondere die Stuka Junkers Ju 87 und Aichi D3A Kanbaku) sichtbar wurde. [2]
Die Wissenschaftler wurden zusammengefasst in zumeist geheimen Forschungseinrichtungen, die eher Camps mit Werkstätten glichen, als wissenschaftlichen Einrichtungen. Allerdings Camps mit lauter anderen wissenschaftlich Arbeitenden. Die Aufgaben waren produktorientiert. Geräte wurden gebaut, sie wurden eingesetzt, beispielsweise von Flugzeugbesatzungen, und Erfahrungen über diesen Einsatz wurden zurückgemeldet. Diese Rückmeldungen wurden ad-hoc zur Verbesserung der Geräte eingesetzt, welche dann verbessert wieder eingesetzt wurden. Dies wurde zu einem Kreislauf, bei dem es zu einer Verbindung von theoretischer und praktischer Arbeit kam. Immer wieder tauchten unerwartete Effekte auf. Beispielsweise als 1941 ein Mikrowellenapparat, der dazu dienen sollte, feindliche Flugzeuge aufzuspüren, auf einmal auch Bilder von feindlichen U-Booten lieferte. Das wollte das Militär selbstverständlich gerne haben: einen Apparat, der von Flugzeugen aus feindliche U-Boote im Tauchgang aufspüren konnte. Nun mussten sich die Forschenden die Frage stellen, wie der Apparat, den sie selber gebaut hatten, eigentlich funktionierte, um dieses Ergebnis zu liefern. Diese Arbeit wurde dann zu einem Meilenstein in der Entwicklung des Radars.
Ein weiteres Großprojekt dieser Art war bekanntlich das Manhattan-Projekt, in welchem ab 1942 die Atombombe entwickelt wurde. Angesichts dessen, dass diese schon drei Jahre später eingesetzt wurde, kann man – trotz allen Problemen, welche die Atomkraft mit sich bringt und trotz allen peinlichen Pro-Atomkraft-Kampagnen der Jetztzeit – von einem großen Erfolg dieser Form kriegsorientierter Forschung sprechen. Nicht zuletzt, weil mit diesem Projekt einer deutschen (nationalsozialistischen) Atombombe zuvorgekommen wurde. [3]

Produktorientierte Entwicklung nach dem Krieg
Das ist alles eine spannende Geschichte. Sie ist auch Beispiel dafür, wie wichtig eine intensiv betriebene Wissenschaftsgeschichte wäre. Aber interessant sind für den hier zu besprechenden Vorschlag von Bowler und Large vor allem die Nachwirkungen auf dem Gebiet der Wissenschaft. Die Entwicklung des Radars und der Atombombe hatten nämlich bewiesen, dass zumindest für einen bestimmten Zeitraum und für bestimmte Anwendungen, eine enge Verzahnung von Produktion und wissenschaftlicher Arbeit möglich und effektiv war. [4] Ein Großteil der Erkenntnisse dieser Forschungen basierte auf Rückmeldungen aus dem Einsatz der im Forschungsprozess hergestellten Geräte. Die Forschung fand nicht mehr hauptsächlich im Labor statt und ging dann in den Welt, sondern lebte vielmehr von der Rückkopplung mit der realen Welt.
Selbstverständlich gab es Grenzen dieser Methode. Ohne Grundlagenforschung oder Reflexion der Ergebnisse außerhalb des Anwendungsdrucks frisst diese Methode buchstäblich die wissenschaftliche Fortentwicklung auf. Jede Wissenschaft muss irgendwann auch einmal zurücktreten und grundlegende Fragen auf einer strukturellen Ebene untersuchen, ansonsten verbleibt sie im Positivismus und ist nicht mehr in der Lage, Aussagen und Wissens hervorzubringen, die über das alltägliche Anwendungswissen hinausweisen. Dabei ist gerade dies die hervorstechende Aufgabe von Wissenschaft: die Gesellschaft und die Natur von einer „höheren“ Position aus zu analysieren. Wenn die grundlegenden theoretischen Modelle aber nicht mehr weiter entwickelt werden, weil alle Arbeit in die praktische Rückkopplung gesteckt wird, dann gibt es diese Analyse irgendwann nicht mehr und damit auch keine Basis, auf der diese Rückkopplung aufbauen könnte.
Dennoch: es wurde während des Zweiten Weltkriegs klar, dass sehr produktiv an Problemen und Geräten gearbeitet werden kann, wenn diese gleichzeitig produktiv eingesetzt werden. Die Frage, wieso ein Gerät so funktioniert, wie es funktioniert, wurde zu einer möglichen wissenschaftlichen Frage. Zuvor konnte man solche Fragen an die Natur stellen, aber die Idee, dass auch von Menschen konstruierte Geräte unerwartete Effekte zeitigen, die es zu untersuchen lohnt, setzte sich erst mit dieser Forschung richtig durch.

Zur Pädagogik und in die Bibliothek
In den Ingenieurwissenschaften etablierte sich dieser Ansatz. Auch andere Wissenschaften profitierten mit der Zeit von ihm. Im Beispiel weiter oben klang schon an, dass dieses Vorgehen in der Informatik verbreitet ist. Folgt man nun dem Text von Bowler und Large, beginnt die kanadische und US-amerikanische Erziehungswissenschaft aktuell, diesen Ansatz ebenfalls produktiv einzusetzen. Als Produkte bzw. Design werden hier vor allem Lernarrangements verstanden, insbesondere neu eingerichtete.
Die Idee ist dabei, diese Arrangements nicht einfach einzurichten, also beispielsweise einen Naturlernpfad mit interaktiven Elementen in einem Schulgarten, sondern dieses Arrangement gleichzeitig als Forschungsgegenstand zu verstehen. Der Fokus verschiebt sich. Es geht nicht darum, wie bei der Evaluation oder dem Marketing-Fokus, zu beweisen, dass das Arrangement funktioniert, damit es perfektioniert (Evaluation) oder als Erfolg verkauft (Marketing) werden kann, sondern darum zu verstehen, warum er funktioniert, wie es funktioniert. Die Grundannahme ist selbstverständlich, das jedes Arrangement Ergebnisse hervorbringt, wobei gerade die unerwarteten spannend sind. Um am Beispiel zu bleiben: das Jugendliche auf diese Naturlernpfad Wissen über Pflanzen erwerben, ist zwar interessant (Evaluation) und wichtig (Marketing). Aber wenn gleichzeitig nach einem halben Jahr die Lehrerinnen und Lehrer der Schule, in deren Schulgarten dieser Pfad angelegt wurde, dazu neigen, mehr virtuelle Lerninstrumente einzusetzen – dann ist dies die spannende Entwicklung, die es zu untersuchen gilt. Oder wenn die Anwohnerinnen und Anwohner der Schule beginnen, ihre Gärten nach Regeln des Feng-Shui umzugestalten.
Das Versprechen des design-based Research ist dabei, anwendungsgerecht Ergebnisse über die Funktionen von Produkten – hier Lernarrangements – zu liefern, die über das Alltagswissen hinaus weisen, ohne dabei auf lange Forschungswege angewiesen zu sein. Oder mit den Worten von Bowler und Large:

Design-based research holds promise as a method that can bridge the theory/practice divide, particularly in the design of “user-centred” information systems and services. […] [It] combines research, design, and practice into one process, resulting in usable products that are supported by a theoretical framework. [Bowler / Large (2008), p. 39]

So einfach ist das selbstverständlich nicht. Erstens bedarf dieser Ansatz eines relativ geübten Umgangs mit wissenschaftlichen Methoden und Werkzeugen. Nur wer sich darüber bewusst ist, welche Methoden, Modelle und Großtheorien von der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden, kann die jeweils sinnvollsten auswählen und am Forschungsobjekt selber anwenden. Ein solches Wissen muss erworben und regelmäßig erneuert werden. Zudem ist es notwendig, sich einzuschränken und nicht ständig sinnlose Datenmengen zu erzeugen. Die Aufgabenstellung im Rahmen der design-based Research lautet, die Effekte der jeweiligen Produkte zu analysieren und auf diesen Effekten aufbauend, die Produkte zu verbessern. Nur viele Daten zu sammeln, ist da eher kontraproduktiv. Ebenso kontraproduktiv ist die Tendenz, nur die Daten in den Forschungsprozess zu integrieren, die entweder leicht zu erhalten sind (weil sie beispielsweise automatisch aufgenommen werden, wie bei Bibliotheken die Ausleihzahlen, die durch die automatisierte Ausleihe leicht verfügbar sind) oder aber im Sinne des Marketing gut „verkauft“ werden können. Dazu muss wiederum ein Wissen vorhanden sein, welche Daten auf welche Weise aufgenommen werden können und welche Aussagemöglichkeiten diese Daten jeweils eröffnen. (Was sagt zum Beispiel die Anzahl von Medien pro potentieller/n Nutzer/in über ein Bibliothek überhaupt aus? Was der Wert 87,5% bei der Frage: „Sind sie mit den Leistungen der Bibliothek zufrieden?“ in einer schriftlichen Befragung von Nutzer/innen? Was der Wert 12,3% bei der gleichen Frage bei einer Befragung aller Schüler/innen einer Schule?) Nicht zuletzt ist eine Rückkopplung an wissenschaftliche Theoriegebäude nur möglich, wenn ein Wissen über verschiedene dieser Großtheorien vorliegt. (Was sind Milieus? Was Schichten? Was Sinus-Milieus? Was ist die Grundfrage der feministischen Naturwissenschaftskritik? Was sagt die Systemtheorie? Was bringt eine Diskursanalyse? Etc.) Letztlich stellt das design-based research relativ hohe Anforderungen an die Kenntnisse über wissenschafltiches Wissen. Das beschreiben Bowler und Large auch ansatztweise.
Gleichzeitig gibt es im englisch-sprachigen Raum (und teilweise auch anderswo) seit einigen Jahren die „Bewegung“ der Evidence Based Library Practice. Unabhängig von der Frage, was diese Bewegung einmal ausgelöst hat (u.a. Forderungen von Regierungen nach ständigen Evaluationen, aber auch die relativ efolgreiche Evidence Based Pratice im medizinischen Bereich), lässt sich dies heute als eine Art grass-root Anwendung wissenschaftlicher Methodiken bei der Evaluation und Konzeption bibliothekarischer Angebote beschreiben. Bibliothekarinnen und Bibliothekare versuchen mithilfe relativ ausführlich dokumentierter Forschungen in ihrer lokalen Einrichtung die Frage zu klären, welche Effekte die Angebote ihrer Bibliothek haben. Dabei scheint die Haltung, dies als wissenschaftliche und nicht als marketingrelevante Fragestellung zu formulieren, d.h. sie so anzulegen, dass die Antwort möglichst offen gehalten ist und gleichzeitig den Fokus auf Komplexe zu legen, welche den untersuchenden Bibliothekarinnen und Bibliothekaren wichtig sind, eine interessanten Effekt zu haben: die Ergebnisse sind nur bedingt positiv und „verkaufbar“, zeigen aber dennoch auf, dass Bibliotheken die Möglichkeit haben, proaktiv Angebote zu entwickeln, die etwas bewirken können (make a difference). Das gelingt auch, weil sich die Evidence Based Library Practice beim Entwurf der Fragestellungen auf die Sicht der Nutzerinnen und Nutzer einlässt, wie Bowler und Large hervorheben:

The strenght of design-based research lies in its ability to define the problem from a user’s point of view, thus providing designers with authentic definitions of the problem. […] It asks practitioners to incorporate reaearch into their daily practice by first generating research evidence and then applying it to determine policies, systems and service. [Bowler / Large (2008) p. 43]

Auf dieser Bewegung, welche sich in zahlreichen Texten in der englisch-sprachigen Bibliothekswissenschaft und einem Open Access Journal nachvollziehen lässt, obwohl sie selbstverständlich nicht in allen Bibliotheken Anhängerinnen und Anhänger hat, wollen Bowler und Large nun mit der design-based research aufbauen. Ihr Vorschlag ist, zumindest einige bibliothekarische Angebote, die sich mit Bildungsaktivitäten befassen, in einem Prozess zu untersuchen und on-demand zu verbessern, der sich als design-based research bezeichnen ließe. In der Erziehungswissenschaft hätte sich dies für bestimmte Fragen bewährt. Und zumindest in den Feldern, in denen Bibliotheken sich als Orte für Bildung begreifen, sei es deshalb auch möglich, diesen Ansatz einzusetzen.
Ist also, nach dem Evidence Based Librarianship, die design-based research the next new thing? Bowler und Large machen in ihrem Artikel zumindest den Vorschlag, beides als Werkzeug zu betrachten und dort, wo es sinnvoll erscheint, einzusetzen. Dies würde, wie sie herausstellen, bedeuten, dass sich insbesondere praktizierende Bibliothekare und Bibliothekarinnen (in Abgrenzung zu denen, die vor allem an Hochschulen unterrichten und forschen) mit dieser Praxis anfreunden und sich den Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Methoden bewusst werden. Nötig wäre allerdings auch ein bibliothekswissenschaftliche Praxis, die nutzbare Theorieansätze und Methodiken zur Untersuchung der realen Effekte von Bibliotheken entwickelt und zur Verfügung stellt. Eine umfassende Herausforderung. Aber erstmal soll dieser Artikel, wie Bowler und Large betonen, ein Diskussionsanstoß sein.

Fußnoten:
[1] Dabei muss man im Hinterkopf behalten, dass die Erziehungswissenschaften unglaublich nationale Angelegenheiten sind. (Nicht zu vergessen, dass sie sich intern in Fachbereiche aufteilen, die teilweise so sehr aneinander vorbei forschen und argumentieren, dass der Unterschied zwischen Wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken oder der zwischen der Stadtsoziologie und der Vergleichenden Politikwissenschaft dagegen wie eine reine irrelevante Stilentscheidung wirkt.) Dies gilt nicht nur für die deutschen Erziehungswissenschaft, sondern offenbar (fast) weltweit.
Die nationalen Erziehungswissenschaften vertreten zur gleichen Zeit vollkommen unterschiedliche Paradigmen, Forschungsthemen und beziehen sich fast nur auf ihre eigenen, nationalen Diskussionen. Zwar werden auch internationale Forschungen einbezogen, dies scheint aber oft sehr ausgewählt zu geschehen – nämlich so, dass es die eigenen Forschungsvorhaben unterstützt. Insoweit ist es nicht verwunderlich, dass zu einer Zeit, in der die deutsche Erziehungswissenschaft in einer empirischen Wende begriffen ist, in anderen Erziehungswissenschaften gänzlich andere Themen und Paradigmen vorherrschen. Die Aussagen von Bowler und Large beziehen sich also auf die kanadischen und teilweise auf die US-amerikanische Erziehungswissenschaft (wobei letztere durch die politische Orientierung auf den No Child Left behind Act mehr empirische Werkzeuge anzuwenden scheint, als die kanadische).

[2] Als eine kriegsentscheidene Wende wird die Entscheidung Deutschlands angesehen, die Ausgaben für die Forschung zu reduzieren und auf einige Projekte, wie die V2, zu konzentrieren, die letztlich – zum Glück – nicht so erfolgreich waren, wie die Radarforschungen der USA und Großbritanniens. Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass die deutschen (und die japanischen) Forschungen im Rahmen eines rassistischen Systems durchgeführt wurden und auf der Ausbeutung von Zwangsarbeitern und dem System der Vernichtung durch Arbeit im Rahmen des Holocaust basierte. Bei aller kritischen Bewertung der Entscheidungen der USA und der Sowjetunion nach dem Krieg eine große Zahl deutsche Wissenschaftler (Werner von Braun war ja nur das prominenteste Beispiel) trotz ihres Eingebundenseins in das nationalsozialistische Herrschaftssysteme zu beschäftigen und zu fördern, sollte dieser entscheidene Unterschied nicht aus den Augen verloren werden, dass es zumindest in den Demokratien USA und Großbritannien für Forschende und Beschäftigte immer möglich war, ihre Arbeit einzustellen und – unter Beachtung von Sicherheitsfragen – auch anderen Tätigkeiten nachzugehen. Sie waren nicht davon bedroht, aufgrund ihrer Abstammung oder politischen Überzeugung bis zum Tod ausgebeutet zu werden. In der Sowjetunion — das ist ein weit schwierigeres Thema, aber auch das dortige Herrschaftssystem basierte nicht auf rassistischer Unterdrückung (wiewohl aber in bestimmten Phasen auf Antisemitismus).

[3] Das war ja bekanntlich auch der Grund, warum überhaupt pazifistische Physiker wie Albert Einstein sich für den Bau dieser Bombe stark machten: weil die Nazis selber an einer arbeiteten und es klar war, was dies für die Welt bedeuten würde, wenn sie dazu in der Lage wären, eine solche zu bauen.

[4] Daneben hatte die Entwicklung des Radars und der Atomkraft selbstverständlich auch weitere Auswirkungen auf die Gesellschaft, beispielsweise im Bereich des Gesundheitswesens, dass ja von der Radartechnik ungemein profitiert hat. Interessant ist auch, dass – trotz anderer Vorläufer – gerade diese Kriegswissenschaft entscheidend für die Entwicklung der Erwachsenenbildung war. Der Grund ist wieder sehr simpel: Der Einsatz moderner Waffen und Hilfsgeräte konnte nur geschehen, indem das Personal verstand, wie diese Geräte funktionierten. So wurde am M.I.T. während des Zweiten Weltkrieges die ersten Massenkurse für Erwachsene, zuerst Offiziere der Luftwaffe, eingerichtet. Auf einmal hatten die Physiker die Aufgabe, neben der Entwicklung des Radars nicht etwa Studierenden, sondern anderen Erwachsenen, die bis dato davon ausgegangen waren, ausgelernt zu haben, die Grundlagen der modernen Physik beizubringen. Um die Radargeräte einzusetzen war es eben notwendig zu verstehen, wie Radiowellen funktionieren. Ansonsten blieben das Geräte mit sich bewegenden Punkten. Solche Bildungsgänge wurden während des Krieges rasant ausgeweitet und am Ende hatte man eine Anzahl von Soldaten und weiblichem militärischen Personal, dass geübt darin war, sich fortzubilden und dies auch einforderte. Der Krieg hatte bewiesen, dass dies im großen Rahmen möglich war. Und hier liegt zumindest in den USA und Großbritannien der Ausgangspunkt ziviler Weiterbildungsprogramme, nicht – wie dies so gerne in Texten zum Lebenslangen Lernen dargestellt wird – in der Entwicklung und den Anforderung der Wirtschaft. Die war damals dank des Fordismus eher an Anlernkräften interessiert. Zuvöderst ging es um militärische Interessen und Kommunikationsmittel (Funkgeräte). Andere, zivile Stränge von Konzepten der Weiterbildung (z.B. Vorstellungen des bildungsbürgerlichen „Herauflesens“, der Bildung des Proletariats durch sozialdemokratische, kommunistische und anarchistische Intellektuelle für den Klassenkampf oder den Versuchen, agrawissenschaftliche Erkenntnisse in der Landwirtschaft zu verbreiten) gab es zwar schon vorher. Sie hatten später auch sehr großen Einfluss auf die Entwicklung der Weiterbildung. Aber wirklich gesellschaftlich verankert wurde Weiterbildung erst durch das Militär im Zweiten Weltkrieg, weil es Menschen brauchte, die grundlegende physikalische Kenntnisse aufwiesen, welche sie (damals) nicht im Rahmen ihrer Schulbildung erworben hatten. [vgl. Welton, Michael: Designing the just learning society – a critical inquiry. – Leicester : Niace – National Institute of Adult Continuing Education, 2005]

200 Seiten

Das ist jetzt eher eine Feststellung für mich, aber gerade bin ich beim Schreiben der Promotion auf der 200. Seite angekommen. Selbstverständlich hält sich das Dokument an kein filmreife Choreografie, deshalb ist die 200 Seite nicht am Ende eines wichtigen Abschnittes, sondern irgendwo in der Mitte der zweiten Abschnitts. Außerdem verschiebt sich der Text eh im Nachhinein durch die ganzen Korrekturen, Streichungen und Ergänzungen noch. Zudem schätze ich mal, dass da noch rund 100 Seiten vor mir liegen. Also, eine Ende ist das noch nicht.
Aber dennoch: 200 Seiten. Mein längster Text bisher. (Ich weiß: Quantität ungleich Qualität. Dennoch!) Es geht voran, wenn auch langsam. Gerade schlage ich mich damit herum, wie unterschiedliche Kategorien Sozialer Gerechtigkeit operationalisiert werden können, um anschließend ableiten zu können, wie Bibliotheken, insbesondere in ihrer Funktion als Bildungseinrichtungen (aber auch als kulturelle Einrichtung etc.) den Status Quo der Sozialen Gerechtigkeit bestimmen und auf diesen reagieren können. Anschließend wird der Abschnitt über die Evidence Based Library-Practice folgen, was mich tatsächlich ein wenig antreibt, denn diesen Ansatz finde ich tatsächlich interessant und bin immer noch verwundert, dass dieser in Deutschland irgendwie noch gar nicht angekommen zu sein scheint.

Lernen aus Bibliotheksbüchern

John Amosford berichtet von einer Studie von Bibliotheken im Devon County [England], in welcher versucht wurde, festzustellen, was Nutzerinnen und Nutzer eigentlich aus den Büchern lernen, die sie sich in Bibliotheken ausborgen. [Amosford, John / Assessing Generic Learning Outcomes in public lending libraries. – In: Performance Measurements and Metrics, 8 (2007) 2, pp. 127-136] Diese Frage stellte sich im Rahmen der in England an quasi alle öffentlichen Einrichtungen ergehenden ständigen Aufforderung, die Effekte ihrer Arbeit nachzuweisen und gegebenenfalls auf der Basis nachvollziehbarer empirischer Grundlangen zu verbessern [Evidence Based Librarianship].
Dabei wird selbstverständlich auch in England davon ausgegangen, dass Bibliotheken einen Lerneffekt bei ihren Nutzerinnen und Nutzern auslösen würden, obwohl Amosford noch einmal kurz diskutiert, warum eine Bibliothek trotzdem keine formale Bildungseinrichtung (wie Schulen oder Universitäten) sein und mit diesen auch nicht vergliechen werden kann. Allerdings stellt auch Amosford fest, ist dieser weithin angenommen Lerneffekt schwierig zu bestimmen. Der Ausgangspunkt der Studien war folgender: Bibliotheken würden, ganz egal welche Funktionen und Angebote sie ansonsten anbieten und welchen Reformen sie unterworfen würde, immer noch vorrangig von der Öffentlichkeit genutzt, um Bücher auszuleihen:

While the role of libraries has broadened in recent years, the book lending function of libraries is still seen as a core function of libraries by many members of the public, and will remain central to debates about service reform. [p. 135]

Das Problem sei nun, dass zwar vermutet werden kann, dass diese Bücher unter anderem für Lernaktivitäten genutzt werden oder „nebenher“ Wissen vermitteln; aber gerade diese Vermutung schwierig zu beweisen ist. Die Bibliotheken im Devon County versuchten dies mithilfe einer Umfrage anzugehen. Sie formulierten folgende Fragen:

Did the book:
Provide you with insight (knowledge and understanding)?
Help you learn new facts (knowledge and understanding)?
Help develop your skills (skills)?
Challenge your attitudes (attitudes and values)?
Change your opinions (attitudes and values)?
Entertain you (enjoyment, inspiration, creativity)?
Motivate or inspire you (enjoyment, inspiration, creativity)?
Change your daily life (activity behaviour and progression)?
Benefit you personally (activity behaviour and progression)? [p. 129]

Interessant war der Weg, diese Fragen zu stellen. Sie wurden auf einem A4-Blatt zusammegefasst, welches den einzelnen ausgeliehen Büchern beigelegt wurde. Dies machte deutlich, dass sich die Fragen auf das jeweilige Buch bezogen. Außerdem konnten sie so von den Ausleihenden on-the-fly beim oder gleich ach dem Lesen des jeweilgen Buches beantwortet werden und nicht erst eine Zeit nach dem Lesen, wie dies bei Interviews der Fall wäre.
Amosford spricht von einer Antwortrate von 20%, was einerseits bedeutet, dass die Daten zwar Trends anzeigen, aber nicht als repräsentativ gelten können. Dennoch erhielten die Bibliotheken 3636 Anworten für belletristische und 1706 für Sachliteratur.
Ein Großteil der Antwortenden gab an, aus dem jeweiligen Buch etwas mitgenommen zu haben, ob nun eine neue Sichtweise oder neue Fakten. Dies gilt nicht nur für die Sachliteratur, sondern ebenso für Belletristik. Kaum jemand gibt an, dass das jeweilige sein oder ihr Leben verändert hätte. Interessant ist allerdings, dass nur eine Minderheit von – immerhin – 27% der Menschen, die sich Sachliteratur ausgeborgten, dies taten, weil sie diese für eigenständige Lernprozesse benötigten. Vielmehr gaben 57% (bei der Belletristik 96%) an, das jeweilige Werk zum privaten Vergüngen („private enjoyment“) gelesen zu haben. Dies ist ein Rückschlag für die Vorstellung, dass Menschen im Allgemeinen ein konkretes Informationsinteresse formulieren und sich danach gezielt Medien aus der Bibliothek besorgen. Das gibt es auch, aber ein Großteil der Menschen liesst offenbar Sachliteratur aus Spass. Es ist zumindest zu fragen, ob man den Bestandsaufbau an stark an solchen angenommenen Informationsinteressen ausrichten sollte.
Obwohl die Methode ihre Grenzen hat, die von Amosford auch besprochen werden, zeigen sie doch einen gangbaren Weg, um zumindest grundlegende Aussagen über die Nutzung von Bibliotheksmedien treffen zu können.

Informationskompetenz des 20. oder des 21. Jahrhunderts?

Eine interessante, aber bislang nicht beantwortete Frage stellten Leanne Bowler, Andrew Large und Gill Rejskind in einer 2001 veröffentlichten Studie. [Bowler, Leanne ; Large, Andrew ; Rejskind, Gill / Primary school students, informations literacy and the Web. – In: Education for Information, 19 (2001), pp. 201-223] Nämlich die, ob das, was heute als Informationskompetenz in (kanadischen) Klassenräumen gelernt wird, tatsächlich eine Kompetenz darstellt, die sich auf die aktuellen Medien- und Informationsangebote bezieht und für die alltägliche Praxis der Lernenden sinnvoll ist oder aber, ob es sich nicht eher bei vermittelten Informationskompetenz zumeist um Fähigkeiten handelt, die in einer anderen Zeit mit einem anderen Medienmix notwendig waren:

A generation ago, before such themes as active learning, inquiry-based learning, authentic learning and meaningful learning were part of the vocabulary of educators, school projects that required independent research would have involved finding an article in an encyclopedia, and faithfully copying the text word for word. This level of information literacy was sufficient in a classroom where the expected learning outcome was to find the correct answer to a specific question and know the facts. What information literacy skills do students need in the early twenty-first century? Are the learning objectives in the classroom reflected in the information literacy skills exhibited by students? Do the learning experiences in the classroom facilitate the acquisition of these skills or, have the learning experiences simply been repackaged in the new technologies, giving the impression of being up-to-date, while they remain qualitatively the same as learning experiences from thirty years ago? [p. 201]

Die Ergebnisse ihrer auf diese Frage folgenden Studie basieren auf Daten, sind 1998 gewonnen und deshalb größtenteils überholt. Aber der Trend ihrer Ergebnisse ist dennoch relevant für die Frage, welche Kompetenzen heute eigentlich als „Informationskompetenz“ zu gelten.
Bowler / Large / Rejskind hatten die Suchstrategien von 12-jährigen in einem kanadischen Klassenraum untersucht. Dabei wurden den Schülerinnen und Schülern eine Anzahl mehr oder weniger offener Fragen zu einer Anzahl von Sportarten vorgelegt, die sie in selbstgewählten Kleingruppen mithilfe des Internets [1] beantworten mussten. Aufgabe war dabei, dieses Ergebnisse (zeitgemäß auf Disketten) zu speichern und schließlich anhand eines Posters zu präsentieren. Die Recherche umfasste je nach Arbeitsgruppe drei bis sechs je 30-minütige Sitzungen. Diese Sitzungen wurden auf Video aufgezeichnet und anschließend ausgewehrtet. Zudem wurden die Poster als Ergebnis der Rechercheanstrengungen zur Auswertung herangezogen. Dies ist ein interessanter Schritt, da auf diese Weise nicht überprüft wurde, ob die Schülerinnen und Schüler bestimmte Fakten gefunden hatten, sondern ob sie in der Lage waren, relativ alltagsnah Informationen zu suchen, auszuwerten, darzustellen und zur Beantwortung einer komplexeren Fragstellung zu benutzen. Abschließend wurden ausgwählte Lernende zu ihrem Vorgehen bei der Recherche interviewt. Dieser multidimensionale Zugriff ermöglichte es den Forschenden, mehrere Wahrnehmungsebenen in ihre Analyse einzubeziehen und sich teilweise ergänzen zu lassen. So konnten Beobachtungen auf den Videotapes in den Interviews verifiziert werden.
Schülerinnen und Schüler – so kann man die Ergebnisse der Literaturübersicht und Datenanalyse der Studien zusammenfassen – haben jeweils auch ohne Informationskompetenzvermittlungen eine, auf dem alltäglichen Umgang mit dem Internet basierende, Informationskompetenz ausgeprägt. [2]
Die Recherchen waren dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht wirklich geplant waren, bevor sie durchgeführt wurden. Interesanterweise fiel es den Lernenden dadurch schwieriger, konkrete Faktenfragen zu beantworten, während sie offene und relativ weite Fragen gut beantworten konnten.
Weiterhin stellen Bowler / Large / Rejskind fest, dass die effektive Recherche im Netz ein Wissen über die technischen Geräte voraussetzt. Auch wenn die von ihnen festgestellten Probleme (beispielsweise beim Speichern von Daten auf Disketten) sich verändert haben oder auch obsolet geworden sind, ist doch folgende Feststellung weiterhin gültig:

The Web is a technology-dependent platform for information delivery. To use it successfully, one must understand and be able to perform basic functions on the computer. Evidence from the search sessions indicates that the students were hampered by their lack of technical literacy. [p. 208]

Bowler / Large / Rejskind thematisieren dies zwar nicht, aber es ist im Umkehrschluss auch logisch anzunehmen, dass Menschen, die Informationskompetenz im Internet vermitteln wollen, vor der gleichen Herausforderung stehen: die Vermittlung jedweder internetbasierter Informationskompetenz bedarf eines grundlegenden Wissens über die benutzte Technik und die Funktion verschiedener Internetdienste. Dabei geht es, wenn man der Studie von Bowler / Large / Rejskind folgt, nicht einmal um die ständige Nachvollziehung von Hypes. Es geht um die Orientierung an der zeitgenössischen Medienrealität.

[1] Offenbar war es – einen solchen Anschein vermittelt zumindest der Text – 1998 schon normal, dass ein kanadisches Klassenzimmer mit mehreren Computern und Internetzugängen ausgestattet war. In Deutschland hatte sich zwar 1996 die Initiative Schulen ans Netz gegründet worden und galt als extrem fortschrittlich. (Obwohl es auch Stimmen gab, welche diese Initiative vor allem als Werbeveranstaltung der Telekom ansahen, welche sich angeblich auf diese Weise kurz vor der Deregulierung des Telefonmarktes zum Quasi-Monopolist in Sachen Internet aufschwingen wollte.) Allerdings konnte diese Initiative erst 2001 vermelden, dass quasi jede Schule in Deutschland einen Internetzugang ausgestattet wäre. Von Computern im normalen Klassenraum war dann 2001 in Deutschland erst langsam die Rede.
[2] Das war zumindest zum Untersuchungszeitpunkt in Deutschland auch nicht wirklich denkbar. 1998 nutzten rund 10% der Deutschen das Internet gelegentlich. Heute sind dies, laut den aktuellen Internet-Strukturdaten, rund 64%.

Woher kamen eigentlich die PISA-Studien?

Vor einigen Jahren dominierten in Deutschland die PISA-Studien die öffentliche Debatte, die Bildungspolitik und auch die bibliothekarischen Konzeptpapiere und Texte. Das scheint heute anders geworden zu sein, so richtig wurde PISA 2006 nicht mehr wahrgenommen und langsam verschwindet die Phrase, dass man an den PISA-Studien sehen könnte, wie schlecht das deutsche Bildungssystem ist und das deshalb eigentlich sofort xxxx [1], wieder aus diesen Texten.
Was allerdings in diesen Debatten und auch heute nicht so richtig gefragt wurde, war, wieso es eigentlich diese Studien gab. Immerhin kosteten sie jeweils (für Deutschland) rund 30 Millionen Euro. Und sie waren auch nicht die einzigen Studien im Feld der Bildungsstatistik. Hinzu kamen unter anderem die IGLU-Studien, die Stefi-Studie, die DESI-Studie und weitere lokale Studien wie Markus, QuaSum, LAU und LaC. Nicht zu vergessen die Anstrengungen, eine nationale Bildungsberichtserstattung aufzubauen (nicht nur – wie schon länger praktiziert – für die Weiterbildung, sondern auch für Kindertagesstätten oder den gesamten Bildungssektor). Hingegen erschienen die PISA-Studien in den meisten Texten, die sich auf sie bezogen, quasi vom Himmel gefallen zu sein. Irgendwie schien irgendwer (die OECD, wenn man genauer nachschaute) auf den Gedanken gekommen zu sein, diese Studien durchzuführen und irgendwie konnten sie dann auch relativ einfach durchgeführt werden (was immerhin hieß, dass jeweils rund 5.000 Schülerinnen und Schüler drei Stunden Tests schreiben und zudem von allen beteiligten Schulen Fragebögen ausgefüllt werden mussten). Die eigentlich selbstverständliche Frage, welche Aufgaben diese Studien haben, wie sie initiiert und durchgeführt wurden, schien kaum gestellt zu werden, bevor sie jeweils zur Untermauerung des eigenen bildungspolitischen Standpunkts herangezogen wurden.
Dabei sind diese Studien Teil einer relativ grundlegenden Wende der deutschen Bildungspolitik. Es herrscht heute die Vorstellung vor, dass Bildungseinrichtungen nur durch eine möglichste breite und große Unterstützung durch wissenschaftliche Methoden politisch gesteuert werden könnten. Euphemistisch wird diese Hinwendung zu Vergleichsstudien gerne als Anpassung an internationale Gepflogenheiten dargestellt. Das ist selbstverständlich so nicht richtig. Es gibt einige Staaten, in denen in der Bildungspolitik ein Focus auf die externe und interne Evaluationen gelegt wird und es gibt auch Staaten, die sich nicht auf solche Evaluationen konzentrieren oder in denen die Bedeutung von Bildungsevaluationen (schon wieder) zurückgeht. [2] Letztlich ist das immer eine politische Entscheidung, egal wie sehr sich darauf berufen wird, dass es sich bei den Studien um wissenschaftliche Werke handeln würde. [3]
Diese Umorientierung in der Bildungspolitik ist – egal, was man von ihr hält – weit relevanter, als dies in den meisten Bezügen auf die PISA-Studien thematisiert wurde. Die Hinwendung zu empirischen Bildungsberichten verschiebt die Wahrnehmung der Politik von der Aufgabe und Funktion von Bildungseinrichtungen relevant. Letztlich machen diese Bildungsstudien das Versprechen, dass es möglich ist, Bildungsqualität empirisch zu messen und dies sogar in einer solchen Weise, dass (faire) Vergleiche zwischen Bildungseinrichtungen möglich werden und sich aus diesen Ergebnissen Handlungsoptionen für die Bildungspolitik ableiten lassen. Dieses Versprechen wird seit etwas mehr als zehn Jahren in der deutschen Bildungspolitik allgemein geteilt, auch wenn der gesellschaftliche und journalistische Hype um die PISA-Studien offenbar vorbei ist. Letztlich ist dieser Paradigmenwechsel auch relevanter, als beispielsweise jede Aussage über die Lesekompetenz deutschen Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu Lernenden in anderen Staaten, die mithilfe der PISA-Studien gemacht wurde.
Eine sehr übersichtliche Zusammenfassung der Versprechen, welche sich die Bildungspolitik von dieser empirischen Wende macht, liefert Isabell van Ackeren [Ackeren, Isabell van (2007) / Nutzung großflächiger Tests für die Schulentwicklung : Exemplarische Analyse der Erfahrungen aus England, Frankreich und den Niederlanden. – Bonn ; Berlin : Bundesministerium für Bildung und Forschung. – (Bildungsforschung ; 3)] im ersten Teil ihrer Untersuchung über verschiedene Ansätze der Nutzung des in solchen Vergleichsstudien generierten Wissens.

Der Blick über die nationalen Grenzen zeigt, dass in vielen Schul­systemen Europas die Einzelschulen in den letzten Jahren immer stärker dazu angehalten werden, Verantwortung über ihre Leistun­gen abzulegen. Zentral organisierte Leistungsmessungen und Eva­luationsprogramme spielen dabei eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe werden Auskünfte über die Qualität der Einzelschule einge­holt und öffentlich oder/und vertraulich verschiedenen Zielgrup­pen zur Verfügung gestellt. Großflächige externe Evaluationsfor­men stellen ein wichtiges Element grundsätzlicher, auf die Anhe­bung des Leistungsniveaus eines Bildungssystems ausgerichteter Reformen dar: Die Schulen vieler Länder sind zum Subjekt einer Gesetzgebung und Politik geworden, die große Veränderungen in Bereichen wie ‚Curriculum’, ‚Leistungsmessung’ und ‚Schulauto­nomie’ mit sich brachten. So sind die curricularen Forderungen restriktiver geworden, Testverfahren, aber auch regelmäßige Schul­inspektionen wurden ausgeweitet, Bildungspolitik wurde bei gleichzeitiger Dezentralisierung der Verantwortung für ihre Imple­mentierung stärker zentralisiert und verschiedene Regierungen haben versucht, Marktelemente im Bildungsbereich einzuführen, indem Eltern verstärkt Schulwahlmöglichkeiten eingeräumt wur­den und die Finanzierung der Schulen an die eingeworbene Schü­lerzahl gekoppelt wurde. In diesem Kontext ist ein Denken in be­trieblichen Begriffen auch im schulischen Bereich nicht mehr ungewöhnlich. Unterricht wird durchaus als ein Produktionsprozess gesehen, mit dem Inputs in Outputs transformiert werden. Die Ausprägung solcher Reformen variiert von Land zu Land aufgrund historischer, kultureller, institutioneller und politischer Faktoren. Es gibt einige gemeinsame Elemente, die sich über die Ländergrenzen hinweg identifizieren lassen; großflächige, extern gesteuerte Evaluationsformen sind ein Beispiel dafür, obgleich solche Reform­elemente im Kontext des jeweiligen nationalen Bildungssystems einschließlich seines historischen und gegenwärtigen sozialen Zusammenhangs zu betrachten sind. Vor diesem Hintergrund stre­ben Regierungen vieler Länder der ganzen Welt nach Möglichkeiten, Wissen und Kompetenzen zu testen und sie interessieren sich dafür, ob und wie dadurch das Lehren und Lernen mit den entsprechenden Arbeitsergebnissen kontrolliert werden kann. Die Etablierung von Tests, Prüfungen und Studien wird als wichtiger Steuerungsmechanismus in vielen Ländern angesehen: Alle Schü­ler/innen werden demnach zur Teilnahme an standardisierten Tests und Prüfungen verpflichtet. Das Erreichen bzw. Nicht-Errei­chen der geforderten Standards ist nicht selten mit positiven bzw. negativen Sanktionen, z. B. finanzieller Art, verknüpft, um in Schu­len und Klassenräumen Änderungen zu erreichen und dadurch insgesamt Reformen in Bildungssystemen umzusetzen. Die erhofften Möglichkeiten einer testbasierten Reform scheinen dabei auch aus Kostengründen attraktiv. Tests sind offensichtlich weniger teuer als Reformen, die direkten Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen nehmen wollen.
[Ackeren (2007), S. 8f.]

Diese Versprechen werden sich nicht im erhofften Maße erfüllen – dies ist aufgrund internationaler Erfahrungen und der Erfahrung aus anderen Bildungsreformen in Deutschland, schon jetzt problemlos vorher zu sagen. Allerdings ist ein teilweises Scheitern von Reformen im Rahmen demokratischer Prozesse auch kein wirkliches Problem, sondern Triebfeder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Deswegen wird auch dieses Scheitern insgesamt nicht zum Untergang des deutschen Bildungssystems führen, auch wenn solcher Szenarien immer wieder gerne aufgerufen werden. Trotzdem bestimmen diese Vorstellungen aktuell die Wahrnehmung von Bildungseinrichtungen durch die Bildungspolitik. Und, auch dies ist kein wirklich schwierige, Vorhersage, wenn Bibliotheken Einrichtungen sein wollen, die irgendetwas mit Bildung zu tun haben wollen, dann werden sie gezwungen sein, sich unter dieses Regime zu ordnen. Die PISA-Studien sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind Teil eines politischen Paradigmenwechsels. Und dieser ist – wie alle Paradigmenwechsel – weder eindeutig zu begrüßen noch eindeutig abzulehnen.

Fußnote:
[1] Hier beliebige bildungspolitische Massnahme einsetzen. Gerade in der Hochzeit der Debatte schien es, als könnte einfach jede politische Entscheidung (von der egalitären Ganztagsgesamtschule bis zur Förderung der Bildung im Familienverband) und kulturelle Veranstaltung mit den PISA-Studien begründet werden, auch wenn das die eigentlichen Studien bei genauerem Lesen eher selten hergaben.
[2] Dies hat auch lange nicht so viel mit den in Deutschland gerne gepflegten modernen Feindbildern zu tun, wie dies auf den ersten Blick erscheinen könnte. Beispielsweise ist Englang ein Land, in welchem fast ausschließlich Evaluationen und (sich ständig ändernde) Bildungsstandards zur Steuerung von Bildungseinrichtungen eingesetzt wird, wohingegen in Schottland nicht einmal ein allgemein akzeptiertes landesweites Curriculum für Bildungseinrichtungen existiert. In Wales und Nordirland haben Evaluationen ebenso nicht die Bedeutung, die sie in England haben. Ähnlich verhält es sich mit den USA, in dem die Bedeutung von Vergleichsstudien für die nationale Bildungspolitik groß ist – was allerdings in seiner Wirkung dadurch eingeschränkt ist, dass die Bundesregierung keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Bildungspolitik der Staaten hat und wenn überhaupt, dann durch die Vergabe von Finanzmitteln Einfluss auf die Bildungspolitik nehmen kann. In einigen US-amerikanischen Bundeststaaten ist die Bedeutung solcher Studien ebenfalls groß, in anderen ist sie praktisch sehr gering. Auch die in Deutschaldn gerne als Vorbild begriffenen skandinavischen Staaten sind ähnlich divers. Norwegen setzt stark auf Bildungsevaluationen und die Veröffentlichung der auf diesem Weg gewonnen Daten, während Schweden sehr verhalten damit umgeht. Auch in Finnland, dass in Deutschland gerne als „PISA-Gewinner“ begriffen wird, haben Bildungsstatistiken einer eher geringen Wert. Und das Frankreich ebenso wie Deutschland in den PISA-Studien eher schlecht abschnitt, hat die dortige Bildungspolitik nicht wirklich groß tangiert. Man sollte also mit einfachen Erklärungen, warum in einem Land empirische (und teilweise auch pseudo-empirische) Bildungsberichterstattungen eine große Bedeutung haben und in anderen nicht, sehr zurückhaltend sein. Dies scheint sehr von der nationalen Bildungspolitik und den dort vertrenden Ansichten beeinflusst zu sein.
[3] Was für einige Studien, die außerhalb Deutschlands eingesetzt werden, teilweise bestritten werden kann.